Die Blutnacht von Manor Place - ARTHUR CONAN DOYLE - E-Book

Die Blutnacht von Manor Place E-Book

Arthur Conan Doyle

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Beschreibung

Ein Leben lang hat sich Arthur Conan Doyle für wahre Verbrechen interessiert, er hat sie studiert und analysiert und sich, wann immer er das Recht beschädigt sah, für Unschuldige stark gemacht. Und er hat über sie geschrieben Während es in den Erfindungen seiner Sherlock- Holmes-Romane und -Erzählungen darum ging, von vornherein alle Fragen für seinen Detektiv klar auflösbar zu konstruieren, faszinierten Doyle an den realen Fällen gerade die verbleibenden Rätselhaftigkeiten, die offenen kriminalistischen Fragen und die menschlichen, psychologischen und juristischen Abgründe. Dieser Band versammelt Doyles beste „True Crime“-Schriften, mit zahlreichen Texten in deutscher Erstübersetzung Dieses Buch enthält: Die Blutnacht von Manor Place, George Vincent Parkers Liebesgeschichte, Der diskussionswürdige Fall der Mrs. Emsley, Der bizarre Fall George Edalji, Ein neues Licht auf alte Verbrechen

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Inhalt

I Seltsame Studien aus dem wahren LebenVorbemerkung des HerausgebersDie Blutnacht von Manor PlaceGeorge Vincent Parkers LiebesgeschichteDer diskussionswürdige Fall der Mrs. EmsleyNachbemerkung des HerausgebersAnmerkungen II Der bizarre Fall George EdaljiVorbemerkung des HerausgebersKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Nachbemerkung des HerausgebersAnmerkungen III Warum Geister gute Detektive abgeben könnenVorbemerkung des HerausgebersEin neues Licht auf alte VerbrechenAnmerkungen

I Seltsame Studien aus dem wahren Leben

Vorbemerkung des Herausgebers

Arthur Conan Doyle, 1893

Mit fünfzehn Jahren, in den Weihnachtsferien 1874, reiste Arthur Conan Doyle in die Metropole London. Seine Eltern lebten in Edinburgh, freilich kam er aus Stonyhurst in Lancashire, wo er ein Internat besuchte. In London wohnte er bei Verwandten, seiner Tante Annette und seinem Onkel James. Die große Stadt machte mächtigen Eindruck auf ihn. Und große Begeisterung riefen die Schauer hervor, die er empfand, als er bei Madame Tussauds den „Saal der Schrecken“ betrat, in dem Wachsfiguren Szenen berühmter, fürchterlicher Morde nachstellten. Das Grauenvolle und Entsetzliche, einerseits in Wachs gebändigt und durch die Zeitdistanz entschärft, andererseits in ihrer realistischen Darstellung jedoch lebendig und nah wirkend sowie auf abstoßende Weise faszinierend, zog den jungen Doyle an. Er blickte in die Gesichter der Mörder und es lief ihm kalt den Rücken herunter. „Ich war bei Madame Tussauds“, schrieb Arthur in einem Brief an seine Mutter, „und der Saal der Schrecken mit den Darstellungen der Mörder hat mich begeistert.“

Keinen anderen Saal bei Madame Tussauds erwähnt Doyle mit einem Wort. Und es gibt weitere Details, die darauf hinweisen, wie nachhaltig er beeindruckt war. Der Name der Straße, in der Madame Tussauds damals beheimatet war, kommt dem Sherlock-Holmes-Leser ungemein vertraut vor: Baker Street. Und zweien der Mörder, deren wächsernem Konterfei der junge Doyle bei Madame Tussauds ins Gesicht geblickt hatte, werden wir gleich in Texten von ihm begegnen: George Victor Townley in der Erzählung „­George Vincent Parkers Liebesgeschichte“ und ­George Mullins in „Der diskussionswürdige Fall der Mrs. Emsley“ (wobei Doyle einen kleinen Zweifel belassen wird, ob Mullins tatsächlich der Täter war).

Ganz gleich, ob man in Doyles jugendlichem Enthusiasmus nur eine Anekdote, vielleicht ein prägendes Erlebnis oder gar einen Grundstein für seine Entwicklung zum Kriminalschriftsteller sehen will, gewiss ist, dass Doyle sich von früh an – und ein Leben lang – für die Rätsel und Verwicklungen wahrer Verbrechen interessiert hat und sein diesbezüglicher Wissensdrang zum erfolgreichsten Teil seines reichen Werks beigetragen hat. Doyle besaß eine beachtliche Sachbuch-Kriminalbibliothek, war als Student und Assistent des Edinburgher Universitätsprofessors Dr. Joseph Bell (1837–1911) in die Anfänge der forensischen Wissenschaft involviert, griff selbst umfangreich in offene Fragen von Kriminalfällen ein, in denen er das Recht verletzt oder infrage gestellt sah, lieferte Mutmaßungen und Theorien zu in der Öffentlichkeit diskutierten Verbrechen und war 1904 eines der zwölf Gründungsmitglieder des sogenannten „­Crimes Club“, in dem im kleinen Kreis und unter strengster Geheimhaltung aktuelle oder historische Fälle unter Fachleuten erörtert wurden.

Dieses Buch versammelt Arthur Conan Doyles „True Crime“-Texte und besteht aus drei Abteilungen. Die erste enthält drei Erzählungen Doyles über Verbrechen im viktorianischen England, die allesamt in der Täterfrage geklärt scheinen, in anderer Hinsicht jedoch dauerhaft Rätsel aufgeben. Die Texte erschienen von März bis Mai 1901 unter dem Sammeltitel „Seltsame Studien aus dem Leben“ („Strange Studies from Life“) in jenem „Strand Magazine“, das durch den Erstdruck der Sherlock-Holmes-Erzählungen nachhaltige Berühmtheit erlangte. Parallel zur Abfassung der „Seltsamen Studien“ arbeitete Doyle übrigens an seinem nächsten Holmes-Stoff, „Der Hund der Baskervilles“, dessen Fortsetzungen ihnen ab der August-Ausgabe im „Strand Magazine“ folgten.

Illustration von Sidney Paget zu „Der Hund der Baskervilles“

Die zweite Abteilung besteht aus Doyles Schriften zum Fall George Edalji. Was es damit auf sich hat, wird in einer kurzen Einleitung dort beschrieben. „Warum Geister gute Detektive abgeben können“ lautet der Titel der dritten Abteilung, in der der Leser eine Verquickung von wahren Kriminalfällen mit überlieferten Geistergeschichten findet, die eine eigene, Doyle ausgesprochen wichtige Seite in seinem Werk aufschlagen.

Einen Fall, der mit in den Zusammenhang der Texte dieses Bandes gehört, wird der Doyle-Kenner in diesem Buch vermissen: den Fall Oscar Slater, mit dem sich Doyle jahrelang beschäftigte und in den er auf entscheidende Weise eingriff. Slater, ein deutscher, in Edinburgh lebender Jude, hatte im Dezember 1908 angeblich eine alte Frau namens Marion Gilchrist ermordet, um ihr ihre Juwelensammlung zu rauben. Slater wurde im Mai 1909 vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Die Beweislage schien allerdings den einen oder anderen Widerspruch zu enthalten, und Slaters Strafe wurde im letzten Moment vor der Hinrichtung in lebenslängliche Haft in einem Zuchthaus umgewandelt – ohne Möglichkeit einer neuen juristischen Überprüfung und unter Ausschluss einer Entlassung. Doyle ging dem Fall gewissenhaft nach und fügte den ohnehin schon vorhandenen Fragen den Nachweis zahlreicher weiterer Widersprüche und Ungereimtheiten in der Arbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft hinzu. Ein spannender Fall, der in die Geschichte der britischen Kriminalgeschichte einging und der durch Doyle dazu führte, dass eine neue Instanz im englischen Justizwesen eingeführt wurde, die die Überprüfung bereits gefällter Urteile ermöglichte. Die Tatsache, dass er in diesem Buch fehlt, ist freilich kein sträfliches Versäumnis, sondern einzig dem Umstand geschuldet, dass Doyles Buch „Der Fall Oscar Slater“ 2016 – in deutscher Erstausgabe – bereits im Morio Verlag erschienen ist.

Doch nun ins viktorianische England, in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Doyle schickte seinen drei Erzählungen eine allgemeine Vorbemerkung voraus: „Die Fälle, um die es in diesen Texten geht, sind Studien über wahre Verbrechen der Kriminalgeschichte, allerdings wurden gelegentlich Namen geändert, soweit deren Beibehaltung noch lebenden Angehörigen Schmerz hätte bereiten können.“ Für „George Vincent Parkers Liebesgeschichte“ und „Der diskussionswürdige Fall der Mrs. Elmsley“ wandelte er diesen Vorspanntext allerdings leicht ab und sprach hier von „Studien der Kriminalpsychologie“.

Die Bilder der drei Erzählungen stammen von Sidney Paget (1860–1908), dessen Sherlock-Holmes-Illustrationen größte Wertschätzung genießen und die Figur mitgeprägt haben. Die Bildunterschriften entsprechen denen, die im „Strand Magazine“ verwendet wurden.

Die Blutnacht von Manor Place

Studiert man die Psychologie des Verbrechens, drängt sich der Schluss auf, dass die gefährlichste aller Geistesgesinnungen die des zügellosen Egoisten ist. Ein solcher Mensch hat jeglichen Sinn für Verhältnismäßigkeit verloren. Sein eigener Wille und sein Eigeninteresse haben das Bewusstsein für die Verantwortung, die er der Gemeinschaft schuldet, vollständig vernichtet. Impulsivität, Neid und Rachsucht begünstigen häufig das Verbrechen, aber der krankhafte Egoismus gehört zu seinen gefährlichsten, hässlichsten Wurzeln. Sir Willoughby Patterne, der ewige Prototyp aller Egoisten, mag ein amüsanter, harmloser Charakter sein, solange die Dinge für ihn gut laufen, aber sobald sich ihm Widerstand entgegenstellt, sobald ihm das, was er begehrt, vorenthalten wird, kann es verheerendste Folgen haben.

Huxley meinte, dass ein Mensch in seinem Leben auf ewig ein Spiel mit einem unsichtbaren Gegner spiele, der seine Existenz lediglich dann spürbar mache, wenn er, sobald man einen Fehler im Spiel begehe, eine Strafe verhängt. Der Spieler, der den Fehler des Egoismus begeht, kann eine schreckliche Zeche dafür zahlen müssen – aber ein sonderbarer Umstand in den Regeln des Spiels ist, dass möglicherweise andere, die nicht mehr als Zuschauer seines Spiels sind, ihm die Zeche zu zahlen helfen müssen.

Lesen Sie die Geschichte von William Godfrey Youngman und sehen Sie, wie schwierig die Regeln zu begreifen sind, nach denen diese Strafen verhängt werden. Und erleben Sie mit, dass Egoismus keine harmlose Bagatellsünde, sondern eine vergiftete Wurzel ist, aus der sich die monströsesten Auswüchse entwickeln.

Ungefähr vierzig Meilen südlich von London und nahe des ziemlich aus der Mode gekommenen Badeorts ­Tunbridge Wells liegt das kleine Städtchen Wadhurst, noch innerhalb der Grenzen von Sussex, freilich an einem Fleck, der im Grenzgebiet zu Kent liegt. Die Landschaft ist ausnehmend idyllisch und die Bauern sind prosperierende Leute, denn sie leben nahe genug an der Metropole, um Vorteil aus deren mächtigem Appetit zu ziehen.

Unter diesen Bauersleuten lebte im Jahr 1860 ein Mann namens Streeter, Herr über ein kleines Gehöft und Vater einer hübschen Tochter, Mary Wells Streeter. Mary war ein starkes, patentes Mädchen, Anfang zwanzig, geschickt in jeglicher Landarbeit und mit einiger Kenntnis des Stadt­lebens, denn sie hatte Freunde dort und insbesondere einen: einen jungen Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, den sie bei einem ihrer gelegentlichen Besuche kennengelernt hatte und der sie derart bewunderte, dass er tatsächlich bis nach Wadhurst hinausgekommen war und eine Nacht unter dem Dach ihres Vaters verbracht hatte.

Der Vater hatte keine Einwände gegen den Verehrer vorgebracht, einen lebhaften, gebieterischen, jungen Burschen, der ein bisschen vage in der Beschreibung seines Berufs und seiner Aussichten blieb, sich jedoch als vorzüglicher Gefährte für Kamingespräche erwies. Und so fügte es sich, dass der undurchsichtige Städter William Godfrey Youngman sich mit der einfachen, auf dem Land aufgewachsenen Mary Wells Streeter verlobte, wobei William alles über Mary wusste, Mary hingegen recht wenig über William.

Am 29. Juli des betreffenden Jahres, einem Sonntag, saß Mary nachmittags am Wohnzimmerfenster des Bauernhauses. Sie hatte ihr Bündel Liebesbriefe im Schoß liegen und las sie wieder und wieder.

Das Bündel Liebesbriefe in ihrem Schoß

Draußen lag der kleine Hof mit der freien, grünen Rasenfläche, die von der heimeligen Pracht eines englischen Landgartens mit ihren hohen Stock­rosen, den großen, nickenden Sonnenblumen, den Fuchsienbüschen und den duftenden Büscheln von Sweet William gesäumt wurde. Durch das offene Gitterfenster drangen der feine, delikate Duft des Flieders und das beständige, leise Summen der Bienen. Der Bauer hatte sich zu dieser Zeit zu seinem ausgedehnten Sonntagnachmittags-Schlummer gelegt und Mary das Zimmer ganz für sich.

Alles in allem waren es fünfzehn Liebesbriefe, einige kürzer, andere länger, einige hocherfreulich, andere mit eingesprenkelten geschäftlichen Anmerkungen, die ihr Falten in die hübschen Brauen warfen.

Da war zum Beispiel diese Versicherungsangelegenheit, die ihrem Liebsten ein derart hohes Maß an Unruhe verursacht hatte, bis sie schließlich einwilligte. Keine Frage, er kannte die Welt besser als sie, und doch fand sie es eigenartig, dass sie, so jung und munter, wie sie war, von ihm ein ums andere Mal gebeten wurde, für den Fall ihres Todes vorgesorgt zu haben. Selbst in ihrer glühenden Liebe versetzten solche Worte ihrem Herzen einen kalten Schauer.

„Liebstes Mädchen“, hatte er geschrieben, „ich habe das Formular nun ausgefüllt und es ins Büro der Lebensversicherung gebracht. Von dort wird man heute noch an Mrs. James Bone schreiben, um bis Samstag eine Antwort zu erhalten. Folglich kannst du am Montag vor zwei Uhr mit mir zum Büro gehen.“

Und dann, nur zwei Tage später, hatte er seinen Brief mit folgenden Worten begonnen:

„Du hast mir im Vertrauen immer versprochen – und ich erwarte, dass du dein Versprechen hältst –, dass du mir gehörst und dass es deine Freunde erst erfahren, wenn wir verheiratet sind. Aber nun, liebste Mary, wenn du nur Mrs. James Bone sofort ans Versicherungsbüro schreiben lassen und mit mir am nächsten Montagmorgen hingehen würdest, um dein Leben versichern zu lassen!“

So lauteten Auszüge aus den Briefen, und sie verwirrten Mary, als sie sie las. Freilich würde es damit nun vorbei sein und er fortan nicht mehr Geschäft und Liebe miteinander vermischen, denn sie hatte seiner fixen Idee nachgegeben und die Versicherung über einhundert Pfund ordnungs­gemäß abgeschlossen. Sie kostete sie eine vierteljährliche Summe von zehn Schillingen und vier Pence, und damit schien er’s zufrieden zu sein, deshalb wollte sie nicht mehr daran denken.

Sie hörte das Gartentor aufschnappen, und als sie aufblickte, erkannte sie den Bahnhofs-Gepäckträger mit einem Schreiben in der Hand den Pfad heraufkommen. Als er sie am offenen Fenster sitzen sah, überreichte er es ihr und verabschiedete sich, verschmitzt lächelnd, ein kurioser Liebesbote in seinen schweren Stiefeln und Kordhosen – der Bote eines grimmigeren Gottes als Amor, was er freilich nicht ahnte.

Begierig riss sie den Umschlag auf, und dies ist der Brief, den sie las:

„16 Manor Place, Newington, S. E.

Samstagabend, den 28. Juli

 

Meine geliebte Polly,

ich habe heute Nachmittag einen Brief an dich geschickt, aber wie ich sehe, werde ich morgen nicht nach Brighton gehen müssen, denn ich habe von dort einen Brief mit dem Gewünschten erhalten. Also, mein liebes Mädchen, meine Angelegenheiten sind nun vollständig geregelt, und ich bin ganz bereit, dich nun zu sehen, deshalb sende ich dir diesen Brief. Ich lasse ihn morgen früh um 6.30 Uhr zum Bahnhof London Bridge bringen, von wo ihn der Schaffner zum Bahnhof Wadhurst mitnimmt und dort dem Gepäckträger übergibt, der ihn dir anschließend zustellen wird. Ich kann nur dem Schaffner etwas Geld geben, gib also dem Mann, der ihn dir zustellt, einen kleinen Betrag.

Ich erwarte dich, mein liebes Mädchen, am Montagmorgen mit dem ersten Zug. Ich werde deine Ankunft im Bahnhof London Bridge erwarten. Ich weiß, wann der Zug ankommt: um Viertel vor zehn.

Ich habe meinem Onkel versprochen, ihn morgen zu besuchen, deshalb kann ich nicht zu dir kommen und dich abholen. Aber ich werde dich am Montagabend oder gleich früh am Dienstagmorgen nach Hause begleiten, und dann bin ich am Dienstagabend wieder hier zurück und kann am Mittwoch aufbrechen. Doch das weißt du ja alles, weil ich es dir erzählt habe, und ich erwarte nun, dass du am Montagmorgen hierherkommst, damit ich in der Lage bin, die Dinge so zu regeln, wie ich es zu tun beabsichtige.

Entschuldige, dass ich nun enden muss, meine liebste Mary. Ich gehe jetzt zu Bett, weil ich morgen sehr früh aufstehen will, um diesen Brief auf den Weg zu bringen. Bring all deine Briefe mit oder verbrenne sie, mein liebes Mädchen. Vergiss das nicht. Und mit herzlichen Grüßen und Wünschen an alle schließe ich hiermit und erwarte dich am Montagmorgen um Viertel vor zehn. Vertraue mir,

 

dein dich ewig zärtlich liebender

William Godfrey Youngman.“

Eine ziemlich drängende Einladung zu einem freudigen Tag ist das; und ganz gewiss enthält sie einige sonderbare Formulierungen. Was meinte er mit den Worten, dass er die Dinge so regeln werde, wie er es zu tun beabsichtigt? Und warum sollte sie die Liebesbriefe verbrennen oder mitbringen? In dieser Hinsicht war sie immerhin entschlossen, ihrem gebieterischen Geliebten, der stets in solch autoritärer Art „erwartete“, dass sie dies oder jenes täte, nicht zu gehorchen. Ihre Briefe waren ihr viel zu wertvoll, um mit ihnen derart sorglos oder überstürzt zu verfahren. Sie legte sie, nunmehr sechzehn an der Zahl, in die kleine Zinnschachtel zurück, in der sie ihre kleinen Schätze aufbewahrte, und dann lief sie los zu ihrem Vater, dessen Schritte sie auf der Treppe vernahm, um ihm von der Einladung und den Freuden zu erzählen, die sie am morgigen Tag erwarteten.

Am nächsten Morgen wartete William Godfrey Youngman um Viertel vor zehn im Bahnhof London Bridge an jenem Gleis, auf dem der Zug aus Wadhurst einfahren und seine Geliebte in die Stadt bringen würde. Kein Mensch, der seinen Blick über die Wartenden im Bahnhof schweifen ließe, hätte ihn als jenen Mann ausgemacht, dessen Name und berüchtigte Bekanntheit innerhalb eines Tages bei den drei Millionen Einwohnern von London in aller Munde sein würden. Er war hochgewachsen und von guter Statur, in seiner Erscheinung freilich unauffällig und von einem Charakter, aus dem sich einzig jener kolossale Egoismus, in den sich Krankhaftigkeit mischte und der ihn glauben ließ, alle Dinge müssten sich seinen Bedürfnissen und Wünschen unterordnen, aus der völligen Unscheinbarkeit heraushob. Dermaßen verdreht war seine Perspektive, dass es ihm gar so schien, als müssten Menschen, wenn er sie getäuscht sehen wollte, zwangsläufig getäuscht sein, und dass noch die schwächste List oder Entschuldigung, sobald sie nur von ihm käme, unhinterfragt akzeptiert werden müsste.

Er war, wie sein Vater früher, wandernder Schneidergeselle gewesen, aber da er sich verbessern wollte, hatte er eine Stelle gesucht und sie als Bediensteter eines gewissen Dr. Duncan aus Covent Garden gefunden. Dort hatte er eine Weile zur Zufriedenheit gearbeitet, seine Stellung aber schließlich aufgegeben. Er war zurück ins Haus seines Vaters gezogen, wo er seit einiger Zeit von der Großzügigkeit seiner hart arbeitenden Eltern lebte. Er sprach unbestimmt davon, in die Landwirtschaft zu gehen, und es war zweifellos sein kurzes Erleben von Wadhurst mit seinen wohlriechenden Kühen und Sussex-Brisen gewesen, das diese Idee in seinen Cockney-Kopf eingegeben hatte.

Sie gingen gemeinsam den Bahnsteig entlang

Aber jetzt fährt der Zug ein, und dort am Fenster eines Dritte-­Klasse-Waggons ist Mary Streeter mit ihren rosigen Wangen vom Lande, umso rosiger gerade, da sie ihren wartenden Geliebten erblickt. Er nimmt ihre Tasche, und gemeinsam gehen sie zwischen Frauen in Krinolinen und Männern in weiten Hosen – ein Bild, das uns das London dieser Zeit weit entfernter und sonderbarer erscheinen lässt als jenes des vorhergehenden Jahrhunderts – das Gleis entlang. Er lebt in Walworth im Süden Londons, und ein strohbestreuter Omnibus, der vor dem Bahnhof abfährt, bringt sie beinahe bis vor die Haustür. Um elf Uhr erreichten sie Manor Place, wo Youngmans Familie wohnte.

Die Einrichtung der Wohnungen in Manor Place war eigentümlich. Da sich in England das Prinzip der Etagenwohnung noch nicht entwickelt hatte, erzielten die Leute das gleiche Resultat auf andere Weise. Der Besitzer oder Hauptmieter eines dreigeschossigen Hauses bewohnte das Parterre und vermietete dann seinen ersten und zweiten Stock an andere Familien unter. Im vorliegenden Fall bewohnte Mr. James Bevan das Parterre, Mr. und Mrs. Beard den ersten und die Youngman-Familie den zweiten Stock von Manor Place Nr. 16. Die Geschossdecken waren dünn und der Aufgang eine Gemeinschaftstreppe für alle, so dass man sich vorstellen kann, dass jede Familie ein lebhaftes Interesse am Treiben der jeweils anderen nahm. Infolgedessen waren sich Mr. und Mrs. Beard aus dem ersten Stock vollkommen im Klaren darüber, dass der junge Youngman seine Liebste mit nach Hause gebracht hatte, und sie waren sogar in der Lage, durch halbgeöffnete Türen einen Blick auf sie zu erhaschen und später zu berichten, dass sein Verhalten ihr gegenüber ausgesprochen aufmerksam war.

Die Familie, der er sie vorstellte, war nicht groß. Der Vater verließ die Wohnung allmorgendlich um fünf Uhr, um seine Schneidertätigkeit aufzunehmen, und kam um zehn Uhr abends zurück. Es verblieben lediglich die Mutter, eine freundliche, bekümmerte, hart arbeitende Frau, und zwei jüngere Söhne von elf und sieben Jahren. Um elf Uhr waren die Jungs in der Schule und die Mutter allein zu Hause. Sie begrüßte ihre Besucherin vom Land und musterte sie aufmerksam, um einen Eindruck von ihr zu gewinnen, wie das Mütter eben tun, wenn sie jene Frau kennenlernen, die ihr Sohn höchstwahrscheinlich heiraten wird. Sie aßen gemeinsam, und anschließend brachen die beiden auf, um sich London anzusehen.

Niemand weiß, welchen Vergnügungen sich dieses einzigartige Paar zuwandte – er mit einem wilden, unbarmherzigen Ziel im Herzen, sie in Verwunderung über sein abwesendes Verhalten –, und sie plauderten über Klatsch vom Lande, während die Schatten des Todes sich bereits unmittelbar über ihnen zu sammeln begannen.

Ein geringfügiges Vorkommnis ist überliefert. Ein gewisser Edward Spicer, ein gutmütiger, ehrlicher Gastwirt, der den „Green Dragon“ in Bermondsey Street führte, kannte Mary Streeter und ihren Vater. Das Paar betrat gemeinsam das Gasthaus, und Mary stellte ihren Geliebten vor. Wir wissen nicht, welchen beredten Blick dieser Gastwirt im Gesicht des jungen Mannes beobachtet haben mag oder welch bösartigen Charakterzug er scharfsinnig in ihm erkannt haben will, jedenfalls zog er das Mädchen beiseite und flüsterte ihm zu, dass es besser für sie wäre, sich ein Seil zu nehmen und sich gleich in seiner Kegelbahn zu erhängen, als einen Mann wie diesen zu heiraten – eine Warnung, die das gleiche Schicksal erlitten zu haben scheint wie die meisten Warnungen an Mädchen, die sich auf ihren Geliebten beziehen.

Abends gingen sie zusammen ins Theater und sahen sich eine von Macreadys Tragödien an, ohne dass Mary, während sie dort im vollbesetzten Parterre saß, im Mindesten hätte ahnen können, dass ihre eigene Tragödie noch weit grimmiger ausfallen würde als jene auf der Bühne. Es war elf Uhr nachts, als sie nach Manor Place zurückkehrten.

Sie saß im dichtgedrängten Zuschauerraum mit ihrem schweig­samen Geliebten an ihrer Seite

Der hart arbeitende Schneider war zu dieser Zeit zurückgekehrt, und die versammelte Familie aß gemeinsam. Dann teilen sie sich für die Nacht zum Schlafen zwischen den beiden Räumen auf, aus denen die Wohnung bestand. Die Mutter, Mary, und der siebenjährige Junge belegten das vordere Zimmer. Der Vater schlief im hinteren auf seinem eigenen Schneidertisch, während sich der junge Mann und der elfjährige Junge das Bett neben ihm teilten. Sie legten sich so gewöhnlich zur Ruhe, wie es jede andere Familie in London tut, und hätten es nicht für möglich gehalten, dass sich innerhalb eines Tages das Interesse der ganzen Stadt auf diese beiden dunklen Räume und das Schicksal ihrer Bewohner konzentrieren würde.

Der Vater erwachte zu sehr früher Stunde und sah im schwachen Licht der Dämmerung die hohe Gestalt seines Sohnes in Weiß neben seinem Bett stehen. Auf eine verschlafene Bemerkung, dass es noch arg früh sei, murmelte der junge Mann eine Entschuldigung und legte sich wieder hin.

Um fünf Uhr stand der Schneider auf, um seinen langen, arbeitsreichen Tag zu beginnen, und zwanzig Minuten später stieg er die Treppe hinunter und verließ das Haus. Auf diese Weise ging der einzige Zeuge, und alles, was nun bleibt, besteht aus Mutmaßung und Schlussfolgerung aufgrund von Indizien. Niemals wird man die Geschehnisse, die jetzt eintraten, präzise beschreiben können, und das gilt auch für den Chronisten, denn die Einzelheiten werden mit Gewissheit nicht mehr aufzuklären sein. Motive und Geistesverfassung des Mörders bleiben jedem Studierenden der menschlichen Natur von Interesse, doch das Protokoll seiner verachtungswürdigen, brutalen Taten mag zu vernachlässigen erlaubt sein, sobald den Zwecken der Gerechtigkeit durch ihre Aufzählung genügt ist.

Wie berichtet, lebte in der Etage unter den Youngmans ein Paar namens Beard. Um halb sechs, nicht lange, nachdem der Schneider die Haustür hinter sich geschlossen hatte, beunruhigte Mrs. Beard ein Geräusch, von dem sie meinte, es stamme von hin und her laufenden, spielenden Kindern. Es schien wie leichtes Getrappel von Füßen auf dem Boden oben. Als sie jedoch konzentriert lauschte, traf sie die Erkenntnis, dass etwas Ungewöhnliches in diesem kleinen Aufruhr zu so früher Stunde lag, weshalb sie ihren Ehemann anstupste und ihn fragte, was er davon halte.

Dann, als sich die beiden im Bett aufgesetzt hatten und angestrengt horchten, kam von oben ein erstickter Schrei und das dumpfe, weiche Aufschlagen eines fallenden Körpers. Beard sprang aus dem Bett und eilte die Treppe hinauf, bis sein Kopf auf Höhe des Treppenabsatzes der Youngmans war. Er sah genug, um schreiend hinunter ins Parterre zu Mr. Bevan zu jagen.

„Um Gottes willen, kommen Sie! Mord!“, brüllte er, während er mit zitternden Fingern am Türgriff zum Schlafzimmer des Vermieters rüttelte.

Sein Weckruf fand denselben nicht vollständig unvorbereitet. Der Böses verkündende Aufprall war laut genug gewesen, um noch seine Ohren zu erreichen. Er sprang mit pochendem Herzen aus dem Bett, und die beiden Männer in ihren Nachtgewändern erklommen die knarrende Treppe, ihre angstvollen Gesichter vom Leuchten des goldenen Sonnenlichts eines Julimorgens erhellt. Erneut scheinen sie nicht weiter gekommen zu sein als bis zum Treppenabsatz. Der Haufen übereinanderliegender, weißgekleideter Gestalten, die mit blutenden Wunden und roten Schmierstreifen im Eingangsbereich lagen, war mehr, als ihre Nerven aushielten. Drei zählten sie, die dort auf dem Treppenabsatz lagen, alle bereits tot. Und jemand bewegte sich im Badezimmer. Die Geräusche kamen auf sie zu. Mit schreck­erstarrten Augen sahen sie William Godfrey Youngman in der Tür zum Flur auftauchen, der weiße Schlafanzug leuchtend vor grausigen Blutstreifen und die Ärmel zerrissen über seiner Hand hängend.

„Mr. Beard“, schrie er, als er die beiden bleichen Gesichter auf der Treppe sah, „um Himmels willen, holen Sie einen Arzt. Vielleicht ist noch einer am Leben.“

Dann, als sie sich umdrehten und wieder die Treppe hinunterliefen, rief er ihnen die einzige Erklärung hinterher, zu der er jemals zu bringen war:

„Meine Mutter hat das getan, sie hat meine beiden Brüder und meine Liebste ermordet, und ich glaube, ich habe sie, als ich mich gegen sie verteidigte, getötet.“

Die beiden Männer blieben nicht stehen, um mit ihm über diese Frage zu diskutieren. Sie eilten beide in ihre Räume, warfen sich rasch in ihre Kleider und rannten auf der Suche nach einem Arzt und einem Polizisten aus dem Haus, Youngman zurücklassend, der auf der Treppe stehen blieb und seine seltsame Erklärung wiederholte.

Wie angenehm die Morgenluft ihnen geschienen haben muss, als sie endlich aus dem verfluchten Haus hinaus waren, und wie die ehrlichen Milchmänner mit ihren schwingenden Zinnkannen sie angestarrt haben müssen, wie sie da so aufgelöst rannten. Aber sie mussten nicht weit laufen. John Varney, Polizist aus der Abteilung P der Londoner Schutzmannschaft – so solide und fantasielos wie das Gesetz, das er vertrat –, stand an der Straßenecke und kam mit beruhigender Langsamkeit und Würde schwerfällig mit ihnen.

„Oh, Herr Polizist, hier ist der schreckliche Anblick! Was soll ich tun?“, schrie Youngman, als er den glänzenden Hut des Beamten die Treppe hinaufkommen sah.

Konstabler Varney war durch den grauenvollen Pulk des Todes nicht aus der Ruhe zu bringen. Sein Rat ist praktischer Natur und auf den Punkt:

„Gehen Sie und ziehen Sie sich an.“

„Ich habe meine Mutter erschlagen, aber es war in Notwehr“, schrie sein Gegenüber. „Hätten Sie nicht dasselbe getan? Es ist nach dem Gesetz.“

Konstabler Varney ließ sich auf keine juristische Diskussion ein, ist hingegen überzeugt, dass es das Beste sei, wenn sich Youngman jetzt endlich anziehe.

Mittlerweile sammelte sich auf der Straße eine Menschenmenge an, und ein weiterer Polizist und ein Inspektor kamen hinzu. Es war offensichtlich, dass Youngman – ob seine Geschichte nun korrekt war oder nicht – nach eigenem Geständnis ein Tötungsdelikt begangen hatte und deshalb festzunehmen war. Als jedoch ein Messer in Dolchart, dessen Klinge durch die Wucht der wiederholten Schläge gebrochen war, auf dem Boden gefunden wurde und Youngman bekennen musste, dass es ihm gehöre; als zudem erkannt wurde, dass enorme Kraft und Energie nötig waren, um die beigebrachten schweren Wunden hervorzurufen, stellte sich allmählich heraus, dass dieser Mann nicht das unschuldige Opfer der Ereignisse, sondern einer der schlimmsten Verbrecher des Jahrhunderts war. Doch alle Beweiskraft musste auf Indizien gestützt bleiben, denn Mutter, Geliebte und Brüder – die Münder aller waren in einer unterschiedslosen Metzelei geschlossen worden.

Das Grauenhafte und die anscheinende Sinnlosigkeit der Tat erregten im höchsten Maße öffentliches Interesse und allgemeine Verachtung. Die erbärmliche Summe, auf die das Leben der armen Mary versichert worden war, schien das einzige Motiv des Verbrechens. Die Begierigkeit des Verhafteten, den Vertrag abzuschließen, und sein Verlangen, dass die Briefe vernichtet werden sollten, in denen er dies gefordert hatte, bildeten die stärkste Beweislast gegen ihn. Zu gleicher Zeit schien seine Annahme, dass die Dinge in seinem Sinn geregelt würden und die Argus Versicherungsgesellschaft das Geld jemandem auszahlen würde, der weder Ehemann noch Verwandter der Verstorbenen war, auf eine Unkenntnis in diesen Geschäftsdingen oder einen Glauben an seine eigene Fähigkeit, die Dinge nach Belieben manipulieren zu können, hinzudeuten, was in beiden Fällen an Geistesverwirrtheit gemahnte. Weil sich zu alledem im Prozess herausstellte, dass die Familie von beiden Linien her mit Fällen von Wahnsinn durchsetzt war, dass die Mutter der Frau und der Bruder des Ehemanns in Irrenanstalten saßen und der Vater des Mannes ebenfalls in einem Irrenhaus war und erst kurz vor seinem Tod Anzeichen von Rückkehr des Verstandes gezeigt hatte, erscheint es zweifelhaft, ob der Fall nicht besser aus einer medizinischen denn einer kriminellen Sicht beurteilt worden wäre. In unseren heutigen Tagen größerer Wissenschaftlichkeit und Humanität wäre es vielleicht fraglich, ob Youngman gehängt werden würde, aber im Jahr 1860 gab es nicht den geringsten Zweifel über sein Schicksal.

Der Prozess begann am 16. August unter Richter Justice Williams im Central Criminal Court. Wenige neue Erkenntnisse wurden vorgebracht, abgesehen davon, dass das Messer seit längerem im Besitz des Angeklagten gewesen war. Er hatte es einmal in einer Kneipe vorgezeigt, was einen der Umstehenden – mit der guten britischen Liebe zu Recht und Gesetz – zur Bemerkung veranlasste, dies sei eine Art von Messer, die kein Mensch bei sich tragen sollte.

„Jeder“, gab Youngman zur Antwort, „hat das Recht, solch ein Messer bei sich zu tragen, wenn er es zu seiner eigenen Verteidigung angemessen findet.“

Der Mann, der den Einwand vorbrachte, ahnte vielleicht nicht, wie nah er möglicherweise in diesem Moment daran gewesen war, die Messerspitze zwischen die eigenen Rippen zu bekommen. Im Prozess wurde nichts ernsthaft Nachteiliges gegen den früheren Charakter des Angeklagten vorgebracht, und er blieb unerschütterlich bei seiner eigenen Aussage über die Tragödie. In seiner Zusammenfassung stellte Richter Justice Williams allerdings mit Nachdruck fest, dass – wenn die Aussage des Angeklagten wahr wäre – es bedeuten würde, dass er seine Mutter entwaffnet hatte und damit in den Besitz des Messers gelangte. Welche Notwendigkeit habe dann für ihn bestanden, sie zu töten – und warum brachte er ihr eine solche Vielzahl an Wunden bei? Dieses Argument sowie die Tatsache, dass an den Händen der Mutter keine Blutflecke gefunden wurden, überzeugte die Geschworenen, und infolgedessen wurde der Angeklagte schuldig gesprochen.

Sein Vater besuchte ihn

Youngman zeigte auf der Anklagebank ein unbewegtes Verhalten, doch im Gefängnis äußerte er Zeichen einer verstörenden, gelegentlich gewaltsamen Natur. Sein Vater besuchte ihn, und der Gefängnisinsasse brach augenblicklich in wilde Vorwürfe darüber aus, wie dieser seine Familie behandelt habe – Vorwürfe, für die es nicht die geringste Rechtfertigung zu geben schien. Eine andere Sache, die ihn offenbar mit Bitterkeit erfüllte, weil sie ihn aufs Empfindlichste traf, war die Aussage des Wirts – die er während des Prozesses zum ersten Mal hörte –, dass dieser Mary gesagt habe, sie solle sich lieber in seiner Kegelbahn erhängen als diesen Mann heiraten. Sein Selbstwertgefühl, der stärkste Zug in seinem Wesen, wurde durch solche Rede grausam verletzt.

„Es gibt nur eines, das ich wünsche“, schrie er wild, „nämlich diesen Mann Spicer in die Hände kriegen, damit ich ihm den Kopf abschlagen kann.“

Der widernatürliche, blutdürstige Charakter der Drohung ist charakteristisch für den Mord-Wahnsinn.

„Glaubst du etwa“, fügte er mit einem feinen Zug von Eitelkeit hinzu, „ein Mann von meiner Entschlossenheit und meinem Temperament hört zu, wie jemand in meiner Gegenwart so etwas sagt, ohne ihn zu Boden zu schlagen?“

Aber trotz allen Zuredens und aller Überredungsversuche nahm er sein Geheimnis mit ins Grab. Er wich niemals von seiner Aussage ab, die er sich wahrscheinlich vor der Tat zurechtgelegt hatte.

„Verlass diese Welt nicht mit einer Lüge auf den Lippen“, sagte der Kaplan, während sie zum Galgen gingen.

„Es wäre eine Lüge“, entgegnete Youngman, „wenn ich sagen würde, dass ich es getan habe.“ Mit seinem starken Selbstbewusstsein hoffte er bis zum Ende, dass die Geschichte, die er vorgebracht hatte, nicht fehlen konnte, tatsächlich akzeptiert zu werden. Noch im Angesicht des Galgens lauerte er auf eine Begnadigung.

Am 4. September – etwas mehr als einen Monat, nachdem die Tat begangen worden war – wurde er vor das Gefängnis von Horsemonger geführt, um seine Strafe zu erleiden. Eine gedrängte Masse von 30 000 Menschen, von denen viele die ganze Nacht gewartet hatten, erhob ein brutales Geheul bei seinem Erscheinen. Damals wurde geschrieben, dass dies eines der wirklich wenigen Beispiele der Vollstreckung einer Todesstrafe war, bei der sich keine Stimme des Mitgefühls erhob und kein Philanthrop irgendeiner Ausprägung gefunden werden konnte, der ein einziges Wort gegen die Todesstrafe sagte. Youngman starb ruhig und gefasst.