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Jeder von uns kennt sie und hat viele davon: ungeliebte Persönlichkeitsanteile, die man lieber verschweigt, unterdrückt oder ignoriert. Aber man wird sie nicht los – gleich ob es sich um Neid, Aggressivität, Eitelkeit oder Angst handelt. Simon Hahnzog zeigt, welch enorme Schätze der dunkle »Keller« unseres Ichs birgt: Wenn wir ihn gründlich erforschen und all unsere Persönlichkeitsanteile mithilfe unseres inneren Chefs zu einem Team zusammenschweißen, können gerade unsere Schattenseiten bedeutsame Ressourcen darstellen, um Herausforderungen im Leben souverän zu meistern.
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Seitenzahl: 239
Über das Buch
Jeder von uns kennt sie und hat viele davon: ungeliebte Persönlichkeitsanteile, die man lieber verschweigt, unterdrückt oder ignoriert. Aber man wird sie nicht los – gleich ob es sich um Neid, Aggressivität, Eitelkeit oder Angst handelt.
Simon Hahnzog zeigt fundiert, leicht verständlich und unterhaltsam, welch enorme Schätze der dunkle »Keller« unseres Ichs birgt: Wenn wir ihn gründlich erforschen und unsere Persönlichkeitsanteile mithilfe unseres inneren Chefs zu einem Team zusammenschweißen, stellen gerade unsere Schattenseiten bedeutsame Ressourcen zur Verfügung, um Herausforderungen im Leben souverän meistern zu können.
Über den Autor
Simon Hahnzog studierte Psychologie, Pädagogik und Mathematik in München und promovierte später über das Thema Persönlichkeitsentwicklung. Nach Stationen als Lehrer, Schulpsychologe, Castingredakteur und Familientherapeut unterstützt er heute Unternehmen bei der betrieblichen Gesundheitsförderung und lehrt als Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Fresenius in München.
Weitere Informationen unter www.simon-hahnzog.de.
Simon Hahnzog
Die Chance der
Unvollkommenheit
Warum unsere Schattenseiten der Schlüssel zu unserem Potenzial sind
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1. Auflage
Originalausgabe
© 2016 Kailash Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Lektorat: Ralf Lay
Illustrationen: Florian Mitgutsch
Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner
Umschlagmotiv: Beatrix Boros/stocksy
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-17055-4V001
www.kailash-verlag.de
Für mich.
»In Wirklichkeit aber ist kein Ich,
auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine
höchst vielfältige Welt,
ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen,
von Stufen und Zuständen,
von Erbschaften und Möglichkeiten.«
Hermann Hesse, Der Steppenwolf
Inhalt
Prolog: Es ist dunkel da unten
1. Sie sind nicht allein
2. Die Architektur der Persönlichkeit
3. Grundsteinlegung
4. Ein Haus mit vielen Zimmern
5. Licht ins Dunkel
Eigene Anteile finden
Risiko–
Risiko+
Ressource
Über-Forderung
Entwicklung
6. Dunkle Gesellen und Lichtgestalten?
Faule Teile
Beleidigte Teile
Pflichtbewusste Teile
Aggressive Teile
Helfende Teile
Eitle Teile
Macher-Teile
Sinnliche Teile
Ängstliche Teile
Anführende Teile
7. Ein ehrenwertes Haus
Dichter und Dramaturgen
Göttinnen und Götter
Kritiker und Denker
8. Das Selbst – Ein starker Hausherr
9. Dunkle Geschichten – Bunte Geschichten
10. Das Haus der Persönlichkeit
Persönlichkeit und Menschenbild
Persönlichkeit und Verhalten
Die Konsistenz der Persönlichkeit
Persönlichkeit – Vielfalt und Einheit
Persönlichkeit und Bewusstsein
Persönlichkeit im Spiegel der Zeit
Die (wissenschaftliche) Analyse der Persönlichkeit
11. Alle unter einem Dach
Verneigung
Literatur
Film- und Medienverzeichnis
Prolog
Es ist dunkel da unten
Psst! Seien Sie jetzt mal ganz leise.
Lauschen Sie in sich hinein. In Ihren Bauch, Ihr Herz oder wo auch immer Sie Ihre Persönlichkeit verorten.
Hören Sie es?
Hören Sie schon die ersten inneren Stimmen? Die lauten, die täglich zu Ihnen sprechen und die Sie nur allzu gut kennen?
Hören Sie noch etwas genauer hin. Ganz tief hinunter in den Keller Ihrer Persönlichkeit.
Zunächst dürfte es nicht mehr sein als ein Flüstern, vielleicht auch nur ein Wimmern. Aber je sorgfältiger Sie Ihre Ohren nach innen richten, desto klarer können Sie einzelne Stimmen unterscheiden. Stimmen, die Sie schon länger ignoriert, überhört oder zum Schweigen gebracht haben. Stimmen, die für diejenigen Facetten Ihrer Persönlichkeit sprechen, auf die Sie nicht besonders stolz sind. Stimmen, die besser nicht nach außen dringen sollten?
Wenn Sie noch ein bisschen warten, finden sich die Stimmen Ihrer verborgenen Persönlichkeitsanteile, Ihrer Kellerkinder, sogar zu einem lautstarken Chor zusammen. Ein Stimmengewirr, das nach Enttäuschung klingt, in dem sich aber vor allem auch zahlreiche Möglichkeiten verbergen. Chancen. Potenziale.
Da sind zum einen Ihre Schwächen. Solche, die Ihre guten Freunde noch als liebenswerte Macken bezeichnen, weil sie Ihnen Ecken und Kanten verleihen, Ihrer Persönlichkeit ein Profil geben. Egal ob es sich um Dickköpfigkeit oder Schusseligkeit, einen Hang zum Chaos oder zur Unpünktlichkeit handelt – in der obersten Ebene Ihres Persönlichkeitskellers kennen Sie sich wahrscheinlich noch ganz gut aus. Was nicht heißen muss, dass Sie sich hier wohl und behaglich fühlen. Ich könnte mir vorstellen, dass Sie es verlockend fänden, wenn sich manch einer dieser ungeliebten Anteile Ihrer Persönlichkeit verabschieden oder zumindest für längere Zeit verstummen würde. Wie schön wäre die Vorstellung, wenn Sie ab sofort immer diplomatisch und kontrolliert, geordnet und pünktlich wären?
Aber so viel möchte ich Ihnen gleich verraten: Das wäre fatal!
Denn genau in den Schattenseiten Ihrer Persönlichkeit steckt Ihr größtes Entwicklungspotenzial. Jede Macke, jede Schwäche verleiht Ihnen nicht nur Charakter, sondern auch Möglichkeiten.
Wenn Sie schon mal dabei sind, gehen Sie doch noch ein Stockwerk tiefer in Ihren Persönlichkeitskeller. Nur Mut. Dort warten zwar einige finstere Gesellen – sieben von ihnen sind sogar besser bekannt als Todsünden –, aber auch diese offenbaren so manche Ressource, sobald etwas Licht zu ihnen vordringt.
Gut, Zorn, Völlerei, Trägheit und Konsorten genießen schon seit langer Zeit nicht den besten Ruf. Aber auch die dunkelsten Schattenseiten gibt es nicht ohne Grund. Auch sie verkörpern Eigenschaften, auf die Sie besser nicht verzichten sollten.
Möglicherweise schreckt es Sie ab, hinter den düsteren, unmoralischen Spielarten der menschlichen Persönlichkeiten nach Möglichkeiten zu suchen. Das kann ich durchaus verstehen. Wenn die dunkelsten aller Persönlichkeitsanteile über die Stränge schlagen, kann es nämlich schnell ziemlich unangenehm werden. Nicht umsonst sind diese so gefürchtet, dass man angeblich sogar in der Hölle schmoren muss, wenn man sie zum Einsatz kommen lässt. Aber es muss doch einen Grund geben, warum die Menschen nicht nur himmlische Tugenden wie Geduld,Mäßigung oder Fleiß in ihrer Persönlichkeit vereinen, sondern auch diese dunklen Seiten. Und es sind sogar noch einige mehr, die sich im Keller verbergen oder dorthin verbannt wurden.
Ich bin der festen Überzeugung, dass auch die dunkelsten Schattenseiten der Persönlichkeit viel Potenzial zur Verfügung stellen. Es kommt nur darauf an, sie wieder mal ans Tageslicht der oberen Etagen zu holen, statt im Keller der Persönlichkeit einzusperren.
Statt den inneren Schweinehund zu bekämpfen, sollten Sie vielmehr lernen, mit ihm zu tanzen.
Darum geht es in diesem Buch.
Wollen Sie jetzt mitkommen auf einen Rundgang durch das Haus der Persönlichkeit? Der Persönlichkeit im Allgemeinen und vor allem Ihrer im Besonderen?
Wir werden dabei Licht ins Dunkel des Kellers bringen. Dorthin, wo die Schattenseiten wohnen. Und wir werden auch die ein oder andere dunkle Seite von Lichtgestalten der Persönlichkeit erkunden.
Treten Sie ein.
1.
Sie sind nicht allein
Der Keller im Haus der Persönlichkeit ist ganz schön unübersichtlich mit seinen verborgenen Winkeln, dunklen Ecken und finsteren Gewölben. Natürlich hat jedes Haus der Persönlichkeit auch lichtdurchflutete Räume, luftige Hallen und vollgeräumte Speicher zu bieten. Aber ich werde in diesem Buch vor allem einen Blick auf die vielfältigen ungeliebten Anteile der Persönlichkeit werfen, auf unsere Schwächen, Schattenseiten und sündigen Eigenschaften – die hochgeschätzten Stärken kommen dadurch automatisch zur Sprache.
Ich möchte Ihnen allerdings nicht nur einen lebendigen Eindruck davon vermitteln, was meiner Sichtweise nach als Persönlichkeit und ihrer Entwicklung zu verstehen ist. Vielmehr sollen Sie selbst ins Handeln kommen, damit Sie Ihre Persönlichkeit entwickeln können.
Oder, wie es ein Kollege beschreiben würde: »Nicht der Autor, sondern der Leser muss arbeiten.«
Ihre Persönlichkeit ändert sich nicht »einfach so«. Obwohl sich streng genommen schon allein deswegen etwas bei Ihnen verändert, weil Sie diese Zeilen lesen und über das Gelesene nachdenken. Aber ich möchte, dass Sie aktiv die Entwicklung Ihrer Persönlichkeit gestalten. Sollten Sie dabei irgendwann an Ihre Grenzen stoßen, Sie bei dem ein oder anderen Thema nicht weiterkommen oder Angst haben, den nächsten Schritt zu gehen, ist es im Übrigen nur professionell von Ihnen, wenn Sie sich Unterstützung holen – beispielsweise bei einem Coach oder Psychotherapeuten.
Am liebsten würde ich Ihnen alles persönlich erzählen und gemeinsam mit Ihnen weiterentwickeln, aber das ist mit einem Buch eben etwas schwierig. Wir müssen einen anderen Weg finden, um in einen Dialog zu treten. Und da ich mich für die Variante des Schreibens entschieden habe, ist es das Beste, wenn Sie das Gleiche tun.
Also: Seite markieren und raus ins Schreibwarengeschäft Ihres Vertrauens. Besorgen Sie sich dort ein Notizbuch. Das kann natürlich auch ein einfaches Schreibheft oder eine persönliche Tagebuchdatei auf dem Computer sein, mit dem Sie Gedanken festhalten. Aber vergessen Sie nicht, dass es in diesem Buch um Sie gehen wird. Wählen Sie mit Bedacht und Wertschätzung das Richtige für Sie und Ihre Persönlichkeit aus.
Wieder da?
Bevor Sie irgendetwas unternehmen, noch ein Wort zum Titel Ihres Notizbuchs/Schreibhefts/Dokuments1: Bitte lassen Sie diesen noch offen. Dazu kommen wir ganz zum Schluss.
Wie bei allen Aufgaben, die ich Ihnen im Weiteren stellen werde, sind Sie nun auf sich allein gestellt, wenn Sie eine Pause zum Nachdenken nehmen oder zum Aufschreiben eines Gedankens oder sogar einer längeren Geschichte. Dabei kann es durchaus erforderlich sein, dass Sie einen Abschnitt ein zweites Mal lesen.
Es spielt übrigens keine Rolle, ob Sie in ganzen Sätzen schreiben oder nur stichpunktartige Abkürzungen verwenden. Hauptsache, Sie können damit etwas anfangen. Aus diesem Grund können Sie auch nichts falsch, sondern immer nur alles für Sie richtig machen. Und wenn Ihnen eine Aufgabe mal nicht gefällt – dann lassen Sie sie einfach aus. Schließlich sind Sie alt genug und selbst groß. Oder Sie lesen einfach nur – auch gut.
2
Nachdem wir eingangs einen Blick in die biblischen Vorstellungen von verdrängten, ungeliebten Facetten der menschlichen Persönlichkeit geworfen haben, sollten Sie nun eine erste eigene Bestandsaufnahme vornehmen:
Welche Schwächen und Schattenseiten verbergen sich in Ihrer Persönlichkeit?
Gehen Sie in sich und füllen Sie die erste(n) Seite(n) Ihres Buchs mit diesen Gedanken. Nicht lange grübeln, sondern einfach raus damit. Alles, was Ihnen einfällt, zählt.
Mit dieser Auflistung der dunklen Seiten Ihrer Persönlichkeit haben Sie eine gute Basis, um die kommenden Übungen mit Inhalt zu füllen. Spätestens zum Ende des Buchs werden Sie in jeder Schwäche einiges an Potenzial entdeckt haben.
Falls Sie sich nun Sorgen machen sollten, weil Sie so viel Leben im Keller entdeckt haben: Sie sind nicht allein. Es gehört zu uns, dass wir beides haben, helle und dunkle Seiten, Lichtgestalten und Kellerkinder. Auch wenn uns Letztere mehr Sorgen bereiten, sind sie doch genauso wichtig für uns – im Schlechten wie im Guten. Besonders plakativ wird das bei manchen »Unsterblichen«, also bei denjenigen, deren Namen, Gedanken oder Taten bis heute einen messbaren Einfluss auf uns und unsere Persönlichkeit haben.
Anregungen zu meinen Überlegungen zwischen »Genie, Irrsinn und Ruhm« habe ich unter anderem dem gleichnamigen Buch von Wilhelm Lange-Eichbaum entnommen. Er bekräftigte schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass Genies weniger aufgrund biologischer Startvorteile zu ihren großen Ideen gelangen konnten, sondern ihre Gedanken vielmehr durch die Wertung und Geltung im Rahmen ihrer Zeit und ihrer Zeitgenossen entstanden. Er bezeichnet dies als »mythische Genussgröße«, die dafür sorgen kann, dass manche Genies als solche und andere als Kranke angesehen werden. Was für die Persönlichkeit von Persönlichkeiten gilt, beschreibt auch einen Wesenszug Ihrer Persönlichkeit: Sie können sich selbst nicht ohne den Spiegel der Gesellschaft, der Familie oder des Kollegenkreises betrachten. Daher möchte ich mit Ihnen einen Blick in unsere illustre Vergangenheit3 werfen.
König Ludwig II. etwa, Märchenkönig und Mythengestalter, der Bayern zunächst fast ruiniert und an Frankreich ausgeliefert hat– ohne den die »Weltmarke Bayern« von heute aber möglicherweise nicht so stark wäre, wie sie ist. Die Welt wäre ganz sicher um ein paar architektonische Leckerbissen ärmer, die Schlösser Neuschwanstein, Linderhof oder Herrenchiemsee würden nicht jedes Jahr bei Millionen Besuchern romantische Schwärmereien entfesseln.
Was Ludwig veranlasst hat, zum verehrten Sonderling zu werden– ob Verfolgungswahn, Angst vor dem Kontakt mit anderen Menschen, Halluzinationen oder nichts davon–, ist letztendlich nicht so wichtig. Aber es waren wohl dunklere Anteile seiner Persönlichkeit, die ihn sich von der Welt abkehren und fantastische Rückzugsorte bauen ließen. Ob er darin sein Glück gefunden hat oder nicht, können wir nicht beurteilen, wohl aber den Nutzen seines Erbes. Die Grenze zwischen Vision und Größenwahn ist eine fließende – in jedem »Ver-rückt-sein« verbirgt sich Kreativität.
Manchmal finden sich kreative Lösungen in aller Einfachheit der puren Aggression. So hätte das Weltreich Alexander des Großen wohl gleich zu Beginn geendet, wenn er den Gordischen Knoten statt mit dem Schwert mit dem Verstande zu entwirren versucht hätte. Sogar die gefürchteten Regentage einer depressiven Verstimmung sind elementar für so manche Idee: William Shakespeare schuf den »Hamlet« in einer seiner schwersten Zeiten, unmittelbar nach dem Tod seines Vaters. Johann Wolfgang von Goethe oder Wilhelm Busch hätten ohne einen depressiven Persönlichkeitsanteil möglicherweise nicht diesen genauen Blick für die Eigenschaften und Schwächen anderer gehabt.
Auch in der bildenden Kunst kann die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid zu enormer Schaffenskraft verhelfen. Eine geöffnete Kellertür im Haus der Persönlichkeit verursacht mitunter großes Leid für den Betroffenen, ermöglicht aber auch den Blick in die dunklen Winkel der Welt und die dunkelsten der eigenen Persönlichkeit. In seinen Meisterwerken aus der »Blauen Periode« hätte Picasso möglicherweise nicht Bettler oder Huren, sondern glückliche Landschaftsmotive in Gelb- oder Rottönen gemalt, wenn sein depressiver Anteil nach der Jahrhundertwende nicht die Hauptrolle in seiner Persönlichkeit gespielt hätte.
Vielleicht wäre die Sklaverei bis heute in den USA erlaubt, wenn Abraham Lincoln nicht aufgrund seines melancholischen Anteils so viel über die Ungerechtigkeit der Welt nachgedacht hätte.
Noch mal: Ich rede nicht die belastenden Auswirkungen schön, die ein besonders ausgeprägter Persönlichkeitsanteil für den Betroffenen bedeuten kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Schattenseiten zu uns dazugehören. Sie zu bekämpfen ist ein Weg, mit ihnen umzugehen– ihre Potenziale zu nutzen einer, um mit ihnen zu wachsen. Die Welt profitiert in jedem Fall von einer bunten Vielfalt, die auch Grautöne berücksichtigt.
Wenn wir unsere dunklen Begierden ignorieren, werden wir vielleicht von der »zivilisierten Welt« um uns herum eher anerkannt. Wenn wir sie ignorieren und verdrängen, sperren wir aber wesentliche Anteile von uns aus. Die Schwierigkeit liegt darin, dass es kaum möglich ist, das richtige Maß der Balance immer und überall und vor allem im Vorhinein festzulegen. Und manchmal ist es auch ganz schön, wenn wir die Balance überschritten haben und uns mit unseren Schattenseiten gemeinsam berauschen.
Und überhaupt: die berauschenden Anteile!
Was wäre unsere Welt für ein grauer, trister Ort, wenn nicht manche Ausnahmetalente ihrer Fantasie auf die Sprünge geholfen hätten. Vielleicht hätte Vincent van Gogh auch ohne die grüne Fee des großzügig genossenen Absinths seine Wirklichkeit in Farbe zum Ausdruck bringenkönnen, Ludwig van Beethoven sein »Ta-ta-ta-taaa« auch ohne den vielen Wein komponiert und Johnny Cash auch ohne die vielen Tabletten Millionen Schallplatten verkauft. Aber vielleicht hat diesen und anderen Künstlern, Dichtern und Denkern erst ihr berauschender Anteil den Zugang zur entscheidenden Idee ermöglicht, die dann zu ihrem großen Werk wurde.
Irgendwie scheint es überhaupt ein ziemlich menschliches Bedürfnis zu sein, mithilfe der ein oder anderen Substanz die Grenzen der eigenen Wahrnehmung zu überschreiten. Oder vielleicht auch nur die Grenzen der gesellschaftlichen Konvention dessen, was als normal angesehen wird.
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Dies ist kein unkritisches Loblied auf alles, was wir erst mit achtzehn oder eigentlich gar nicht zu uns nehmen dürfen. Aber ein generelles Verteufeln der inneren Anteile, die uns dazu bringen, ein Gläschen, Tütchen oder Pillchen zu konsumieren, wird der menschlichen Persönlichkeit eben nicht gerecht. Auch diese Mitbewohner in unserem Haus erfüllen eine Aufgabe, die von Bedeutung ist. Dass sie über die Stränge schlagen und uns dazu führen können, mehr kaputt zu machen, als zu gestalten, ja sogar krank zu werden oder andere zu verletzten, ist allerdings eine Eigenschaft, die alle anderen Persönlichkeitsanteile auch auszeichnet. Ein »Zuviel« kann bei allen Facetten der Persönlichkeit zu Problemen führen, auch bei denen, die wir als besonders tugendhaft oder erstrebenswert ansehen. Nur merken wir oft erst, dass es zu viel war, wenn wir die Grenze schon überschritten haben.
Das gehört wohl zu den Unwägbarkeiten dessen, was man »Leben« nennt. Egal ob berühmt, verehrt oder verteufelt, in diesem Punkt sind wir Menschen uns alle gleich: Vom Keller bis zum Dach sind wir gefüllt mit unverwechselbaren Eigenheiten, die es uns ermöglichen, die zu sein, die wir sind.
Nach dem Blick in Ihren und den Keller der anderen ist es nun an der Zeit, ins Licht zu schauen:
Erinnern Sie sich an eine persönliche Erfolgsgeschichte aus Ihrem Leben. Es kann, muss aber nichts Großes sein. Egal ob sie letzte Woche passiert ist oder schon Jahre zurückliegt. Irgendetwas, worauf Sie heute noch stolz sind – oder zum Zeitpunkt des Erlebens stolz waren.
Nun beschreiben Sie zunächst diese Geschichte – wichtig ist dabei nur, dass Sie die positiven Seiten des Erlebnisses betonen.
Im nächsten Schritt halten Sie bitte fest, welche Ihrer Eigenschaften an diesem Erfolg beteiligt waren. Das dürften wahrscheinlich solche Anteile Ihrer Persönlichkeit sein, auf die Sie stolz sind, die einen großen Teil Ihres Glanzes ausmachen.
Und jetzt begeben Sie sich noch mal in den Keller Ihres Persönlichkeitshauses. Schauen Sie sich in aller Ruhe um – langsam werden Ihnen Ihre Kellerkinder immer vertrauter. Suchen Sie bitte eins aus, das bei Ihrer Erfolgsgeschichte auch eine Rolle gespielt hat.
War es vielleicht die angriffslustige Verbohrtheit, die Sie immer wieder hartnäckig an einem Problem weiterarbeiten lässt, auch wenn es andere schon nicht mehr hören können?
War das kreative Chaos beteiligt, das Sie so wunderbare Ideen haben lässt, aber Ihre Welt eben auch gern ins totale Durcheinander führt?
Oder vielleicht der Zorn, Ihre Aggressivität, die andere verletzen und vertreiben kann, die in dieser Geschichte aber dazu geführt hat, dass Sie Ihre Meinung oder Bedürfnisse durchgesetzt haben, statt verfrüht aufzugeben?
Sie finden sicher einen Anteil in Ihrem Persönlichkeitskeller, auf den Sie normalerweise nicht sonderlich stolz sind, den Sie gern verdrängen oder unter den Tisch kehren. Ohne den Ihr Erfolg in dieser Geschichte aber vielleicht auch nie eingetreten wäre.
Sobald Sie diesen Anteil gefunden haben, können Sie aus dem Keller wieder ans Licht treten.4
Lösen Sie sich nun im letzten Schritt dieser Übung von Ihrer Erfolgsgeschichte und widmen Sie sich ganz diesem dunklen Anteil. Beschreiben Sie ihn in seinen Schattenseiten, also das, was ihn so anstrengend für Sie und andere macht, warum er peinlich, unangenehm, beängstigend auf Sie wirkt.
Und beschreiben Sie auch die Seiten, die für Sie von Nutzen sind. Einen Vorteil, ein Potenzial, eine Ressource, die er Ihnen ermöglicht. Auch wenn es mühsam wird: Bevor Sie nicht mindestens einen positiven Aspekt gefunden haben, dürfen Sie nicht weitermachen. Es reicht, wenn es ein klitzekleiner Vorteil ist, den Sie durch ihn haben – aber dieser eine muss es zumindest sein. Da bin ich wirklich streng.
Stehen Sie jetzt auf und strecken Sie sich ein bisschen. Machen Sie eine Pause oder einen kleinen Spaziergang; und wenn Sie wieder so weit sind, kann es weitergehen. Schließlich soll es nicht nur bei dieser einen Geschichte und auch nicht nur bei den Kellerkindern der Persönlichkeit und ihren prominenten Vorbildern bleiben.
Die nächsten Schritte zur Entwicklung Ihrer Persönlichkeit werden Sie jedoch nur dann auf sicheren Beinen bewältigen, wenn Sie zumindest eine vage Vorstellung davon haben, warum Sie das tun.
Entwicklungen müssen sich lohnen!
Deswegen ist es sinnvoll, wenn Sie sich die Frage »Warum sollte ich meine Persönlichkeit überhaupt entwickeln?« nicht nur stellen, sondern auch beantworten.
Schriftlich.
In Ihrem Buch.
Denn nur in diesem Fall werden Sie Ihre Persönlichkeitsanteile davon überzeugen können, dass sie in Bewegung kommen sollten.
Was haben Sie davon, wenn Sie sich verändern und entwickeln? Welchen Mehrwert bringt die ganze Mühe im Endeffekt mit sich?
Und vor allem: Was soll bei aller Veränderung so bleiben, wie es ist?
Also anders ausgedrückt: Was ist der Preis, den Sie bezahlen müssen? Und was bekommen Sie dafür?
Schnappen Sie sich Ihr Buch und suchen Sie nach Antworten auf diese Fragen. Das könnte etwas dauern und möglicherweise im Moment auch noch nicht zu einer abschließenden Antwort führen – lassen Sie also etwas Platz frei, sodass Sie auch später noch neue Ideen zu diesen Überlegungen nachtragen können.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die genaue Antwort auf diese Fragen können ausschließlich Sie selbst geben. Mir ist es an dieser Stelle nur wichtig zu betonen, dass ich mit dem Begriff »entwickeln« keineswegs ein Defizit beim derzeitigen Zustand Ihrer Persönlichkeit ausmachen möchte. Auch bin ich weit entfernt von der Annahme, dass wir uns immerzu entwickeln und verändern müssten. Zum Glück gibt es zahlreiche Zeiten im Leben, in denen es »einfach mal gut ist«. In denen wir genau richtig sind, so wie wir sind.
Unter Entwicklung verstehe ich vielmehr die Möglichkeit, einen Zustand in den nächsten überzuführen. Dabei berücksichtigt der neue Zustand sowohl den bisherigen als auch die neue Situation. Im Sinne von Weiterentwicklung meine ich damit nicht nur ein »Anders« – sprich: Veränderung ohne Bezug zur vorhergehenden Situation –, sondern ein »Mehr«, da sich die spätere Struktur der Persönlichkeit auf die vorhergehende bezieht. Für mich ist also der zentrale Unterschied von Veränderung und Entwicklung das Einbeziehen der Erfahrung. Deswegen sind Sie selbst der Einzige, der Ihre Persönlichkeit entwickeln kann. Nur Sie können Ihre Erfahrungen genauso wie Ihre Wünsche und Erwartungen formulieren.
Entwicklungsprozesse verlaufen keineswegs immer geradlinig und stetig. Manchmal machen wir Erkenntnissprünge, und manchmal haben wir das Gefühl, uns überhaupt nicht vorwärtszubewegen. Oder vielleicht sogar rückwärts. Rund um unsere Persönlichkeit ist das nicht nur völlig normal, sondern auch ziemlich funktional. Denn nicht alles, was im Moment hilfreich ist, brauchen wir unverändert übermorgen oder in ein paar Jahren. Die Welt dreht sich stetig weiter, sodass wir immer wieder in neue Situationen kommen und vor neuen Herausforderungen stehen. Außerdem verändern wir selbst immer wieder unsere Bedürfnisse, wie Sie sich im Laufe der Lektüre deutlich vor Augen bringen werden. Genau diese Veränderungen tragen nicht unerheblich dazu bei, dass es immer weitergeht.
Da es ziemlich schwierig ist, die Welt – geschweige denn die Menschen in unserem Umfeld – zu verändern, bleibt Ihnen daher oft nur die Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln.
Klingt vielleicht erst mal anstrengend.
Gibt Ihnen aber jederzeit die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden, statt lediglich abzuwarten, bis sich »die anderen« endlich kollegialer, aufgeschlossener, freundlicher verhalten. Noch dazu, weil es fast unmöglich ist, »die anderen« dazu zu verpflichten, dass sie so werden, wie wir es uns gerade wünschen.
1 Der Einfachheit halber werde ich im Folgenden nur noch von »Ihrem Buch« sprechen – Sie wissen dann schon, was gemeint ist.
2 Ich gehe eigentlich nicht davon aus, dass Sie nur dann in Ihr Buch schreiben, wenn Sie von mir dazu aufgefordert werden, aber damit keine Unsicherheiten aufkommen: Schreiben Sie, wann immer es Ihnen passt!
3 Ich finde es höchst bedauerlich, dass aus der Vergangenheit so wenige Belege zu den Schattenseiten und zur Schaffenskraft bedeutsamer Frauen vorliegen. Dies ist kein Beweis dafür, dass es sie nicht gab. Aber ich wollte meine historischen Beispiele auf eine fundierte Grundlage betten. Sehen Sie es mir daher nach und ergänzen Sie einfach die folgenden, willkürlich ausgesuchten Persönlichkeiten um die Ihnen bekannten.
4 Sollten Sie nicht gleich fündig geworden sein, gönnen Sie sich eine Verschnaufpause und gehen Sie dann mit etwas Abstand wieder hinunter. Irgendwann werden Sie sicher einen finden – auch wenn Ihre Schattenseiten ein noch so geschicktes Versteckspiel mit Ihnen treiben.
2.