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Hacker haben es auf die Datennetze der Weltbank abgesehen, die Weltwirtschaft soll ins Chaos gestürzt werden: Kommissar Wallander steht vor einer neuen Dimension des Verbrechens, einem Computerverbrechen von internationalem Format. Doch obwohl er mehr als einmal an seine Grenzen stößt und auch sein Liebesleben in die Turbulenzen der Ermittlung verwickelt wird, bringt er diesen Fall zu einem erfolgreichen Abschluss ...
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Seitenzahl: 795
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Zsolnay eBook
Henning Mankell
Die Brandmauer
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt
Paul Zsolnay Verlag
Die Originalausgabe erschien erstmals 1998 unter dem Titel Brandvägg bei Ordfront in Stockholm. ISBN 978-3-552-05611-4 © Henning Mankell 1998 Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe © Paul Zsolnay Verlag Wien 2001/2012 Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de. Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/ZsolnayDeuticke.
|6|Ein Mensch, der vom Wege der Klugheit abirrt
Wird weilen in der Schar der Toten.
Die Sprüche Salomos, 21,16
Am Abend flaute der Wind plötzlich ab und schlief dann völlig ein.
Er war auf den Balkon getreten. Am Tage konnte er zwischen den gegenüberliegenden Häusern das Meer erkennen. Aber jetzt war es dunkel. Manchmal nahm er sein altes englisches Miniaturfernglas mit hinaus und schaute in die erleuchteten Fenster des Hauses auf der anderen Straßenseite. Aber es endete immer damit, daß ihn das Gefühl beschlich, jemand habe ihn entdeckt.
Der Himmel war sternenklar.
Schon Herbst, dachte er. Vielleicht bekommen wir heute nacht Frost. Obwohl es für Schonen ziemlich früh ist.
Irgendwo in der Nähe fuhr ein Auto. Ihn fröstelte, und er ging wieder hinein. Die Balkontür klemmte. Auf dem Block neben dem Telefon auf dem Küchentisch notierte er sich, daß er am nächsten Tag die Tür reparieren mußte.
Dann ging er ins Wohnzimmer. Einen Augenblick blieb er in der Tür stehen und ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern. Weil Sonntag war, hatte er geputzt. Es gab ihm stets ein Gefühl von Zufriedenheit, sich in einem vollkommen sauberen Zimmer zu befinden.
An der einen Schmalseite stand ein Schreibtisch. Er zog den Stuhl vor, knipste die Arbeitslampe an und holte das dicke Logbuch heraus, das er in einer der Schubladen aufbewahrte. Wie üblich begann er damit, das am Abend zuvor Geschriebene durchzulesen.
Samstag, der 4.Oktober 1997.Der Wind war den ganzen Tag böig. Laut Wetterdienst 8–1o Meter pro Sekunde. Wolkenfetzen jagten über den Himmel. Temperatur um sechs Uhr früh sieben Grad. Um zwei Uhr war sie auf acht Grad gestiegen. Am Abend auf fünf gesunken.
|10|Danach hatte er nur noch vier Sätze geschrieben.
Der Weltraum ist heute öde und leer. Keine Nachrichten. C antwortet nicht. Alles ist ruhig.
Er schraubte den Deckel vom Tintenfaß und tauchte die Stahlfeder behutsam ein. Er hatte sie von seinem Vater geerbt, der sie seit seinem ersten Tag als Assistent des Geschäftsführers in einer kleinen Bankfiliale in Tomelilla aufbewahrt hatte. In sein Logbuch schrieb er nie mit einer anderen Feder.
Er schrieb, daß der Wind abgenommen hatte und dann völlig eingeschlafen war. Auf dem Thermometer am Küchenfenster hatte er gesehen, daß die Temperatur drei Grad betrug. Der Himmel war klar. Er notierte außerdem, daß er die Wohnung geputzt und dafür drei Stunden und fünfundzwanzig Minuten gebraucht hatte. Zehn Minuten weniger als am Sonntag davor.
Außerdem hatte er einen Spaziergang zum Sportboothafen gemacht und eine halbe Stunde in der Kirche Sankta Maria gesessen und meditiert.
Er überlegte, bevor er fortfuhr. Dann schrieb er eine weitere Zeile ins Logbuch. Am Abend kurzer Spaziergang.
Er drückte das Löschpapier vorsichtig auf das Geschriebene, wischte die Feder ab und schraubte den Deckel des Tintenfasses wieder auf.
Bevor er das Logbuch zuklappte, blickte er auf die alte Schiffsuhr, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand. Sie zeigte zwanzig Minuten nach elf.
Er ging in den Flur, zog seine alte Lederjacke an und stieg in ein Paar Gummistiefel. Bevor er die Wohnung verließ, fühlte er nach, ob er die Schlüssel und die Brieftasche eingesteckt hatte.
Als er auf die Straße hinaustrat, blieb er reglos im Schatten stehen und blickte um sich. Es war niemand zu sehen. Das hatte er auch nicht erwartet. Dann fing er an zu gehen. Er bog wie gewöhnlich nach links ab, überquerte die Straße nach Malmö und ging hinunter zu den Kaufhäusern und dem roten Backsteingebäude, in dem das Finanzamt untergebracht war. Er beschleunigte seine Schritte, bis er seinen üblichen ruhigen Abendrhythmus gefunden hatte. Tagsüber ging er schneller, weil er sich anstrengen |11|und ins Schwitzen geraten wollte. Doch die Abendspaziergänge waren etwas anderes. Da versuchte er, die Gedanken des Tages abzuschütteln und sich auf den Schlaf und den kommenden Tag vorzubereiten.
Vor dem Baumarkt führte eine Frau ihren Hund aus. Einen Schäferhund. Er begegnete ihr fast jedesmal, wenn er seinen Abendspaziergang machte. Ein Wagen fuhr in hohem Tempo vorüber. Am Steuer erkannte er einen jungen Mann und hörte Musik, obwohl die Wagenfenster geschlossen waren.
Sie wissen nicht, was sie erwartet, dachte er. Alle diese Jugendlichen, die in ihren Autos herumfahren und so laute Musik hören, daß ihre Ohren in absehbarer Zeit geschädigt sind.
Sie wissen nicht, was sie erwartet. Ebensowenig wie die alleinstehenden Damen, die mit ihren Hunden Gassi gehen.
Der Gedanke belebte ihn. Er dachte an all die Macht, an der er teilhatte. Das Gefühl, einer der Auserwählten zu sein. Die über die Kraft verfügten, alte versteinerte Wahrheiten zu Fall zu bringen und ganz neue und unerwartete zu erschaffen.
Er blieb stehen und schaute zum Sternenhimmel auf.
Nichts ist wirklich faßbar, dachte er. Mein eigenes Leben ebensowenig wie die Tatsache, daß das Licht der Sterne, die ich jetzt sehe, schon eine unendliche Zeitspanne hierher unterwegs gewesen ist. Das einzige, was dem Ganzen eine Spur von Sinn geben kann, ist das, was ich tue. Das Angebot, das ich vor fast zwanzig Jahren bekommen und angenommen habe, ohne zu zögern.
Er ging weiter, jetzt schneller, weil ihn die Gedanken erregten, die sich in seinem Kopf entwickelten. Er merkte, daß er ungeduldig geworden war. Sie hatten so lange gewartet. Endlich näherten sie sich dem Augenblick, wo sie ihre unsichtbaren Visiere herunterklappen und ihre große Flutwelle über die Erde hinwegrollen sehen würden.
Doch noch war der Augenblick nicht gekommen. Noch war die Zeit nicht reif. Ungeduld war eine Schwäche, die er sich nicht erlauben durfte.
Er hielt inne. Er befand sich schon mitten im Villenviertel. Weiter wollte er nicht gehen. Kurz nach Mitternacht wollte er im Bett liegen.
|12|Er machte kehrt und ging langsam zurück. Als er das Finanzamt hinter sich gelassen hatte, entschloß er sich, zum Bankomat an einem der Kaufhäuser hinüberzugehen. Er tastete mit der Hand nach seiner Brieftasche. Er wollte kein Geld abheben. Aber er wollte sich einen Kontoauszug ausdrucken lassen, um sicherzugehen, daß alles seine Ordnung hatte.
Er blieb im Licht vor dem Geldautomaten stehen und zog seine blaue Scheckkarte hervor. Die Frau mit dem Schäferhund war jetzt verschwunden. Aus Richtung Malmö kommend, donnerte ein Laster vorbei. Wahrscheinlich wollte er mit einer der Fähren nach Polen. Dem Lärm nach zu urteilen war der Auspuff defekt.
Er gab seine Geheimnummer ein und drückte anschließend auf die Taste Kontoauszug. Die Karte kam wieder heraus, und er steckte sie zurück in die Brieftasche. Im Innern des Geldautomaten ratterte es. Er lächelte, als er daran dachte, kicherte.
Wenn die Menschen wüßten, dachte er. Wenn die Menschen wüßten, was sie erwartet.
Der weiße Zettel mit dem Kontoauszug wurde durch den Spalt herausgeschoben. Er suchte nach seiner Brille, doch ihm fiel ein, daß sie in dem Jackett steckte, das er getragen hatte, als er zum Sportboothafen gegangen war. Einen Moment lang ärgerte er sich darüber, daß er sie vergessen hatte.
Er suchte die Stelle, wo das Licht der Straßenlaterne am hellsten war, und betrachtete blinzelnd den Kontoauszug.
Die automatische Überweisung vom Freitag war verbucht. Ebenso die Barauszahlung vom Tag zuvor. Sein Guthaben betrug 9765Kronen. Alles in bester Ordnung.
Was dann geschah, kam ohne jede Vorwarnung.
Ihm war, als habe ein Pferd ihn getreten. Ein ungeheurer Schmerz durchfuhr ihn.
Er fiel vornüber, die Hand krampfte sich um den Zettel mit den Zahlen.
Als sein Kopf auf dem kalten Asphalt aufschlug, erlebte er einen Augenblick der Klarheit.
Sein letzter Gedanke war, daß er nichts begriff.
Dann wurde er von einem Dunkel umschlossen, das von allen Seiten gleichzeitig kam.
|13|Mitternacht war gerade vorüber. Es war Montag, der 6.Oktober 1997.
Ein weiterer Lastzug fuhr auf dem Weg zur Nachtfähre vorüber.
Dann war alles wieder still.
Als Kurt Wallander sich in der Mariagata in Ystad in seinen Wagen setzte, war ihm beklommen zumute. Es war kurz nach acht am Morgen des 6.Oktober 1997.Während er aus der Stadt hinausfuhr, fragte er sich, warum er nicht abgelehnt hatte. Er hegte einen tiefen und intensiven Widerwillen gegen Beerdigungen. Dennoch war er jetzt zu einer solchen unterwegs. Weil er noch viel Zeit hatte, beschloß er, nicht den direkten Weg nach Malmö zu nehmen. Er bog statt dessen auf die Küstenstraße in Richtung Svarte und Trelleborg ab. Zu seiner Linken lag das Meer. Eine Fähre lief gerade ein.
Er dachte, daß dies die vierte Beerdigung in sieben Jahren war. Zuerst war sein Kollege Rydberg an Krebs gestorben. Es war eine langwierige und quälende Krankheitszeit gewesen. Wallander hatte ihn oft im Krankenhaus besucht, in dem er dahinsiechte. Rydbergs Tod war für Wallander ein schwerer Schlag. Es war Rydberg gewesen, der einen Polizisten aus ihm gemacht hatte. Er hatte Wallander gelehrt, die richtigen Fragen zu stellen. Mit Rydbergs Hilfe hatte Wallander sich die schwere Kunst angeeignet, einen Tatort zu interpretieren. Bevor Wallander mit Rydberg zusammenzuarbeiten begann, war er ein äußerst durchschnittlicher Polizist gewesen. Erst viel später, als Rydberg schon lange tot war, hatte Wallander erkannt, daß er selbst nicht nur Beharrlichkeit und Energie besaß, sondern auch gewisse Fähigkeiten. Doch noch immer führte er im stillen Gespräche mit Rydberg, wenn eine komplizierte Ermittlung ihm zu schaffen machte und er nicht wußte, in welche Richtung er sich wenden sollte. Noch immer wurde ihm fast täglich bewußt, wie sehr er Rydberg vermißte.
Dann war plötzlich sein Vater gestorben. Er war in seinem Atelier in Löderup einem Schlaganfall erlegen. Es war jetzt drei Jahre |15|her. Nach wie vor erschien es Wallander unbegreiflich, daß sein Vater nicht mehr dasein sollte, von seinen Gemälden und dem ewigen Geruch nach Terpentin und Ölfarben umgeben. Das Haus in Löderup war nach dem Tod seines Vaters verkauft worden. Wallander war zuweilen vorbeigefahren und hatte gesehen, daß jetzt andere Menschen dort wohnten. Aber er hatte nie angehalten. Dann und wann besuchte er das Grab, fast jedesmal mit einem diffusen Gefühl von schlechtem Gewissen. Er stellte fest, daß die Abstände zwischen den Besuchen von Mal zu Mal größer wurden. Und er merkte, daß es ihm immer schwerer fiel, sich das Gesicht seines Vaters in Erinnerung zu rufen.
Ein Mensch, der tot war, wurde am Ende zu einem Menschen, der nicht existiert hatte.
Dann Svedberg. Sein Kollege, der im Jahr zuvor in seiner eigenen Wohnung brutal ermordet worden war. Damals hatte Wallander darüber nachgedacht, wie wenig er im Grunde von den Menschen wußte, mit denen er zusammenarbeitete. Svedbergs Tod hatte Dinge ans Licht gebracht, von denen er nicht einmal ansatzweise etwas geahnt hatte.
Und jetzt war er auf dem Weg zu seiner vierten Beerdigung, der einzigen, zu der er eigentlich nicht hätte fahren müssen.
Sie hatte am Mittwoch angerufen. Wallander hatte gerade sein Büro verlassen wollen. Es war spät am Nachmittag. Er hatte Kopfschmerzen, nachdem er über einem trostlosen Ermittlungsmaterial gebeugt gesessen hatte, in dem es um die Beschlagnahme von Schmuggelzigaretten aus einem Lastzug ging, der mit einer Fähre gekommen war. Die Spuren hatten ins nördliche Griechenland geführt und sich da verloren. Er hatte mit der griechischen und der deutschen Polizei Informationen ausgetauscht. Aber den Hintermännern waren sie trotzdem nicht nähergekommen. Jetzt wurde ihm klar, daß man den Fahrer, der wahrscheinlich nichts von dem Schmuggelgut in seiner Ladung gewußt hatte, zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilen würde. Dramatischer würde es nicht werden. Wallander war sicher, daß täglich Schmuggelzigaretten nach Ystad kamen, und er bezweifelte, daß es ihnen jemals gelingen würde, den Verkehr zu stoppen.
Außerdem war sein Tag dadurch verdorben worden, daß er heftig |16|mit dem Staatsanwalt aneinandergeraten war, der Per Åkeson vertrat. Åkeson war vor einigen Jahren in den Sudan gegangen und schien nicht an eine Rückkehr zu denken. Bei Åkesons Aufbruch und wenn Wallander jetzt die Briefe las, die er regelmäßig bekam, verspürte er ein nagendes Gefühl von Neid. Åkeson hatte etwas gewagt, von dem Wallander nur geträumt hatte. Jetzt wurde er bald fünfzig. Er wußte, auch wenn er es sich selbst nicht richtig eingestehen wollte, daß die großen, wichtigen Entscheidungen in seinem Leben wahrscheinlich hinter ihm lagen. Etwas anderes als Polizist würde er nicht mehr werden. Er konnte bis zu seiner Pensionierung versuchen, ein besserer Ermittler zu werden. Und vielleicht etwas von seinem Können an seine jüngeren Kollegen weiterzugeben. Doch darüber hinaus gab es nichts, was er als Wendepunkt seines Lebens vor sich sehen konnte. Es gab keinen Sudan, der auf ihn wartete.
Er hatte mit der Jacke in der Hand dagestanden, als sie anrief.
Zuerst hatte er nicht gewußt, wer sie war. Dann hatte er erkannt, daß es Stefan Fredmans Mutter war. Gedanken und Erinnerungsbilder rasten ihm durch den Kopf. In wenigen Sekunden hatte er sich die Ereignisse wieder vergegenwärtigt, die jetzt drei Jahre zurücklagen.
Der Junge, der sich als Indianer maskiert und versucht hatte, Rache zu nehmen an den Männern, die seine Schwester in den Wahnsinn getrieben und seinem kleinen Bruder Todesangst eingejagt hatten. Einer der von ihm Getöteten war der eigene Vater gewesen. Wallander hatte sich an das entsetzliche Schlußbild erinnert, als der Junge neben dem Körper seiner toten Schwester kniete und weinte. Von dem, was nachher passiert war, wußte Wallander nicht viel. Außer daß der Junge natürlich nicht im Gefängnis gelandet war, sondern in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt.
Jetzt rief Anette Fredman an, um ihm zu sagen, daß Stefan tot war. Er hatte sich das Leben genommen, indem er sich von dem Gebäude hinabgestürzt hatte, in dem er eingeschlossen gehalten worden war. Wallander hatte ihr sein Beileid ausgesprochen und irgendwo in seinem Inneren eine ganz eigene Trauer verspürt. Vielleicht war es auch nur ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und |17|Verzweiflung. Aber er hatte nicht verstanden, warum sie ihn eigentlich angerufen hatte. Er hatte mit dem Telefonhörer in der Hand dagestanden und versucht, sich ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen. Er war ihr zwei- oder dreimal begegnet, in einem Vorort von Malmö, als sie nach Stefan fahndeten und sich an den Gedanken zu gewöhnen versuchten, daß ein Vierzehnjähriger diese brutalen Gewaltverbrechen begangen haben könnte. Wallander erinnerte sich daran, wie scheu sie gewirkt hatte und unter welch starkem Druck sie gestanden haben mußte. Sie hatte etwas Gehetztes an sich gehabt, als fürchtete sie die ganze Zeit, daß das Schlimmste geschehen würde. Was dann ja auch der Fall gewesen war. Wallander erinnerte sich vage, daß er sich gefragt hatte, ob sie süchtig war. Vielleicht trank sie zuviel, oder sie betäubte ihre Ängste mit Tabletten. Außerdem fiel es ihm schwer, sich ihr Gesicht vorzustellen. Die Stimme, die ihm aus dem Hörer entgegenkam, war ihm fremd.
Dann hatte sie ihr Anliegen vorgebracht.
Sie bat ihn, zur Beerdigung zu kommen. Weil fast niemand sonst dabei wäre. Nur sie und Stefans kleiner Bruder Jens waren noch übrig. Wallander war trotz allem ein freundlicher Mann, der es gut mit ihnen gemeint hatte. Er versprach zu kommen. Und bereute es sogleich. Aber da war es schon zu spät. Hinterher hatte er versucht herauszufinden, was mit dem Jungen eigentlich passiert war, nachdem sie ihn gefaßt hatten. Er sprach mit einem Arzt in der psychiatrischen Anstalt, in der Stefan untergebracht worden war. In den Jahren nach der Einweisung war Stefan fast ganz verstummt und hatte alle seine inneren Türen geschlossen. Aber Wallander erfuhr, daß der Junge, der tot auf dem Asphalt gelegen hatte, Kriegsbemalung getragen hatte. Farben und Blut hatten sich zu einer schreckenerregenden Maske vermischt, die vielleicht mehr über die Gesellschaft erzählte, in der Stefan gelebt hatte, als über seine gespaltene Persönlichkeit.
Wallander fuhr langsam. Als er am Morgen den dunklen Anzug angezogen hatte, war er erstaunt, daß die Hose paßte. Er hatte also abgenommen. Seit er vor zwei Jahren erfahren hatte, daß er zuckerkrank war, hatte er seine Eßgewohnheiten geändert, Sport getrieben und auf sein Gewicht geachtet. Anfangs war er im Übereifer |18|mehrmals am Tag auf die Waage gestiegen, bis er sie schließlich wütend fortgeworfen hatte. Wenn er es nicht schaffte, auch ohne ständige Kontrolle abzunehmen, konnte er es ebensogut bleibenlassen.
Doch der Arzt, den er regelmäßig besuchte, hatte nicht nachgegeben, sondern Wallander eindringlich ermahnt, seine nachlässige Lebensweise mit unregelmäßigen und ungesunden Mahlzeiten und ohne die geringste Dosis Bewegung aufzugeben. Schließlich hatte es gewirkt. Wallander hatte sich einen Trainingsanzug und ein Paar Turnschuhe gekauft und angefangen, regelmäßige Spaziergänge zu machen. Als Martinsson vorschlug, gemeinsam joggen zu gehen, hatte Wallander sich jedoch brüsk geweigert. Es gab eine Grenze, und für ihn hörte der Spaß beim Joggen auf. Jetzt hatte er sich eine Runde von einer Stunde zurechtgelegt, die von der Mariagata durch Sandskogen und zurück führte. Mindestens viermal die Woche zwang er sich dazu, sie zu gehen. Seine Besuche bei verschiedenen Fast-Food-Lokalen hatte er auch eingeschränkt. Und sein Arzt hatte einen Fortschritt erkannt. Der Blutzuckerspiegel war gesunken, und Wallander hatte abgenommen. Eines Morgens beim Rasieren hatte er außerdem festgestellt, daß sich sein Aussehen verändert hatte. Seine Wangen waren eingefallen. Es war ihm vorgekommen, als sehe er sein wirkliches Gesicht zurückkehren, nachdem es lange Zeit unter unnötigem Fett und schlechter Haut verborgen gewesen war. Seine Tochter Linda war angenehm überrascht, als sie ihn gesehen hatte. Nur im Polizeipräsidium hatte sich nie jemand dazu geäußert, daß er abgenommen hatte.
Als ob wir einander nie wirklich wahrnähmen, dachte Wallander. Wir arbeiten zusammen. Aber wir sehen einander nicht.
Er fuhr am Strand von Mossby entlang, der jetzt im Herbst verlassen war. Er erinnerte sich an die Zeit vor sechs Jahren, als ein Gummifloß mit zwei toten Männern angetrieben worden war. Er bremste heftig und bog von der Hauptstraße ab. Er hatte noch immer reichlich Zeit. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Es war windstill, ein paar Grad über Null. Er knöpfte seinen Mantel zu und folgte einem Pfad, der sich zwischen den Dünen hinschlängelte. Da lag das Meer. Und der leere Strand. Spuren von Menschen |19|und Hunden. Und von Pferdehufen. Er blickte über das Wasser. Ein Zugvogelschwarm war auf dem Weg nach Süden.
Immer noch konnte er sich genau an die Stelle erinnern, an der das Floß angetrieben war. Später hatte die komplizierte Ermittlung Wallander nach Lettland geführt, nach Riga. Und dort war Baiba gewesen. Die Witwe eines ermordeten lettischen Kriminalbeamten, eines Mannes, den er kennen und schätzen gelernt hatte.
Dann waren Baiba und er zusammengewesen. Lange hatte er geglaubt, es könnte etwas daraus werden. Daß sie nach Schweden kommen würde. Einmal hatten sie sich sogar ein Haus in der Nähe von Ystad angesehen. Aber dann hatte sie sich langsam zurückgezogen. Eifersüchtig hatte Wallander sich gefragt, ob sie einen anderen hatte. Einmal war er sogar nach Riga geflogen, ohne sich anzukündigen. Aber es hatte keinen anderen Mann gegeben. Es hatte einfach daran gelegen, daß Baiba sich nicht sicher war, ob sie noch einmal einen Polizeibeamten heiraten wollte und ob sie ihr Heimatland verlassen sollte, in dem sie eine zwar schlechtbezahlte, aber befriedigende Arbeit als Übersetzerin hatte. Dann war es zu Ende gegangen.
Wallander wanderte am Strand entlang und dachte, daß es jetzt mehr als ein Jahr her war, seit er zuletzt mit ihr gesprochen hatte. Immer noch tauchte sie zuweilen in seinen Träumen auf. Aber es gelang ihm nie, sie zu greifen. Wenn er ihr entgegenging oder seine Hand nach ihr ausstreckte, war sie immer schon wieder verschwunden. Er fragte sich, ob er sie eigentlich vermißte. Seine Eifersucht hatte sich gelegt. Jetzt konnte er sie sich in der Nähe eines anderen Mannes vorstellen, ohne daß es ihm einen Stich versetzte.
Es ist die verlorene Gemeinsamkeit, dachte er. Mit Baiba blieb mir die Einsamkeit erspart, die mir vorher nicht bewußt gewesen war. Wenn ich sie vermisse, dann vermisse ich in Wahrheit die Gemeinsamkeit.
Er ging zum Auto zurück. Vor verlassenen Stränden sollte er sich hüten. Besonders im Herbst. Sie konnten leicht eine große und schwere Düsterkeit in ihm auslösen.
Einmal hatte er an der nördlichsten Spitze von Jütland einen |20|einsamen Polizeibezirk nur für sich allein eingerichtet. Es war in einer Periode seines Lebens gewesen, in der er wegen anhaltender Depressionen krankgeschrieben war und nie geglaubt hatte, daß er noch einmal ins Polizeipräsidium von Ystad zurückkehren würde. Jahre waren seitdem vergangen, aber er erinnerte sich noch immer mit Grausen daran, wie er sich damals gefühlt hatte. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben. Es war eine Landschaft, die nur seine Ängste wachrief.
Er setzte sich wieder in seinen Wagen und fuhr weiter in Richtung Malmö. Um ihn her war tiefer Herbst. Er fragte sich, wie der Winter würde. Ob schwere Schneefälle und Wind für Chaos sorgen würden. Oder ob es regnerisch werden würde. Er überlegte auch, was er mit der Urlaubswoche anfangen sollte, die er im November nehmen mußte. Er hatte seine Tochter Linda gefragt, ob sie eine Charterreise in die Sonne machen sollten. Er wolle sie gern einladen. Aber Linda, die in Stockholm lebte und studierte – was, wußte er nicht so genau–, hatte gesagt, sie könne nicht fort. Selbst wenn sie wollte. Er hatte daraufhin überlegt, mit wem sonst er verreisen könnte. Aber es gab niemanden. Er hatte so gut wie keine Freunde. Von Sten Widén einmal abgesehen. Sten besaß einen Reiterhof nicht weit von Skurup. Aber Wallander bezweifelte, ob er wirklich Lust hatte, mit Widén zu verreisen. Nicht zuletzt wegen dessen Alkoholproblem. Er trank ständig, während Wallander – von seinem Arzt streng dazu angehalten – seinen früher allzu bedenkenlosen Alkoholkonsum eingeschränkt hatte. Er konnte natürlich Gertrud fragen, die Witwe seines Vaters. Aber es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, worüber er eine ganze Woche mit ihr reden sollte.
Sonst gab es niemanden.
Also würde er zu Hause bleiben. Für das Geld würde er statt dessen einen anderen Wagen kaufen. Sein Peugeot begann Schwächen zu zeigen. Als er jetzt in Richtung Malmö fuhr, hörte er ein hartnäckiges ungutes Geräusch vom Motor.
Um kurz nach zehn war er im Malmöer Vorort Rosengård. Die Beerdigung war für elf Uhr angesetzt. Die Kirche war ein Neubau. Ein paar Jungen schossen direkt daneben mit einem Fußball gegen |21|eine Mauer. Er blieb im Wagen sitzen und sah ihnen zu. Es waren sieben. Drei von ihnen waren schwarz. Drei andere sahen auch aus, als stammten sie aus Einwandererfamilien. Dann war da noch einer mit Sommersprossen und hellen üppigen Haaren. Die Jungen spielten mit großer Energie und unter viel Gelächter. Für einen kurzen Augenblick spürte Wallander heftige Lust mitzumachen. Aber er blieb sitzen. Ein Mann kam aus der Kirche und steckte sich eine Zigarette an.
Wallander stieg aus und trat zu dem rauchenden Mann. »Findet hier die Beerdigung von Stefan Fredman statt?« fragte er.
Der Mann nickte. »Sind Sie ein Verwandter?«
»Nein.«
»Wir rechnen nicht damit, daß viele kommen«, sagte der Mann. »Ich nehme an, Sie wissen, was er angerichtet hat.«
»Ja«, sagte Wallander. »Ich weiß.«
Der Mann betrachtete seine Zigarette.
»Für so einen ist es bestimmt das beste, wenn er tot ist.«
Wallander war empört. »Stefan war noch nicht einmal achtzehn. Für einen so jungen Menschen ist es nie das beste, tot zu sein.«
Wallander merkte, daß er gebrüllt hatte. Der rauchende Mann sah ihn verwundert an. Wallander schüttelte wütend den Kopf und wandte sich um. In diesem Moment fuhr der schwarze Leichenwagen vor der Kirche vor. Der braune Sarg mit einem einsamen Kranz wurde herausgehoben.
Auf einmal wurde ihm klar, daß er Blumen hätte mitbringen sollen. Er ging zu den fußballspielenden Jungen. »Weiß einer von euch, ob es hier in der Nähe ein Blumengeschäft gibt?«
Einer der Jungen zeigte in eine Richtung.
Wallander zog seine Brieftasche heraus und suchte nach einem Hunderter. »Lauf hin und kauf einen Blumenstrauß«, sagte er. »Rosen. Und beeil dich. Du kriegst einen Zehner.«
Der Junge sah ihn fragend an. Aber er nahm das Geld.
»Ich bin Polizist«, sagte Wallander. »Ein gefährlicher Polizist. Wenn du mit dem Geld abhaust, kriege ich dich auf jeden Fall.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Uniform«, sagte er in gebrochenem Schwedisch. »Außerdem siehst du nicht |22|aus wie ein Polizist. Jedenfalls nicht wie einer, der gefährlich ist.«
Wallander holte seinen Ausweis heraus. Der Junge musterte ihn eine Weile. Dann nickte er und machte sich auf den Weg. Die anderen spielten weiter.
Vielleicht kommt er trotzdem nicht zurück, dachte Wallander finster. Es ist lange her, daß Respekt vor einem Polizisten hierzulande eine Selbstverständlichkeit war.
Aber der Junge kam mit Rosen zurück. Wallander gab ihm zwanzig Kronen. Zehn, weil er sie ihm versprochen hatte, und zehn dazu, weil der Junge wirklich zurückgekommen war. Es war natürlich viel zuviel. Kurz darauf hielt ein Taxi vor der Kirche. Er erkannte Stefans Mutter. Sie war gealtert und so mager, daß sie fast ausgemergelt wirkte. Neben ihr stand der Junge, der Jens hieß und ungefähr sieben Jahre alt war. Er war seinem Bruder sehr ähnlich. Seine Augen waren groß und weit aufgerissen. Die Angst von damals stand noch immer darin. Wallander trat zu ihnen und begrüßte sie.
»Es sind nur wir«, sagte sie. »Und der Pastor.«
Es wird ja wohl auf jeden Fall ein Kantor da sein, der Orgel spielt, dachte Wallander. Aber er sagte nichts.
Sie gingen in die Kirche. Der Pastor war jung, er saß zeitunglesend auf einem Stuhl direkt neben dem Sarg. Wallander spürte, wie Anette Fredman plötzlich seinen Arm packte.
Er verstand sie.
Der Pastor steckte die Zeitung weg. Sie nahmen rechts vom Sarg Platz. Sie hielt seinen Arm noch immer fest.
Zuerst hat sie ihren Mann verloren, dachte Wallander. Björn Fredman war ein widerwärtiger und brutaler Mensch, der sie schlug und seine Kinder in Todesangst versetzte. Aber er war trotz allem der Vater ihrer Kinder. Dann wird er von seinem eigenen Sohn getötet. Anschließend stirbt ihre Älteste, Louise. Und jetzt sitzt sie hier, um ihren Sohn zu begraben. Was bleibt ihr noch? Ein halbes Leben? Wenn überhaupt?
Jemand kam in die Kirche. Anette Fredman schien es nicht zu hören. Vielleicht konzentrierte sie sich so darauf, die Situation |23|durchzustehen. Eine Frau kam den Mittelgang entlang. Sie war in Wallanders Alter. Jetzt hatte auch Anette Fredman sie bemerkt. Sie nickte. Die Frau setzte sich ein paar Bänke hinter ihnen.
»Sie ist Ärztin«, sagte Anette Fredman. »Sie heißt Agneta Malmström. Sie hat Jens einmal behandelt.«
Wallander kam der Name bekannt vor. Aber es dauerte eine Weile, bis ihm einfiel, daß Agneta Malmström und ihr Mann es waren, die ihm einen der wichtigsten Hinweise in der damaligen Ermittlung gegeben hatten. Er erinnerte sich, daß er eines Nachts über Radio Stockholm mit ihr gesprochen hatte. Sie hatte sich auf einem Segelboot auf hoher See irgendwo bei Landsort befunden.
Orgelmusik strömte durch das Kircheninnere. Fing nicht eine Beerdigung immer mit Glockenläuten an? Er ließ den Gedanken fallen, als er spürte, wie ihr Griff um seinen Arm fester wurde. Er warf einen Blick auf den Jungen, der auf der anderen Seite von Anette Fredman saß. War es richtig, einen Siebenjährigen mit auf eine Beerdigung zu nehmen? Wallander war sich nicht sicher. Aber der Junge machte einen gefaßten Eindruck.
Die Musik verklang. Der Pastor begann zu sprechen. Sein Ausgangspunkt waren Jesu Worte von den Allerjüngsten, die zu ihm kommen sollten. Wallander saß da und blickte auf den Sarg, versuchte die Blumen im Kranz zu zählen, um den Kloß im Hals loszuwerden.
Die Feier war kurz. Anschließend traten sie an den Sarg. Anette Fredman atmete schwer, als quäle sie sich über die letzten Meter eines bergan steigenden Dauerlaufs. Agneta Malmström hatte sich ihnen angeschlossen. Wallander wandte sich dem Pastor zu, der ungeduldig wirkte.
»Glockenläuten«, sagte Wallander grimmig. »Wenn wir hinausgehen, sollen Glocken läuten. Und am liebsten keine Glocken vom Tonband.«
Der Pastor nickte widerwillig. Wallander schoß der Gedanke durch den Kopf, was wohl passiert wäre, wenn er seinen Polizeiausweis gezogen hätte. Anette Fredman und Jens traten als erste aus der Kirche. Wallander begrüßte Agneta Malmström.
»Ich habe Sie erkannt«, sagte sie. »Wir sind uns zwar nie begegnet, aber Sie waren ein paarmal in der Zeitung.«
|24|»Frau Fredman hat mich gebeten, dabeizusein. Hat sie Sie auch angerufen?«
»Nein. Ich wollte sowieso kommen.«
»Und wie wird es jetzt weitergehen?«
Agneta Malmström schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht. Sie trinkt viel zuviel. Wie es mit Jens weitergehen soll, weiß ich auch nicht.«
Sie waren während des leise geführten Gesprächs in den Kirchenvorraum gelangt, wo Anette Fredman und Jens warteten. Die Glocken läuteten. Wallander öffnete die Tür. Er warf einen Blick auf den Sarg im Hintergrund. Die Männer des Beerdigungsinstituts hatten ihn schon aufgenommen und trugen ihn hinaus.
Plötzlich zuckte ein Blitzlicht auf. Vor der Kirche stand ein Fotograf. Anette Fredman versuchte, ihr Gesicht zu verdecken. Der Fotograf beugte sich vor und richtete die Kamera auf das Gesicht des Jungen. Wallander versuchte, sich vor ihn zu stellen, doch der Fotograf war schneller. Er machte sein Bild.
»Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?« schrie Anette Fredman.
Der Junge begann sofort zu weinen. Wallander packte den Fotografen am Arm und zog ihn zur Seite.
»Was soll denn das?« fuhr er ihn an.
»Das kann Ihnen doch scheißegal sein«, erwiderte der Fotograf. Er war in Wallanders Alter und hatte schlechten Atem.
»Ich mache die Bilder, die ich will«, fuhr er fort. »Die Beerdigung des Serienmörders Stefan Fredman. Die Bilder verkaufen sich. Leider bin ich zu spät zur Trauerfeier gekommen.«
Wallander war im Begriff, seinen Polizeiausweis zu zücken. Doch dann überlegte er es sich anders und riß mit einem einzigen Ruck die Kamera an sich. Der Fotograf versuchte, sie ihm wieder abzunehmen. Aber Wallander hielt ihn sich vom Leib. Es gelang ihm, die Kamera zu öffnen und den Film herauszunehmen. »Es gibt schließlich Grenzen«, sagte er und gab die Kamera zurück.
Der Fotograf starrte ihn an. Dann holte er sein Handy aus der Tasche. »Ich rufe die Polizei«, sagte er. »Das war eine Tätlichkeit.«
»Tun Sie das«, erwiderte Wallander. »Tun Sie das. Ich bin Kriminalbeamter und heiße Kurt Wallander. Ich arbeite in Ystad. Rufen |25|Sie ruhig die Kollegen in Malmö an und erstatten Sie Anzeige gegen mich.«
Wallander warf den Film auf den Boden und zertrampelte ihn. Im gleichen Augenblick hörten die Glocken auf zu läuten.
Wallander war der Schweiß ausgebrochen. Anette Fredmans flehentliches Rufen, daß man sie in Ruhe lassen solle, hallte in seinem Kopf nach. Der Fotograf starrte auf seinen zertretenen Film. Die Jungen spielten ungerührt Fußball.
Schon bei ihrem Anruf hatte Frau Fredman gefragt, ob Wallander nach der Beerdigung auf eine Tasse Kaffee zu ihr nach Hause kommen wolle. Er hatte es nicht über sich gebracht, nein zu sagen.
»Es kommen keine Bilder in der Zeitung«, sagte er.
»Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen?«
Wallander hatte keine Antwort.
Die Wohnung im dritten Stock des stark heruntergekommenen Mietshauses war noch so, wie er sie in Erinnerung hatte. Agneta Malmström war auch mitgekommen. Schweigend warteten sie darauf, daß der Kaffee fertig wurde. Wallander meinte, in der Küche eine Flasche klirren zu hören.
Der Junge saß auf dem Fußboden und spielte stumm mit einem Auto. Wallander spürte, daß Agneta Malmström die gleiche Beklemmung empfand wie er. Aber es gab nichts zu sagen.
Sie saßen da mit ihren Kaffeetassen. Anette Fredmans Augen glänzten. Agneta Malmström erkundigte sich, wie sie finanziell zurechtkäme, da sie arbeitslos war.
Anette Fredman antwortete einsilbig. »Es geht. Irgendwie geht es. Immer ein Tag nach dem anderen.«
Das Gespräch verebbte. Wallander blickte zur Uhr. Es war kurz vor eins. Er stand auf und reichte Frau Fredman die Hand. Im gleichen Augenblick fing sie an zu weinen. Wallander fühlte sich hilflos.
»Ich bleibe noch eine Weile«, meinte Agneta Malmström. »Gehen Sie nur.«
»Ich werde versuchen, bei Gelegenheit einmal anzurufen«, sagte Wallander. Dann tätschelte er dem Jungen etwas linkisch den Kopf und ging.
Im Auto blieb er zunächst eine Weile sitzen, bevor er den Motor |26|anließ. Er dachte an den Fotografen, der davon ausgegangen war, seine Bilder von der Beerdigung des toten Serienmörders verkaufen zu können.
Er fuhr durch den schonischen Herbst nach Ystad zurück.
Die Ereignisse des Vormittags bedrückten ihn.
Um kurz nach zwei parkte er seinen Wagen und betrat das Polizeipräsidium.
Es war windig geworden. Der Wind kam aus Osten. Eine Wolkendecke zog langsam über die Küste heran.
Als Wallander in sein Zimmer kam, hatte er Kopfschmerzen. Er suchte in seinen Schreibtischschubladen nach Tabletten. Draußen auf dem Korridor ging Hansson pfeifend vorbei. In der hintersten Ecke der untersten Schublade fand er schließlich eine zerknüllte Packung Dispril. Er ging zum Eßraum und holte sich ein Glas Wasser und eine Tasse Kaffee. Einige der neuen jungen Polizisten, die in den letzten Jahren nach Ystad gekommen waren, saßen an einem Tisch und unterhielten sich lautstark. Wallander nickte und grüßte. Er hörte, daß es um ihre Zeit an der Polizeihochschule ging. Er kehrte in sein Zimmer zurück und saß danach untätig da und starrte das Wasserglas an, in dem sich die beiden Tabletten langsam auflösten.
Er dachte an Anette Fredman. Versuchte sich vorzustellen, wie der Junge, der stumm spielend auf dem Fußboden in der Wohnung in Rosengård gesessen hatte, in Zukunft zurechtkommen würde. Es war, als habe er sich vor der Welt versteckt. Mit der Erinnerung an einen toten Vater und zwei tote Geschwister.
Wallander leerte das Glas und hatte den Eindruck, daß die Kopfschmerzen unmittelbar nachließen. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Mappe mit der Aufschrift »Brandeilig« auf einem roten Klebezettel, die Martinsson ihm hingelegt hatte. Wallander wußte, was darin war. Sie hatten vor dem Wochenende darüber gesprochen. Eine Geschichte, die sich in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in der letzten Woche ereignet hatte. Wallander war zu diesem Zeitpunkt in Hässleholm; Lisa Holgersson hatte ihn auf ein Seminar geschickt, auf dem die Reichspolizeibehörde neue Richtlinien für die Koordinierung der Kontrolle und Überwachung verschiedener Motorradgangs vorstellen wollte. Wallander hatte sie gebeten, ihn zu verschonen, aber Lisa Holgersson hatte nicht nachgegeben. Er und kein anderer sollte fahren. Eine der Gangs hatte |28|außerhalb von Ystad schon einen abgeteilten Hof gekauft. Sie mußten damit rechnen, in Zukunft mit ihnen Probleme zu bekommen.
Wallander entschied sich mit einem Seufzer, wieder an die Arbeit zu gehen. Er schlug die Mappe auf, las den Inhalt und konnte anschließend konstatieren, daß Martinsson einen klaren und übersichtlichen Bericht über den Vorfall verfaßt hatte. Wallander lehnte sich zurück und dachte über das Gelesene nach.
Zwei Mädchen, die eine neunzehn, die andere nicht älter als vierzehn, hatten kurz nach zehn Uhr am Dienstagabend von einem Restaurant im Zentrum aus ein Taxi bestellt. Als Fahrtziel hatten sie Rydsgård angegeben. Eins der Mädchen hatte neben dem Fahrer gesessen. Am Stadtrand von Ystad hatte sie ihn gebeten anzuhalten, weil sie sich auf die Rückbank setzen wolle. Das Taxi hatte am Straßenrand angehalten. Das Mädchen im Fond hatte in diesem Moment einen Hammer hervorgeholt und dem Fahrer damit auf den Kopf geschlagen. Gleichzeitig hatte das Mädchen auf dem Beifahrersitz ein Messer gezogen und ihm in die Brust gestoßen. Dann hatten sie dem Fahrer die Brieftasche und das Handy abgenommen und das Auto verlassen. Der Taxifahrer hatte trotz seiner Verletzungen Alarm auslösen können. Er hieß Johan Lundberg, war etwas über sechzig Jahre alt und zeit seines Berufslebens Taxi gefahren. Er hatte eine gute Beschreibung der beiden Mädchen gegeben. Martinsson, der ausgerückt war, hatte ohne Schwierigkeiten durch Befragen verschiedener Gäste ihre Namen erfahren. Beide Mädchen waren bei sich zu Hause festgenommen worden. Die Neunzehnjährige kam in Untersuchungshaft. Wegen der Schwere des Verbrechens hatte man entschieden, auch die Vierzehnjährige dazubehalten. Johan Lundberg war bei Bewußtsein, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Aber dort hatte sich sein Zustand plötzlich verschlechtert. Jetzt war er ohne Bewußtsein, und die Ärzte waren sich nicht sicher, ob er durchkommen würde. Martinsson zufolge hatten die beiden Mädchen als Grund für den Überfall angegeben, sie hätten »Geld gebraucht«.
Das jüngere Mädchen ging noch zur Schule und hatte ausgezeichnete Noten. Die ältere hatte früher in der Rezeption eines Hotels gearbeitet und war als Au pair in London gewesen. Keine |29|von beiden hatte zuvor mit der Polizei oder den Sozialbehörden zu tun gehabt.
Ich begreife es nicht, dachte Wallander. Diese Mißachtung von Menschenleben. Sie hätten den Taxifahrer töten können. Vielleicht haben sie es sogar getan, wenn er jetzt im Krankenhaus sterben sollte. Zwei Mädchen. Wären es Jungen gewesen, könnte ich es vielleicht verstehen. Und sei es nur aus alter Gewohnheit.
Ein Klopfen unterbrach ihn in seinen Gedanken. Ann-Britt Höglund stand in der offenen Tür. Sie sah wie gewöhnlich blaß und müde aus. Wallander dachte an die Veränderung, die sie durchgemacht hatte, seit sie nach Ystad gekommen war. Sie war eine der Besten ihres Jahrgangs auf der Polizeihochschule gewesen und hatte ihre Stelle in Ystad voller Energie und mit großem Ehrgeiz angetreten. Jetzt hatte sie noch ihren Willen. Aber sie war verändert. Ihre Blässe kam von innen.
»Störe ich?« fragte sie.
»Nein.«
Sie setzte sich vorsichtig auf Wallanders wackligen Besucherstuhl.
Wallander zeigte auf die aufgeschlagene Mappe. »Was sagst du dazu?«
»Sind das die Taximädchen?«
»Ja.«
»Ich habe mit der, die in Haft sitzt, gesprochen. Sonja Hökberg. Klar und aufgeweckt. Beantwortet alle Fragen deutlich und präzise. Und scheint keinerlei Reue zu empfinden. Das zweite Mädchen ist seit gestern in der Obhut der Sozialbehörde.«
»Verstehst du das Ganze?«
Ann-Britt Höglund schwieg eine Weile, bevor sie antwortete. »Ja und nein. Daß die Gewalt in immer jüngeren Altersgruppen um sich greift, wissen wir.«
»Ich kann mich nicht erinnern, jemals von zwei Mädchen in dem Alter gehört zu haben, die bei einem Überfall mit Hammer und Messer vorgegangen sind. Waren sie betrunken?«
»Nein. Aber es fragt sich, ob man sich wirklich darüber wundern soll. Ob man nicht hätte wissen können, daß so etwas früher oder später passiert.«
|30|Wallander lehnte sich über den Tisch vor. »Das mußt du mir erklären.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Versuch es!«
»Frauen werden auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht. Die Zeiten sind vorbei.«
»Das erklärt doch nicht, weshalb junge Mädchen mit Hammer und Messer auf einen Taxifahrer losgehen.«
»Also muß es andere Gründe geben, man muß nur danach suchen. Wir glauben beide nicht, daß es Menschen gibt, denen das Böse angeboren ist.«
Wallander schüttelte den Kopf. »Ich versuche auf jeden Fall, es nicht zu glauben, auch wenn es einem ab und zu schwerfällt.«
»Es reicht, wenn man die Zeitschriften anschaut, die Mädchen in diesem Alter lesen. Jetzt dreht sich wieder alles um Schönheit. Sonst zählt nichts. Darum, wie man sich einen Freund angelt und sein Leben durch dessen Träume verwirklicht.«
»War das denn nicht immer so?«
»Nein. Sieh dir doch deine Tochter an. Hat sie nicht ihre eigenen Vorstellungen davon, was sie aus ihrem Leben machen will?«
Wallander wußte, daß sie recht hatte. Dennoch schüttelte er den Kopf. »Ich verstehe noch immer nicht, warum sie Lundberg überfallen haben.«
»Das solltest du aber. Wenn diese Mädchen langsam anfangen zu durchschauen, was passiert. Daß sie nicht nur nicht gebraucht werden, sondern sogar unerwünscht sind. Dann reagieren sie. Genau wie die Jungen. Unter anderem mit Gewalt.«
Wallander schwieg. Er verstand jetzt, was Ann-Britt Höglund sagen wollte.
»Ich glaube nicht, daß ich es besser erklären kann«, sagte sie. »Willst du nicht selbst mit ihr reden?«
»Martinsson meinte das auch.«
»Eigentlich bin ich wegen etwas ganz anderem gekommen. Ich brauche deine Hilfe.«
Wallander wartete auf die Fortsetzung.
»Ich habe versprochen, hier in Ystad in einer Frauenvereinigung einen Vortrag zu halten. Donnerstag abend. Aber ich merke, |31|daß ich es nicht schaffe. Ich kann mich nicht konzentrieren. Es passiert zuviel.«
Wallander wußte, daß sie mitten in einer aufreibenden Scheidung steckte. Ihr Mann war nie da, weil er als Monteur ständig durch die Welt reiste. So zog sich das Ganze noch zusätzlich in die Länge. Schon im Vorjahr hatte sie Wallander erzählt, daß ihre Ehe zu Ende ginge.
»Kannst du nicht Martinsson fragen?« sagte Wallander abwehrend. »Du weißt, daß ich keine Vorträge halten kann.«
»Du brauchst nur eine halbe Stunde zu reden«, sagte sie. »Darüber, wie es ist, Polizist zu sein. Dreißig Frauen. Sie werden dich lieben.«
Wallander schüttelte entschieden den Kopf. »Martinsson würde es liebend gern tun. Außerdem ist er in der Politik gewesen. Er ist daran gewöhnt zu reden.«
»Ich habe ihn gefragt. Er kann nicht.«
»Und Lisa Holgersson?«
»Das gleiche.«
»Was ist mit Hansson?«
»Der fängt nach ein paar Minuten an, über Pferde zu reden. Das geht nicht.«
Wallander wurde klar, daß er nicht ablehnen konnte. Er mußte ihr helfen. »Was ist das denn für eine Frauenvereinigung?«
»Es handelt sich um eine Art literarischen Studienzirkel, der sich zu einer Vereinigung ausgewachsen hat. Sie treffen sich seit mehr als zehn Jahren.«
»Und ich soll darüber sprechen, wie es ist, Polizist zu sein?«
»Sonst nichts. Und dann haben sie vielleicht ein paar Fragen.«
»Nicht daß ich Lust dazu hätte. Aber ich mache es, weil du es bist.«
Sie wirkte erleichtert und legte einen Zettel auf seinen Tisch. »Hier sind Name und Adresse der Kontaktperson.«
Wallander nahm den Zettel an sich. Die Adresse war die eines Hauses im Zentrum. Nicht weit entfernt von der Mariagata.
Sie stand auf. »Du kriegst kein Geld. Aber Kaffee und Kuchen.«
»Ich esse keinen Kuchen.«
»Auf jeden Fall ist es ganz im Sinne des Reichspolizeichefs, der |32|wünscht, daß wir uns gutstellen mit der Allgemeinheit. Und ständig neue Wege suchen, um über unsere Arbeit zu informieren.«
Wallander wollte sie fragen, wie es ihr ginge. Aber er ließ es. Wenn sie über ihre Probleme sprechen wollte, konnte sie selbst damit anfangen.
In der Tür wandte sie sich um. »Wolltest du nicht zu Stefan Fredmans Beerdigung?«
»Ich war da. Und es war genauso grauenhaft, wie zu erwarten war.«
»Wie ging es der Mutter? Ich weiß nicht mehr, wie sie hieß.«
»Anette. Ihr scheint wirklich nichts erspart zu bleiben. Aber ich glaube, sie sorgt gut für den Jungen, der ihr noch geblieben ist. Zumindest versucht sie es.«
»Wir werden ja sehen.«
»Wie meinst du das?«
»Wie heißt der Junge?«
»Jens.«
»Wir werden sehen, ob eine Person namens Jens Fredman in zehn Jahren in den Polizeiberichten auftaucht.«
Ann-Britt Höglund verließ das Zimmer. Der Kaffee war kalt geworden. Wallander holte neuen. Die jungen Kollegen waren verschwunden. Wallander ging den Flur hinunter zu Martinssons Zimmer. Die Tür stand sperrangelweit offen, aber der Raum war leer. Wallander kehrte in sein eigenes Zimmer zurück. Seine Kopfschmerzen waren nicht wiedergekommen. Ein paar Dohlen krächzten am Wasserturm. Er versuchte vergebens, sie zu zählen.
Das Telefon klingelte, und er nahm ab, ohne sich zu setzen. Es war die Buchhandlung. Das Buch, das er bestellt habe, sei gekommen. Wallander konnte sich nicht erinnern, ein Buch bestellt zu haben. Aber er sagte nichts. Er versprach, es am nächsten Tag abzuholen.
Als er aufgelegt hatte, fiel es ihm ein. Es sollte ein Geschenk für Linda sein. Ein französisches Buch über die Restaurierung alter Möbel. Wallander hatte im Wartezimmer seines Arztes in einer Illustrierten etwas darüber gelesen. Er glaubte immer noch, daß Linda, trotz ihrer sonderbaren Ausflüge in andere Berufsbereiche, an ihrem Interesse für alte Möbel festhalten würde. Er hatte das |33|Buch bestellt und es dann vergessen. Er beschloß, Linda noch am gleichen Abend anzurufen. Es war mehrere Wochen her, seit sie zuletzt miteinander gesprochen hatten.
Martinsson kam ins Zimmer. Er hatte es immer eilig und klopfte selten an. Wallander war im Laufe der Jahre zu der festen Überzeugung gelangt, daß Martinsson ein guter Polizist war. Seine Schwäche war, daß seine Interessen eigentlich woanders lagen. Bei mehreren Gelegenheiten in den letzten Jahren hatte er ernsthaft ans Aufhören gedacht. Vor allem als seine Tochter vor einiger Zeit auf dem Schulhof mißhandelt worden war, nur weil ihr Vater Polizist war. Aus keinem anderen Grund. Damals hatte Wallander ihn zum Weitermachen überreden können. Martinsson war hartnäckig und ließ dann und wann auch einen gewissen Scharfsinn erkennen. Aber seine Hartnäckigkeit konnte sich in Ungeduld verwandeln, und sein Scharfsinn kam nicht zur Geltung, weil er zuweilen in der Grundlagenarbeit pfuschte.
Martinsson lehnte sich an den Türrahmen. »Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du hattest dein Handy nicht eingeschaltet.«
»Ich war in der Kirche«, entgegnete Wallander. »Und anschließend habe ich es vergessen.«
»Auf Stefans Beerdigung?«
Wallander wiederholte, was er zu Ann-Britt Höglund gesagt hatte. Daß es grauenhaft gewesen war.
Martinsson machte eine Kopfbewegung zu der Mappe, die aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag.
»Ich habe es gelesen«, sagte Wallander. »Und ich begreife nicht, was diese Mädchen dazu gebracht hat, mit einem Hammer zuzuschlagen und mit einem Messer zuzustechen.«
»Es steht da«, erwiderte Martinsson. »Sie waren auf Geld aus.«
»Aber die Brutalität? Wie geht es ihm denn?«
»Lundberg?«
»Wem denn sonst?«
»Er ist immer noch bewußtlos. Sie haben versprochen anzurufen, wenn eine Änderung eintritt. Entweder kommt er durch. Oder er stirbt.«
»Verstehst du das Ganze?«
Martinsson setzte sich auf den Besucherstuhl. »Nein, ich verstehe |34|es nicht. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wirklich verstehen will.«
»Das müssen wir. Wenn wir weiter Polizisten sein wollen.«
Martinsson sah Wallander an.
»Du weißt, daß ich schon oft daran gedacht habe aufzuhören. Beim letzten Mal hast du es geschafft, mich zu überreden. Aber beim nächsten Mal weiß ich nicht. Es wird auf jeden Fall nicht mehr so einfach sein.«
Martinsson mochte durchaus recht haben. Das beunruhigte Wallander, der ihn als Kollegen nicht verlieren wollte. Ebensowenig wie er wollte, daß Ann-Britt Höglund eines Tages käme und ihm mitteilte, sie wolle aufhören.
»Wir sollten vielleicht noch einmal mit dem Mädchen reden«, sagte Wallander. »Mit Sonja Hökberg.«
»Ich habe erst noch etwas anderes.«
Wallander war aufgestanden, setzte sich aber wieder. Martinsson hatte ein paar Papiere in der Hand. »Ich möchte, daß du dir dies einmal durchliest. Es ist letzte Nacht passiert. Ich bin hingefahren. Ich sah keine Veranlassung, dich zu wecken.«
»Was ist denn passiert?«
Martinsson kratzte sich die Stirn. »Gegen ein Uhr alarmierte uns ein Wachmann, an einem Geldautomaten oben bei den Kaufhäusern läge ein toter Mann.«
»Bei welchen Kaufhäusern?«
»Wo das Finanzamt liegt.«
Wallander nickte.
»Wir fuhren hin. Da lag tatsächlich ein Mann auf dem Asphalt. Dem Arzt zufolge war er noch nicht lange tot. Höchstens zwei Stunden. Wir bekommen natürlich in ein paar Tagen Bescheid.«
»Was war passiert?«
»Genau das war die Frage. Er hatte eine große Wunde am Kopf. Aber war er geschlagen worden, oder hatte er sich die Wunde zugezogen, als er auf den Asphalt fiel? Das konnten wir nicht gleich entscheiden.«
»War er beraubt worden?«
»Seine Brieftasche war noch da. Mit Geld.«
Wallander überlegte. »Gab es Zeugen?«
|35|»Nein.«
»Und wer ist der Tote?«
Martinsson blätterte in seinen Papieren. »Er hieß Tynnes Falk. Siebenundvierzig Jahre alt. Er wohnte ganz in der Nähe. Apelbergsgatan 10.Eine Mietwohnung im obersten Stock.«
Wallander hob die Hand und unterbrach Martinsson. »Apelbergsgatan 10?«
»Ja.«
Wallander nickte langsam. Er erinnerte sich daran, daß er vor einigen Jahren, unmittelbar nach der Scheidung von Mona, an einem Tanzabend in Saltsjöbadens Hotel eine Frau getroffen hatte. Er war ziemlich betrunken gewesen. Er war mit ihr nach Hause gegangen und am nächsten Morgen im Bett neben einer schlafenden Frau aufgewacht, die er in nüchternem Zustand kaum wiedererkannte. Geschweige denn, daß er ihren Namen wußte. Er hatte sich in aller Eile angezogen und war weggegangen und hatte sie nie wiedergetroffen. Aber aus irgendeinem Grund war er sicher, daß es das Haus Apelbergsgatan 10 gewesen war.
»Ist was Besonderes mit der Adresse?« wollte Martinsson wissen.
»Ich habe nur nicht genau gehört, was du gesagt hast.«
Martinsson schaute ihn verwundert an. »Spreche ich so undeutlich?«
»Mach jetzt weiter.«
»Er war alleinstehend. Geschieden. Seine Exfrau wohnt noch in der Stadt. Aber die Kinder sind über das ganze Land verstreut. Ein Junge von neunzehn studiert in Stockholm. Das Mädchen ist siebzehn und arbeitet als Kindermädchen in einer Botschaft in Paris. Wir haben die Frau natürlich davon unterrichtet, daß der Mann gestorben ist.«
»Was hat er beruflich gemacht?«
»Er hatte offenbar eine Einmann-Firma. Er war Berater in der Computerbranche.«
»Und er ist nicht beraubt worden?«
»Nicht dem Zettel zufolge, den er in der Hand hielt.«
»Sonst hätte man sich vorstellen können, daß jemand ihm auflauerte und zuschlug, als er Geld abgehoben hatte.«
|36|»An die Möglichkeit habe ich auch gedacht. Aber er hatte am Samstag Geld abgehoben. Einen kleineren Betrag.«
Martinsson reichte Wallander einen Plastikbeutel mit einem blutbefleckten Stück Papier. Wallander sah, daß der Automat den Kontoauszug genau zwei Minuten nach Mitternacht gedruckt hatte.
Er reichte den Beutel zurück. »Was sagt Nyberg?«
»Nichts außer der Kopfwunde spricht für ein Verbrechen. Vermutlich hat er einen Herzinfarkt gehabt und ist daran gestorben.«
»Vielleicht hat er damit gerechnet, daß mehr Geld auf dem Konto war«, meinte Wallander nachdenklich.
»Wie kommst du darauf?«
Wallander wußte selbst nicht, was er gemeint hatte. »Wir warten also den ärztlichen Befund ab, gehen aber davon aus, daß kein Verbrechen vorliegt. Wir legen es ab.«
Martinsson sammelte seine Papiere zusammen. »Ich rufe den Anwalt an, der der Hökberg zugewiesen worden ist. Du bekommst Bescheid, wann er hiersein wird, damit du mit ihr sprechen kannst.«
»Nicht daß ich unbedingt wollte«, gab Wallander zurück. »Aber ich muß wohl.«
Martinsson verließ das Zimmer. Wallander ging zur Toilette. Die Zeit, als er ständig pinkeln mußte, weil sein Blutzuckerspiegel zu hoch war, gehörte jedenfalls der Vergangenheit an, sagte er sich.
Die nächste Stunde widmete er der Bearbeitung des trostlosen Materials über die ins Land geschmuggelten Zigaretten. In seinem Hinterkopf kreisten unentwegt die Gedanken an das Versprechen, das er Ann-Britt Höglund gegeben hatte.
Um zwei Minuten nach vier rief Martinsson an und teilte ihm mit, daß Sonja Hökberg und der Anwalt da seien.
»Wer ist der Anwalt?« fragte Wallander.
»Herman Lötberg.«
Wallander kannte ihn. Ein älterer Mann, mit dem man gut zusammenarbeiten konnte.
»Ich bin in fünf Minuten da«, sagte Wallander und legte auf.
Er trat wieder ans Fenster. Die Dohlen waren fort. Der Wind |37|war kräftiger geworden. Er dachte an Anette Fredman. An den Jungen, der auf dem Fußboden gespielt hatte. Seine ängstlichen Augen. Dann schüttelte er sich und versuchte, sich die einleitenden Fragen an Sonja Hökberg zurechtzulegen. In Martinssons Mappe hatte er gelesen, daß sie diejenige war, die auf dem Rücksitz gesessen und Lundberg mit dem Hammer auf den Kopf geschlagen hatte. Und sie hatte nicht nur einmal zugeschlagen, sondern mehrfach. Als sei sie von unkontrollierter Wut gepackt worden.
Wallander griff nach Notizblock und Stift. Im Flur fiel ihm ein, daß er seine Brille vergessen hatte. Er ging noch einmal zurück.
Es gibt nur eine Frage, dachte er auf dem Weg zum Verhör. Eine einzige Frage, die wichtig ist.
Warum haben sie es getan?
Daß sie auf Geld aus waren, ist keine ausreichende Antwort.
Es muß eine andere Antwort geben, die tiefer liegt.
Sonja Hökberg sah ganz anders aus, als Wallander sie sich vorgestellt hatte. Aber wie hatte er sie sich eigentlich vorgestellt? Auf jeden Fall nicht wie die Person, die er jetzt vor sich hatte. Sonja Hökberg saß auf einem Stuhl im Vernehmungszimmer. Sie war klein, wirkte dünn, fast durchsichtig. Sie hatte halblanges blondes Haar und blaue Augen. Wie eine Schwester des Jungen auf der Kaviartube, fand Wallander. Eine Schwester von Kalle, dachte er. Kindlich, lebensfroh. Aber alles andere als eine Wahnsinnige, die einen Hammer unter der Jacke oder in ihrer Handtasche versteckt hat.
Wallander hatte den Anwalt des Mädchens im Flur begrüßt.
»Sie ist sehr gefaßt«, sagte der Anwalt. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ihr klar ist, unter welchem Verdacht sie steht.«
»Sie steht nicht unter Verdacht«, sagte Martinsson mit Nachdruck. »Sie hat gestanden.«
»Der Hammer?« fragte Wallander. »Haben wir den gefunden?«
»Er lag in ihrem Zimmer unterm Bett. Sie hatte nicht einmal das Blut abgewischt. Aber das zweite Mädchen hat das Messer fortgeworfen. Wir suchen noch danach.«
Martinsson ging. Wallander betrat zusammen mit dem Anwalt das Vernehmungszimmer. Das Mädchen betrachtete sie neugierig. Sie wirkte kein bißchen nervös. Wallander nickte und setzte sich. Ein Tonbandgerät stand auf dem Tisch. Der Anwalt setzte sich so, daß Sonja Hökberg ihn sehen konnte. Wallander betrachtete sie lange. Sie erwiderte seinen Blick.
»Hast du einen Kaugummi?« fragte sie plötzlich.
Wallander schüttelte den Kopf Er blickte Lötberg an, der auch den Kopf schüttelte.
»Wir werden sehen, ob wir einen Kaugummi besorgen können«, sagte Wallander und schaltete das Tonbandgerät ein. »Aber vorher werden wir miteinander reden.«
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