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Was haben Pflanzen uns zu sagen? Sehr viel, weiß Burkhard Bohne – denn Pflanzen sind ein perfektes Beispiel für kollektive Intelligenz. Bohne plädiert für mehr Achtsamkeit im Umgang mit der Natur: Wer sich Pflanzen zuwendet, wird anders auf unseren gemeinsamen Lebensraum schauen, denn sie bilden die Grundlage für fast alle Lebensprozesse auf der Erde. Doch es scheint, als hätten wir den Bezug zu ihnen verloren. Dabei liefern uns Pflanzen Nahrungsmittel, Heilmittel, Energie und vieles mehr. Grund genug, höchste Wertschätzung zu zeigen und sich den Pflanzen wieder anzunähern – und zu verstehen, was ihre Botschaft an uns Menschen ist.
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Seitenzahl: 290
Veröffentlichungsjahr: 2021
Burkhard Bohne
Was wir von der Natur lernen können und wie sie uns heilt
Was haben Pflanzen uns zu sagen? Sehr viel, weiß Burkhard Bohne – denn Pflanzen sind ein perfektes Beispiel für kollektive Intelligenz. Bohne plädiert für mehr Achtsamkeit im Umgang mit der Natur: Wer sich Pflanzen zuwendet, wird anders auf unseren gemeinsamen Lebensraum schauen, denn sie bilden die Grundlage für fast alle Lebensprozesse auf der Erde. Doch es scheint, als hätten wir den Bezug zu ihnen verloren. Dabei liefern uns Pflanzen Nahrungsmittel, Heilmittel, Energie und vieles mehr. Grund genug, höchste Wertschätzung zu zeigen und sich den Pflanzen wieder anzunähern – und zu verstehen, was ihre Botschaft an uns Menschen ist.
Burkhard Bohne, geboren 1962 in Northeim, ist Gärtnermeister und seit 1990 Technischer Leiter des Arzneipflanzengartens der TU Braunschweig. Er arbeitet zudem als freiberuflicher Autor für verschiedene Tageszeitungen und Gartenmagazine, ist Autor einiger Gartenbücher und arbeitet als Gartenplaner mit dem Schwerpunkt Kräuter- und Nutzgärten. 2011 gründete er die erste Kräuterschule Braunschweigs und 2016 die Kräuterschule Berlin. Er lebt mit seiner Familie in Braunschweig.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion Regina Carstensen
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung Ralf Geithe/iStock; Patrice Kunte
ISBN 978-3-644-00827-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Die Stimmen der Natur
Wenn die Vögel singen, rufen sie dabei die Blumen des Feldes
oder sprechen sie mit den Bäumen
oder ist ihr Gesang nur ein Widerhall dessen,
was das Bächlein murmelt?
Der Mensch mit all seiner Klugheit kann nicht verstehen,
was die Vögel sagen oder was der Bach vor sich hin murmelt
oder was die Wellen flüstern,
wenn sie langsam und sanft den Strand berühren.
Der Mensch in all seiner Klugheit kann nicht verstehen,
was der Regen spricht,
wenn er auf die Blätter in den Bäumen fällt
oder wenn er aufs Fensterbrett tropft.
Er weiß nicht, was der flüchtige Wind den Blüten zu erzählen hat.
Aber das Herz des Menschen ist imstande,
die Bedeutung dieser Stimmen zu fühlen und zu begreifen.
Oftmals bedient sich die ewige Wahrheit einer geheimnisvollen Sprache.
Seele und Natur unterhalten sich miteinander,
während der Mensch abseits steht, sprachlos und verwirrt.
Und hat der Mensch nicht Tränen vergossen über diese Stimmen?
Sind seine Tränen nicht ein beredtes Zeugnis seines Verstehens?
Khalil Gibran (1883–1931)
Das Jahr 2020 war ein ganz besonderes Jahr. Die Corona-Pandemie hatte die meisten Länder dieser Erde fest im Griff und sorgte für Einschränkungen im Arbeitsleben, besonders aber im privaten Bereich. Ich selbst hatte viel mehr Zeit als sonst, wanderte deshalb häufig durch Wälder, fuhr viel Fahrrad und war noch achtsamer als sonst unterwegs.
Doch 2020 blieb auch ein anderes Thema das wichtigste für mich, der sich immer stärker beschleunigende Klimawandel. In den vergangenen Jahren hatten wir mehrere lange und trockene Sommer mit nie zuvor gekannten Hitzeperioden, und selbst im Winter gab es kaum Niederschläge. Inzwischen haben Flüsse und Seen sehr niedrige Pegel, Grundwasser wird in einem atemberaubenden Tempo verbraucht, und unsere Böden und Pflanzen leiden unter einem erheblichen Wassermangel. Die Ernten liegen teilweise weit unter den Durchschnittserträgen, Bäume vertrocknen, sterben massenhaft ab, und es gibt nicht genügend Heu für die Tiere. Parallel schreitet das Artensterben in riesigen Schritten voran. Großflächig angelegte landwirtschaftliche Monokulturen, versiegelte Flächen, Bauwut und Schottergärten drängen die Natur immer weiter zurück.
Klimawandel und Artensterben haben ein erschreckendes Ausmaß angenommen, und als wäre das allein nicht genug, kam zusätzlich die Pandemie. Es schien, als würde die Welt völlig aus den Fugen geraten, und viele Menschen fühlten sich wie gelähmt. Doch vielleicht hat all das auch eine positive Seite: Vielleicht ist es an der Zeit zu erkennen, dass wir mit unserem Konsumverhalten den Bogen weit überspannt haben und dass wir unser Verhältnis zu anderen Menschen und besonders zur Natur neu denken müssen. Achtsamkeit und Gemeinsinn könnten ein Ansatz auf diesem Weg sein, und ich bin mir sicher, ein tiefer Blick in das Pflanzenreich kann uns dabei helfen.
Es ist ein herrlicher Morgen um die Sommersonnenwende. Wie so oft in dieser Jahreszeit wurde ich durch den lauten Gesang der Vögel in unserem Garten geweckt, und nun freue ich mich auf den vor mir liegenden Tag. An diesem Wochenende habe ich Gießdienst, und ich werde meine beiden Kräutergärten, den Arzneipflanzengarten der Technischen Universität Braunschweig und den Klostergarten Riddagshausen, besuchen. Mit dem Fahrrad radle ich die knapp zehn Kilometer zum Arzneipflanzengarten, denn es gibt einen Weg, der mich über Felder und Wiesen, durch Wälder und Parks führt. Weil ich genügend Zeit habe, trete ich sehr gemütlich in die Pedale.
In der vor mir liegenden Flussaue steigt leichter Dunst auf, es duftet nach feuchter Erde und frisch gemähtem Gras. Hinter den riesigen Pappeln des renaturierten Flüsschens Wabe steigt die Sonne langsam höher und taucht die Landschaft in warmes Licht. In den hohen Pappeln wachsen viele Misteln, und ich wundere mich, dass ich sie in den letzten Jahren kaum beachtet habe. Im Gegenlicht wirken die Misteln riesig, ja geheimnisvoll und mysteriös.
In den feuchten Wiesen quaken Frösche, es sind die männlichen Exemplare, denn sie bemühen sich um ein recht lautes Konzert – so stecken sie ihre Reviergrenzen per Klang ab und wollen Weibchen beeindrucken. Viel Erfolg! Ein Weißstorch stapft gemächlich umher, mit seinem langen Schnabel sucht er im Gras nach Nahrung. Es ist jedes Mal erstaunlich zu beobachten, wie perfekt die Natur alles hervorgebracht hat. Der Lebensraum für Wiesen und Bäume ist wiederum Lebensgrundlage für viele Tiere. Wir Menschen können uns wirklich glücklich schätzen, auf diesem unglaublichen Planeten zu leben.
Mein Weg führt mich weiter an Feldern vorbei, manchmal schiebe ich mein Rad, weil ich alles, was mir begegnet, intensiv mit meinen Sinnen aufnehmen möchte. Dank gelegentlichen Regens wächst das Getreide gut. Die Ackerränder werden weniger intensiv bewirtschaftet, eine mal erfreuliche Tatsache, was Klatschmohn, Kornblumen, Malven, Flockenblumen, Ackerrittersporn, Hundskamille oder die Echte Kamille in voller Blüte stehen lässt; dazwischen Wilder Senf, Gräser und die ersten blühenden Wegwarten. Die Felder verströmen einen völlig anderen Duft als die Wiesen, gerade jetzt im Juni, in dem Weizen, Roggen und Gerste langsam reifen. Die Ackerblumen werden von Insekten besucht – ein ständiges mit Summen und Brummen begleitetes Kommen und Gehen –, die von ihrem Nektar leben. Aber woher wissen die Hummeln und Bienen mit ihren Pollensäckchen eigentlich, wo all die Blüten zu finden sind? Was lässt sie diese finden? Welche Art von Intelligenz besitzen sie? Eine Feldlerche schwebt über dem Getreide, ich freue mich über ihre Flugkünste und ihren Gesang.
Es folgt ein kleines Waldstück, in dem Ahornbäume, Eichen und Buchen wachsen. Die dichten Baumkronen sind reich belaubt und werfen ein faszinierend flirrendes Licht auf den Waldboden, wo feuchte Blätter vermodern und einen erdigen, würzigen Duft verströmen. Sie beleben den Waldboden und lassen ihn fruchtbarer werden. Zwischen alten, großen Bäumen stehen viele junge, die für den Fortbestand des Waldes sorgen sollen.
Ich radle an einem kleinen Hang vorbei, an dem vor kurzem noch Bärlauch und Waldmeister blühten. Der Bärlauch bereitet sich auf den Sommer vor, indem er seine Blätter einzieht. Im Sommer selbst ziehen sich die Pflanzen in ihre Wurzeln zurück, um dann im nächsten Frühjahr wieder auszutreiben. Ein hervorragender Trick, denn im schattigen Wald gibt es in dieser Jahreszeit am Boden nicht genügend Licht zum Wachsen. In unmittelbarer Nähe stehen Maiglöckchen, die ebenfalls längst verblüht sind. Ihre ledrigen Blätter ähneln denen des Bärlauchs, doch sie sind viel fester und noch grün und scheinen mit dem wenigen Licht am Waldboden besser zurechtzukommen. Ähnlich geht es dem Waldmeister, dessen Blüten sich längst in klettige Früchte verwandelt haben. Ganz anders das einjährige Bingelkraut. Es hat große, weiche Blätter und beginnt, in unscheinbaren Blütenständen gelbgrün zu blühen. Es kommt offensichtlich mit viel weniger Licht aus als die anderen Waldkräuter. Am liebsten aber mag ich die sich ausrollenden Wedel des fiedrigen Wurmfarns, der zu den ältesten Gewächsen auf der Erde gehört. Die schmucken Blätter sind robust und bleiben den ganzen Sommer über grün.
Eine weitere Wiese. Das Gras ist licht und lässt Raum für zahlreiche Wiesenblumen. Mir fallen die farbenfrohen Nelkengewächse und die austreibenden Silberdisteln auf. Im Frühling habe ich hier Küchenschellen und Primeln entdeckt, und im Laufe des Sommers werden auf ihr Orchideen zum Blühen kommen. Wie sich die Vegetation auf diesem Kalkmagerrasen doch so grundsätzlich von der der ersten Wiese unterscheidet. Die magere Nelken- und Distelwiese wird von hohen Büschen umsäumt, Heckenrosen und Holunder blühen, Weißdorn und Schlehen haben schon Früchte angesetzt. Der intensive Duft des Ligusters dringt mir in die Nase. Kein Wunder, dass hier viele Falter herumflattern und sich auch andere Insekten den süßen Nektar der Blüten holen.
Weiter geht es an einem Bahndamm entlang und unter einer Brücke hindurch. Kleingärten tauchen auf. Auf der rechten Seite der prägnante Turm der Klosterkirche, der dazugehörige Garten ist mein zweites Ziel nach der Gießrunde im Arzneipflanzengarten der TU. Ich fahre am Kloster vorbei und erreiche eine Kirschbaumallee. An einem Baum halte ich an und esse eine Handvoll Früchte. Es sind die ersten Kirschen, die ich in diesem Jahr probiere, wie jedes Mal bin ich überrascht von ihrem süß-aromatischen Geschmack. Nun ist es Zeit für den Arzneipflanzengarten, den ich durch einen alten Park am Stadtrand Braunschweigs erreiche.
Wir alle durchleben diesen Sommer 2020 etwas anders als gewohnt. Durch die Pandemie mussten wir fast alle Veranstaltungen in den beiden Kräuter- und Arzneigärten absagen. Das ist fürs Publikum sehr schade, auf der anderen Seite schenkt es mir Zeit, um mich mehr den Pflanzen widmen zu können.
Während des heißen Sommers gibt es viel zu tun. Die Jungpflanzen wachsen in kleinen Töpfen und müssen bei Hitze zweimal täglich gegossen werden. Auch die großen Kübelpflanzen, Oliven, Zitrus, Lorbeer, Oleander und viele andere, kommen bei hohen Temperaturen keine zwei Tage ohne Wasser aus. Während ich alle Gewächse im Garten versorge, kann ich sie genau betrachten und für die kommende Arbeitswoche Pläne machen.
Heute fällt mir der Blütenreichtum der Oliven auf, er verspricht eine gute Ernte. Die Zitrusbäume sind inzwischen verblüht und haben Früchte angesetzt. Ich sehe, dass die Blätter heller werden. Zeichen für einen Mangel. Also: Eisendünger besorgen und alsbald verteilen. Nun sind die Beete dran, zuerst die Giftpflanzen. Der Rote Fingerhut blüht üppig und wird von Hummeln besucht. Spannend, dass Pflanzen, die für Menschen stark giftig sind, Insekten so gut mit Nahrung versorgen. Natürlich ist der Fingerhut mit seinen ausnehmend hübschen Blüten in der richtigen Dosierung für uns Menschen ebenfalls hilfreich, denn seine sogenannten Digitalis-Glykoside (sind auch in Maiglöckchen enthalten) werden bei Herzkrankheiten eingesetzt. Die gefährlichen Giftstoffe haben ihre höchste Konzentration in den Blättern. Weiter zum Schlafmohn, er steht noch in voller Blüte, zeigt aber erste grüne Fruchtkapseln. Schlafmohn darf hier angebaut werden, weil der Garten umzäunt und während der Öffnungszeiten beaufsichtigt ist.
Auf dem nächsten Feld wachsen Pflanzen mit vielen ätherischen Ölen, und weil die Sonne mittlerweile an Kraft gewonnen hat, duftet es hier besonders intensiv. Automatisch denke ich an frische Wäsche, Seife und englische Ladys in geblümten Tapetenzimmern. Ein blaues Meer liegt vor mir. Der Lavendel ist ein Lippenblütler, er riecht nicht nur gut und sieht gut aus, man kann ihn auch zu Parfüm verarbeiten, und als Tee wirkt er beruhigend. Ein Tropfen Lavendelöl auf den Schläfen dient der Entspannung und ist hilfreich bei Kopfschmerzen. Nicht von ungefähr gehört der Lavendel zu den wichtigsten Pflanzen der Naturheilkunde. Für die nächste Woche merke ich mir die Lavendelernte vor. Die Schädlinge im Garten wird es freuen, denn Lavendelduft mögen sie nicht. Aus diesem Grund wird Lavendel gern in Rosengärten gepflanzt.
Auch der Salbei auf dem Beet ist ein Lippenblütengewächs, allerdings ist er längst verblüht. Er hat schon den zweiten Austrieb angesetzt, und die rauen, dicken, grauen Blätter können ebenfalls in der nächsten Woche geerntet und getrocknet werden. Salbeitee ist ein tolles Desinfektionsmittel für Mund und Rachen, wirkt aber auch auf der Haut. Ganz anders der Muskateller-Salbei, der jetzt blüht. Seine riesigen, kerzenförmigen Blütenstände mit den blassrosa Lippenblüten verströmen einen würzigen Duft. Nahezu berauschend. So auch für die Holzbienen in den Blüten. Sie sehen fast wie Hummeln aus, schwarzbraune Puschel, die gern brummen. Da sie eher selten sind, ist die Ehre ihrer Anwesenheit ein eindeutiges Zeichen dafür, dass es sich lohnt, den Garten insektenfreundlich zu gestalten.
Ein völlig anderer Duft, nicht ganz angenehm, fast ein wenig stinkend und in Frühzeiten benutzt, um Geister abzuwehren, kommt vom Baldrian, verursacht von der Valerensäure, die für den Geruch des Wurzelstocks verantwortlich ist. Seine großen, weißen, doldenähnlichen Blütenstände dominieren das ganze Beet. Im Herbst möchte ich die Wurzeln ernten, ein Tee daraus wirkt beruhigend, sedierend, sodass er bei Einschlafstörungen hilft – ohne Suchtgefahr!
Hinter dem Baldrian prunkt der wunderschöne Gemeine Lein in blauen Blüten, eine unserer ältesten Kulturpflanzen. Seine Fasern werden genutzt, um Stoffe herzustellen, seine Samen werden aufs Müsli gestreut oder zu Speiseöl gepresst. Und zur Sommersonnenwende blüht auf einem anderen Beet das Johanniskraut, ein heimisches Wildgewächs, das gegen Depressionen hilft. An einem Tag wie diesem wird mir auch klar, warum. Die leuchtend gelben Blüten scheinen die Sonnenenergie bestens zu speichern. Im Winter können wir Menschen dann von dem in der Pflanze gespeicherten Licht profitieren. Unter den Echten Kamillen gibt es etwas zu entdecken, denn zwischen den kleinen Blüten finde ich viele größere. Nachdem ich einige gepflückt und geöffnet habe, erkenne ich, dass sich Hundskamille wild ausgesät hat. Die Blüten der Echten Kamille erkennt man am hohlen Blütenboden.
Neben Düngen und Ernten schreibe ich noch Mulchen auf meine To-do-Liste, denn es soll in den nächsten Tagen noch viel heißer werden. Durch Mulchen können wir viel Wasser im Garten sparen. Außerdem nehme ich mir vor, Brennnesseljauche anzusetzen, denn, wie in jedem Jahr, auf den Blütenstielen des Baldrians sitzen schwarze Blattläuse. Brennnesseljauche ist ein biologisches Spritzmittel und wirkt gegen verschiedene Schädlinge. Gleichzeitig ist sie ein exzellenter Flüssigdünger, da sie viel Stickstoff enthält.
Nach fast zwei Stunden verlasse ich den Garten, nicht ohne die Bienenvölker zu besuchen. Die Bienen sind ausgesprochen aktiv und schwärmen in den Kräutergarten aus. Ich freue mich jetzt schon auf den aromatischen Honig. In diesen beiden Stunden habe ich fast alle Pflanzen betrachtet und mich daran erinnert, was ich über sie weiß – und was vielleicht noch nicht. Auch wenn ich seit vielen Jahren die Kräuter neugierig begleite, kommt es mir immer noch so vor, als würde ich kaum etwas über sie wissen.
Ich radle weiter Richtung Kloster. Sein riesiger Garten liegt innerhalb der Mauern einer alten Zisterzienseranlage. Hier starte ich jeden Besuch mit einem besonderen Ritual. Ich setze mich auf eine Mauer unter den uralten Linden (700 Jahre!) und mache eine Pflanzenmeditation. Ich spüre, dass die Meditation mich mit den Pflanzen verbindet, und das kann heilend für uns alle sein. Für dreißig Minuten schließe ich die Augen. Habe ich den Eindruck, bei mir angekommen zu sein, stelle ich mir vor, dass Erdenergie durch meinen Körper fließt. Anschließend öffne ich die Augen und betrachte die Linden über mir genau. Ich begrüße die Bäume und erzähle ihnen in Gedanken, dass ich hier ausruhen und ihre Energie aufnehmen möchte. Ich spüre, wie sich meine Herzenergie ausdehnt, bis einer der riesigen Bäume von ihr umhüllt ist. Ich bin einfach da und genieße den Zustand der Verbundenheit. In mir tauchen Emotionen, Erinnerungen, Bilder, Gedanken und Worte auf, und ich nehme jede Veränderung in mir wahr. Ich frage die Linden, ob sie mir etwas mitteilen wollen, ob ich etwas für sie tun kann. Ich lausche der Stille und fühle mich in meiner Mitte. Nach einiger Zeit komme ich langsam zurück und bedanke mich bei den Bäumen.
Nach dieser halben Stunde ist es so, als wäre ich ein komplett anderer Mensch. Lange denke ich darüber nach, ob die Verbindung mit den Linden heute besonders intensiv war oder ob es an dem Duft ihrer Blüten liegt. Sie sind voll aufgeblüht, und ihr schwerer, süßlicher Duft scheint die Luft in einem großen Umkreis förmlich zu schwängern.
Nach dieser Meditation bin ich überzeugt davon, dass wir Menschen uns wieder mehr daran erinnern sollten, dass wir Teil der Natur sind und auch die nicht menschliche Natur ein Teil von uns ist. Greifen wir in die Natur ein, sollte dies nach den gleichen Maßstäben erfolgen, wie wir mit uns selbst umgehen wollen.
Auch in diesem großen Garten mit Wiesen und Hochbeeten schaue ich mir nahezu jede einzelne Pflanze an. Die alten Heilpflanzen wie Eibisch, Wermut oder Odermennig mag ich sehr, und mich ergreift regelrecht Ehrfurcht, wenn ich überlege, wie oft sie schon Menschen geholfen haben. Wie haben unsere Vorfahren nur herausgefunden, wie, mit welchen Bestandteilen und welcher Form der Anwendung sie sich als wirksam erwiesen? Noch bin ich wohl etwas benommen von der Meditation, denn ich kann mir vorstellen, dass ihnen die Intuition dabei geholfen haben muss, Kontakt zu den Pflanzen aufzunehmen und ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Ganz sicher ist auf diese Weise oft ihre Heilwirkung entdeckt worden.
Nachdem ich auch die anderen Kräuter gegrüßt habe, ziehe ich weiter in den Gemüsegarten. Hier werden alte und regionale Sorten biologisch angebaut. Mangold, Melde, Saubohnen, Rote Bete, Kohl, Linsen, Erbsen und Salat standen im Mittelalter auf dem Speiseplan. Grund genug, sie im Garten des Klosters wieder zu kultivieren. Neben dem Gemüsegarten ist ein Feld mit Dinkel angelegt. Ich freue mich über die reifenden Ähren unseres Urdinkels. Dieses kleine Feld wird extensiv bewirtschaftet, sodass neben dem Dinkel, ein Verwandter des Weizens, eine große Anzahl an Feldblumen mit ihm in friedlicher Koexistenz lebt. Nach der Ernte wandelt sich das Bild völlig, dann blüht auf diesem Miniacker Safran. Außerdem gibt es im Garten noch Obstwiesen mit alten Apfelsorten. Alle Bäume haben reichlich geblüht und ordentlich Früchte angesetzt. Die bunten Wiesen unter den Bäumen werden gesenst, das ergibt artenreiches Heu.
Es ist schön, durch die einzelnen Gartenteile zu schlendern. Mir scheint, als atme der Klostergarten auf jedem Fleck Geschichte. Eigentlich auch nicht weiter erstaunlich, denn an diesem Ort wurde über viele Jahrhunderte hinweg ein sehr munteres Klosterleben praktiziert. Zudem war der Zisterzienserorden für seinen nachhaltigen Landbau legendär. An diesem Vormittag ist mir der Geist des Ordens besonders nahe, und mir fällt das inspirierende Buch Die Zisterzienser und Bernhard von Clairvaux von Ekkehard Meffert ein, in dem der Orden dafür gerühmt wird, dass er die Landschaft durch Gebete, Rituale und Handarbeit förmlich durchgeistigte. Heute ist in der Umgebung der Zisterzienserklöster von durchgeistigter Landschaft leider nicht mehr viel übrig, denn Landschaft, Böden, Tiere und Pflanzen werden fast ausschließlich als Wirtschaftsgut gesehen. Außerdem wird alles Tun der Menschen genauestens analysiert und nach finanziellen Gesichtspunkten bewertet. Diese Sichtweise und diese Art zu handeln werden der Natur und dem Potenzial der Menschen wenig gerecht.
Einmal mehr wird das deutlich, als ich den Klostergarten verlasse. Ich schiebe mein Fahrrad an der Südseite der Kirche vorbei, genau an der Stelle, wo früher der Kreuzgang lag. Ein Kreuzgang neben der Kirche ist immer auch spirituelles Zentrum eines Klosters und daher energetisch aufgeladen. In dieser Anlage ist der Kreuzgang der einzige Ort, der kaum beachtet wird. Hier wächst ein Streifen wildes Gebüsch, und das Gelände wird durchkreuzt von einer Einfahrt zu einem Parkplatz, der genau dort angelegt wurde, wo früher das Hospital des Klosters stand. Für mich aber ist das Kreuzganggelände ein ausgesprochener Kraftort, der verdient, wiederentdeckt zu werden.
Wie immer, wenn ich in der Natur bin oder Gärten besuche, fühle ich mich aufgeladen und beseelt. Es macht Spaß, Pflanzen zu begegnen und sich auf sie einzulassen. Ich gerate dann ins Staunen, wundere mich, wie komplex diese Lebewesen sind und wie intelligent sie in sämtliche Kreisläufe der Natur eingebunden sind. Für mich sind Pflanzen unendlich schöne Wesen, die in ganz unterschiedlicher Gestalt daherkommen. Egal ob als unscheinbares Kraut, üppige Blume oder als riesiger Baum, alle Pflanzen sind von vollendeter Ästhetik und machen uns viel Freude, wenn wir uns nur genug Zeit nehmen und genau hinschauen würden. Jede Pflanzenart hat ihren ganz eigenen Duft, alle diese Gerüche ziehen mich magisch an.
Ich muss die Pflanzen auch anfassen, um sie genauer kennenzulernen. Jede Baumart hat ihre eigene typische Borke, und die Blätter der vielen Gewächse unterscheiden sich teilweise erheblich. Sie habe eine charakteristische Struktur, mal sind sie groß oder klein, mal weich, mal fest, dann wieder gefiedert oder nadelförmig. Die Blüten weichen voneinander ab in Größe, Form, Farbe und Duft, und jede Pflanze hat ihren eigenen Geschmack. Meist essen wir die Früchte. Sie sind süß, aromatisch oder bitter, aber auch Blüten und Blätter haben ihre jeweiligen Aromen.
Wenn wir es (wieder) gelernt haben, uns Pflanzen anzunähern, wollen wir einiges über sie wissen. Die meisten Botaniker sind besessen von der Idee, möglichst jede Pflanze einzuordnen und zu benennen – und sind dazu auch in der Lage. Andere kennen sich mit Inhaltsstoffen sehr gut aus. Sie wissen genau, welche Pflanzen oder Pflanzenteile für Menschen oder Tiere wertvoll sind und wie wir sie verwenden können. Außerdem gibt es Menschen, die am liebsten direkt mit den Pflanzen arbeiten. Landwirte zum Beispiel wissen sehr genau, was sie mit Böden und den in ihm wachsenden Pflanzen tun müssen, um später eine gute Ernte zu haben. Auch Gärtner arbeiten oft gestalterisch unter Beachtung der Zusammenhänge in der Natur. Sie haben ein Gespür dafür, wie sie welche Pflanzen positionieren müssen, damit sie ihre volle Schönheit entfalten können.
Und ich gehöre auch zu den Personen, die am liebsten in einem unmittelbaren Kontakt mit den Pflanzen stehen. Der Klostergarten und speziell die Meditation berühren mich jedes Mal stark. Es ist ein besonderes Erlebnis, sich ein wenig Zeit zu nehmen, um Pflanzen auf diese Art zu begegnen. Auf mich wirken sie extrem ausgleichend und sind ein Schlüssel zur Inspiration. Diese Verbindung funktioniert an Kraftorten in der Natur oder in einem Kloster besonders gut.
Noch voll von meinen Erlebnissen, setze ich mich auf eine Bank und denke über mein Leben mit Pflanzen nach. Was können wir nicht alles von Pflanzen lernen. Pflanzen sind wunderschön und dabei völlig uneitel. Sie bilden die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten und erwarten keine Gegenleistung dafür. Sie leben um ihrer selbst willen und fragen nicht nach dem Sinn des Seins auf der Erde. Wenn wir Menschen uns auf Pflanzen wirklich einlassen, lehren sie uns, nicht ausschließlich uns selbst zu sehen oder ernst zu nehmen. Wir alle sind Teil der Lebenskreisläufe auf der Erde. Der intensive Umgang mit Pflanzen verbindet uns Menschen mit der Natur und macht Hoffnung auf eine gesundere Welt.
Seit ich mich erinnern kann, war ich ein Pflanzenfan. Schon als Kind war ich am liebsten im Wald oder im Garten, und bis heute fasziniert es mich, wie Pflanzen leben, welche Rolle sie auf unserer Erde spielen und in welcher Vielfalt sie vorkommen. Im Umgang mit ihnen war ich immer glücklich, und so wurden sie meine ständigen Begleiter. Nahezu meine gesamte Lebenszeit verbrachte ich in der Natur, und noch heute kann ich mir gar nichts anderes vorstellen. Es ist sogar so: Mehr denn je fühle ich mich mit Pflanzen verbunden und habe gelernt, daraus enorme Energie zu schöpfen.
Als Kind habe ich fast nur draußen gespielt und so mit den Jahreszeiten gelebt. Wenn im Spätwinter langsam der Schnee taute, gab es kein Halten mehr, augenblicklich ging es hinaus in den Wald. Es roch wunderbar, und der würzig-aromatische Duft feuchter Walderde steckt noch heute in meiner Nase. Am meisten freute ich mich über Laubbäume, die teilweise sehr alt werden und sich vom Frühjahr bis zum Winter ständig wandeln. Im Winter mochte ich sie am meisten, denn sie waren unbelaubt, sodass kein Blatt die Sicht auf ihre einzigartigen Formen störte. Stamm, Rinde, Äste und Zweige waren sehr genau zu erkennen, und in der Dämmerung und im Nebel hatte das einen ganz besonderen Reiz. Ich glaubte, in der Rinde dicker Stämme Gesichter zu erkennen, und stark verzweigte Wurzelsysteme sahen für mich wie Höhlen von Zwergen aus. Ich nahm die Bäume stets als freundliche Wesen wahr, weshalb ich mich im Wald geborgen fühlte. Irgendwie ahnte ich auch, dass Bäume großen Einfluss auf uns Menschen haben, ohne dass ich dies genauer beschreiben konnte. Erst viel später realisierte ich, dass ein ausgiebiger Waldspaziergang ausgesprochen wohltuend für unsere Seele ist.
Der Wald ist natürlich zu jeder Jahreszeit schön, insbesondere aber im Frühling. Ich sah die Sonne die noch lichten Baumkronen durchfluten, und es gab auf dem Boden wunderbare Schattenspiele. Die Vögel fingen an, sich zu paaren, sie bauten Nester und flatterten zwischen den Bäumen hin und her, als diese wieder lebendig wurden und die im Winter ruhenden Knospen zu treiben begannen. Der Waldboden wurde langsam trockener und roch nun nach frischem Humus. Frühlingsblumen wie Buschwindröschen, Maiglöckchen oder Waldmeister blühten üppig, und Insekten schwärmten aus. Sie steuerten die frühen Blüten an und sammelten ihren ersten Pollen.
Im Frühlingswald gab es ständig Neues zu entdecken. An vielen Stellen sah ich zahlreiche Eicheln und Bucheckern keimen. Ich beobachtete sie schon länger und registrierte, dass als Erstes ihre durchnässten, holzigen Wände aufplatzten und starke Wurzeln in den Boden wuchsen. Als Nächstes entwickelten sich Sprosse, die senkrecht Richtung Himmel strebten. Erst als die Wurzeln fest im Boden verankert waren, entfalteten sich die ersten Blätter. Sie waren zunächst cremefarben oder gelb und wurden nach einigen Tagen grün. Sehr viele Keimlinge hatten sich zwischen alten, großen Baumwurzeln angesiedelt. Wahrscheinlich hatten Tiere im Herbst die Früchte gesammelt und hier als Wintervorrat versteckt. Perfekt, denn so wurden Eicheln und Bucheckern auch an Orte gebracht, die weit entfernt von dem Baum lagen, an dem sie heruntergefallen waren. War es nicht so, dass es besonders viele Früchte im Herbst gab, wenn der anschließende Winter lang und kalt wurde? So hatten die Tiere genügend Futter und die Bäume viele Nachkommen. Offensichtlich gab es einen größeren Zusammenhang zwischen den Jahreszeiten, dem Wetter, den Pflanzen und den Tieren.
Oft grub ich Sämlinge aus, um sie mit nach Hause zu nehmen. Die Wurzeln, so stellte ich fest, fühlten sich in Lauberde besonders wohl. Ich war erstaunt, wie schnell die Keimlinge nach dem Umpflanzen größer wurden. Sonne, Wasser und Erde waren scheinbar alles, was die jungen Pflanzen benötigten. Das stimmte aber nicht ganz und nur anfangs, denn ich konnte sehen, dass sich die frisch ausgetriebenen Blätter im Lauf der Zeit veränderten. Sie blieben kleiner und wurden, auch wenn sie älter waren, nicht wirklich grün. Irgendetwas schien im Blumentopf nicht richtig zu funktionieren. Die Erde wurde immer weniger, und es kam mir vor, als wäre die übrig gebliebene Erde viel fester geworden. Jetzt half nur noch eins: nachschauen. Vorsichtig zog ich die kleinen Bäume aus dem Topf und inspizierte die Wurzeln. Die Ballen waren sehr dicht, aber die einzelnen Wurzeln sahen gesund aus. Es gab zwischen ihnen jedoch nur noch wenig Erde, und das musste der Grund sein, warum die Blätter immer mickriger wuchsen. Meine Idee war, dass Bäume vielleicht etwas zu essen brauchten, damit sie gut wuchsen. Bei Tieren und Menschen war das schließlich genauso. In meiner Vorstellung verspeisten die Bäume die Erde. Da lag ich nicht ganz falsch, wie ich später erfuhr.
Pflanzenreste kompostieren. Würmer, Kleinstlebewesen und Bakterien verwandeln sie in Humus und zerlegen diesen weiter in Pflanzennährstoffe. Die Wurzeln nehmen die Nährstoffe zusammen mit dem Wasser aus dem Boden auf. Was war also zu tun? Neue, frische Erde musste her und ein größerer Topf. Kaum waren die Bäume umgepflanzt, wurden die jungen Blätter wieder größer und grün. Den Pflanzen ging es bestens, der Zusammenhang zwischen Wachstum und Erde war erkannt. Intuitiv hatte ich genau das Richtige getan und schon wieder eine wichtige Botschaft der Pflanzen verstanden!
Diese Beobachtung ließ mich schlussfolgern: In dem System Natur hängt alles mit Pflanzen zusammen. Sie prägte mich stark, und mein Interesse für Pflanzen wuchs.
Später im Frühjahr wurde es im Wald schattig, denn die Bäume waren jetzt belaubt. Er war bereit für den Sommer mit seinen langen, manchmal sehr heißen Tagen. Im Wald dagegen blieb es kühl, und es war herrlich, unter großen Bäumen zu liegen. Ihr Blätterdach schützte vor großer Hitze, aber auch vor Regen. Oft sah ich nach den Baumsämlingen, wobei ich erkennen konnte, dass nicht alle groß wurden. Es gab einfach nicht genug Platz. Standen sie zu dicht zusammen, starben sie ab. Sie machten Platz für andere, die dann weiterwachsen konnten. Ich dachte: Die Natur kennt nur das Recht des Stärkeren, und bei Bäumen schien das sinnvoll zu sein. Nur starke Bäume ergeben einen gesunden Wald.
Ob ein Baum dann wirklich groß und alt wurde, hing von verschiedenen Dingen ab. Von den vielen Eichensämlingen etwa hatten nur die mit dem schnellsten Wachstum gute Chancen, einen Platz im Wald zu erobern. Ihre Wurzeln wuchsen tief, verzweigten sich stark und verdrängten die anderen Pflanzen. Sie nahmen das meiste Wasser und damit auch Nährstoffe auf, was ihre Sprosse wiederum schnell wachsen ließ. Diese breiteten ihre Blätter weit aus und bekamen so am meisten Licht. Die etwas langsamer wachsenden Pflanzen waren eindeutig im Nachteil. Der Lichtmangel schwächte die jungen Bäume, und über kurz oder lang gingen sie ein. Ihre Überreste verrotteten im Wald und wurden zu Nährstoffen zersetzt. Doch auch die Sprinter-Bäume wurden nicht automatisch groß, für sie gab es noch Hürden zu nehmen. Manchmal reichte das Licht nicht aus, der Boden war nicht passend – oder andere waren eben noch schneller. Dann starben auch sie ab und wurden in Nährstoffe für ihre Artgenossen verwandelt. Ich verstand nun, warum ein Baum so viele Samen produzieren musste, wollte er sich weiterverbreiten. Denn: Das Leben der Bäume folgte einem größeren Plan.
Nach dem Sommer folgte der Herbst. Die Tage wurden kürzer und kühler, es gab mehr Regen und manchmal auch Sturm. Das Leben in der Natur schien den Atem anzuhalten. Im Wald wurde es stiller, und es gab keinen Vogelgesang mehr zu hören. Jetzt konnte ich Tiere beobachten, die Vorräte für den Winter sammelten. Die Blätter der Bäume wurden bunt, die Früchte reif. Die fallenden Blätter lagen am Boden und begannen zu verrotten – Pflanzennahrung für das nächste Jahr. Der Nährstoffkreislauf, er war regelrecht spürbar. Der Wald und alle anderen Pflanzen regulieren den Wasserhaushalt auf der Erde, denn sämtliche Pflanzen nehmen Wasser aus dem Boden auf und verdunsten es über die Oberflächen ihrer Blätter. In der Luft bilden sich Wolken, die irgendwo abregnen, und so kommt das Wasser zurück in die Erde. Außerdem lernte ich, dass Blattgrün extrem wichtig für unsere Luft ist. Blätter atmen tagsüber Sauerstoff aus. Im Lauf der Zeit haben uns Bäume sehr fruchtbare Böden und eine gute Luft hinterlassen.
In Büchern las ich, dass Buchen (Fagus sylvatica) unsere Laubwälder dominieren. Sie streben gerade nach oben, stehen sehr dicht und werfen viel Schatten. Die öl- und eiweißhaltigen Bucheckern waren in Europa wichtige Baumfrucht und versorgten einst Menschen und Tiere. Aus der Rinde wurde früher Buchenteer gewonnen, innerlich diente sie als Hustenmittel, und äußerlich wurde sie bei rheumatischen Beschwerden und Hauterkrankungen verwendet. In der Pflanzensymbolik – eine mittelalterliche Symbolsprache, in der Pflanzen als Bedeutungsträger verwendet wurden – stand die Buche für Festigkeit, Sicherheit und Behütung, Klarheit, innere Stärke und seelischen Frieden. Die Legende besagt, dass Germanen unter frei stehenden Buchen ihren Göttern blutige Opfer darbrachten und Schädel, Knochen und Felle in den Bäumen aufhängten, um sie wohlgesonnen zu stimmen. Aus diesem Grund sollen unter manchen sehr alten Exemplaren bis heute blutgierige und gnadenlose Dämonen lauern. Die glatte Rinde enthält Gerbstoffe, sie wirken fiebersenkend, appetitanregend und desinfizierend. Heute werden homöopathische Zubereitungen der Buchenholzkohle bei Entzündungen der Atemwege, Krampfadern und Schwäche der Verdauungsorgane empfohlen. Spannend für mich ist auch die Stellung der Buche in der Blütentherapie des britischen Arztes Edward Bach (1886–1936), denn sie arbeitet mit der Seele der Pflanzen. Bach ordnete der Blutbuche Mitgefühl und Toleranz zu, im negativen Zustand aber Härte und Engstirnigkeit. In der Tat unterstützt die Blütenessenz die Meditation über Tod, Leere und Sterben und hilft, den inneren Frieden zu finden.
Die Eiche (Quercus robur) hingegen ist von einem ganz anderen Format. Sie ist ein mächtiger Baum mit hochstrebenden, raumgreifenden Kronen und rissiger Rinde. Eicheln gehörten zur frühsten Nahrung der Menschen und boten die Grundlage für die Schweinemast. Wie groß die Bedeutung der Eiche außerhalb dieser essentechnischen Tatsache war, ist ebenfalls in Mythen und Legenden abzulesen. Gerade wenn es sich um Bäume im biblischen Alter handelt, muten Eichen wie Urgeschöpfe an, und deshalb galten sie auch als Repräsentanten der Urmacht des Waldes oder als Vertreter der Götter. In der Pflanzensymbolik bedeutete der Baum Urkraft, Ewigkeit, Fruchtbarkeit, Schutz, Verlässlichkeit und Tor zum Licht. Menschen haben die Eichen stets mit großer Achtung und Ehrfurcht verehrt. Als der – laut griechischer Mythologie – thessalische König Erysichthon eine heilige Eiche im Hain der Erdgöttin Demeter fällte, strafte sie ihn mit unstillbarem Hunger. Die Germanen zollten der Eiche ebenso höchste Bewunderung. Mächtige Exemplare prägten ihre Naturtempel, und das Volk opferte dem Vegetationsgeist der Bäume Gaben. Sie übertrugen ihm Krankheiten und unterbreiteten ihm Sorgen und Kummer. Vor der Einführung des Christentums versammelten sich die Stämme im Eichenhain, um über Krieg und Frieden zu beschließen. Außerdem waren Eichen den Göttern geweiht, dem Donnergott Thor, und wurden gepflanzt, um Häuser vor Blitzeinschlag zu schützen. Weil die tiefreichenden Pfahlwurzeln von Eichen oft im Grundwasser stehen, ziehen sie tatsächlich Blitze an. Das harte Eichenholz steht im Ruf, unverwüstlich zu sein, es wurde zum Bau von Grabkammern keltischer und germanischer Fürsten verwendet. Seit dem 18. Jahrhundert gelten bei uns Eichenblätter als Sinnbild für Heldenmut und Treue und dienen als Siegeslorbeer.
Ein so mächtiger Baum ist natürlich auch eine wichtige Heilpflanze. Abkochungen der Eichenrinde wirken wundheilend, blutstillend, gewebefestigend, entgiftend und stärkend. Sie werden äußerlich in Bädern oder Umschlägen zur Behandlung von Hauterkrankungen oder Schweißfüßen verwendet. Der Tee hilft bei Infekten im Mund- und Rachenraum, bei akuten Durchfällen sowie bei Magen- und Darmstörungen. Bachs Blütentherapie verbindet die Eiche mit dem Seelenpotenzial der Kraft und Ausdauer. Im negativen Zustand werden diese Charakterzüge zu starr gehandhabt.
Linden sind nicht weniger grandios als Eichen. Linden (Tilia