Inhalte
Titelangaben
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Epilog
Danksagung
Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso
die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Kassel und im Umland.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2017
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto:
Wolfsnacht: © starblue - fotolia
Kapuzenmann: © chainat - fotolia
Wolf-Tattoo: © spravedliviy86 - fotolia
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-174-7
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN: 978-3-95475-166-2
www.prolibris-verlag.de
Der Autor
Daniel Wehnhardt, 1984 in Fürstenhagen geboren, studierte in Kassel Spanisch und Politikwissenschaft und ist
nun angehender Lehrer. Er ist Gewinner diverser Literaturwettbewerbe. 2016
erschien mit »Verpressung« sein erster Kassel-Krimi. In seiner Freizeit widmet er sich der Literatur und
den asiatischen Kampfkünsten.
PROLOG
Kassel, im Sommer 2016
Die Wölfe saßen im Kreis und stimmten ab. Das Ergebnis war eindeutig: Morgen sollte es
passieren.
In ihrer Mitte lag eine Pistole: eine Česká ČZ 75, Kaliber 9 mm, halbautomatisch. Daneben ein leeres Magazin. Heß, ihr Anführer, nahm es in die Hand. Eine nach der anderen presste er die metallisch glänzenden Patronen in die schmale Öffnung. Die anderen schauten ihm stumm dabei zu.
Als er fertig war, schob Heß das volle Magazin zurück in den Schacht. Es klickte, und jetzt schenkte der Leitwolf seinem Rudel ein zufriedenes Lächeln. »Jedem ist klar, was er zu tun hat?«
Alle nickten.
Bis auf Alex. Der starrte nur auf die Pistole und versuchte, den Blicken der
anderen auszuweichen. Denn er wusste, dass jetzt alles ganz allein von ihm
abhing – und das, obwohl es gar nicht seine Idee gewesen war. Ausgedacht hatte es sich Göring, den sie so riefen, weil er nicht nur genauso fett und aufgedunsen aussah
wie sein Vorbild, sondern auch dessen Vorliebe für schicke Uniformen mit mächtig viel Lametta teilte.
Göring hatte alles minutiös geplant. Ihn, Alex, hatten sie hingegen schon vor Wochen zum Täter auserkoren. »Du bist der Richtige«, hatte Heß nach der Abstimmung gesagt und Alex dabei mehrmals auf die Schulter geklopft,
als wollte er ihm damit etwas einhämmern. Dafür würde ihm das ganze Land zu Füßen liegen. Sein Name würde für immer mit dem Schicksal Deutschlands verbunden sein.
Davon hatte Alex schon immer geträumt: respektiert zu werden. Sich nicht mehr wie der Fußabtreter eines Lebens zu fühlen, das ihm seit seiner Geburt den Mittelfinger zeigte. Teil etwas Großen zu sein. Etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte – und sogar zu sterben.
Aber einen anderen Menschen einfach so zu erschießen? Selbst zum Mörder zu werden, auch wenn man es vermeintlich für ein Ziel tat, hinter dem man mit voller Überzeugung stand? Nein. Alex kam das falsch vor. Warum hatten die Wölfe nicht einen der anderen dafür auserkoren? Zum Beispiel Göring, der ja für jedes Detail des Plans verantwortlich zeichnete. Oder Speer, der als aktiver
Sportler in Alex’ Augen perfekt für diesen Auftrag gewesen wäre.
Und was würde seine Großmutter überhaupt dazu sagen? Die Frau, bei der Alex aufgewachsen war. Die sich seiner
angenommen hatte, als von einem Augenblick zum nächsten niemand anderer mehr da gewesen war, der sich um ihn hätte kümmern können. Sie jetzt im Stich zu lassen, das wollte Alex ihr einfach nicht antun.
Nach allem, was seine Großmutter für ihn geopfert hatte, würde sich das für sie sicherlich wie ein brutaler Schlag ins Gesicht anfühlen.
Trotzdem würde er ohne Weiteres nicht aus der Sache herauskommen. Vielleicht könnte er einen Weg finden, die Erwartungen der Wölfe zu erfüllen, ohne dabei ihren Plan wirklich auszuführen? Doch eine Sache war ihm klar: Damit ihm dies gelang, musste er zunächst alles tun, um das Vertrauen des Rudels nicht zu verspielen. Er musste sich
Zeit erkaufen.
Deshalb blickte Alex den anderen ins Gesicht … und nickte. Heß, der immer noch zufrieden lächelte, packte die Česká am Lauf und streckte ihm das Griffstück entgegen. Die Augen des Leitwolfs funkelten, als ob er seinem Gegenüber eine Reliquie überreicht hätte. Als ob er damit die gesamte Verantwortung in Alex’ Hände übergeben wollte.
Zusammen stimmten die Wölfe in ihr Geheul ein.
1
Immer wieder sah er sich um. Keiner der Gäste im großen Saal der Mehrzweckhalle interessierte sich für ihn. Alle hingen aufmerksam an den Lippen des Mannes, der vorne auf dem Podium
stand und seine energische Rede hielt. Verfolgten entspannt das Geschehen, mit
Wasser-, Bier- oder Weingläsern in den Händen, und aßen die belegten Brötchen, die man ihnen zur Begrüßung an der langen Theke im Foyer gereicht hatte. Niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht. Die perfekte Ausgangslange für seinen Plan.
Langsam tastete er mit seiner Hand unter den Sweater. Dorthin, wo die Česká zwischen dem Hosenbund und seinem Rücken klemmte. Das kalte Metall, über das er mit seinen Fingern glitt, erinnerte ihn an seine Mission. Schweiß lief ihm ins Gesicht. Mit zittrigen Fingern wischte er sich über die feuchte Stirn.
Dann schaute er nach vorn. Auf den großen, stämmigen Mann mit dem krausen Haar und dem wildwüchsigen Ziegenbart, der zum heutigen Anlass ein cremeweißes Hemd ohne Krawatte trug und darüber ein dunkelgrünes Jackett. Damit sah er fast genauso aus wie auf den Fotos, die die anderen
ihm immer wieder gezeigt hatten. Bis er überzeugt war, jedes Grübchen, jede Falte und jede Haarsträhne des Mannes wiederzuerkennen.
Eigentlich hatte er jetzt schon viel zu lange gezögert. Alles hätte bereits vorbei sein sollen. Denn ihr Plan hatte anders ausgesehen: »Warte, bis er an der Reihe ist«, hatten sie ihm gesagt, »dann schlägst du eiskalt zu.«
Doch so kalt, wie er sein sollte, war er einfach nicht. Ein Gefühl, als ob die Pistole, die an seinem Rücken klebte, ihn nach unten zog wie ein Anker. Das ihn daran hinderte, den
entscheidenden Schritt zu tun. In der Theorie hatte alles noch so einfach
geklungen: Aufspringen. Schießen. Abhauen.
Außerdem: Was würde er tun, wenn etwas schiefging? An dieses Szenario hatte er bisher erst
wenige Gedanken verschwendet. In seiner Vorstellung war immer alles
glattgelaufen, inklusive der Flucht auf dem Motorrad. Bis die Bullen ausgerückt wären, würde er schon längst mit Rotz, der draußen auf ihn wartete, davongedüst und wieder im Wald verschwunden sein. Aber was, wenn er sich irrte? War es
nicht so, dass bei derartigen Vorhaben nie alles nach Plan verlief?
Dann erinnerte er sich an den Anruf aus dem Krankenhaus. Sie hatten ihn frühmorgens auf dem Handy erreicht, als er gerade an der Mauerstraße in den Bus gestiegen war und sich auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte. Seine
Großmutter sei vor einer Stunde ihrem Kampf erlegen, hatte ein Arzt gesagt, dessen
indisch klingender Name ihm völlig fremd gewesen war. Schon bei seinem letzten Besuch im Krankenhaus hatte es
so gut wie keine Hoffnung mehr gegeben. Für die Ärzte war es nur noch eine Frage der Zeit gewesen.
Diese Gedanken schoben all seine Zweifel beiseite. Wie der Wind, der die dunklen
Wolken am sturmgepeitschten Himmel verjagt. Als wäre seine Angst mit einem Mal verschwunden. Übrig blieb nur die Wut. Der Hass auf die Welt. Auf das Leben. Auf alles.
Entschlossen sprang er auf, riss die Pistole hinter seinem Rücken hervor und legte an.
»Hass ist unser Gebot und Rache unser Feldgeschrei!«, brüllte er aus vollem Hals in den Raum hinaus.
Mit lautem Knall schoss der Verschluss der Pistole vor und zurück.
2
Linke Gerade, rechte Gerade. Jab, Jab, Jab. Dann Front-Kick, Side-Kick. Rechter
Haken, linker Haken, Roundhouse-Kick.
André Jäger prügelte auf den Sandsack ein wie ein Verrückter. Schweiß lief ihm in Strömen am Körper herunter, und bei jedem Schlag atmete er kräftig aus. Seine Kicks trafen mit solcher Wucht, dass die Aufhängung über seinem Kopf quietschte und knarrte. Klänge, als ob der Sandsack um Gnade winselte.
Doch diesmal half alles nichts. Egal wie wild Jäger auch zuschlug, es verschwand trotzdem nicht. Das Gesicht, das mitten in der
Nacht aufgetaucht war, sodass er kein Auge mehr zugemacht hatte. Ayhans
Gesicht, Sekunden vor seinem Tod. Der fragende Blick: Warum hast du mir nicht
geholfen? Warum hast du nur dagestanden und nichts getan? Warum hast du nicht
eingegriffen?
Fragen, die Jäger sich selbst immer wieder stellte – und auf die er bis heute keine Antwort wusste. Fragen, die schon vor vielen
Jahren zu seinen Begleitern geworden waren und ihn belästigten, wann immer es ihnen passte. Meistens jedoch, wenn sie ihm den Schlaf
rauben konnten.
Manchmal half das Training, sie zum Schweigen zu bringen. Dann stellte Jäger sich vor, der Sandsack sei er selbst, und drosch auf ihn ein, bis seine Arme
nur noch am Körper herunterhingen wie zwei labbrige Spaghetti. Meistens hatte er dann
wenigstens für ein paar Stunden Ruhe.
Doch heute gelang es ihm nicht. Obwohl Jäger sich schon seit über einer Stunde quälte, wollte das Gesicht einfach nicht aus seinem Kopf. »Fuck!«, schrie er und warf alles in einen letzten Schlag.
So lief es immer an den Jahrestagen von Ayhans Tod. Meistens half dann nur noch
eins. Ein Treffen mit seinem einzigen verbliebenen Freund, der stets ein
offenes Ohr für ihn hatte: Mister Jack Daniels.
Jäger riss sich die Boxhandschuhe von den Fäusten, pfefferte sie gegen die Wand und schnaufte zu den Duschen. Das eiskalte
Wasser prickelte auf seiner Haut und holte ihn für einen Moment aus seinen Gedanken.
Als er fertig geduscht hatte, wickelte er sich ein Handtuch um die Hüften, setzte seine Sonnenbrille und den grauen Stetson auf und ging mit einem
Glas Whiskey nach draußen auf die Veranda. Während die Sonne Gran Canarias seinen nassen, durchtrainierten Körper trocknete, spielten seine Finger gedankenverloren mit dem Amulett, das an
einer Silberkette um seinen Hals baumelte.
Jägers Blick schweifte über die Bucht der Bahía Feliz. Seit fünf Jahren lebte er nun hier, auf der Insel des ewigen Frühlings. Zum Glück weit genug entfernt von den Hotels, Appartements und Bungalows im sonnenverwöhnten Süden. Dort, wo sich die fettbäuchigen Deutschen, Russen und Engländer tagsüber ihre kalkweiße Haut zu einer krebsroten Pelle verbrannten und sich abends in den Bierstuben,
Pubs und Diskotheken den letzten Rest Verstand wegsoffen. Es kam nicht selten
vor, dass Jäger sich für seine Landsleute schämte, wenn er sah, wie sie sich hier in ihrem Urlaub benahmen.
Deshalb suchte er sich die Leute, an die er seine Wohnung im Untergeschoss
vermietete, ganz genau aus. Meistens kamen nur Radfahrer zu ihm, die sich
tagelang die Berge hochquälten und kaum zu Hause waren, oder ältere Wanderenthusiasten. Guidis, wie die Canarios die vergnügungsgeilen Touristen nannten, ließ er hingegen auf keinen Fall ins Haus.
Zu ihnen hatten die Einheimischen ein zwiespältiges Verhältnis. Natürlich brachten die Touris Unmengen Cash herein, von dem fast die gesamte
kanarische Wirtschaft abhing. Auf der anderen Seite zerstörten sie aber auch Stück für Stück ihre wunderschöne Insel. Diesen facettenreichen Miniaturkontinent, wie man Gran Canaria wegen
seiner Vielfältigkeit nannte. Ein Schandfleck waren die Guidis allemal, und diese Meinung der
Inselbewohner teilte Jäger schon seit der ersten Woche in seiner neuen Wahlheimat.
Er selbst mochte es hingegen lieber ruhig. Fuhr gerne mit dem Bus Richtung
Norden, wanderte über die vulkanischen Berge und genoss die Natur. Kehrte am Nachmittag in einem
der gemütlichen Städtchen wie Agaete, Arucas oder Teror ein, schlürfte dort ein süffiges Tropical Bier und gönnte sich papas arugadas mit mojo. Jene kanarische Spezialität, für die sein Herz ganz besonders schlug: in Salzlauge gekochte Runzkartoffeln mit
scharfer Paprika-Soße.
Damals, vor fünf Jahren, wäre Jäger am liebsten ans andere Ende der Welt gezogen. So weit wie möglich weg von allem. Doch als er dann im Internet auf das Kaufangebot einer
Finca auf Gran Canaria gestoßen war, musste er einfach zuschlagen. Wer wusste schon, wie oft man eine solche
Chance bekam? Viertausend Kilometer Luftlinie werden schon reichen, hatte er
damals gedacht. Heute wusste er, dass keine Entfernung jemals groß genug gewesen wäre.
Was wohl gerade so in Kassel los war? Schon seit Längerem hatte Jäger nicht mehr in die HNA geschaut. Seitdem er Deutschland den Rücken gekehrt hatte, waren ihm als einzige Verbindung in sein altes Zuhause
lediglich die Artikel der regionalen Tageszeitung geblieben. Doch auch damit
beschäftigte er sich nur noch selten.
Jäger nippte an seinem Whiskey und griff nach dem Tablet, das vor ihm auf dem
Beistelltisch lag. Er startete die App, und nur wenige Sekunden später war das E-Paper geladen.
Als er die Überschrift las, stockte ihm der Atem.
3
Wie immer hatten die Wölfe bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet. Zur Sicherheit hatte sich jeder in
einem anderen Lager aufgehalten und war erst zur vereinbarten Zeit aus seinem
Versteck gekrochen. Nur so ließ sich die Gefahr, dass man sie alle gemeinsam an einem Ort aufspürte, so gering wie möglich halten.
Schon kurz nachdem sie in dieser Nacht zusammengekommen waren, entbrannte eine
hitzige Debatte. Einzig Heß, der Leitwolf, lehnte unbeteiligt an einem Baum und blickte nachdenklich in die
Finsternis.
»Scheiße!«, fluchte Speer. Sein Wutanfall schoss als Echo zwischen den Bäumen umher. Der Architekturstudent tigerte auf und ab und warf den anderen, die
auf dem Waldboden kauerten, einen seiner gefürchteten Blicke zu. Während er sprach, flog der Mjölnir an seiner Kette wild durch die Luft: Die magische Waffe des germanischen
Donnergottes Thor. »Was zum Teufel ist da schiefgelaufen?«
»Ich … ich weiß nicht, wwwwarum das passiert ist«, stotterte Rotz, den sie so nannten, weil ihm aus unerklärlichen Gründen ständig die Nase lief. »Ich stand mit dem Motorrad vorm Eingang und hab gewartet, wie geplant.«
»Sieh einer an, unser Stottermax …«
Speer beugte sich zu ihm hinunter und fletschte die Zähne. Während er Rotz in die Augen sah, ließ er unter dem T-Shirt seine Brustmuskeln auf und ab tanzen. Rotz, der im
Schneidersitz kauerte, zuckte zusammen und wischte mit dem Handrücken unter seiner Nase entlang.
»Mann, lass doch die Scheiße!«, mischte Göring sich ein. Mit großer Kraftanstrengung wuchtete er seinen massigen Körper hoch. Auch Goebbels schob sich zwischen die Streithähne. Wegen seines Hinkebeins, mit dem er wie so oft auch jetzt beim Aufstehen zu
kämpfen hatte, war den Wölfen damals die Wahl seines Decknamens nicht besonders schwergefallen.
Speer faltete seine Hände ineinander und ließ seine Finger lautstark knacksen. »Ich will nur wissen, ob diese Pussy hier –«
»Schluss!«, funkte Heß plötzlich dazwischen. Mit einer schnellen Bewegung schoss der Leitwolf zu seinem
aufgescheuchten Rudel herum. Während er jedem von ihnen eine Zeit lang in die Augen sah, fuhr er mit einem
Finger langsam seine Narbe entlang. Die ewige Erinnerung an seine erste
Knast-Schlägerei, bei der sein Zimmernachbar hinterrücks ein Messer gezückt und ihm einmal quer durchs Gesicht geschlitzt hatte.
»Goebbels hat Recht«, sagte Heß mit der für ihn typischen Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete. »Ich brauche euch nicht daran zu erinnern, dass die Aktion anders geplant war.
Warum unser Psycho trotzdem auf einmal wie Billy the Kid um sich geballert hat?« Er zuckte die Schultern.
»Aaaalso, was sollen wir jetzt tun?«, fragte Rotz. »Bbbbblasen wir alles ab?«
»Das könnte dir so passen«, fauchte Speer. Er ballte die Faust und schoss nach vorne wie ein Sprinter vom
Start.
Heß zog ihn an der Schulter zurück. »Wir machen weiter wie geplant.«
Göring verzog die Augenbrauen. Auch Goebbels warf dem Leitwolf einen skeptischen
Blick zu.
»Hältst du das für ’ne gute Idee?«, fragte Göring. »Immerhin könnten sie jetzt Wind von der Sache bekommen haben.«
Heß hob seinen Kopf und blickte durch die Baumkronen hindurch zum Himmel. In der
Luft lag der Duft nach Regen. Eine dichte Wolkendecke schwebte über ihnen, und alles sprach dafür, dass sich in diesem Moment ein heftiges Gewitter zusammenbraute.
»Wir machen weiter wie geplant«, wiederholte Heß. »Nichts wird uns von der Mission abbringen.« Er sah den anderen tief in die Augen. »Und wenn wir dabei draufgehen.«
4
Mit geschultem Blick, wie er ihn während seiner Polizeiausbildung gelernt hatte, scannte Jäger den Artikel nach wichtigen Informationen.
Vor zwei Tagen hatte der erst vierundzwanzigjährige Alexander Klein bei der Eröffnungsfeier eines Heims für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Vellmar plötzlich eine Pistole gezogen und wild um sich geschossen. Augenblicklich hatte
sich Panik in dem Saal der Mehrzweckhalle ausgebreitet, sodass Dutzende
Menschen bei ihren verzweifelten Versuchen, zu den Notausgängen zu gelangen, niedergetrampelt und viele von ihnen lebensbedrohlich verletzt
worden waren. Andere hatten mit ihren Stühlen die rückwärtige Glasfront eingeworfen und stürzten in Todesangst nach draußen. Sie alle standen so unter Schock, dass sie die tiefen Schnitte durch die von
den Fensterrahmen herabhängenden Scherben erst Minuten später spürten.
Kleins erste, äußerst präzise Schüsse galten Gerhard Heinemann-Koch, der gerade seine Eröffnungsrede hielt. Die Projektile schlugen in seinem Oberkörper ein, durchsiebten den Brustkorb und zerfetzten so große Teile der Lunge, dass er noch auf dem Weg ins Krankenhaus buchstäblich an seinem eigenen Blut ertrank.
Trotz der tumultartigen Szenen bewahrte eine Gruppe wachsamer Männer aus den vorderen Reihen einen kühlen Kopf. Nachdem sie sich inmitten des ohrenbetäubenden Geschreis kurz besprochen hatten, nahmen sie den gesamten Mut ihrer
Verzweiflung zusammen und kämpften sich durch ein Meer an herumfliegenden Handtaschen, umgestoßenen Stühlen und schockgefrorenen Gästen einen Weg zum Attentäter frei.
Während die Männer voranstürmten, feuerte Klein auf sie ein. Mit gezielten Kopfschüssen streckte er drei von ihnen nieder. Begleitet von grellem Geschrei spritzten
Fontänen aus Blut und Gehirnmasse auf die Kleidung und die Gesichter der flüchtenden Gäste.
Dann, nur einen Wimpernschlag bevor die übrigen Männer ihn überwältigt hätten, öffnete Klein plötzlich seinen Mund. Schob den Pistolenlauf hinein, schloss die Augen … und drückte ab. Mit lautem Knall nahm das Attentat in Vellmar ein genauso blutiges
Ende, wie es begonnen hatte.
Natürlich gab es so kurz nach der Tat erst wenige belastbare Informationen. Trotzdem
hatte die Polizei bereits einen Tag später auf einer Pressekonferenz verkündet, dass es sich bei Alexander Klein um einen verwirrten Einzeltäter gehandelt habe. Die Tatwaffe, ein veraltetes tschechisches Modell, habe er
vermutlich über das Darknet bezogen. Zu seinen Motiven wollte die Polizei hingegen noch
keine Aussage treffen und erst die weiteren Ermittlungen abwarten. Aus
gesicherter Quelle habe man jedoch erfahren, dass Klein sich bis vor Kurzem
noch in psychotherapeutischer Behandlung befunden hatte. Der Grund werde
derzeit noch geklärt.
Auch Markus Pollak, der Pressesprecher des Hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, hatte ein kurzes Statement abgegeben. Demnach lägen dem Amt derzeit keine Hinweise vor, dass Klein Unterstützung bei der Tat erhalten habe. Der Täter sei vorher weder bekannt gewesen, noch habe er nach bisherigen Informationen
Kontakte zu irgendwelchen extremistischen Gruppierungen gepflegt. An der These,
dass es sich um einen verwirrten Einzeltäter handeln musste, äußerte Pollack nicht den geringsten Zweifel.
Nachdem Jäger fertiggelesen hatte, scrollte er weiter nach unten zu einem Kommentar: »Man muss nicht in eine Glaskugel schauen, um zu erahnen, was den Attentäter angetrieben hat«, schrieb David Wächter. Von dem Nachwuchs-Journalisten hatte Jäger schon diverse Beiträge gelesen, seit er vor drei Jahren mit einem Enthüllungsartikel über das Kasseler Unternehmen WerraSalz zum ersten Mal auf sich aufmerksam
gemacht hatte.
Dass die Schüsse während der Eröffnungsfeier eines Heims für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gefallen waren, stellte für den Redakteur einen deutlichen Hinweis auf das Motiv des Täters dar. Auch die Tatsache, dass es den Geschäftsführer des Caritas-Verbands getroffen hatte, könne doch kein Zufall gewesen sein. Schließlich habe Heinemann-Koch sich in der Vergangenheit stets in besonderem Maße für die Aufnahme von Flüchtlingen starkgemacht und an die christliche Nächstenliebe appelliert. Das Grundrecht auf Asyl sei für ihn unantastbar, hatte er immer wieder betont, und war mit dieser Haltung
zunehmend in die Kritik geraten. Für David Wächter lag die Sache auf der Hand: Alexander Klein musste ein fremdenfeindliches
Motiv besessen haben.
Jäger legte das Tablet wieder zur Seite und seufzte. Natürlich hatte er trotz der Entfernung mitbekommen, dass ganz Nordhessen unter der
wachsenden Zahl von Flüchtlingen ächzte. Von einer Kagida-Demonstration nach der anderen war in der HNA die Rede
gewesen. An manchen Tagen brachte Jäger sogar Verständnis dafür auf, dass nicht jeder mit der Politik der offenen Grenzen einverstanden war.
Aber dass jemand einen anderen Menschen einfach kaltblütig erschoss, weil dieser sich für Nächstenliebe einsetzte? Dass man statt zu diskutieren zur Waffe griff und sein
Gegenüber abknallte, ohne mit der Wimper zu zucken? Was zum Teufel war nur mit dieser
Gesellschaft passiert?
Das Klingeln seines Handys riss Jäger aus seinen Gedanken. Um diese Uhrzeit konnte das eigentlich nur einer seiner
Kickbox-Schüler sein. Oder vielleicht doch ein neuer Mietinteressent? Das wäre ihm durchaus gelegen gekommen, denn in den letzten Wochen, nachdem er seine
Abfindung bis auf den letzten Cent für Schnee verballert hatte, war es kohlemäßig doch ziemlich eng geworden. Gegen eine kleine Finanzspritze hatte er also
nichts einzuwenden.
Jäger sprintete ins Haus. Er fand das Smartphone, das immer noch vor sich hin plärrte, auf dem Küchentisch. Vergraben unter dem Berg mehrerer Ausgaben des Wochenblatts, der
deutschsprachigen Zeitung der kanarischen Inseln, die er im Abonnement bezog.
Als er den Namen las, der auf dem Display blinkte, zuckte Jäger zusammen.
Das letzte Mal hatte er ihn vor fünf Jahren gelesen.
5
»Na, Stahlfaust, was treibste so?«
Die Stimme von Robert Haas hatte sich nicht verändert. Noch immer klang er wie ein Grizzly im Stimmbruch. Den Spitznamen
Stahlfaust hatte er Jäger bereits kurz nach ihrer ersten Begegnung verpasst. Eine wenig subtile
Anspielung auf Jägers kräftige Schlaghand, der er während seiner aktiven Kickbox-Zeit einige seiner K.-o.-Siege verdankt hatte.
Schon damals, als sie noch Kollegen gewesen waren, hatte Haas es immer nur
schlecht verbergen können, wenn er etwas Bestimmtes wollte. Um sich zu erkundigen, wie es Jäger so ging, rief er jedenfalls mit Sicherheit nicht an, so viel stand fest.
»Was willst du?«, zischte Jäger.
»Nur mal hören! Ist lang her, dass wir –«
»Nicht lang genug, wenn’s nach mir geht.«
Jäger konnte die Überraschung sogar durchs Telefon spüren. Wahrscheinlich hatte Haas nicht mit einer solchen Feindseligkeit gerechnet.
Aber was erwartete er? Nach all den Jahren, in denen er sich einen Dreck dafür interessiert hatte, wie es Jäger nach seiner Kündigung ergangen war? Und das, obwohl sie lange Zeit so eng zusammengearbeitet
hatten. Ein echtes Team gewesen waren, fast wie Brüder.
»Hör zu«, setzte Haas nach einer Weile wieder an. »Ich weiß, ist viel passiert damals. Der alte Knochen hatte dich einfach auf der Liste.
Was hätte ich da schon für dich tun können?«
»Hm-hm«, brummte Jäger.
Klaus Nolden, damals Leiter des Dezernats Rechtsextremismus beim hessischen
Landesamt für Verfassungsschutz, hatte sich vom ersten Tag an um die Auszeichnung als
Arschloch des Jahres beworben. Mehr als einmal waren Jäger und er während seiner Zeit als verdeckter Ermittler aneinandergeraten. Im Nachhinein grenzte es fast an ein Wunder, dass Jäger seinem Vorgesetzten nie eine Kostprobe seiner Kickbox-Fähigkeiten zuteilwerden lassen hatte.
Immer wieder hatte Nolden ihn gewarnt, dass er ihn wegen seiner intensiven
Kontakte in die muslimische Gemeinde vor die Tür setzen würde. Eines Tages machte er seine Drohung schließlich wahr. Eine Abfindung wurde Jäger nur ausgezahlt, weil er schriftlich sein freiwilliges Ausscheiden aus dem
Dienst des Landes Hessen erklärte. Nolden hatte ihn fein säuberlich entfernt, ohne Spuren zu hinterlassen. Wie ein Chirurg mit seinem
Skalpell.
»Also, warum rufst du an?«, fragte Jäger.
Haas räusperte sich. »Haste von dem Anschlag gehört?«
»In Vellmar?« Haas brummte zustimmend. »Verwirrter Einzeltäter? Keine Kontakte ins Milieu?«
»Sieht ganz so aus. Wenn da nicht diese … Sache … wäre.«
Jäger hörte das Klicken eines Feuerzeugs. Offenbar rauchte Haas noch immer seine widerwärtigen Zigarillos mit Vanillegeschmack. Sofort lag Jäger wieder der ganz spezielle, süßliche Duft in der Nase, der ihn früher so oft den letzten Nerv gekostet hatte. Was war er froh, dass er mit dem
Schlot, wie sie Haas intern gerufen hatten, kein Büro mehr teilen musste.
»Wovon sprichst du?«, fragte Jäger.
»Nun, der Junge hat vor seinem ersten Schuss noch etwas in die Menge gebrüllt.« Haas blätterte hörbar in seinen Unterlagen. »Hass ist unser Gebot und Rache unser Feldgeschrei. Klingelt’s da bei dir?«
Jäger ließ den Satz einen Moment lang auf sich wirken, während er sich nachdenklich durch seinen Stoppelbart fuhr. Doch so lange er auch
seine grauen Zellen bemühte, wusste er mit diesem Satz immer noch nichts anzufangen.
»Ist mir jedenfalls sofort ins Auge gestoßen«, erklärte Haas weiter. »Aus diesem Grund habe ich dann mal Tante Google gefragt: Sagen dir die Werwölfe etwas?«
Jäger verkniff das Gesicht. »Diese deutschen Partisanen im Zweiten Weltkrieg?«
»Genau die. Der Satz stammt aus der ersten Rundfunkansprache von Joseph Goebbels auf dem Sender Werwolf.«
»Scheiße«, flüsterte Jäger.
Schon als Jugendlicher hatte er sich intensiv mit der deutschen
Nazi-Vergangenheit beschäftigt. Über die Werwölfe wusste er, dass sie 1944, etwa ein Jahr vor Kriegsende, von Himmler ins
Leben gerufen worden waren, um hinter den feindlichen Linien der vorrückenden Alliierten Sabotageakte zu verüben. Den Sender Werwolf hatte Goebbels kurz nach der Gründung der Truppe aufgebaut. Bis auf wenige Operationen blieben die Werwölfe jedoch ein reiner Propaganda-Erfolg. Denn es hatten sich nicht nur viel zu
wenige Freiwillige gemeldet, sondern diese waren auch noch unzureichend
bewaffnet und ausgebildet worden.
»Du weißt, was das bedeuten könnte?«, fragte Haas.
»Ist keine Raketenwissenschaft«, antwortete Jäger. In der Tat musste man nur eins und eins zusammenzählen.
»Ich hab da so ’n verdammtes Bauchgefühl«, führte Haas weiter aus, »und das verrät mir: Der Junge hat das Ding nicht alleine durchgezogen. Mir stellen sich da
einfach zu viele Fragen: Wie ist er an die Knarre gekommen? Wo zum Teufel hat
der Mistkerl so gut schießen gelernt?«
»Wisst ihr denn schon was?«
»Pfff, einen Scheiß wissen wir.«
Mit einem Mal wurde Jäger klar, was wohl der wahre Grund dieses Anrufs war. »Du willst mich doch nicht etwa …?«
Haas atmete lang und kräftig ins Telefon. »Hör zu: Niemand kannte die Szene so gut wie du, André. Du warst der Beste, den wir jemals hatten.«
»Und was ist mit Nolden? Der geht doch hoch wie ein HB-Männchen, wenn er das hört.«
»Ist abgesägt«, erklärte Haas. »Ritsch, ratsch! Der alte Knochen wollte es wohl noch mal wissen und hat an der
Frau vom Präsidenten genascht.« Auf Jägers Lippen bildete sich ein zaghaftes Lächeln. »Jedenfalls sitzt er seinen Hintern jetzt irgendwo im Elften in der Verwaltung
platt.«
»Und der Neue?«
Haas lachte lauthals. »L’état, c’est moi, mein Freund.«
Jäger zuckte überrascht zusammen. Über die Jahre hatte es sein ehemaliger Kollege also sogar bis zum
Dezernatsleiter geschafft. Aber hätte er selbst das auch werden können, wenn er Nolden nur noch ein bisschen länger die Stirn geboten hätte? Davon hatte Jäger ja immer geträumt: Ganz oben auf der Leiter zu sein. Wirklich etwas ausrichten zu können. Die Welt ein Stück besser zu machen.
Noch bevor er einen knappen Glückwunsch über seine Lippen quälen konnte, ergriff Haas wieder das Wort. »Ich weiß, du warst immer scharf auf den Job. Und ehrlich gesagt, wer hätte ihn mehr verdient gehabt als du?« Mit einem Mal klang seine Stimme noch kraftvoller. »Aber das hier ist deine Chance! Was ist, wenn da wirklich noch andere am Werk
sind? Wenn noch jemand dran glauben muss? Im Moment bist du der Einzige, der
das rausfinden kann.« Haas war schon damals immer sehr überzeugend gewesen. Offensichtlich hatte er diese Fähigkeit sogar noch verfeinert.
Trotzdem wusste Jäger nicht, was er von der ganzen Sache halten sollte. Der Gedanke, nach Kassel
zurückzukehren, und sei es auch nur für ein paar Monate, brachte sein Herz zum Rasen. Als er damals Hals über Kopf abgehauen war, hatte er einfach keine andere Möglichkeit gesehen, den ganzen Mist hinter sich zu lassen. Ayhans Tod, seine
Liebe zu Gizem, die keine Zukunft hatte, die Kündigung … Sein Griff nach dem Whiskeyglas ging ins Leere.
»Ich werd’s mir überlegen.«
»Ja, schlaf mal ’ne Runde drüber.« Jäger hörte, wie Haas den Zigarillo im Aschenbecher ausdrückte. »Und was die Kohle angeht … Ich regele da was für dich. Leer sollst du nicht ausgehen.«
Nachdem sie sich verabschiedet hatten, legte Jäger das Smartphone zurück auf den Tisch. Gedankenverloren griff er nach seiner Kette und liebkoste das
Amulett mit seinen Fingern.
Iki gönül bir olunca samanlik seyran olur.
Wenn zwei Herzen eins sind, wird die Scheune zum Palast.
Jetzt brauchte er erst mal ein bisschen Schnee.
6
Mitten in der Nacht tauchte es auf. Ein verdächtiges Geräusch im Geäst, als ob sich jemand seinem Schlafplatz näherte.
Hess riss die Augen auf. Sofort schossen ihm mehrere Fragen durch den Kopf:
Hatten die anderen mit ihren Befürchtungen etwa Recht gehabt? Waren die Behörden doch auf ihre Fährte gekommen? Hatte Alex’ Selbstmord sie tatsächlich verraten?