19,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 19,99 €
«Die Brandstifter» zeichnet die Geschichte der Republikanischen Partei nach und stellt ihre wichtigsten Akteure vor. Dabei wird deutlich, wie porös die Brandmauer zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus in den USA schon immer war, nicht erst seit Trump. Brockschmidt erzählt packend, wie historische Entwicklungen und Machtkämpfe die Partei geprägt und radikalisiert haben – und warum das Ergebnis der Präsidentschaftswahl 2024 nicht nur für die USA von entscheidender Bedeutung sein wird. «Mit großer Sachkenntnis zeigt Annika Brockschmidt wie die Republikanische Partei im 21. Jahrhundert von jenem extremistischen Tiger gefressen wurde, den zu reiten sie 50 Jahre lang versucht hatte.» - Adrian Daub, Stanford University «Annika Brockschmidt ist eine scharfe Beobachterin der religiösen und politischen Vorgänge in den USA. In diesen turbulenten Zeiten brauchen wir ihre genauen Beobachtungen und klugen Kommentare mehr denn je.» - Anthea D. Butler, University of Pennsylvania «Amerika wird von einer gefährlichen Welle des weißen christlichen Nationalismus' heimgesucht. Annika Brockschmidts brillantes Buch ist für das Verständnis von Ursache und Auswirkungen dieser Bedrohung unentbehrlich.» - Andrew Seidel, Autor des Bestsellers «The Founding Myth»
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 519
Annika Brockschmidt
Wie Extremisten die Republikanische Partei übernahmen
Die Lüge vom Wahlbetrug, autoritäre Gesetzgebung, ein vom Ex-Präsidenten aufgehetzter Mob, der das Kapitol stürmt und einen Galgen für «Verräter» errichtet – die Republikanische Partei, die einst die Sklaverei beendete, ist heutzutage offenkundig bereit, eine Herrschaft der Minderheit zu etablieren: Längst sind christlich-nationalistische, offen extremistische und rassistische Ansichten zur Mainstream-Meinung in der Partei avanciert. Mit dramatischen Konsequenzen: In Republikanisch regierten Bundesstaaten werden im Kampf gegen die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung Bücher verboten, die Rechte von Minderheiten beschnitten, die Wissenschaftsfreiheit beschränkt und das Recht auf Abtreibung abgeschafft oder stark eingeschränkt.
Annika Brockschmidt zeichnet die Radikalisierung der Republikanischen Partei der letzten Jahrzehnte nach. Dabei wird deutlich, wie porös die Brandmauer zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus in den USA schon immer war: «Die Brandstifter» schildert, wie historische Entwicklungen und Machtkämpfe die Partei geprägt haben, wer die Radikalisierung vorantrieb und welche Ziele dahinterstehen. Das Problem des Extremismus in der Republikanischen Partei geht weit über Trump hinaus und wird uns noch lange nach der Präsidentschaftswahl 2024 beschäftigen.
Annika Brockschmidt hat Geschichte, Germanistik und War and Conflict Studies in Heidelberg, Durham und Potsdam studiert. Sie ist freie Journalistin und Autorin, hat für das ZDF-Hauptstadtstudio gearbeitet und ist Co-Host der Podcasts «Kreuz und Flagge» und «Feminist Shelf Control». Zudem ist sie Senior Correspondent der Religion Dispatches und schreibt unter anderem für den Tagesspiegel, die Frankfurter Rundschau, die Presse, die Republik und den Freitag. Ihr Buch «Amerikas Gotteskrieger» über die Macht der Religiösen Rechten in den USA war 2021 ein Bestseller.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung iStock, Shutterstock
ISBN 978-3-644-01532-6
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
1 Das Erbe
2 Konservative Revolutionäre
3 Der Sturz des Heiligen
4 Der Business-Prinz und die Bircher
5 Eine Partei für Weiße
6 Make America Great Again
7 Trumps Blaupause
8 Vorboten der Apokalypse
9 Schwelbrand
10 Schlurfen nach Gomorrha
11 Die dunkle Seite der Macht
12 Die neue Revolution
13 Autopsie einer Partei
14 Eine neue Ära
15 Herrschaft der Minderheit
Dank
Die Wurzeln der Republikanischen Partei
«Wir werden unser Land nicht retten, solange wir nicht akzeptieren, dass Opfer gebracht werden müssen, dass es Pfeile gibt, die uns treffen werden. Die Menschen, die 1776 ihr Leben […] und ihre heilige Ehre verpfändet haben, wussten, dass ihnen der Kopf abgehackt worden wäre, wenn sie nicht gesiegt hätten.»
Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, auf der «Moms for Liberty»-Konferenz in Philadelphia, 30. Juni 2023
«Als es hieß, das hier sei eine Terrororganisation …» Nikki Haley hob lächelnd eine Hand, aus dem Publikum kam Gelächter. Tiffany Justice, die Moderatorin und Mitgründerin von «Moms for Liberty», die neben ihr auf einem cremefarbenen Sofa saß, deutete auf ihr Gesicht und witzelte: «Das ist scheinbar das Gesicht des Terrorismus!» Haley, die ein elegant geschnittenes Business-Kleid trug, das genauso rot war wie die Farbe der Republikanischen Partei, machte eine kleine Kunstpause, dann fuhr sie mit einem breiten Grinsen fort: «Da sagte ich: Dann zählt mich dazu, als eine ‹Mom for Liberty›!»[1] Das Publikum klatschte begeistert und jubelte.
Die Stimmung auf dem Jahrestreffen der Moms for Liberty, das Anfang Juli 2023 in Philadelphia stattfand, war euphorisch, ja fast übermütig. Die Anwesenden beklatschten allerdings weniger die Präsidentschaftskandidatin Nikki Haley, die von dem Publikum aus rechtsextremen Aktivistinnen im Franklin-Ballsaal des Marriott-Hotels zuvor eher lauwarm empfangen worden war, sondern die stolze und trotzige Aneignung der Bezeichnung domestic terrorist («einheimischer Terrorist»), die sie keineswegs als Beleidigung, sondern als Auszeichnung betrachteten.[2]
Kurz vor der Konferenz hatte das Southern Poverty Law Center, eine Bürgerrechtsorganisation, die sich der Bekämpfung von Hass und Rassismus verschrieben hat, die Moms for Liberty als extremistische Organisation klassifiziert.[3] Statt sich gegen diese Einordnung zu wehren, nahm man sie hier stolz an – wie schon ein Jahr zuvor auf der einflussreichen Conservative Political Action Conference (CPAC) in Dallas, bei der ein Panel unter dem Titel «We are all domestic terrorists» stattfand.[4] Alles natürlich nur ironisch gemeint – oder etwa doch nicht? CPAC ist schließlich nicht irgendeine obskure Konferenz, sondern eine Art jährliches Gipfeltreffen der Republikanischen Partei und Vertreter*innen des amerikanischen Konservatismus und zog auch 2022 große Namen wie Donald Trump und Ted Cruz als Redner an. Sie wurde 1974 von der rechten Lobbyorganisation «American Conservative Union» ins Leben gerufen, und auf ihr treffen alljährlich Politiker*innen auf den härtesten Kern der Basis.
Der Terrorismusvorwurf als Auszeichnung war bei der Zusammenkunft der Moms for Liberty in Philadelphia immer wieder Thema, sei es als Einzeiler auf der Bühne, der Lacher und Jubel garantierte, oder in den Gesprächen der Gäste untereinander. Überhaupt war der Tonfall scharf, und die Botschaft der Redner*innen an die Versammelten war unmissverständlich: Es liege an ihnen, den besorgten Müttern, das Land vor dem Abgrund zu retten.
«Mamas sind die wichtigste politische Kraft im Jahr 2024, und wir müssen uns diese Energie zunutze machen!», rief Ron DeSantis von der Bühne des Ballsaals, in dem sich 650 «fröhliche Kriegerinnen», wie sie sich selbst nennen, zum insgesamt erst zweiten jährlichen «Moms for Liberty Summit» versammelt hatten. Der Gouverneur von Florida erntete tosenden Applaus – genau wie bei seiner Behauptung, dass «die Linke […] die mächtigste Kraft im Land geweckt hat: die Mama-Bären!» Das Bild von stylishen «Mama-Bären», die ihre Jungen leidenschaftlich beschützen, das 2008 die Gouverneurin von Alaska und Vize-Präsidentschaftskandidatin Sarah Palin bekannt gemacht hatte, war fünfzehn Jahre später auf der Konferenz allgegenwärtig: In der Merchandise-Ecke konnte man sogar das entsprechende T-Shirt kaufen, samt Aufdruck einer brüllenden Bärin mit der Aufschrift «Mama Bear» und «Hands off my cubs!» («Finger weg von meinen Jungen!»).
Ron DeSantis war, wie auch andere Präsidentschaftskandidat*innen wie Nikki Haley, Vivek Ramaswamy und Donald Trump, nach Philadelphia gepilgert, um dem aktuellen Star des amerikanischen Konservatismus die Treue zu schwören: den Moms for Liberty. Während vor dem Konferenzhotel ein Gegenprotest in der von kanadischen Waldbränden verräucherten Hitze die Stellung hielt, herrschte drinnen ekstatische Stimmung. Die Teilnehmerinnen waren förmlich elektrisiert von der tanzenden Gegendemo und von der Tatsache, dass zahlreiche mediale Augen an diesem Wochenende vor dem 4. Juli auf sie gerichtet sein würden.
Gleichzeitig war die Konferenz der «fröhlichen Kriegerinnen» eine Machtdemonstration und bewies schon allein durch ihre prominente Gästeliste, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen der Republikanischen Partei und den extremen Gruppen der amerikanischen Rechten umgekehrt hat.
Ursprünglich wurde Moms for Liberty 2021 von Tiffany Justice und Tina Descovich in Florida gegründet – aus Protest gegen die Schließung von Schulen während der Covid-Pandemie. Inzwischen hat sich die Organisation jedoch anderen Themen zugewandt und ist zu einer ernst zu nehmenden Kraft im sogenannten Kulturkrieg der amerikanischen Rechten geworden, die Schulbezirksleitungen, Erzieher*innen und Lehrer*innen im ganzen Land bedroht und belästigt. Sie ist eine der wichtigsten Organisationen in den USA, die die Bemühungen um ein Verbot von Büchern über LGBTQ-Themen und Rassismus vorantreibt und generell die moralische Panik der Rechten schürt. Dafür, dass sie erst seit 2021 existiert, waren die Größe und der enorme Planungsaufwand der Konferenz beeindruckend.
Doch auch wenn sich Moms for Liberty gerne als Graswurzelbewegung «ganz normaler Mütter» darstellt, steht hinter ihr in Wirklichkeit ein Powerhouse des rechten Aktivismus: das von dem erzkonservativen Morton Blackwell gegründete Leadership Institute. Blackwell – der in Philadelphia mit dem «Schwert der Freiheit» ausgezeichnet wurde – ist einer der Begründer der organisierten Religiösen Rechten. Blackwell und sein Institut bilden seit Jahrzehnten konservative Aktivist*innen aus, versorgen sie mit Informationen und Anleitungen, wie man eine effektive Wahlkampagne gestaltet und Spenden sammelt, verbindet sie mit Politiker*innen und Publizist*innen und sorgt dafür, dass anfänglich kleine, lokale Gruppen wie Moms for Liberty zu großen Playern im rechten Politzirkus werden können. Das Institut hilft Aktivist*innen, eine inhaltliche Agenda umzusetzen, ein professionelles Image zu pflegen, und lehrt sie politische Krisenkommunikation.
So auch an diesem Wochenende: Zwischen den Hauptreden im großen Ballsaal verteilten sich die Teilnehmer*innen auf verschiedene Kurse, die unter anderem vom Leadership Institute, rechten Aktivist*innen und ultrakonservativen Stiftungen abgehalten wurden. Dort konnten sie lernen, wie man «in der Minderheit gewinnt», lokale Schulbehörden übernimmt und eine rechte Agenda durchsetzt, sobald man gewählt ist. Die angebotenen Seminare umfassten auch Medientraining und juristische Strategien: Die Southeastern Legal Foundation[♦] gab beispielsweise einen Workshop, der genauso gut den Titel «Wie man seinen Schulbezirk am besten verklagt» hätte tragen können.
Die anwesenden Frauen und vereinzelten Männer – «Danke an die anwesenden ‹Dads for Liberty›!», rief eine Rednerin – waren bester Laune, während sie apokalyptische Geschichten über ein Amerika austauschten, wie es rechte Medien wie Fox News, Breitbart und Newsmax tagein, tagaus an die Wand malen. In diesem Amerika werden Christ*innen verfolgt, Weiße[♦] Menschen diskriminiert sowie Kinder und Jugendliche sexualisiert, von Dragqueens belästigt und in staatlichen Bildungseinrichtungen mit «woker Ideologie» indoktriniert. Das düstere Bild, das die Teilnehmerinnen in ihren Gesprächen untereinander schufen, schien ihre blendende Laune jedoch keineswegs zu schmälern. Die Stimmung war aufgekratzt – eine seltsame Mischung aus dem Treffen einer Sorority (Schwesternschaft) und einem rechtslibertären Sommercamp, bei dem sich Frauen und ein paar Männer in ihrem Hass auf «die Linke», die LGBTQ-Gemeinschaft und den Antirassismus bestärkten – pro forma wird der bigotte Kern hinter neutral klingenden Schlagworten wie «Elternrechten» versteckt.
«Wie konnte es so weit kommen?», hatte schon der Fox-News-Moderator Steve Doocy am Tag nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 gefragt.[5] Dieselbe Frage stellt sich im Angesicht der eben beschriebenen Konferenz, in der prominente Vertreter*innen der Republikanischen Partei den Schulterschluss mit rechtsextremen Aktivist*innen suchten. Und genau dieser Frage geht auch dieses Buch nach: Wie konnte es passieren, dass die Republikanische Partei – die Partei Lincolns und der Sklavenbefreiung – zu einer Partei geworden ist, die Ausgrenzung, Nativismus,[♦♦] Rassismus und Hetze zu ihren Hauptmerkmalen zählt? Wie ist es zu erklären, dass ihre politischen Hoffnungsträger*innen auf der Jahresversammlung einer so extremistischen Organisation wie Moms for Liberty auftreten und derart rechten Kräften ihre Treue schwören?
Auch wenn sich dieses Buch auf den Zeitraum von der Mitte des letzten Jahrhunderts bis zur Gegenwart konzentriert, müssen wir zunächst einen kurzen Blick auf die wichtigsten Strömungen des amerikanischen Konservatismus und der Republikanischen Partei in der Zeit davor werfen – und auf die Abgrenzung zur Demokratischen Partei.
Die Stammwählerschaft der Demokraten bestand Anfang des 20. Jahrhunderts traditionell aus Weißen Südstaatlern, Befürworter*innen der Segregation, die der Überzeugung waren, dass Menschen verschiedener Hautfarbe getrennt voneinander leben sollten, sowie aus der Weißen Arbeiterklasse des Nordens. Die Republikaner hatten währenddessen die Mehrheit der Schwarzen Bevölkerung, die Mittelschicht und die Unternehmerschaft hinter sich.[6] In den Jahrzehnten nach dem Bürgerkrieg hatte sich der Fokus der Republikaner immer mehr von Lincolns ursprünglicher Idee – dem Schutz des Einzelnen durch einen starken Staat[7] – entfernt. Die Grand Old Party oder kurz GOP, wie die Republikanische Partei auch genannt wurde, erwarb sich mehr und mehr den Ruf einer Partei, die für die Interessen von großen Wirtschafts- und Finanzunternehmen eintrat und Politik gegen die Arbeiterklasse machte.[8]
Doch um 1900 trat, angeführt von Theodore Roosevelt, eine neue Generation progressiver Republikaner aus dem Schatten der «Alten Garde» der Partei, die deren Abneigung gegen staatliche Sozialleistungen, gegen die Senkung von Zöllen, gegen den Schutz der Arbeiterschaft nicht teilte. Sie hatten erkannt, dass die GOP angesichts der sozialen und wirtschaftlichen Probleme, mit denen vor allem die Arbeiter*innen in der frisch industrialisierten Gesellschaft zu kämpfen hatten, Gefahr lief, mit ihrer bisherigen Politik große Teile ihrer Wählerschaft gegen sich aufzubringen.[9] Der «amerikanische» Traum – das Versprechen des Kapitalismus, dass harte Arbeit reich belohnt wird – hatte mit der Lebensrealität vieler Arbeiter*innen nichts zu tun. Nur durch einen starken Staat, glaubten Roosevelt und seine Mitstreiter, könnten die Freiheit und der Besitz des Einzelnen geschützt werden. Anders als die «Alte Garde», die sich noch lebhaft an den Bürgerkrieg erinnerte und Isolationismus propagierte, waren sie außerdem entschlossen und bereit, die «amerikanische Idee» im Rahmen einer expansionistischen, imperialistischen Außenpolitik auch international zu verbreiten.[10]
Die «Alte Garde» hatte eigentlich gehofft, Roosevelt nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 1900 als Vizepräsidenten des wiedergewählten William McKinley politisch aufs Abstellgleis manövriert zu haben. Doch ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als McKinley im September 1901 einem Attentat zum Opfer fiel und Roosevelt sein Nachfolger wurde.[11]
Roosevelts Pläne, die neben umfassenden Sozialreformen unter anderem die Einführung einer Erbschafts- und Einkommensteuer vorsahen, kamen bei der zunehmend gebeutelten Bevölkerung gut an, und so wurde er 1904 als Präsident bestätigt. Seine Reformbemühungen scheiterten jedoch immer wieder am Kongress und am Obersten Gerichtshof, aber eben auch am Widerstand in seiner eigenen Partei. Roosevelts Nachfolger im Amt war von 1909 bis 1913 sein Freund und Kriegsminister William Howard Taft. Er war – anders als Roosevelt – nicht laut oder rhetorisch begabt, er golfte lieber und scheute die Öffentlichkeit.
Roosevelt hatte gehofft, Taft würde seine Reformen fortführen. Doch dieser begann, einen konservativen, unternehmerfreundlichen Kurs zu fahren, was Roosevelt so erzürnte, dass er, als die Republikaner ihm eine erneute Kandidatur verwehrten, 1912 in die Progressive Party eintrat und als deren Präsidentschaftskandidat antrat.[♦] Bei der Wahl im selben Jahr erhielten Taft und Roosevelt zusammengenommen zwar die Mehrheit der Stimmen, doch weil die Republikanische Wählerschaft gespalten war, gewann am Ende der Demokrat Woodrow Wilson – ein sozialer Reformer und ausgesprochener Rassist.[12]
Die Idee der Kandidatur für eine Drittpartei, die Roosevelt wenig Erfolg gebracht hatte, sollte in Zukunft immer wieder für Diskussionen vor allem in ultrakonservativen Kreisen sorgen: Auf welchem Weg ließen sich die eigenen Ideen am ehesten umsetzen? Sollte man, wie Roosevelt, eine dritte Partei gründen oder lieber versuchen, die Republikanische Partei zu kapern, indem man ihre Basisränge besetzte und sie langsam von unten nach oben übernahm – bis sie fest in der Hand der Ultrakonservativen sein würde?[13]
Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand ein wichtiger Unterschied zwischen Demokraten und Republikanern unter anderem in ihrer Haltung bezüglich race.[♦♦] Die Demokraten versammelten in der Tradition der früheren Konföderation Anhänger*innen von Segregation und Sklaverei hinter sich, während die Republikaner sich als die Erben Lincolns verstanden. Darüber hinaus unterschieden sich die beiden Parteien deutlich in ihrer Wirtschaftspolitik: Abgesehen von den schon erwähnten Roosevelt-Jahren waren die Republikaner in den letzten Jahrzehnten des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem die Partei des Unternehmertums.
Letzteres hatte neben ideologischen auch praktische Gründe: Die Republikaner zählten auf die finanzielle Unterstützung von Großindustriellen und «Big Business» – den Finanzeliten, die an der Ostküste die Wirtschaft dominierten. Im Gegenzug sorgten sie für möglichst wenig staatliche Regulierungen und niedrige Steuern – ungebremster Kapitalismus und der amerikanische Traum waren für sie deckungsgleich. Ihren vorübergehenden Flirt mit progressiven, sozial angehauchten Ideen seit Roosevelt beendete dann allerdings spätestens die Wahl des Demokraten Woodrow Wilson 1913.[14] Progressive Kräfte sollten in den folgenden Jahrzehnten zwar immer wieder mal gegen den dominanter werdenden Einfluss der Konservativen in der GOP aufbegehren, doch am Ende würden sie stets den Kürzeren ziehen. Dass jemand wie Wilson, dessen Vater in der Armee der Konföderierten als Kaplan gedient und Sklaven in seinem Haushalt beschäftigt hatte,[15] jetzt die Geschicke des Landes lenkte, entsetzte viele Republikaner, darunter auch Roosevelt – dabei waren Wilsons wirtschaftliche Reformen seinen eigenen, die er im Wahlkampf 1912 als «Neuen Nationalismus» betitelt hatte, sehr ähnlich.[16] In den Augen der Republikaner bedrohte Wilsons Präsidentschaft Amerika: Für sie war er ein Konföderierter, ein Sozialist und ein Kommunist, und seine isolationistische Politik zu Beginn des Ersten Weltkrieges empfanden sie als Landesverrat.[17] Als Professor, dessen war sich ein Senator sicher, werde Wilson die Regierung ebenfalls mit Professoren füllen, und so werde der Bolschewismus Einzug in die USA halten.[18] Die regelrechte Panik der GOP vor arbeiterfreundlichen Wirtschaftsreformen, hinter denen man – erst recht, wenn sie von Demokratischer Seite kamen – Kommunismus oder Bolschewismus witterte, sollte einer der roten Fäden sein, die sich durch die Geschichte der Partei bis in die Gegenwart zieht.
Die von dem Demokratischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt in den 1930er Jahren eingeführten Sozial- und Wirtschaftsreformen werden gemeinhin unter dem Begriff New Deal zusammengefasst. Mit den Reformen wollte Roosevelt, wie der Historiker Kiran Klaus Patel hervorhebt, nicht nur den Kapitalismus, sondern auch das Vertrauen in die Demokratie retten, da die bisherige Politik den Menschen nicht geholfen hatte, die Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929 zu bewältigen.[19] Roosevelt betonte schon im Wahlkampf von 1932, kein Patentrezept für die Überwindung der Krise zu haben. Umso entschiedener wollte er aber nach neuen Wegen suchen.[20] Neben einem Gesetz zur Bankenregulierung unmittelbar nach seinem Amtsantritt Anfang 1933 setzte er in den ersten hundert Tagen umfangreiche Reformen durch, die in den folgenden Jahren weiter ergänzt wurden.[21] Finanziert wurden sie durch staatliche Investitionen in Milliardenhöhe. Sie flossen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, in Infrastruktur (etwa Straßen- und Brückenbau, Ausbau von Strom- und Wassernetzen), in Landwirtschaft und Industrie. Es gab regulierende Eingriffe in die Wirtschaft und eine Industriepolitik, die die Gewerkschaften stärkte. Roosevelt schuf außerdem erstmals ein landesweites Sozialversicherungssystem und setzte einen gesetzlichen Mindestlohn sowie eine Begrenzung der Wochenarbeitszeit durch.[22]
All diese Reformen waren das Schreckgespenst der Old Right, der alten amerikanischen Rechten. Sie rekrutierte sich aus Republikanern und einigen Demokraten und war aus dem Widerstand gegen die Sozialreformen der «Roosevelt-Revolution» in den 1930er Jahren entstanden. Die «Alte Rechte» sah das Reformpaket des Demokratischen Präsidenten als kommunistische Tyrannei an und verstand sich als gegenrevolutionäre Bewegung – mit dem Kernziel, Roosevelts Errungenschaften rückgängig zu machen.[23] Die alte Garde des amerikanischen Konservatismus bestand vor allem aus reichen Geschäftsmännern, die eigens angeheuerte Milizen zum Teil gewaltsam gegen Gewerkschaften vorgehen ließen. In ihren Augen handelte es sich dabei um eine legitime Gegenreaktion, denn für sie waren Gewerkschaften und Roosevelts Sozialreformen das Ergebnis kommunistischer Subversion, mit dem Ziel, Amerika in den Abgrund zu treiben.[24] Bis heute ist der New Deal für amerikanische Konservative ein rotes Tuch, zuletzt, als sich Präsident Biden mit seinem Infrastrukturprogramm 2020 ausdrücklich auf Roosevelt bezog.[25]
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es sowohl in der Demokratischen als auch der Republikanischen Partei konservative wie moderate und liberale Stimmen, die um die Deutungshoheit und Macht innerhalb ihrer jeweiligen Partei rangen. Im Verlauf weniger Jahrzehnte sollten im Rahmen dessen, was in der Geschichtswissenschaft als Ära der «Neuausrichtung» (realignment) der Parteien bezeichnet wird, die Grenzen zwischen Konservativen und Liberalen immer stärker entlang der Parteigrenzen verlaufen. Die Republikanische Partei ist heute die Heimat für Konservative, Ultrakonservative und Rechtsextreme, während in der Demokratischen Partei – im Vergleich mit dem deutschen Parteienspektrum – Positionen von CDU/CSU bis Linkspartei abgedeckt sind.
Die Entwicklung der Republikanischen Partei in den zurückliegenden knapp 150 Jahren ist geprägt von unbedingtem Machtwillen, von einem politischen Establishment, das lange glaubte, die radikalen Elemente in den eigenen Reihen kontrollieren und für sich politisch nutzen zu können. Veranstaltungen wie die eingangs geschilderte Konferenz der Moms for Liberty sind ein Beleg für den zunehmenden Einfluss rechtsextremer Kräfte, auf die die Parteiführung zur Mobilisierung einer über Jahrzehnte hinweg radikalisierten Basis angewiesen ist. Die ideologische Brandstiftung hat lange vor Donald Trumps Erscheinen auf der politischen Bühne der USA begonnen und ihre verheerende Wirkung entfaltet.
Konservatismus made in America
«Ich bin ein Revolutionär gegen die bestehende liberale Ordnung.»
William F. Buckley Jr., 1957
Nach dem Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, einem versuchten Staatsstreich, angezettelt von Donald Trump und seinem Umfeld, sah es kurz so aus, als würde die gewählte Spitze der Republikanischen Partei das Richtige tun. Mitch McConnell, politisches Urgestein und zu dem Zeitpunkt Minderheitsführer der Grand Old Party im Senat, verurteilte das Geschehen und sagte hinter verschlossenen Türen, dass Trump Verantwortung für den Angriff auf das Herz der amerikanischen Demokratie trage. Wie Tonaufnahmen belegen, die Journalisten der New York Times vorliegen, äußerte McConnell zudem die Hoffnung, dass die Demokraten Trump «erledigen» würden. Auch Kevin McCarthy, McConnells Pendant im Repräsentantenhaus, ist in dem Mitschnitt zu hören. Er schien sogar davon auszugehen, dass ein Amtsenthebungsverfahren im Senat mit Republikanischer Zustimmung ablaufen würde, und kündigte an, er werde Trump zum Rücktritt raten.[1]
Doch dieser Anflug von Moral – oder der Anschein, einen demokratischen Mindeststandard einzuhalten – währte nicht lange. Denn schnell wurde klar: Die Republikanische Basis sah in dem versuchten Staatsstreich keineswegs einen unverzeihlichen Fehler – im Gegenteil. Unverzeihlich war für sie vielmehr, dass einige gewählte Republikanische Vertreter*innen sich gegen die Lüge vom angeblichen Wahlbetrug aussprachen und Trump zur Verantwortung ziehen wollten. Und so vollführten die Republikaner, mit einigen wenigen Ausnahmen, schon sehr bald eine Kehrtwende aus reinem Machtkalkül. Bereits im Februar 2021 verkündete Mitch McConnell, er werde Trump selbstverständlich wieder unterstützen, sollte «The Donald» bei den nächsten Wahlen erneut der Präsidentschaftskandidat der Partei sein. Zwar hatte er Trump nur einen Monat zuvor vor dem versammelten Senat die Schuld am 6. Januar gegeben,[2] ungeachtet dessen aber auch da schon gegen dessen Amtsenthebung gestimmt.[3] Das Verhalten von GOP-Granden wie McConnell ist symptomatisch für die Partei seit der Nominierung Trumps 2016. Andererseits lässt sich schon lange vor Trump in Teilen des amerikanischen Konservatismus ein unerbittlicher Machtwille beobachten. Die Erkenntnis, dass es dieser Bewegung nicht um ideologische Kohärenz geht, sondern um Machterhalt, ist insofern nicht neu. Vor dem Hintergrund der sich wandelnden demographischen Zusammensetzung der USA tritt dieser machiavellistische Machtwille, für den der Wille der Bevölkerungsmehrheit keine Rolle spielt, inzwischen jedoch immer deutlicher zutage.
Unübersehbar befindet sich die Republikanische Partei nicht erst seit dem Januar 2021 in einer sich beschleunigenden Radikalisierungsspirale. Diese wird nicht nur von rechtsextremen Akteur*innen angetrieben, sondern auch von einem Partei-Establishment, das lange dachte, es könne diese Kräfte für die eigenen politischen Zwecke nutzen und kontrollieren. Dabei bestimmen die Geister, die sie riefen, längst die Agenda, und ein Ende der Radikalisierung ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Seit dem 6. Januar 2021 lässt sich beispielsweise eine massive Eskalation in der Rhetorik beobachten. Einige Republikanische Politiker*innen äußern seither offen Gewaltfantasien. So verbreitete Paul Gosar, ein Abgeordneter aus Arizona, im November 2021 ein Anime-Video, in dem er seine Kollegin im Justizausschuss, die Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, mit einem Schwert erstach und Präsident Biden mit zwei Schwertern angriff.[4] Diese unzweideutige Morddrohung gegenüber einer Parlamentarierin und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten hatte für Gosar weder parteiintern noch strafrechtlich irgendwelche Folgen.
Einige Wochen später sorgte Gosar erneut für Schlagzeilen, diesmal zusammen mit Marjorie Taylor Greene, einer Abgeordneten aus Georgia. Beide nahmen an einer vom Holocaust-Leugner und White Nationalist Nick Fuentes veranstalteten Konferenz teil. Sie waren nicht die einzigen gewählten Republikaner bei dieser Versammlung von Neonazis und White Supremacists.[♦] Marjorie Taylor Greenes Auftritt als Hauptrednerin der rechtsextremen Konferenz zog lediglich eine Rüge durch den damaligen Fraktionsführer im Repräsentantenhaus Kevin McCarthy nach sich.[5] Eine so zahme Reaktion wäre noch wenige Jahre zuvor undenkbar gewesen: 2019 schloss die GOP den Abgeordneten Steve King wegen Äußerungen aus dem White-Nationalist-Spektrum, die keineswegs extremer waren als das, was Greene regelmäßig von sich gibt, von allen Ausschüssen im Kongress aus. Zwar verlor am Ende auch Greene ihre Sitze in wichtigen Ausschüssen und damit ihre Möglichkeit, Gesetzgebung aktiv mitzugestalten, allerdings nicht auf Initiative ihrer eigenen Partei. Im Gegenteil, McCarthy nannte die Entscheidung der Demokraten, Greene unter anderem wegen Todesdrohungen gegen Demokraten auszuschließen, den Versuch einer «parteiischen Machtergreifung».[6]
Es zeichnet sich immer deutlicher ab: Wer in der Republikanischen Partei die Rhetorik von White Supremacy verwendet oder auf deren Konferenzen und Versammlungen auftritt, wer dem politischen Gegner mit Gewalt oder gar dem Tod droht, der hat nicht mehr zu befürchten als eine verbale Rüge. Aus Sicht des Historikers Thomas Zimmer von der Georgetown University ist «die Führungsriege der GOP sich darüber im Klaren, dass das Meiste an Energie und Aktivismus genau von diesem rechten Flügel kommt». Zugleich werde diese Form des Radikalismus in weiten Teilen der Rechten und der Republikanischen Partei als gerechtfertigt angesehen. Greene möge sich zwar extremer ausdrücken als andere Mitglieder der Partei, so Zimmer, aber die Weltsicht, die ihren Aussagen zugrunde liege, sei größtenteils «auf einer Linie mit dem zentralen politischen Projekt der GOP und der Rechten im weiteren Sinne: Sie sind vereint in ihrer Mission, Weiße, reaktionäre Herrschaft zu implementieren.»[7]
Die zunehmende Radikalisierung der Republikanischen Partei, die seit 2016 immer offensichtlicher wird, kann einen nur überraschen, wenn man von der Prämisse ausgeht, dass die USA eine seit 250 Jahren funktionierende Demokratie sind.[8] Ja, die USA sind tatsächlich die älteste derzeit bestehende Demokratie der Welt. Aber sie war lange Zeit nur für Weiße, christliche, Land besitzende Männer eine Demokratie. Wer nicht in diese Kategorie gehörte, für den war das Land alles andere als demokratisch: Schwarze, Frauen, nicht-Weiß gelesene Einwanderer – sie alle hatten in unterschiedlichem Maße unter der herrschenden Klasse zu leiden.[9] Noch bis ins Amerika der 1950er Jahre waren alle Schwarzen Bürger*innen zweiter Klasse und einem brutalen Regime von Polizeigewalt, Lynchjustiz und Segregation ausgesetzt. Das änderte sich erst mit der Bürgerrechtsbewegung, die in den 1950er und 1960er Jahren dafür kämpfte, die jahrhundertelange Unterdrückung der Schwarzen durch die Weiße Bevölkerung zu beenden. Es ist kein Zufall, dass die konservative Bewegung in den USA zeitgleich damit begann, gegen die neuen bürgerrechtlichen Errungenschaften zu mobilisieren, gegen all diese Leute, die plötzlich auch ein Stück vom Kuchen abhaben wollten.
Vor der Suche nach den Gründen für die Radikalisierung des amerikanischen Konservatismus im Allgemeinen und der GOP im Besonderen gilt es jedoch als Erstes zu klären, was der Begriff «Konservatismus» im amerikanischen Kontext überhaupt bedeutet. Am treffendsten scheint mir die Definition des Historikers John S. Huntington: «Allgemein gesprochen, vereint der amerikanische Konservatismus ein Misstrauen gegenüber Reform, Argwohn gegenüber zentralisierter Macht und das Bestreben, den sozialen Status quo zu bewahren. Während des Kalten Kriegs verschärften sich diese Tendenzen und führten zu libertärer Angst vor einem übergriffigen Staat, zu einer nervösen Verteidigung von sozialen und kulturellen Normen sowie zur Übernahme eines evangelikalen Antikommunismus.»[10] Der Historiker George Hawley spricht davon, dass es trotz der verschiedenen Denkschulen, die der amerikanische Konservatismus in sich vereint, einen gemeinsamen Nenner gibt: Im Unterschied zu linken Bewegungen betrachte der Konservatismus Gerechtigkeit nicht als das oberste, erstrebenswerte Gut. In diesem Punkt unterscheide sich der Konservatismus von linken Bewegungen, so Hawley.[11] Der frühere Republikanische Stratege Bill Kristol sagte mir: «Ich denke, Konservatismus war immer schon ein sehr elastischer Terminus bezüglich politischen Denkens und Ideologie, denn was bedeutet es, etwas zu ‹bewahren›?»[12] Sprich: Die Radikalität von Konservatismus hängt auch davon ab, was er «konservieren» will.
Der Konservatismus verfügt über das, was die Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl treffend ein «eigenständiges ideologisches Inventar» nennt.[13] Anstelle des Glaubens an Gleichheit stehe im Konservatismus der Glaube an Ungleichheit, die als gottgewollt und unveränderlich gilt; Religion besitze in seinem Weltbild einen besonderen Stellenwert.[14] Der moderne Konservatismus hat laut Strobl seine Basis im Bürgertum: Für Konservative sei der Erhalt materieller wie kultureller Hierarchien die Garantie für soziale Stabilität und gesellschaftliche Sicherheit.[15] Eine entsprechend hohe Bedeutung haben im Konservatismus daher das Privateigentum und sein Schutz – ähnlich wie auch im Liberalismus.
Der amerikanische Konservatismus umfasst ein Spektrum, das unübersichtlich wirken kann, weil es aus so vielen, oft miteinander im Clinch liegenden Fraktionen besteht. Der Historiker John Huntington hat einen hilfreichen Weg gefunden, zwischen den wichtigsten Akteur*innen begrifflich zu unterscheiden: Wenn man sich vor dem inneren Auge das klassische Rechts-links-Schema vorstelle, in Form einer Strecke von A nach B, finde sich am äußersten rechten Rand der gewaltbereite Rechtsextremismus, vertreten durch faschistische Elemente wie die American Nazi Party und White-Supremacist-Gruppen, näher zur Mitte hin befänden sich die, die Huntington als «pragmatische Konservative» bezeichnet – also diejenigen, die bereit sind, bestimmte Ansichten zu moderieren und «innerhalb des politischen Zentrums» zu operieren. Doch diese Fraktion, wie auch die der gewalttätigen Extremisten am äußersten rechten Ende der Skala, sei eher klein. Die Basis des modernen amerikanischen Konservatismus, das zeigt Huntingtons Forschung, bildeten von Beginn an Ultrakonservative. Sie waren es, die den größten Teil der Bewegung ausmachten.[16] Sie waren im amerikanischen Konservatismus von Anfang an tonangebend, auch wenn ihre Vertreter*innen lange als «Spinner» ohne Einfluss verlacht wurden. Doch sie stellten einen Großteil der Fußtruppen des modernen Konservatismus, und das moderatere konservative Establishment verließ sich auf ihre hoch motivierten Netzwerke zur Mobilisierung an der Wahlurne.[17] Und sie hatten durchaus Fürsprecher in den höchsten politischen Kreisen: Robert A. Taft, auch genannt «Mr. Republican», Senator für Ohio, Sohn des Präsidenten William Howard Taft und der vielleicht bekannteste Vertreter des konservativen Flügels der GOP im Kongress. Taft wird der Wiederaufbau der GOP nach den Jahren der Wirtschaftskrise zugeschrieben. Er war durchaus bereit, überparteiliche Kompromisse zu finden – doch er fungierte auch als eine Art respektabler Übersetzer von Rechtsaußen-Ideen für den amerikanischen Mainstream.[18] So behauptete er beispielsweise: «Die Gefahr des Eindringens totalitärer Ideen aus dem New-Deal-Kreis in Washington ist viel größer als die, die jemals von den Aktivitäten der Kommunisten oder des Nazi-Bundes ausgehen wird.» Und er verkündete, ein amerikanischer Eintritt in den Krieg gegen Hitler würde «eher die amerikanische Demokratie zerstören als die deutsche Diktatur».[19]
Neben der eben beschriebenen «Alten Rechten», die sich schon im 19. und 20. Jahrhundert formierte, bildete sich ab den 1950er Jahren eine Strömung, die als «Neue Rechte» bezeichnet wird. Einige dieser Konservativen seien früher selbst kommunistisch gewesen, hätten sich dann aber unter anderem wegen des Beginns des Kalten Krieges, mit wachsenden Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion sowie wegen des Bekanntwerdens von Stalins Gräueltaten immer weiter von dieser Ideologie distanziert, erzählt der Historiker A.J. Bauer. Trotzdem lasse sich das revolutionäre Potenzial dieser Generation von Konservativen wohl besser verstehen, wenn man sich ihre Taktiken anschaue. «Sie sind keine Kommunisten mehr, aber sie benehmen sich nach wie vor wie Kommunisten», analysiert Bauer, der an der University of Alabama lehrt. Nicht, was ihre Glaubenssätze angehe, sondern was die Strategie betreffe: «Dazu gehört der Aufbau von Tarnorganisationen, die Fokussierung auf die Basis, die Mobilisierung bei Themen von gemeinsamem Interesse, die Organisation von Gesprächen sowie die Kontrolle und der Aufbau von Medienapparaten.» Bauer betont: «Das bedeutet nicht, dass sie verkappte Kommunisten sind oder dass die konservative Bewegung den Stalinismus einführen wird. Aber Menschen lernen von dem Milieu, in dem sie aufwachsen. Wenn man in einem Gewerkschaftshaushalt aufgewachsen ist, denkt und spricht man anders über Politik als jemand, der nicht so aufgewachsen ist.»[20]
Die zunehmende Demokratisierung der Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg barg in den Augen vieler Vordenker des heutigen amerikanischen Konservatismus große Gefahren. Der Konservatismus steht – nicht nur in den USA, sondern weltweit – für eine laut Strobl «antiegalitäre, antirevolutionäre, klassenharmonisierende Haltung, deren höchste Werte Ordnung und Eigentum sind».[21] Zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus, der Gewalt oder die Androhung von Gewalt als legitimes politisches Mittel sieht, bestehen zwar Grenzen, diese können sich aber unter bestimmten Bedingungen verwischen. So beschreibt Natascha Strobl das Phänomen großer, konservativer «Volksparteien», die sich rechtsextremen Positionen öffnen, als «radikalisierten Konservatismus».[22] Gerade in Zeiten größerer sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen ließen sich in manchen konservativen Räumen sogar «Faschisierungsdynamiken» beobachten. Strobl warnt in diesem Zusammenhang vor der Zusammenarbeit mit Vertreter*innen eines radikalisierten Konservatismus, da rechtsextreme Positionen so für die Öffentlichkeit normalisiert würden. Der Prozess sei so dynamisch, dass er sich nicht stoppen lasse, sodass «sich faschistisches Denken in der Gesellschaft» ausbreite.[23] Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer setzt tiefer an, wenn er vor «Normalitätsgrenzen» warnt, die sich schleichend verschieben. Diesen Verschiebungen müssen aus seiner Sicht keine großen Diskurse vorausgehen. Aber wenn beispielsweise die Ausgrenzung marginalisierter Gruppen als normal empfunden werde, führe das allmählich zu gesellschaftlichen Veränderungen.[24]
Der klassische Faschismus unterscheidet sich dem britischen Historiker Roger Griffin zufolge vom Konservatismus dadurch, dass er explizit revolutionär und gewaltsam sei: Während der Konservatismus nach seinem Selbstverständnis das alte System bewahren wolle, strebe der Faschismus eine komplett neue Herrschaftsform an, die sich völkisch und antidemokratisch verstehe und auf einer mythischen Vergangenheit, einem palingenetischen,[25] populistischen Ultra-Nationalismus und manchmal biologistischen Determinismus basiere.[26] Während der Konservatismus innerhalb eines demokratischen Spektrums existieren kann, agiert der Faschismus bewusst außerhalb der Grenzen der Demokratie. Das Kernprojekt des Konservatismus war und ist dagegen die Aufrechterhaltung von Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen – im privaten wie im öffentlichen Raum.
Doch die gängige Charakterisierung des Konservatismus als dezidiert antirevolutionär übersieht meiner Ansicht nach, dass er unter bestimmten Umständen sehr wohl auch seine radikale und revolutionäre Seite zeigen kann. Zum Beispiel dann, wenn marginalisierte Gruppen den Platz in der gesellschaftlichen Ordnung verlassen, der ihnen von der materiell und religiös oder im konservativen Sinne «natürlich» begründeten Hierarchie zugewiesen wurde, oder wenn wirtschaftliche Krisen politische Bewegungen wie den Sozialismus erstarken lassen, die eine gerechtere Verteilung der Besitzverhältnisse fordern. Der Historiker A.J. Bauer sieht in der Selbstdarstellung des Konservatismus vor allem eine erfolgreiche Marketingstrategie: «Ich denke, wenn man den modernen Konservatismus als antirevolutionär betrachtet, übersieht man die bedeutenden Anleihen, die moderne Konservative bei den revolutionären kommunistischen Parteien gemacht haben, ganz zu schweigen von den faschistischen Revolutionären.»[27] Die Faszination für den faschistischen spanischen Diktator Francisco Franco besonders in katholischen Teilen des amerikanischen Konservatismus, auf die Bauer hier anspielt, fand sich übrigens nicht nur dort, sondern auch in Teilen der deutschen Christdemokratie jener Zeit.[28]
Was Strobl als radikalisierten Konservatismus beschreibt, ist jedenfalls kein neues Phänomen: Sie selbst verweist auf eine solche Radikalisierung konservativ-bürgerlicher Kreise, die sich etwa in der «Konservativen Revolution» im Deutschland der Zwischenkriegszeit beobachten lässt.[29] An ihr hat sich später – ohne die direkten Bezüge zum Nationalsozialismus – die sogenannte Nouvelle Droite, die «Neue Rechte» in Frankreich Ende der 1960er Jahre, orientiert. Deren Vordenker bedienten sich wiederum bei dem marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci und dessen «Hegemonietheorie».[30] Diese fußte auf dem Gedanken, dass sich politische Macht nicht durch revolutionäre Gewalt wie einen Staatsstreich dauerhaft erringen und erhalten lässt, sondern indem man die Menschen in Debatten vom Sinn und der Legitimität der eigenen Vorstellungen überzeugt und so eine Art kultureller Hegemonie herstellt.[31] Die Vordenker der Nouvelle Droite nutzten Gramscis Ideen nur als «Steinbruch, aus dem man für die eigene Theorie willkürlich die passenden Stücke entnehmen konnte».[32] Gramsci ging es um die Überwindung des kapitalistischen Systems, der Nouvelle Droite hingegen um die Bildung eines ausgeprägt hierarchischen, autoritären Gesellschaftssystems und um die Zerstörung des demokratischen Diskurses.[33] Ihr Ziel einer «Kulturrevolution von rechts» wollte sie erreichen, indem sie Intellektuelle für ihre Ideen gewann, die dann als Multiplikatoren in die Gesellschaft wirken sollten.[34] Sie gründete Think Tanks und Zeitschriften, veranstaltete Kolloquien und versuchte so rechtsextreme Inhalte in den Mainstream zu schleusen.[35] Gleichzeitig ermöglichte es der bürgerlich-akademische Hintergrund der Nouvelle Droite, wie schon bei ihren Vorbildern der Weimarer Konservativen Revolution, neben neuen Bündnissen auch Kontakte in offen faschistische Milieus zu unterhalten, während sie sich weiterhin politisch als «Mitte der Gesellschaft» inszenierte.
Ein weiterer Faktor der Radikalisierung von innen ist das, was der Soziologe Wilhelm Heitmeyer als «rohe Bürgerlichkeit» bezeichnet. Heitmeyer versteht «Bürgerlichkeit» nicht allein als wirtschaftlichen Marker, sondern meint damit vor allem auch eine zunehmend autoritäre Grundhaltung, die sich hinter «zivilisiert» gebenden «Umgangsformen» verberge.[36] Hinter einer bürgerlichen oder akademischen Fassade versteckten sich so Ungleichheitsdenken und Verachtung für Bevölkerungsgruppen, die als weniger «wertig» angesehen werden. Damit verbunden seien nicht nur Gefühle moralischer Überlegenheit, sondern auch kapitalistische Interessen, denn wenn etwa Sozialleistungen für ärmere Bevölkerungsschichten gekürzt werden, bleibe mehr für die, die das Geld «verdienen», so der Soziologe Jörg Flecker.[37]
Weitere Merkmale des «radikalisierten Konservatismus», die Strobl herausarbeitet und die uns in den letzten Jahrzehnten vermehrt im amerikanischen Konservatismus und sukzessive auch in der Republikanischen Partei begegnen, sind bewusste Verstöße gegen Normen und Regeln, die Dämonisierung des politischen Gegners, die Ausrichtung auf eine starke Führungsfigur, die Unterwanderung staatlicher Institutionen und die Schaffung einer parallelen Realität.[38] Eine besondere Rolle sieht Strobl im taktischen Ausspielen etablierter Medien, weil durch soziale Medien die Öffentlichkeit direkt erreicht werden kann und etablierte Medien so zunehmend ihre Wächterfunktion verlieren.[39] Gleichzeitig lassen sich auch interne Mediendynamiken feststellen, wenn beispielsweise Medien bei ihrem Versuch, dem von rechts ertönenden Vorwurf einer «linken Voreingenommenheit» zuvorzukommen, vor allem konservative Stimmen prominent platzieren.
Der Erfolg Donald Trumps bei der Präsidentschaftswahl 2016 und die fortschreitende Radikalisierung der Republikanischen Partei und des amerikanischen Konservatismus waren und sind Anlass für zahllose Essays und Artikel, in denen politische Beobachter*innen und einstige Mitglieder der Partei mehr oder weniger fassungslos im Grunde ein und dieselbe Frage stellen: «Was ist nur aus meinem Konservatismus geworden?»
Anfang 2022 ging dieser Frage beispielsweise auch der konservative Autor David Brooks im Magazin The Atlantic nach.[40] Die Republikanische Partei sei nicht mehr wiederzuerkennen, beklagte er und bediente damit ein Narrativ, das von vielen sogenannten Never-Trumpern verbreitet wird – Konservativen, die sich weigern, Trump zu unterstützen. Sie fühlen sich durchaus noch immer dem Konservatismus verbunden, haben aber wegen Trump mit ihrer früheren Partei gebrochen. Konservative Abgeordnete wie Liz Cheney und Adam Kinzinger werden seit dem Sturm auf das Kapitol auch in Demokratischen Kreisen als Helden der Demokratie gefeiert, weil sie Widerstand gegen die Angriffe der Republikaner auf die Grundfesten des amerikanischen Staates geleistet hätten. Einerseits ist das verständlich: Man ist um jeden Verbündeten froh, erst recht wenn es jemand ist, der vorher auf der anderen Seite der Parteilinie gestanden hat. Wer Trump und diejenigen, die ihm nacheifern, ablehnt, ist deshalb aber nicht automatisch auch Gegner des von ihnen betriebenen politischen Projekts als solchem. Weder von Cheney noch von Kinzinger, der bei der Kongresswahl 2022 nicht mehr antrat und somit politisch nichts mehr zu verlieren hatte, war realistischerweise zu erwarten, dass sie sich für Demokratische Reformen der Wahlgesetzgebung, des Abtreibungsrechts oder des Senats einsetzten, die angesichts des Republikanischen Angriffs so dringend nötig gewesen wären, um elementare Bürgerrechte zu schützen. Trotzdem ist es wichtig, dass sie sich gegen Trump gestellt haben.
Einer, der noch weiter gegangen ist und mittlerweile bereit ist, die Bezeichnung als Konservativer abzulegen, ist der frühere konservative Stratege Bill Kristol. Ich fragte ihn, wie er die Entwicklung seiner ehemaligen Partei sieht und ob das, was man von der GOP sieht, für ihn überhaupt noch Konservatismus ist. Seine Antwort hat mich überrascht: «Wenn alle anderen, die sich als konservativ bezeichnen, diese Sachen unterstützen, dann kann man sich natürlich hinstellen und sagen: ‹Na ja, das ist nicht wirklich Konservatismus, hier ist Edmund Burke und hier sind, Sie wissen schon, Bill Buckley, und hier sind die Neokonservativen›, und was auch immer. Aber in der Politik ist es bis zum gewissen Grad, was es ist.» Oder, anders formuliert: Wenn Menschen, die sich als Konservative verstehen, sich größtenteils geschlossen hinter eine bestimmte Politik stellen, dann ist das konservative Politik, ob es einem gefällt oder nicht. Kristol hat daraus Konsequenzen gezogen: Er ist aus der Republikanischen Partei ausgetreten und sieht sich heute eher in der Tradition eines alten Liberalismus.[41]
Es sind nicht nur ehemalige Republikaner, Never-Trumper und einige als respektabel geltende Konservative, die den Mythos eines «sauberen» Konservatismus und einer GOP mit blütenweißer Weste am Leben halten. Auch ein großer Teil des Weißen Demokratischen Establishments hegt nach wie vor ein Bild von der Republikanischen Partei, das im Grunde noch nie der Wirklichkeit entsprochen hat. Nach wie vor findet sich etwa die Vorstellung, in der GOP gebe es einen «vernünftigen» Konservatismus, die Sehnsucht nach einer vermeintlich einfacheren Zeit – in der allerdings die Glut der zunehmenden Radikalisierung längst schwelte. Auch die einflussreiche Demokratin Nancy Pelosi, bis 2022 Sprecherin des Repräsentantenhauses, schien dem politischen Gegner weiterhin Vernunft und Reformbereitschaft zu unterstellen. So sagte sie auf der Aspen Ideas Climate Conference im Mai 2022: «Ich […] bin der Meinung, dass dieses Land eine starke Republikanische Partei braucht […]. Wir brauchen keinen Kult, sondern eine starke Republikanische Partei.» Daher lautete ihr Ratschlag: «Anstatt zu sagen: ‹Nun, wir müssen sie besiegen›, lasst uns einfach versuchen, sie zu überzeugen. Ich will, dass die Republikanische Partei sich die Partei zurückholt, die noch am Recht einer Frau, [über ihren Körper] zu entscheiden, und an der Umwelt interessiert war.»[42] Was aber, wenn die Gegenseite keinerlei Dialogbereitschaft mehr erkennen lässt, auf die Pelosi setzt? Wenn die Gegenseite eine wahrhaft pluralistische, multiethnische Demokratie gar nicht für erstrebenswert hält, wenn sie marginalisierte Gruppen wie LGBTQ-Menschen und Frauen ihrer körperlichen Selbstbestimmung berauben will?
Wenn sich ein prominenter Never-Trumper wie David Brooks also im Jahr 2021 wundert, was bloß aus dem guten alten Konservatismus eines Edmund Burke, des englischen Staatsphilosophen aus dem 18. Jahrhundert, geworden sei,[43] so lässt er exemplarisch einen verbreiteten blinden Fleck in der Wahrnehmung des amerikanischen Konservatismus erkennen: Dieser hat nämlich von Beginn an extreme Strömungen in seinen Reihen toleriert – unter anderem, weil man sich von ihren Netzwerken politischen Gewinn versprach. Diese Tolerierung konnte man lange erfolgreich dadurch kaschieren, dass man ebenjene Extremist*innen aus der Führungsriege der eigenen Bewegung heraushielt. Die Saat der rechten Übernahme der Republikanischen Partei wurde so letztlich bereits vor Jahrzehnten ausgebracht und ist seither von Generationen von Politiker*innen gewässert und gepflegt worden.
Wenn sich Rassismus und Ressentiments in der GOP heute nicht mehr hinter einer bürgerlichen Fassade verbergen müssen, so liegt das auch daran, dass sich die Rahmenbedingungen für den Konservatismus verändert haben. Eine solche Entwicklung haben führende Köpfe der modernen Religiösen Rechten schon vor Jahrzehnten vorausgesehen.[♦] Zu ihnen zählte auch Paul Weyrich. Als er Mitte der 1960er Jahre in Washington, D.C., ankam, war seine Enttäuschung über die Niederlage des Republikanischen Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater im Jahr 1964 noch immer zu spüren. Immerhin hatte er für Goldwater Wahlkampf gemacht.
Doch Aufgeben kam für den jungen Katholiken nicht infrage: Die demographische Entwicklung, so viel war ihm und seinen Mitstreitern schon damals klar, lief gegen die Konservativen – ganz besonders gegen religiöse Konservative. Ihre politischen Positionen würden auf Dauer nicht mehrheitsfähig sein. Doch statt diese Positionen deshalb in irgendeiner Weise abzumildern und dadurch anschlussfähiger zu machen, beharrten sie erst recht auf ihnen. Außerdem beschlossen sie, gezielt und strategisch all die Schlupflöcher im amerikanischen politischen System auszunutzen, die dafür sorgten, dass ihre Weiße, ländliche und christliche Wählerschaft bevorzugt wurde – und somit weiterhin verlässlich Republikanische Wahlsiege ermöglichte. Die Schlussfolgerung, zu der sie damals gelangten, entspricht letztlich dem, was Akteur*innen der amerikanischen Rechten in den vergangenen Jahren immer unverhohlener proklamieren: Der Erhalt der Weißen, christlichen, konservativen Vorherrschaft hat im Ernstfall Vorrang vor dem Schutz der Demokratie.[44]
Die immer radikaleren Attacken, welche die GOP heute auf das Wahlrecht von BPoC auf Bundesstaatsebene reitet,[♦] stehen somit in einer langen Tradition. Bereits 1980 sprach Weyrich – die Haare zurückgekämmt, in dunkelblauem Anzug mit hellblauem Hemd – vor einer Versammlung von Pastoren aus, was zum strategischen Kern der modernen Republikanischen Partei werden sollte: «Ich will nicht, dass alle zur Wahl gehen. Wahlen werden nicht durch eine Mehrheit des Volkes gewonnen. Das war seit den Anfängen unseres Landes nie der Fall und ist es auch jetzt nicht. Tatsache ist, dass unser Einfluss bei Wahlen in dem Maße zunimmt, wie die Zahl der Wähler abnimmt.»[45] Weyrich fasste dabei das Grundverständnis einer ganzen Bewegung zusammen: Die Demokratie war nur so lange nützlich, wie die «richtigen» Leute wählen gingen, andernfalls war die Weiße, christliche Vorherrschaft politisch wie kulturell bedroht.
Wer die Entwicklung des Konservatismus und der Republikanischen Partei verstehen will, muss den Blick einerseits auf die wichtigsten Protagonist*innen der amerikanischen Rechten und deren Netzwerke richten, andererseits aber auch auf die Fußsoldat*innen und ihre Mobilisierung im konservativen und ultrakonservativen politischen Projekt. Besonders wichtig ist dabei, nachzuverfolgen, wie Radikalisierungsdynamiken entstanden sind und gedeihen konnten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich: Die radikalen Wurzeln des amerikanischen Konservatismus sind zum Verständnis der heutigen GOP genauso wichtig wie deren systematische Bedienung von alten, rassistischen Ressentiments im Gewand staatlicher Deregulierung und der Spagat seitens der Führungsriege der konservativen Bewegung, einerseits extreme Graswurzel-Aktivist*innen einzubinden, um Wähler*innen zu mobilisieren, und sich andererseits von als «verrückt», sprich, als zu extrem geltenden Akteur*innen zu distanzieren. Die Verbindungen von rechten Milizen, die bis in den Kongress reichten, das Hofieren von Bürgerwehren und Anti-Establishment-Bewegungen wie der Tea Party oder neueren Formen desselben alten Geistes wie Moms for Liberty – all das sind nötige Puzzleteile, um zu begreifen, was aus der ehemaligen «Partei Lincolns» geworden ist. Denn die Extremisten, in deren Händen die Republikanische Partei heute ist, sind nicht vom Himmel gefallen. Ihnen haben vielmehr jahrzehntelang geistige Brandstifter den Weg bereitet.
William F.Buckley und der «respektable Konservatismus»
«Die zentrale Frage […] ist, ob die Weiße Gemeinschaft im Süden das Recht hat, solche Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um sich politisch und kulturell in Gebieten durchzusetzen, in denen sie zahlenmäßig nicht überwiegt? Die ernüchternde Antwort lautet: Ja – die Weiße Gemeinschaft ist dazu berechtigt, weil sie derzeit die fortgeschrittene Rasse ist.»
William F. Buckley Jr.: «Why the South Must Prevail», National Review, 1957
Jede politische Bewegung hat ihre Heiligen. Für den modernen amerikanischen Konservatismus ist William F. Buckley eine solche Galionsfigur. Wer die jüngere Entwicklung der Republikanischen Partei und des amerikanischen Konservatismus verstehen möchte, kommt nicht umhin, sich mit ihm auseinanderzusetzen – und dem Mythos um seine Person, den er erfolgreich geschaffen hat.
Buckley war Sohn eines Millionärs – sein Vater hatte mit Öl ein Vermögen gemacht. Er selbst hatte jedoch nichts mit dem Klischee eines texanischen Ölbarons gemein, sondern war vielmehr ein Gewächs der reichen, privilegierten Ostküste: Seine Eltern erzogen den Jungen und seine neun Geschwister streng katholisch und schickten sie auf Privatschulen. Als Student der Yale University war er Präsident der Yale Daily News, und seine Leitartikel waren gefürchtet. Unter anderem verfasste er 1951 ein Buch mit dem Titel God and Man at Yale, in dem er seiner eigenen Universität vorwarf, zu vernachlässigen, was seiner Ansicht nach ihre Hauptaufgabe war: zu lehren, was die Yale-Alumni gut fanden, und eine explizit konservative, christliche Hochschule zu sein.[1] Das Buch wurde zum Bestseller und bildet gleichzeitig die Blaupause für sämtliche konservative Klagestücke der Gegenwart aus dem Genre der Campus-Panik: dass Universitäten Horte linker, permissiver Radikalität seien, an denen Konservative unterdrückt würden.
Das Selbstverständnis des jungen Buckley entsprach damals noch nicht unbedingt dem des vernünftigen Gatekeepers eines gesellschaftlich akzeptablen amerikanischen Konservatismus, ein Bild, das er selbst später so eindrucksvoll von sich zeichnen würde. Am deutlichsten wird seine Haltung in einem Interview von 1946 mit Mike Wallace. Der Moderator fragte den 21-jährigen Buckley, ob er «die Herrschaft der Mehrheit» – also die Demokratie – als politische Herrschaftsform unterstützen würde. Buckley bejahte, um sogleich einschränkend hinzuzufügen: «Außer die Mehrheit entscheidet, dass wir kommunistisch werden wollen. Ich würde versuchen, jede kommunistische Gesellschaft zu unterwandern.» Wallace hakte nach: «Sie würden zum Revolutionär werden?» Daraufhin lieferte Buckley eine schmissige Zusammenfassung des Selbstverständnisses junger Konservativer, die dem eigentlich antirevolutionären Charakter des Konservatismus widersprach: «Ja. Ich bin jetzt schon ein Revolutionär gegen die aktuelle liberale Ordnung. Ein intellektueller Revolutionär.»[2]
Buckley besaß einen scharfen Verstand, er war streitlustig und elitär. Sein 1955 gegründetes Magazin National Review wurde schnell zum von Politiker*innen gefürchteten Organ, denn es machte es sich zur Aufgabe, Republikaner dafür zu kritisieren, nicht wahrhaft konservativ zu sein.[3] Programmatisch heißt es in der allerersten Ausgabe des Magazins: Ein Konservativer «steht vor der Geschichte und schreit ‹Stopp›, wenn niemand anderes es tut».[4]
Zwar heißt es immer wieder, es sei Buckley zu verdanken, dass der amerikanische Konservatismus in den 1950er und 1960er Jahren von «Spinnern», Radikalen und Rechtsextremisten gesäubert wurde. In Wirklichkeit aber hatte Buckley zumindest in jüngeren Jahren zutiefst antidemokratische, rassistische Ansichten – und machte daraus auch gar keinen Hehl. In seinem Essay «Why the South Must Prevail» von 1957, also zur Hochzeit der Bürgerrechtsbewegung, kommen sie deutlich zum Ausdruck. Im Süden des Landes lebten mehr Schwarze als Weiße, das war es, was ihn umtrieb. Sollten Erstere das Wahlrecht erhalten, würden sie die Mehrheit stellen und die Weiße Minderheit aus ihrer politischen und kulturellen Machtposition verdrängen. Die Weiße Kultur sei aber nun einmal die überlegene, weshalb die demokratische Machtübernahme durch Bürgerrechtler unbedingt zu verhindern sei. Buckleys Schlussfolgerung war glasklar: Sollte die konservative Bewegung vor der Wahl stehen, sich zwischen Demokratie und ihrem eigenen Machterhalt zu entscheiden, müsse die Demokratie den Kürzeren ziehen. Es sei somit das Recht der Weißen Südstaatler, Schwarze zu diskriminieren.[5]
Später revidierte Buckley diese Aussagen und kleidete die Aufrechterhaltung rassifizierter Hierarchien in eine gesellschaftlich akzeptable Sprache von «Farbenblindheit», die die Realität von strukturellem Rassismus und Diskriminierung abstritt.[6] Der Begriff von der «Farbenblindheit» tauchte erstmals in der Minderheitsmeinung von Richter John Marshall Harlan auf, der 1896 als einziger Richter am Supreme Court gegen Segregation in der Öffentlichkeit stimmte – weil White Supremacy sich seiner Ansicht nach von alleine durchsetzen würde.[7]
Der ehemalige prominente Republikanische Stratege Stuart Stevens, der 2012 beispielsweise den Präsidentschaftswahlkampf für Mitt Romney leitete und der die Partei mittlerweile verlassen hat, entschuldigt sich in seiner Abrechnung mit der GOP und Anerkennung seiner eigenen Schuld unter dem Titel It Was All a Lie («Es war alles eine Lüge») dafür, dass er nicht wahrhaben wollte, dass Rassismus die Basis der modernen Republikanischen Partei sei. Er zieht eine direkte Linie von Buckley zu Trump und widerspricht seinen ehemaligen Parteifreunden und Weggefährten, die behaupten, dass zwischen beiden inhaltlich ein großer Unterschied bestehe: Bei Buckley handele es sich lediglich um «eine geschliffenere Version derselben tiefen Hässlichkeit und Bigotterie, die das Markenzeichen des Trumpismus ist».[8]
«Konservative», erklärt der Historiker A.J. Bauer mir im Gespräch, «haben ein intuitives Gespür für die Bedingungen dessen, was im öffentlichen Diskurs möglich ist. Was geht zu weit? Was ist noch nicht zu weit rechts? Deshalb waren sie so geschickt darin, sich in der neoliberalen ‹farbenblinden› Ära zurechtzufinden, indem sie Dog Whistles[♦] benutzen und beginnen, über ‹Recht und Ordnung› zu reden.»[9]
Mit seinem Magazin als Plattform wollte Buckley den Konservatismus intellektuell festigen und zu einem respektierten Bestandteil der öffentlichen Debatte machen. Buckleys Pitch an wohlhabende Spender lautete wie folgt: Ohne die Hilfe der liberalen Presse wäre es nie zum New Deal gekommen. Es brauche ein verlässlich konservatives Medium, um eine erneute derartige Katastrophe zu verhindern. Hauptfinanziers seines publizistischen Projektes waren am Ende Roger Milliken, ein einflussreicher Textilmagnat aus South Carolina, der Gewerkschaften und die Bürgerrechtsbewegung verabscheute, der Öl-Millionär Henry Salvatori und Buckleys eigener reicher Vater.[10]
Buckley pflegte mitunter Freundschaften mit Autoren, die in der National Review publizierten, etwa mit dem Antisemiten Revilo Pendleton Oliver. Oliver wurde 1908 in Corpus Christi, Texas, geboren. Er lehrte als Professor an der University of Illinois, war Philologe, Altertumswissenschaftler und Sanskrit-Experte, vor allem aber ein gewaltiger Snob und Antikommunist, der McCarthy verehrte. Intellektuell passte er hervorragend zur National Review, für die er 1955 zu schreiben begann. Oliver war ein unangenehmer Mensch, aber eben auch hochgebildet – und somit ein willkommener Sparringspartner für Buckley.[11] Doch Oliver wurde im Dezember 1958 auch ein Gründungsmitglied der verschwörungsgläubigen, antikommunistischen John Birch Society.[12] Sein Antisemitismus war beileibe kein Geheimnis: Buckley hatte schon vor dem öffentlichen Bruch mit Oliver 1959 im persönlichen Gespräch mit seinem engen Freund und Schwager Brent Bozell zugegeben, dass Oliver ein Antisemit sei, aber offenbar noch keinen Anlass gesehen, die Freundschaft mit ihm zu beenden. Im Sommer 1957 weilte Oliver sogar mehrere Wochen auf Buckleys Yacht.[13] Und seine Texte erschienen weiterhin bis in die späten 1950er Jahre in der National Review.
Gegenüber Robert Welch, dem verschwörungsgläubigen Geschäftsmann, der 1958 die John Birch Society gründen würde, hielt Buckley Distanz. Das lag jedoch weniger an Welchs paranoiden Theorien über eine kommunistische Weltverschwörung, sondern vor allem daran, dass der Süßigkeitenmagnat für Buckleys Geschmack nicht intellektuell genug war. Allerdings bat er auch ihn in den Anfangstagen der National Review um eine Finanzspritze. Mit Erfolg: Welch spendete 1000 Dollar für Buckleys publizistisches Projekt.[14]
Die Beziehung zwischen Buckley und Oliver war Ende der 1950er Jahre bereits angespannt, aber Buckley bemühte sich, die Freundschaft nicht zerbrechen zu lassen. Als Oliver eine Rede auf dem von dem White Nationalist Willis Carto gegründeten Congress of Freedom in Colorado Springs hielt und darin gegen die angebliche Unterwanderung der amerikanischen Politik und Gesellschaft durch kommunistische Agenten wetterte, mahnte Buckley seinen Freund, es seien vor allem die Nicht- und sogar noch mehr die Antikommunisten – wie zum Beispiel Dwight D. Eisenhower –, «die über unseren Untergang herrschen».[15] Wie der Historiker David Walsh erklärt, waren sich die beiden im Kern gar nicht so uneins, wie Buckley es später darstellte. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass Oliver nicht glaubte, dass dem Konservatismus genug Zeit bliebe, um Amerika vor dem Untergang zu retten.[16]
Olivers expliziter Rassismus war in der National Review der 1950er und 1960er Jahre nichts Ungewöhnliches. Zahlreiche ihrer Autoren, einschließlich Buckleys, waren Verteidiger einer angeblich biologisch begründeten Überlegenheit der «weißen Rasse». Olivers Antisemitismus war im Vergleich zu seinem Rassismus ein größeres Problem – allerdings erst, als er damit öffentliche Aufmerksamkeit erregte und so die Respektabilität des Magazins und des «vernünftigen» Konservatismus gefährdete.[17]
In den Jahren nach seinem Bruch mit Buckley radikalisierte sich Oliver weiter. Er kam zu dem Schluss, dass der Konservatismus und das Christentum nicht nur keine effektiven Werkzeuge seien, um das «Überleben der Weißen Rasse» zu sichern, sondern im Gegenteil seinem Anliegen eher schadeten, und so wurde er zu einer wichtigen Figur der entstehenden White-Power-Bewegung.[18]
Wer herausfinden will, wo genau die Trennlinie zwischen Konservativen wie Buckley, die auf «Respektabilität» Wert legten, Ultrakonservativen und Rechtsextremen wie Revilo Oliver und Neonazis verlief und wo die sich verschiebenden Grenzen des Sagbaren innerhalb konservativer Kreise waren, der sollte sich anschauen, wer alles in der National Review publizieren durfte. Zu ihnen zählte etwa James J. Kilpatrick, der als Chefredakteur einer Tageszeitung aus Virginia ein lautstarker Verfechter von Segregation und White Supremacy war.[19] Im Jahr 1964 sagte er auf einer Veranstaltung, dass «Schwarze als Rasse den Weißen nicht gleichgestellt» seien und «keine bedeutenden Beiträge zur westlichen Zivilisation geleistet» hätten.[20] Das war nicht weit weg von dem, was Buckley selbst noch 1957 in seinem Magazin geschrieben hatte, aber die Zeiten und die gesellschaftliche Reaktion auf derartige Aussagen hatten sich verändert, und ebendas war das Problem für Buckley, weniger die Aussagen an sich. Buckley schrieb 1964 in einem Brief: «Mein Standpunkt zum moralischen Aspekt der Rassentrennung ist, dass Rassentrennung moralisch falsch ist, wenn sie eine bösartige Sichtweise einer Rasse ausdrückt oder impliziert, nicht aber, wenn sie nichts dergleichen beabsichtigt oder impliziert.»[21]
Während der 1960er Jahre waren die Texte in der National Review insgesamt sogar rassistischer als die im Magazin American Opinion der John Birch Society. Buckley war ein «standfester Verteidiger von White Supremacy», fasst David Walsh seine Position zusammen. Zwar trat er etwa ab 1964 nicht mehr offen als Segregationist auf, doch die National Review veröffentlichte weiterhin Artikel über die angebliche genetische Überlegenheit Weißer gegenüber Schwarzen.[22]
Was Konservative wie Buckley und andere Autoren der National Review mit den Segregationisten des Südens, aber auch der späteren White-Power-Bewegung verband, war die Überzeugung, dass die Überlegenheit der Weißen Rasse nicht nur politisch und kulturell, sondern auch biologisch begründet sei. Dementsprechend sahen sie in den globalen Bestrebungen der Schwarzen Befreiungsbewegung eine Gefahr für die «westliche Zivilisation».[23]
In den 1960er Jahren kam es zu einer Spaltung der amerikanischen Rechten, nachdem zuvor der Antikommunismus Intellektuellen wie Buckley und Extremisten wie Revilo Oliver eine gemeinsame Basis geboten hatte. «Die amerikanische Rechte im Allgemeinen versteht die Bürgerrechtsbewegung in einem globalen Kontext als Teil des globalen Dekolonisierungskampfes. Alle, von den Birchern über William F. Buckley bis hin zu offenen Neonazis wie George Lincoln Rockwell, sind in diesem Punkt sehr deutlich. Und deshalb sehen sie auch die Bürgerrechtsbewegung als grundlegend kommunistisch beeinflusst an», erklärt David Walsh. Alle seien sich einig gewesen, dass der Kommunismus die Hebamme dieses globalen Dekolonisierungskampfes sei. Die Spaltung in den 1960er Jahren zwischen der konservativen Bewegung und dem, was dann zur zeitgenössischen White-Power-Bewegung werden sollte, stellt einen entscheidenden Punkt in der Entwicklung der amerikanischen Rechten dar. Laut Walsh ergab sie sich letztlich aus der unterschiedlich ausgeprägten Bereitschaft, die «Weiße Rasse» zu verteidigen. Beide Seiten hätten im Grunde die gleichen Ansichten geteilt. Die einen seien jedoch bereit gewesen, «bescheidene Zugeständnisse an die ‹Farbenblindheit› zu machen».[24] «Der amerikanische Konservatismus des 20. Jahrhunderts war nicht gleichbedeutend mit Faschismus, aber er entwickelte sich aus einer rechten Volksfront, die faschistische und quasifaschistische Elemente enthielt», so Walsh.[25]
Kurzum: Es existierte keine scharfe Trennlinie zwischen Rechtsradikalen und Konservativen. Erstere wurden in Buckleys Augen erst dann zum Problem für die National Review, die er als Flaggschiff eines respektablen Konservatismus verstand, wenn sie als «unvernünftige Rechte» in Erscheinung traten.[26] Buckleys Rolle in der Bewegung war also nicht die des effektiven Gatekeepers – eine Erkenntnis, die weitreichende Folgen für das Verständnis des amerikanischen Konservatismus hat. Denn wie sein Biograph, der Pulitzer-Preisträger Sam Tanenhaus, schreibt, lieferte die National Review mit ihrem «autoritären, antikommunistischen Freier-Markt-Libertarismus und ihrer harten Opposition gegenüber der Bürgerrechtsgesetzgebung die ideologische Saat, die dann 1964 in der Präsidentschaftskandidatur von Barry Goldwater aufging».[27]
Buckleys trockener Witz, seine intellektuelle Leichtfüßigkeit und seine scharfe Zunge machten ihn nicht nur zu einem erfolgreichen politischen Strategen, sondern auch zu einem Medienstar. Seine Fernsehsendung The Firing Line war ein Publikumshit und etablierte gleichzeitig die politische Debatte als Wettkampf, als Spiel. Buckley wusste zudem um die Macht politischer Stunts, selbst wenn sie keinerlei Aussicht auf Erfolg hatten. So verschaffte ihm seine Kandidatur für den Bürgermeisterposten in New York 1965 landesweite Bekanntheit. Auch hier kombinierte er Schlagfertigkeit und Witz mit radikalen, rassistischen Inhalten, was nicht nur beim Publikum gut ankam, sondern auch regelmäßig für Schlagzeilen sorgte.
Kurz nachdem im März 1965 Polizisten Teilnehmer*innen des von dem Bürgerrechtler John Lewis angeführten Marsches nach Selma brutal niedergeknüppelt hatten, hielt Buckley eine Rede auf einer Versammlung katholischer Polizisten, dem Holy Name Society Communion Breakfast. Darin beklagte er, die Medien hätten die Polizeigewalt in Selma einseitig beleuchtet, und verteidigte die Polizei Alabamas.[28] Ein ähnliches Narrativ verbreiten heute Gegner*innen der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sich gegen die Polizeigewalt an der Schwarzen Bevölkerung wendet, mit ihrer sogenannten Thin-Blue-Line-Erzählung. Danach bewahrt nur die «blaue Linie» der Polizisten die Gesellschaft davor, in Anarchie zu versinken.
Buckley und seine Gefolgsleute waren die Stars des aufstrebenden amerikanischen Konservatismus. Die National Review diente der jungen Bewegung nicht nur als Sprachrohr, sie fungierte gleichzeitig auch als Pool für vielversprechende konservative Strategen. In den Reihen ihrer Autoren fanden sich auch solche, die die Demokratie als Staatsform grundsätzlich ablehnten. Zu ihnen zählte William S. Lind, ein bekennender Monarchist,[29] der gemeinsam mit Paul Weyrich nicht nur mehrere Bücher schrieb, sondern auch in den 90er Jahren den rechtsextremen und antisemitischen Verschwörungsmythos des «Kulturmarxismus» verbreitete.[30] Und auch Buckleys eigene Ansichten waren in der jüngeren Vergangenheit nicht so moderat, wie es mancherorts suggeriert wird: 1986 schlug er in einem Gastartikel in der New York Times vor, dass an Aids Erkrankte mit einem Tattoo gekennzeichnet werden sollten: «Jeder, bei dem Aids festgestellt wird, sollte am oberen Unterarm tätowiert werden, um Nutzer von Nadeln zu schützen, und am Gesäß, um zu verhindern, dass andere Homosexuelle zu Opfern werden.»[31]
Buckleys Stern strahlt so hell am Himmel des amerikanischen Konservatismus, dass der Mann an seiner Seite, dessen Einfluss rückblickend viel größer war als der Buckleys, außerhalb von konservativen oder wissenschaftlichen Kreisen fast gänzlich unbekannt ist: L. Brent Bozell Junior. Es waren Bozells, nicht Buckleys Ideen, die die Jahrzehnte überdauern und heute den Kern der Republikanischen Partei prägen sollten.
Der energische, rothaarige Bozell und Buckley lernten sich während des Studiums in Yale kennen, wo sie im Debattierclub ihre rhetorischen Fähigkeiten schärften. Die beiden schlossen Freundschaft – verbunden durch Politik und Katholizismus (Bozell war 1947 konvertiert). Die Bande zwischen ihnen wurden noch enger, als Bozell Buckleys Schwester heiratete. Buckley vertraute seinem Freund und Schwager so sehr, dass er ihn für den Fall seines Todes testamentarisch als Erben einsetzte. Die beiden schrieben 1954 gemeinsam das Buch McCarthy and His Enemies, eine glühende Verteidigung von Joseph McCarthy, dem Senator aus Wisconsin, der Jagd auf vermeintliche Kommunisten in den USA machte. McCarthy war für sie der Inbegriff eines patriotischen Konservativen, einer, der «die Roten» gnadenlos zur Strecke brachte. Sie erklärten zwar, ihnen gehe es nur um den Kampf gegen Kommunisten, ließen ihre Leserschaft aber bereits wissen, wohin die Reise gehen würde: «Eines Tages könnte die Geduld Amerikas endgültig erschöpft sein, und dann werden wir gegen die Liberalen losschlagen.»[32]
In einem weiteren Buch mit dem Titel The Warren Revolution: Reflections on the Consensus Society