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Die Geschichte der Charité geht weiter. Nach dem Bestseller "Hoffnung und Schicksal" erzählt Ulrike Schweikert ein weiteres spannendes Kapitel aus der Welt des berühmten Krankenhauses. Im Berlin der ausgehenden Kaiserzeit kämpfen zwei Frauen um ihr Glück und für die Rechte von Frauen. Rahel Hirsch ist eine der ersten Ärztinnen, die an der Charité praktizieren. Doch als Frau unter lauter männlichen Kollegen hat sie es nicht leicht. Von Gleichberechtigung ist man selbst in der sonst so fortschrittlichen Hauptstadt noch weit entfernt. Das erlebt auch die junge Arbeiterin Barbara täglich. Sie schuftet in der Wäscherei der Charité und muss immer wieder erfahren, was es bedeutet, wenn Männer Frauen als Besitz betrachten. Ungleicher könnten die beiden Frauen nicht sein, und doch werden sie zu Freundinnen. Während Rahel sich gegen Widerstände in der Charité durchsetzen muss und sich in den jungen Fliegerpionier Michael verliebt, schließt sich Barbara der Frauenbewegung an, kämpft für die Rechte der Arbeiterinnen und das Frauenwahlrecht. Doch dann bricht der 1. Weltkrieg aus und verändert nicht nur die Leben von Barbara und Rahel für immer ...
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Seitenzahl: 732
Ulrike Schweikert
Aufbruch und Entscheidung
Roman
Zeiten des Wandels, Zeiten der Entscheidung
Berlin, 1903: Rahel Hirsch ist eine leidenschaftliche Forscherin, die für die Medizin lebt. Als eine der ersten Ärztinnen fängt sie an der Charité an. Doch unter den männlichen Kollegen ist sie nach wie vor eine absolute Ausnahme. Von Gleichberechtigung ist man selbst in der sonst so fortschrittlichen Hauptstadt des Kaiserreichs noch weit entfernt. Das erlebt auch die junge Arbeiterin Barbara täglich. Sie schuftet in der Wäscherei der Charité und muss immer wieder erfahren, was es bedeutet, wenn Männer Frauen als Besitz betrachten.
Ungleicher könnten die beiden Frauen nicht sein, und doch werden sie zu Freundinnen. Während Rahel sich gegen Widerstände in der Charité durchsetzen muss und sich in einen jungen Fliegerpionier verliebt, schließt sich Barbara der Frauenbewegung an, kämpft für die Rechte der Arbeiterinnen und das Frauenwahlrecht. Doch dann bricht der 1. Weltkrieg aus und verändert nicht nur die Leben von Barbara und Rahel für immer ...
Die Charité – Geschichten von Leben und Tod, von Aufbruch und Entscheidung im wohl berühmtesten Krankenhaus Deutschlands.
Ulrike Schweikert arbeitete nach einer Banklehre als Wertpapierhändlerin, studierte Geologie und Journalismus. Seit ihrem Romandebüt «Die Tochter des Salzsieders» ist sie eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen historischer Romane. «Hoffnung und Schicksal», der erste Roman aus der Charité-Reihe, stand monatelang auf der Bestsellerliste. In ihren Charité-Romanen verbindet Ulrike Schweikert die Geschichten starker Frauenfiguren, Medizinhistorie und die Faszination eines der berühmtesten Krankhäuser der Welt. Ulrike Schweikert lebt und schreibt in der Nähe von Stuttgart.
Für Susi, Bernd, Marika
und Janina Reinert
und für meinen geliebten Mann
Peter Speemann
Boykott
«Die chirurgische und die geburtshilfliche Klinik der königlichen Charité sind allmählich in einen Zustand geraten, welcher den heutigen Anforderungen des Hospitalwesens absolut nicht mehr entspricht, und der Studierende ist nicht einmal in der Lage, in ihnen zu erfahren, wie denn eigentlich eine solche Einrichtung sein sollte.»
Die Stimme des berühmten Pathologen und Sozialpolitikers durchdrang mühelos den großen Saal, in dem sich die Vertreter des Preußischen Abgeordnetenhauses versammelt hatten.
Rudolf Virchow ließ den Blick über die gewählten Vertreter des Volkes schweifen. Er war noch immer eine imposante Erscheinung, die Augen hinter seiner runden Brille klar, der üppig weiße Vollbart gepflegt, doch die hohe Stirn war nun in sorgenvolle Falten gelegt. Obwohl er die siebzig überschritten hatte, hielt er sich erstaunlich gerade, und er dachte gar nicht daran, seinen Posten als Leiter des Pathologischen Instituts aufzugeben.
«Der Zustand der königlichen Charité ist schlichtweg blamabel für eine Ausbildungsstätte preußischer Militärärzte, und die Kliniken der Universität haben seit ihrer Gründung vor über achtzig Jahren schon lange den Anschluss an die Entwicklung der modernen Medizin verloren. Was muss passieren, dass der König und seine Minister endlich einsehen, dass dieses Flickwerk an Notbauten, die seit Jahrzehnten zunehmen, ein Ende haben muss? In Zeiten des wirtschaftlichen Verfalls, in denen sich die Lebensbedingungen der Arbeiter drastisch verschlechtern, brauchen wir eine großzügige, moderne Einrichtung. Sehen Sie sich die im Pavillonstil errichteten Krankenhäuser in Friedrichshain oder Moabit an. Der Zustand der königlichen Charité ist dagegen eine Schande! Was muss passieren, dass die Verantwortlichen endlich handeln?»
Zehn Millionen Goldmark, so rechnete das Ministerium, dem das Medizinalwesen zugeordnet war, würde ein Neubau der Charité als moderner Klinikkomplex kosten. Noch scheute sich der Kaiser, so viel Geld in die Hand zu nehmen. Diese Sozialpolitiker dramatisierten immer! Bisher lief doch alles ganz gut.
Das konnte sich Kaiser Wilhelm II. einreden, bis im nächsten Sommer eine neue Choleraepidemie von Brandenburg her auf die kaiserliche Hauptstadt zurollte. In Hamburg hatte die Seuche, gegen die es immer noch keine wirksame Medizin gab, bereits achttausend Menschenleben gefordert. Erinnerungen an die letzten großen Epidemien in Berlin in den Jahren 1831 und 1866 wurden wach. So etwas durfte sich nicht wiederholen, darin waren sich alle einig, aber wie konnte man das Vordringen der Seuche verhindern? Wie konnte man die Erkrankten schnell und wirksam isolieren, um die Bevölkerung vor Ansteckung zu bewahren?
Über die maßgebliche Rolle von mangelnder Hygiene und verseuchtem Wasser bei der Verbreitung der Krankheit gab sich keiner mehr irgendwelchen Illusionen hin. Daher forderten die Stadtverordneten und der Magistrat einen Kredit von der preußischen Regierung, um dringend notwendige «sanitätspolizeiliche Maßnahmen» durchführen zu können. Und die Sozialdemokraten wiesen die bewilligten dreihunderttausend Mark als viel zu wenig zurück.
In ihrer Zeitung Vorwärts rief der Arzt Ignaz Zadek die Arbeiter Berlins auf, selbst aktiv zu werden. Mithilfe von Sanitätskolonnen sollten freiwillige Helfer die Missstände in Berlins Fabriken und Wohnhäusern, aber auch in den Krankenhäusern aufspüren und öffentlich machen. Außerdem wurden in der SPD-Zeitung die «menschenunwürdigen Zustände», die in der königlichen Charité herrschten, detailliert ausgebreitet – was zum erhofften Sturm der Entrüstung führte.
Der Herausgeber der Deutschen Medizinischen Wochenzeitschrift schrieb: «Die Charité ist ein Komplex von alten Gebäuden, deren bauliche Zustände völlig ungeeignet und deren hygienische Einrichtung trotz der hier und da angebrachten Flickerei für ein Krankenhaus geradezu verwerflich sind.»
Auch die Krankenkassen schalteten sich ein und riefen gemeinsam mit der Sanitätskommission zum Boykott der Charité auf. Im Dezember 1893 kam es zu Massenprotesten Berliner Arbeiter, die sich über die überfüllten Krankensäle beschwerten, die veralteten sanitären Einrichtungen, das schlecht ausgebildete Pflegepersonal und den Kasernenton, der noch immer in der Klinik herrschte.
So kam es zu einem ungewöhnlichen Bündnis. Ministerialdirektor Althoff, der für die konservativen Monarchisten stand, und Dr. Zadek von den Sozialdemokraten kämpften zusammen mit Virchow und vielen anderen Medizinern für den Neubau der Charité.
«In den Abteilungen der Charité geht es zu wie in einem Gefängnis!», wetterte Zadek. «Allen voran werden die Patientinnen der venerischen Abteilung wie Verbrecherinnen behandelt!»
Minister Althoff trug den Gesetzentwurf zur Erneuerung der Charité vor den beiden Häusern des Landtags derart mitreißend vor, dass schließlich die gesamte Bausumme von knapp zehn Millionen Mark bewilligt wurde. Auch der Kaiser stimmte zu: 1897 konnte die Erneuerung der Charité beginnen!
Schritt für Schritt wurden alte Flügel und Baracken abgerissen, während die neogotischen Fassaden aus rotem Backstein in die Höhe wuchsen. In dem ersten Gebäude, das fertiggestellt wurde, fanden das Pathologische Institut von Professor Virchow sowie ein Museum für seine über Jahrzehnte angewachsene Präparatesammlung eine würdige Heimat. Danach entstanden die Psychiatrische Klinik und Direktor Heubners Kinderklinik.
Als Minister Althoff 1902 den Internisten Professor Friedrich Kraus an die II. Medizinische Klinik berief, musste sich dieser allerdings vorläufig noch mit der Abteilung im alten Dreiflügelbau der sogenannten Neuen Charité auf der Nordseite des Geländes begnügen. Dennoch brach mit ihm eine neue Zeit an: Nur Monate nach Amtsantritt entschloss sich Kraus dazu, eine seiner Volontärstellen an eine weibliche Bewerberin zu vergeben. Ein absolutes Novum – und die Chance für Dr. Rahel Hirsch aus Frankfurt am Main, die an der Charité Medizingeschichte schrieb!
Aufbruch
Fräulein Doktor
Die Landschaft rauschte am Fenster des Waggons vorbei. Wenn sie den Blick starr geradeaus richtete, lösten sich die Konturen in verschwommene grüne und gelbe Streifen auf. Der Herbst begann, die Blätter zu verfärben. Sie wirbelten im Wind so durcheinander wie die Gedanken in ihrem Kopf.
Sie war unterwegs nach Berlin, zu ihrer ersten Stelle als Ärztin! Sie konnte es noch immer nicht recht glauben. So viele Jahre, und nun sollte der Traum tatsächlich Wirklichkeit werden.
Dr. Rahel Hirsch.
Ihr Großvater, der berühmte Rabbiner Samson Raphael Hirsch, der 1888 im selben Jahr wie die letzten beiden Kaiser gestorben war, wäre heute sehr stolz auf sie, das wusste sie genau. Gelehrsamkeit war für ihn immer eine hohe Tugend gewesen – für Männer und für Frauen.
Ein Jahr nach seinem Tod hatte Rahel in Wiesbaden ihr Lehrerinnenexamen abgelegt, um an der von ihrem Großvater in Frankfurt am Main gegründeten und inzwischen von ihrem Vater geleiteten Höheren Töchterschule der Israelitischen Religionsgemeinschaft zu unterrichten.
Auch ihr Vater, Mendel Hirsch, war inzwischen tot. Er hatte die ersten beiden Jahre ihres Medizinstudiums noch miterlebt und Rahel in ihren ungewöhnlichen Plänen bestärkt. Ohne seine Unterstützung hätte sie nicht in Zürich studieren können. Zürich – noch vor wenigen Jahren bot die dortige Universität die einzige Möglichkeit für eine Frau, Ärztin zu werden. Inzwischen hatte der Bundesrat beschlossen, auch in Deutschland Frauen zum medizinischen Staatsexamen zuzulassen, doch die einzelnen Länder ließen sich Zeit, die Vorgabe umzusetzen. Allen voran Berlin, das seine Universitätstüren für Frauen noch immer nicht geöffnet hatte. Baden sowie Elsass-Lothringen waren als Erste bereit gewesen, dem Beschluss zu folgen. Rahel hatte deshalb in Straßburg ihr Medizinstudium fortgesetzt und mit der Dissertation erfolgreich abgeschlossen.
Sie löste ihren Blick von der vorbeifliegenden Landschaft, öffnete ihre Tasche und zog ein in weinrotes Leder gebundenes Büchlein hervor. Die letzten Eintragungen hatte sie vergangene Nacht in ihrer spartanischen Unterkunft geschrieben, ehe sie ihre Reise hatte fortsetzen können.
Mein Herz rast. Ich kann es in meinen Ohren pochen hören. Ich versuche, mir die Vorgänge in meinem Körper bildlich vorzustellen. Mein Herz zieht sich hektisch zusammen und pumpt, schneller als sonst, das Blut durch meine Adern. Doch woher rührt das Rauschen im Kopf? Kann ich den Fluss meines Blutes durch mein Gehirn hören?
Meine Gedanken wandern zurück nach Zürich und nach Straßburg, zu meinen Professoren, die mich so viel gelehrt haben, und zu den Studenten, denen ich im Anatomiesaal, beim Präparierkurs oder im Vorlesungssaal bei Operationen begegnet bin …
Der Zug hielt an, die Abteiltür öffnete sich, und ein junges Mädchen von vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahren erkundigte sich, ob der Fensterplatz ihr gegenüber noch frei sei. Rahel erhob sich und half, ihren Koffer in die Gepäckablage zu wuchten. Der Koffer des Mädchens war deutlich schwerer als ihr eigener.
«Danke», sagte sie ein wenig atemlos und streckte die Hand aus. «Johanna Hermann», stellte sie sich vor. «Wir werden nun wohl einige Stunden gemeinsam verbringen.»
Der Eifer des jungen Dings ließ Rahel lächeln. «Rahel Hirsch», sagte sie. Fast wäre sie der Versuchung erlegen, sich als Dr. Rahel Hirsch vorzustellen.
Die Abteiltür öffnete sich erneut, und ein älterer Herr in stramm sitzender Uniform kam herein. Er musterte die beiden Frauen und wählte dann einen Platz, der ihm ein wenig Abstand gewährte. Rahel und Johanna setzten sich. Während Rahel ihr Tagebuch wieder in ihrer Tasche verstaute, faltete der Offizier eine Zeitung auf und verschanzte sich hinter den bedruckten Blättern.
Rahel beobachtete das Mädchen ihr gegenüber, das nervös auf seinem Sitz hin- und herrutschte. Sie war ein hübsches Ding mit blonden Zöpfen, die ordentlich an beiden Seiten in Form einer Schnecke festgesteckt waren. Ihr Gesicht war schmal, die Augen von einem hellen Blau. Die rosige Haut zeigte ihre Jugend. Sie trug ein schlicht geschnittenes Kleid von guter Stoffqualität. Dass sie nicht aus einer armen Familie stammte, schloss Rahel bereits aus dem Umstand, dass sie in der zweiten Klasse fuhr.
Johanna zog ein Buch aus der Tasche, schlug es auf und beugte sich darüber, doch sie schien sich nicht recht konzentrieren zu können. Ungeduldig blätterte sie nach vorn und zurück und schlug es dann mit einem Seufzer wieder zu. Rahel erhaschte einen Blick auf den Titel und stellte erstaunt fest, dass es sich um ein Werk über Arithmetik und Geometrie handelte. Ihre Blicke begegneten einander.
«Ich sollte die Bahnfahrt eigentlich zum Lernen nutzen, aber ich bin zu aufgeregt», sagte Johanna. «Ich fahre zu meiner Tante nach Berlin», verriet sie. «Ich durfte in Karlsruhe den neu eingerichteten Gymnasialkurs für Mädchen besuchen und werde nun als externe Schülerin am Königlichen Luisengymnasium meine Reifeprüfung ablegen!»
Hinter der Zeitung ertönte ein abfälliges Schnauben, das die beiden Frauen geflissentlich ignorierten.
Rahel beglückwünschte ihre sichtlich begeisterte Mitfahrerin. «Und wie soll es danach weitergehen?», erkundigte sie sich und warf ihr einen aufmunternden Blick zu.
«Ich werde bei meiner Tante wohnen und auf einer privaten Schule eine Ausbildung zur Lehrerin machen», sagte sie mit einem gewissen Stolz. «Ich möchte nicht nur Kinder unterrichten. Ich möchte später auch ältere Mädchen in Chemie und Mathematik unterrichten!»
«Sie sind ehrgeizig, das gefällt mir, doch dafür müssten Sie eine Zulassung für den Unterricht an einer Oberstufe erhalten. Das wird nicht einfach», vermutete Rahel. «Bisher gibt es doch dort nur männliche Lehrer und Rektoren, nicht wahr?»
«Ich weiß», sagte Johanna mit einem Seufzen. «Kennen Sie Helene Lange? Sie ist eine Freundin meiner Tante und erkämpft unermüdlich bessere Bildungschancen für Mädchen. Sie und ihre Mitstreiterinnen haben es geschafft, dass das Kultusministerium ein Oberlehrerinnenexamen eingeführt hat. Allerdings muss ich zuvor ein paar Jahre als Lehrerin in der Grundstufe arbeiten, dann bestimmte Kurse an der Universität belegen und in zwei Fächern eine Prüfung bestehen. Ziel ist es, dass Mädchenoberschulen auch von Frauen geleitet werden dürfen!»
«Das wird ein langer Weg», bemerkte Rahel, «aber wenn Sie weiterhin so enthusiastisch darauf zuarbeiten, werden Sie bestimmt alles schaffen.»
Über Johannas Gesicht huschte ein glückliches Lächeln, dann aber zuckte sie mit den Achseln: «Frau Lange behauptet, das Ministerium mache es den Frauen absichtlich schwer, weil man die Vorherrschaft der Direktoren und Oberlehrer nicht gefährden will. Sie sagt, der Etat für die Knabenschulen sei noch immer fünfzig Mal höher als der für Mädchenbildung. Das ist so ungerecht.»
Hinter der Zeitung grunzte es wieder. Vermutlich hielt der Offizier das für eine gerechte Politik.
«Das glaube ich gerne, dass dahinter eine Strategie steht», stimmte ihr Rahel zu. «Ich selbst habe früher in Frankfurt an einer privaten Schule unterrichtet, weil es nicht anders möglich war.»
«Warum haben Sie denn damit aufgehört?» Johanna klang enttäuscht.
«Weil ich noch andere Pläne hatte. Ich bin dann in die Schweiz gegangen, um Medizin zu studieren, und nun fahre ich nach Berlin. Zu meiner ersten Anstellung als Ärztin!»
Johanna starrte sie mit offenem Mund an. «Oh mein Gott, das ist ja phantastisch! Ich bin beeindruckt. Dann sind Sie Doktor Rahel Hirsch!»
Die Bewunderung tat Rahel gut. Allerdings schien das dem Offizier nun doch zu viel. Er ließ die Zeitung sinken und schenkte den beiden Frauen einen strengen Blick.
«‹Wo ist dein Weib?›, fragte der Herr Abraham, und der antwortete: ‹Sarah ist in der Hütte, Herr! Das ist ihre Bestimmung.› So war es, und so sollte es auch bleiben! Aufgrund des natürlichen Anlehnungsbedürfnisses der weiblichen Psyche eignet sich der Mann besonders dazu, in einer Mädchenschule zu unterrichten. Ein verheirateter Lehrer erzieht Mädchen zur edlen Weiblichkeit, statt sie mit unnützen Ideen zu verderben. Und dann auch noch eine Ärztin!» Seine tiefe Entrüstung war fast mit Händen zu greifen.
«Wir leben nicht mehr in Abrahams Zeiten!», ereiferte sich Johanna. «Frauen haben in den vergangenen Jahren vielfach unter Beweis gestellt, dass sie die Intelligenz und die Stärke haben, jedes Fach zu studieren und jeden Beruf zu erlernen.»
«Ach ja? Und was kommt als Nächstes? Die Verwaltung oder gar die Regierung? Es würde unserer Verfassung widersprechen, Männer unter die Leitung einer Frau zu stellen! Kein Mann von Ehre würde unter einer Direktorin in einer Mädchenschule unterrichten.»
Demonstrativ wandte sich Johanna von ihrem Mitreisenden ab, der beleidigt hinter seiner Zeitung verschwand.
Die beiden Frauen tauschten Blicke, dann lenkte das junge Mädchen das Gespräch auf ein weniger politisch brisantes Terrain.
«Haben Ihnen das alles Ihre Eltern ermöglicht?», fragte Johanna und wandte sich erneut an Rahel. «Meinem Vater ist der Sohn versagt geblieben. Ich denke, daher steht er meinen und den Wünschen meiner Schwester offener gegenüber. Haben Sie auch Geschwister?»
Rahel lächelte verschmitzt. «Ja, ich habe eine wunderbare Familie. Und ja, dazu gehören jede Menge Geschwister. Wir waren elf Kinder daheim in Frankfurt!»
Johanna stieß einen überraschten Laut aus.
«Neun Mädchen und zwei Jungen. Meine Brüder haben ebenfalls Medizin studiert, während ich zuerst in Wiesbaden das Lehrerinnenseminar besuchte.»
«Und dann durften Sie auch noch Medizin studieren? Ihre Eltern müssen aber sehr wohlhabend sein», entfuhr es Johanna, die sich sogleich für diese unpassende Bemerkung entschuldigte.
«Sie haben recht, uns ging es immer gut. Trotzdem denke ich, es lag vor allem an der Einstellung meines Großvaters, der ein bekannter Rabbiner war, und meines Vaters, der Mädchenbildung ebenfalls für wichtig hielt. Inzwischen sind beide leider tot. Jedenfalls wurden wir Schwestern nicht in dem Sinn erzogen, lediglich gute Ehefrauen und Mütter zu werden. Ich hatte in meiner Kindheit mehr Freiheiten als die meisten Mädchen und durfte viele Jahre mit den Brüdern und ihren Freunden unbeschwert draußen spielen und toben.»
Rahel lehnte sich in ihren Sitz zurück und genoss sichtlich die Erinnerungen an die schöne Zeit.
«Das hört sich so schön an», sagte Johanna mit Sehnsucht in der Stimme.
Rahel nickte. «Und nicht zu vergessen meine Mutter! Sie war schon immer die wichtigste Person in unserer Familie, nicht nur, weil sie sich um uns Kinder kümmerte. Sie hat sich um alles gekümmert. Mein Vater war ein liebenswürdiger Gelehrter, Direktor der Schule, der sich ansonsten mit religiösen Schriften befasste und nicht mit täglichen Problemen belästigt werden wollte.»
«Ich verstehe, was Sie meinen. Haben Sie sich denn mit allen Geschwistern gleich gut verstanden? Ich habe mit meiner Schwester viel gezankt!»
«Da gab es immer wechselnde Parteien», erwiderte Rahel und schmunzelte. «Mal verbündeten wir uns mit, mal gegen die Jungen, aber am nächsten stand mir schon immer meine Schwester Theresa, die zwei Jahre vor mir geboren ist. Wir sind uns sehr ähnlich. Theresa ist seit Jahren Lehrerin in der Schule, an der auch ich war und die mein Vater bis zu seinem Tod geleitet hat.»
Sie schwiegen eine Weile und sahen in die vorbeihuschende Landschaft hinaus. Dann nahm Johanna noch einmal ihr Mathematikbuch zur Hand und vertiefte sich in seine Seiten.
Berlin!
Rahel verließ den Bahnhof und stand, den Koffer in der Hand, erst einmal staunend da. Eine Droschke hielt neben ihr, der Kutscher beugte sich zu ihr hinunter.
«Wo woll’n Se denn hin, Frollein?»
Rahel wandte sich um und zeigte auf das Schild, auf dem «Potsdamer Bahnhof» zu lesen war.
«Ich bin hier doch am Bahnhof von Berlin, nicht wahr?»
Der Droschkenfahrer lachte. «Sie sind in Berlin, Frollein, det is schon richtich, aber wir ham hier zehn Bahnhöfe in der Stadt. Könn’n Se sich eenen aussuch’n. Also, wo woll’n Se hin?», fragte er noch einmal.
«Zur Charité», gab Rahel Auskunft.
«Ah, ’ne Krankenschwester», sagte der Kutscher und nickte.
«Nein, Ärztin», widersprach Rahel und reckte das Kinn.
Der Droschkenfahrer lachte ungläubig und nannte ihr dann den Preis.
Rahel überlegte. Ihre Mutter hatte ihr zwar Geld mitgegeben, aber sie würde sparsam damit umgehen müssen. Vor allem, weil sie als Volontärärztin erst einmal gar kein Gehalt bekommen würde. Doch da sie in der Charité wohnen und essen konnte, hoffte sie, mit den Ersparnissen der Familie lange genug durchhalten zu können, bis sie irgendwann ihr eigenes Geld verdienen würde.
«Wie weit ist es denn bis zur Charité?», erkundigte sich Rahel.
«Det is zu weit. Det könn’n Se mit dem Koffer nich loofen.»
«Gibt es denn eine billigere Möglichkeit dahinzukommen als mit der Droschke?», fragte sie tapfer, obwohl es ihr peinlich war.
Der Kutscher warf sich in die Brust. «Aber klar! Berlin is ’ne moderne Stadt. Wir ham hier nich nur den alten Pferdeomnibus. In der janzen Stadt fährt auch die Straßenbahn, elektrisch uff Schienen! Weiter draußen ham se so Böjen aus Ziejelsteinen jemauert, uff denen die Bahn langfährt. Untendrunter jibt’s ’n paar jemütliche Kneipen, det kann ick Ihnen sagen. Und ’ne Stadtbahn jibt’s ooch bei uns. Die fährt hier inne Stadt durch ’nen langen Tunnel. Aber mit der komm’n Se nich zur Charité, die fährt nur nach Charlottenburg raus. Am billichsten ist der Pferdeomnibus für fünf Pfennich», fügte er noch hinzu. «Dort drüben uffe Ecke könn’n Se wart’n und frag’n, wo Se umsteig’n müss’n.»
Rahel bedankte sich herzlich und wünschte dem Kutscher einen schönen Tag und viele Fahrgäste. Dann machte sie sich mit ihrem Koffer in der Hand auf zur Haltestelle des Pferdeomnibusses.
Während der Fahrt wuchs ihre Anspannung noch. Was für eine Stadt! Rahel sah aus dem Fenster und bestaunte die prächtigen Gebäude zu beiden Seiten der breiten Straßen. Zuerst folgten sie der Leipziger Straße bis zum Spittelmarkt, dann ging es weiter am Kanal entlang Richtung Norden. Immer wieder kreuzten sie die Schienen der Straßenbahn. Doch es waren auch vornehme private Kutschen neben einfachen Karren von Krämern oder Handwerkern unterwegs. Und natürlich die Automobile! Es knatterte und hupte, dann schoss wieder eine glänzende Karosse an den gemächlich dahintrottenden Pferden vorbei. Rote, schwarze und dunkelgrüne Motorhauben glänzten in der Herbstsonne. Wolken aus Benzindunst und Rauch hüllten die Fahrgäste des Pferdeomnibusses ein und reizten zum Husten. Das konnte nicht gesund sein, dachte Rahel. Auf der rechten Seite erhaschte sie einen Blick auf das kaiserliche Stadtschloss. Dahinter erhob sich die Kuppel des Doms in den Himmel.
Als sie in die von Linden gesäumte Allee einbogen, wurde der Verkehr noch dichter. Rahel wunderte sich, wie all die unterschiedlichen Gefährte vorankamen, ohne sich gegenseitig anzurempeln. An einer belebten Kreuzung sah sie einen Polizisten stehen, der anzeigte, in welche Richtung gerade gefahren werden durfte.
«Unter den Linden», sagte auf einmal der Mann, der hinter ihr saß und sich nun zu ihr vorbeugte. «Sie sind nicht von hier, richtig? Waren Sie denn schon mal in Berlin?»
Die Zutraulichkeit des Fremden überraschte Rahel. Sie drehte sich zu ihrem Mitfahrenden um, der ihr nett und harmlos vorkam, und verneinte.
Nun kam der Herr in Schwung und begann, all die prachtvollen Gebäude rechts und links zu benennen. «Beeindruckend, nicht wahr? Dort drüben ist das Zeughaus. Und daneben, das Gebäude mit den Säulen, das ist die Neue Wache. Auf der gegenüberliegenden Seite sehen Sie die Oper. Und hier auf unserer Seite liegt das ehemalige Prinzenpalais, etwas zurückgesetzt hinter dem schmiedeeisernen Gitter. Das ist schon lange das Hauptgebäude der Universität, die bald ihr hundertjähriges Bestehen feiern darf. Ein moderner Forschungstempel für unzählige Disziplinen», schwärmte der unbekannte Mitfahrer.
Allerdings nicht so modern, als dass hier Studentinnen zum Examen zugelassen würden, dachte Rahel.
An der Ecke zur Friedrichstraße musste sie umsteigen. Sie verabschiedete sich höflich von ihrem Stadtführer und wechselte das Gefährt. Der nächste Omnibus brachte sie bis vor das Tor der königlichen Charité. Dr. Rahel Hirsch war endlich angekommen – am Ziel ihrer langgehegten Wünsche.
Oktober 1903
Theresa, meine geliebte Schwester,
ich bin in Berlin gut angekommen. Wie viele Eindrücke stürzten bereits bei der Fahrt zur Charité auf mich ein! Ach, ich würde Dir gern all die prächtigen Straßen und Palais beschreiben. In einem der prächtigsten Unter den Linden ist die Universität untergebracht, die sich noch immer weigert, Studentinnen aufzunehmen. Wie Du ja weißt … Mehr als ein paar Veranstaltungen als Gasthörerin zu besuchen, ist nicht möglich, und selbst dazu sind nicht alle Professoren bereit. Und gerade in der Medizin verweisen einige nach wie vor jedes weibliche Wesen aus ihrem Hörsaal.
Doch ich will Dir von der Charité berichten, die mich sehr beeindruckt. Das Gelände ist riesig und ummauert, und hier wird eifrig gebaut. Die ersten neuen Gebäude mit ihren neogotischen Klinkerfassaden lassen erahnen, wie großartig das Ensemble irgendwann aussehen wird. Leider sind die Medizinischen Kliniken, die für innere Leiden zuständig sind, noch in einem alten Dreiflügelbau untergebracht. Und ausgerechnet der heißt kurioserweise Neue Charité. Die Pflegekräfte und die Assistenten der Klinik wohnen in Zimmern unter dem Dach.
Eigentlich sind die Ärzte im Flügel gegenüber, doch mir haben die Hauseltern eine Kammer in dem Bereich zugewiesen, in dem auch die Schwestern der Diakonie untergebracht sind. Sie haben wie ich ein eigenes kleines Zimmer, während Pflegerinnen und Pfleger sich Kammern mit mehreren Betten teilen.
Mein Zimmer ist recht bescheiden eingerichtet. Ich habe ein Bett, einen Nachtkasten, eine Kommode und einen kleinen Tisch. Der steht unter dem Fenster, das in den Innenhof hinauszeigt. Aber es ist zum ersten Mal mein eigenes Reich, ich muss es mit niemandem teilen! Ein Bad gibt es am Ende des Ganges.
So gut es ging, habe ich versucht, mich wohnlich einzurichten. Das Foto, das Mutter vergangenes Jahr von der Familie hat machen lassen, steht auf meinem Nachtkasten, daneben ein Bild von Papa. Auf dem Tisch habe ich das Damasttuch ausgebreitet, das Du mir mit so viel Mühe bestickt hast, und darauf steht der kleine silberne Leuchter, den Mutter mir zum Abschied geschenkt hat.
Liebe Theresa, nach unseren schönen Sommerwochen vermisse ich Dich, Mutter und die anderen Geschwister sehr!
Es ist schon recht spät, und ich sollte eigentlich schlafen, doch ich fühle mich so ruhelos. Morgen lerne ich den Direktor und die Kollegen kennen! Ich gebe zu, ich bin ein wenig nervös. Es wäre schön, Du würdest jetzt neben mir sitzen, liebe Schwester, und mir Mut machen. Schließlich bin ich die erste Ärztin, die an der Charité anfängt!
Gerade wandern meine Gedanken nach Zürich und Straßburg. In der Schweiz waren es Professoren und Studenten bereits seit Jahren gewohnt, auch mit studierenden Frauen zu tun zu haben. In Straßburg wurde ich dagegen öfters angestarrt und musste manch spöttische Bemerkung schlucken. Ja, Theresa, dort war man den Anblick von Studentinnen noch nicht gewöhnt. Allerdings gab es auch einige junge Männer, die uns zuvorkommend behandelten – was dann oft dazu führte, dass sie uns den Hof machten. Umso mehr mussten wir Frauen darauf achten, uns tadellos zu benehmen …
Aber jetzt ist nicht die Zeit für alte Geschichten. Ich sehe gespannt dem Morgen entgegen, wenn meine Arbeit an der II. Medizinischen Klinik beginnt!
Ich drücke Dich herzlich!
Vergiss nicht, Mutter und alle anderen von mir zu grüßen, und schreib mir bald!
Deine Schwester Rahel
Barbara Schubert
Barbara blieb stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Sie unterdrückte ein in ihr aufsteigendes Stöhnen. Sie war müde, die Beine schmerzten. Sie fühlten sich an, als sei sie heute mindestens drei Mal um ganz Berlin herumgelaufen. Na ja, ganz so weit war es sicher nicht gewesen, aber sie hatte genug. Dennoch biss sie die Zähne zusammen und machte sich nicht zu Marlenes Wohnung auf, die sie, seit sie vor zwei Jahren nach Berlin gekommen war, mit ihrer Tante und deren Sohn Franz teilte. Er war zwanzig, ein Jahr jünger als sie selbst, und sie kamen ganz passabel miteinander aus.
Barbara war, wie so viele, die vom Land nach Berlin gezogen waren, wieder einmal auf der Suche nach Arbeit. Sie hatte fast alle Adressen, die Marlene und die Nachbarn ihr empfohlen hatten, bereits aufgesucht, doch niemand wollte ihr eine Stelle geben, obgleich sie eine geschickte Näherin war und schnell arbeitete. Es half nichts. Sie hatte ihre Stelle in der Wäschefabrik hinter dem Stettiner Bahnhof nicht durch eigene Schuld verloren. Die Firma, hieß es, habe in letzter Zeit Verluste gemacht, daher mussten zwei Dutzend Arbeiterinnen gehen. Jede von ihnen lief sich jetzt vermutlich die Füße platt auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Wie sie selbst. Es gab einfach zu viele Arbeitssuchende in Berlin. Jede freie Stelle war im Handumdrehen neu besetzt, und Dutzende Suchende mussten enttäuscht und müde wieder von dannen ziehen.
Frierend blieb Barbara vor einem der blank geputzten Schaufenster stehen, hinter denen das goldgelbe Licht eines Kristalllüsters die herbstliche Dämmerung zurückdrängte. Sie betrachtete die feinen Kleider, Mäntel und Kostüme, die hinter der Scheibe in Szene gesetzt waren. Herbstmode in dunklem Rot oder in Naturtönen aus weichen Wollstoffen mit Pelzkragen war im Moment sehr gefragt. Vielleicht hatte Marlene eines dieser Kleider zusammengenäht, welches hier zu einem Preis angeboten wurde, der ein Jahresgehalt verschlingen würde. Barbara seufzte. Sie sah ihre Tante vor sich, wie sie Stunde um Stunde mit gebeugtem Rücken vor ihrer Nähmaschine saß, die längst noch nicht abgezahlt war. Marlene arbeitete für die Firma Hurwitz & Sohn. Sie nähte die von einem Schneidermeister zugeschnittenen Teile zusammen, säumte die Kanten, nähte Knöpfe, Borten und Häkchen an. Pro Kleidungsstück verdiente sie ein paar Pfennige, sodass sie in guten Wochen auf sechs oder sieben Mark kam – wenn sie fleißig jeden Tag zwölf Stunden nähte.
Im Haupthaus der Konfektionsmeister von Hurwitz & Sohn am Hausvogteiplatz entstanden die Entwürfe, dort wurden auch die Farben und Stoffe festgelegt, bevor man die Aufträge an diverse Schneidermeister weiterleitete. Diese Zwischenmeister schnitten dann die einzelnen Teile zu und gaben sie an das Heer der Heimnäherinnen weiter. Marlene war eine von ihnen. Viele Frauen hatten kleine Kinder, die sie zwangen, eine Arbeit im Haus zu verrichten. Marlene hatte damit angefangen, als Franz noch zur Schule ging und ihre kleine Tochter Ida noch nicht einmal den Windeln entwachsen war. Damals hatte Josef auch noch gelebt.
Barbara hatte ihn nie kennengelernt, doch so wie Marlene von ihm sprach, musste er ein guter Ehemann gewesen sein, bis es in der Gießerei der Borsigwerke draußen in Moabit beim Transport des flüssigen Eisens zu einem Unfall gekommen war. Mit schweren Verbrennungen hatte man Josef in die Charité eingeliefert, wo er unter Schmerzen einige Tage später in Marlenes Armen gestorben war.
Das Geld der Sterbekasse, die noch Albert Borsig ins Leben gerufen hatte, reichte gerade einmal für die Beerdigung und die ersten Monate nach Josefs Tod. Seitdem war Marlene mit ihren beiden Kindern auf sich allein gestellt.
In jenem Jahr habe das Glück sie verlassen, sagte sie immer wieder. Denn nur wenig später erkrankte Ida und bekam hohes Fieber. Auch ihr konnte man in der Charité nicht helfen, und Marlene verlor kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag auch ihre kleine Tochter. So freute sie sich, als ihre Nichte Barbara einige Jahre später nach Berlin kam und zu ihr und Franz in die Wohnung zog. Auch weil Barbara ihren Teil der Miete tragen musste und Marlene nicht mehr gezwungen war, fremde Schlafgänger aufzunehmen. Wie viele andere Wohnungen in den grauen Mietskasernen der Arbeiterviertel bestand auch Marlenes Wohnung nur aus einem beheizten Zimmer und einer Kammer. Unten im Hof gab es einen Abtritt für die Bewohner. Vierzig waren sie, ungefähr, Frauen und Männer, die sich diesen Abtritt teilten.
Barbara riss sich endlich von dem Schaufenster los. Sie musste weiter, durfte nicht aufgeben! Denn wenn sie keine Arbeit fand, bestand die Gefahr, dass sie ihre Wohnung verloren. Morgen war der 1. Oktober, einer der beiden «Ziehtage» des Jahres. Konnten sie die Miete nicht bezahlen, mussten sie sich in das Heer der Berliner einreihen, die an diesen Tagen mit Handkarren und Säcken mit ihren Habseligkeiten über den Schultern in den Arbeitervierteln unterwegs waren, um in eine noch billigere Bleibe zu ziehen. Manche zogen auch in die neuen Wohnblocks, die überall am Rand der Stadt entstanden. Die frisch verputzten Wohnungen waren neu, aber noch feucht, und die Wohnungsuchenden zogen ein zum «Trockenwohnen», was so manchem auf die Gesundheit schlug. Denn natürlich durften sie nur so lange bleiben, bis die Wohnung ausgetrocknet war. Danach konnte man sie wesentlich teurer an besserverdienende Bürger vermieten.
Marlene hatte schon oft gesagt, dass sie sich weigern würde, in solch eine Wohnung zu ziehen, zu sehr fürchtete sie sich vor Tuberkulose und Lungenentzündung. Sie würde es schlicht nicht ertragen, noch ein Familienmitglied sterben zu sehen.
Barbara hatte sich kaum umgedreht, als sich die Glastür des Modegeschäfts mit einem Klingeln öffnete und eine junge Dame das Geschäft verließ. Barbara sah den pelzbesetzten Mantel, den reich dekorierten Hut, die behandschuhte Hand. So elegant werde ich nie aussehen, dachte sie und strich über ihren verschlissenen Mantel. Das Kleid, das sie trug, war mausgrau und viel zu weit, aber sie hatte eine hübsche Figur, weibliche Hüften und dazu blitzende blaue Augen. Das lange blonde Haar trug sie hochgesteckt in einem Knoten, aus dem sich manchmal eine Locke löste, die sich frech an ihrem Hals ringelte …
Der Wind frischte auf und jagte kalte Böen die Straße entlang. Barbara war hungrig und durstig und sehnte sich nach einem warmen Ofen, dem sie ihre Füße entgegenstrecken konnte. Aber sie hatte noch etwas vor. Sie hatte gelesen, dass die Charité Wäscherinnen suchte. Vielleicht hatte sie doch noch Glück an diesem Tag. Jedenfalls marschierte sie strammen Schrittes voran, bis sich zu ihrer Linken hinter der langen, schnurgeraden Mauer die Klinikgebäude der Charité erhoben. Barbara bog in die Hannoversche Straße ein. Dort, neben dem Chemischen Institut der Universität, befand sich ihr Ziel: ein graues Gebäude, aus dessen geöffneten Fenstern heißer Wasserdampf in den Herbsthimmel stieg.
Die Vorsteherin des Waschhauses der königlichen Charité, Frau Küfer, war eine dralle Person mit buschig grauem Haar, das strähnig unter ihrer Haube hervorlugte. Sie war kaum größer als Barbara, hatte graue Augen und rote Wangen, doch ihre zu einem Strich zusammengepressten Lippen warnten davor, sie zu unterschätzen. Barbara ahnte, dass sie das Waschhaus mit strenger Hand führte und keine Nachlässigkeiten durchgehen ließ.
Frau Küfer zog sich hinter einen fleckigen Schreibtisch zurück und studierte aufmerksam Barbaras Unterlagen.
«Das wäre jetzt also die vierte Stelle, die du innerhalb von zwei Jahren antrittst», sagte sie.
«Es war nich meine Schuld, dass ich entlass’n wurde», stieß Barbara hervor.
«Das hab ich auch nicht behauptet», stellte die Vorsteherin fest. «Aber nicht immer steht in solchen Schreiben die ganze Wahrheit. Es gibt unter Männern und Frauen solche, die fleißig arbeiten, und solche, die mehr reden und aufwiegeln und sogar nach den Gewerkschaften schreien. So was bringt nur Ärger, den ich hier in meinem Waschhaus nicht dulde!»
«Ich bin fleißig und scheu die Arbeit nicht», sagte Barbara fest und hielt dem Blick aus grauen Augen stand.
Die Tür öffnete sich, und ein großgewachsener Mann in Uniform trat ein. Die Vorsteherin erhob sich von ihrem Stuhl.
«Ist das eine Bewerberin?», erkundigte sich der Mann.
«Ja, Herr Direktor», presste Frau Küfer hervor.
Der Mann musterte Barbara. Dann lächelte er. «Sie scheint mir tüchtig zu sein. Und hübsch ist sie obendrein.»
Die Lippen der Vorsteherin wurden noch schmaler.
«Wenn es also nichts gibt, was dagegenspricht, dann geben Sie ihr die Stelle, Frau Küfer.»
Barbara wusste nicht, ob der Zufall, der den Herrn Direktor in diesem Augenblick hierhergeführt hatte, ihr Glück war, und sie wagte kaum, die Vorsteherin anzusehen. Doch als diese nickte, durchströmte Barbara eine Welle der Erleichterung.
«Nein, gibt es nicht, Herr Direktor. Sie kann morgen anfangen.»
«Gut, Frau Küfer, dann machen Sie den Vertrag fertig und lassen Sie Fräulein …?»
«Schubert. Barbara Schubert», beeilte sich Barbara zu sagen.
«… dann lassen Sie Fräulein Schubert unterschreiben.» Damit verabschiedete er sich und verschwand.
Frau Küfer gab ein Geräusch von sich, das sich fast wie ein Knurren anhörte, doch dann löste sich die Spannung in ihrem Gesicht. Sie streckte Barbara die Hand entgegen. «Dann willkommen, Fräulein Schubert. Wir fangen um sechs Uhr an, pünktlich!»
Die II. Medizinische Klinik
Rahel atmete tief durch, ehe sie an die Tür klopfte. Drinnen blieb es ruhig.
«Wollen Sie zu mir?», ertönte eine sonore Stimme hinter ihr.
Rahel zuckte zusammen und fuhr herum. Ein Mann in einem langen hellgrauen Mantel und mit einem Schlapphut auf dem Kopf blickte ihr mit einem Lächeln direkt in die Augen. Er war nicht größer als sie selbst, hatte eine breite Nase und trug einen Spitzbart, in dem sich bereits die ersten weißen Fäden zeigten. Er nahm den Hut vom Kopf und deutete eine Verbeugung an.
«Ich vermute, Sie sind Fräulein Rahel Hirsch?» Er streckte ihr die Hand entgegen.
«Ja», sagte Rahel leise und reichte ihm die ihre.
Ein warmer, fester Händedruck.
«Sind Sie …?»
Er fiel ihr ins Wort. «Friedrich Kraus, ja, Doktor, Professor und seit kaum einem Jahr Direktor der II. Medizinischen Klinik der Charité für Innere Medizin. Sie sind früh dran.»
«Ich wollte an meinem ersten Tag nicht zu spät kommen», sagte sie.
«Nur an Ihrem ersten Tag?», feixte der Direktor
«Nein, natürlich nicht!», entgegnete Rahel rasch. Dann erst bemerkte sie sein spitzbübisches Lächeln und die vor Vergnügen zusammengekniffenen Augen, um die sich ein Kranz kleiner Fältchen bildete.
Professor Kraus ließ nicht erkennen, ob er ihre Verlegenheit bemerkte. Stattdessen öffnete er die Tür zu seinem Büro und forderte sie auf einzutreten. «Fräulein Hirsch – Doktor Hirsch!», verbesserte er sich. «Es ist mir eine Freude, Sie als Volontärärztin hier an der Charité begrüßen zu dürfen.»
«Es ist mir eine Ehre, dass Sie so viel Vertrauen haben, mich als Assistentin einzustellen», erwiderte Rahel ernst.
«Sie meinen, weil Sie eine Frau sind?» Der Direktor machte eine wegwerfende Handbewegung, hängte seinen Mantel auf und ließ sich dann auf seinen Sessel hinter dem Schreibtisch aus dunklem Holz fallen.
«Die Zeiten ändern sich eben. Setzen Sie sich! Sie haben ein glänzendes Examen vorzuweisen, und ich erkenne aus Ihrem bisherigen Lebensweg Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Intelligenz und Fleiß. Ich bin überzeugt, Sie passen gut hierher.»
Rahel senkte den Blick. «Danke, Herr Direktor.»
«Sehen Sie mich an!» Kraus beugte sich vor und schaute sie aus verengten Augen aufmerksam an. «Wissen Sie, wo Sie sich befinden? Die königliche Charité ist nicht nur ein berühmtes Krankenhaus, an dem es viele bahnbrechende Entdeckungen in der Medizin gegeben hat. Sie ist auch immer noch das Ausbildungskrankenhaus des Militärs. Dessen müssen Sie sich bewusst sein, Fräulein Hirsch. Zwar gibt es zunehmend zivile Assistenten und auch Direktoren wie mich, die von außerhalb kommen und nicht die militärische Laufbahn durchschritten haben, aber das Militär ist hier, sagen wir, sehr präsent. Für manche zählt nur ein militärischer Rang, sie akzeptieren höchst widerwillig die ärztliche Hierarchie. Daher gebe ich Ihnen einen Rat: Lassen Sie sich nicht zu sehr von Uniformjacken und Goldknöpfen beeindrucken. Sie werden es mitunter schwer haben, weil Sie nicht nur ziviler Assistent, sondern auch noch eine Frau sind. Aber merken Sie sich: Ich bin der Direktor der II. Medizinischen Klinik, und ich bin Ihr Vorgesetzter. Wann immer Sie auf Schwierigkeiten stoßen, kommen Sie zu mir. Und geht es um Probleme, die außerhalb meiner Zuständigkeit liegen, kläre ich diese mit dem ärztlichen Direktor, Generalarzt Schaper. Sie aber sind ganz allein mir unterstellt, und Sie finden bei mir immer ein offenes Ohr.»
Rahel schluckte. «Danke!», stieß sie hervor. «Ich werde daran denken.»
Kraus lehnte sich wieder in seinem bequemen Ledersessel zurück und strich sich mit der Linken den grau melierten Spitzbart. «Lassen Sie mich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen», begann der Direktor. «Ich war noch nicht lange hier, als ich einen meiner Volontärärzte mit einer wissenschaftlichen Arbeit betraute und ihm ein Zimmer in der Klinik anwies, das er für seine Versuche benutzen sollte. Dieses Zimmer gehörte zur Station einer meiner Assistenzärzte. Nennen wir ihn Stabsarzt S. Dieser stolzierte in das Labor und verbot meinem Volontär, die Versuche in seinem Zimmer fortzusetzen. Also rief ich den Herrn Stabsarzt zur Ordnung und erinnerte ihn daran, dass ich der Direktor dieser Klinik bin, woraufhin sich Stabsarzt S. krankmeldete, was beim Militär die offizielle Art ist, eine Beschwerde einzureichen. Außerdem beklagte er sich über mich bei der Militärbehörde!»
«Das ist dreist!», entfuhr es Rahel. «Wie haben Sie reagiert?»
«Um die Sache ein für alle Mal zu klären, sprach ich mit Schaper und sagte ihm, ich würde meinen Abschied einreichen, sollte S. nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden versetzt werden.»
«Eine Machtprobe», vermutete Rahel.
Kraus nickte. «Ja. Und, wie Sie sehen, ich bin immer noch hier. Seitdem hat keiner der Stabsärzte mehr versucht, mich herauszufordern. Merken Sie sich das, Fräulein Hirsch! Auch Sie müssen gleich zu Anfang klare Grenzen setzen. Wenn Sie das alleine nicht schaffen, dann kommen Sie zu mir. Ich habe Sie eingestellt, und ich stehe zu meiner Entscheidung!»
Rahel erhob sich und drückte noch einmal die Hand des Direktors. «Ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir entgegenbringen. Ich werde hart arbeiten und Sie nicht enttäuschen.»
Direktor Kraus lächelte. «Davon bin ich überzeugt. Und nun zeige ich Ihnen die Klinik.»
Rahel folgte Professor Kraus durch die Abteilungen der II. Medizinischen Abteilung.
«Wir waren leider nicht die Ersten, die mit einem neuen Klinikgebäude beglückt wurden», sagte er und schnitt eine Grimasse. «So mancher nennt die sogenannte Neue Charité, an der nun rein gar nichts mehr neu oder modern ist, ‹das Gefängnis›. Sie haben bei Ihrer Ankunft sicher gesehen, wie man auf solch einen Gedanken kommen kann. Seit 1836 wurde hier so gut wie nichts mehr erneuert. Es wird also dringend Zeit für unseren Neubau!»
Er führte Rahel durch diverse Säle, in denen Brustkranke lagen oder Patienten mit Fieberkrankheiten. In einem anderen Zimmer lagen Kranke mit Geschwüren oder Nierensteinen. Und natürlich waren die Männer und Frauen streng voneinander getrennt. In den Frauensälen sah Rahel, dass die Pflegekräfte vor allem die Tracht der Diakonissen trugen; diese waren dafür bekannt, dass sie sich mit großer Hingabe um ihre Patientinnen kümmerten. In den Männersälen waren Wärter unterwegs, die einen rauen Ton anschlugen, aber auch Krankenschwestern, die blau-weiß gestreifte Charitékleider trugen.
«Unsere Patienten klagen zu Recht über eng belegte Säle und unzureichende sanitäre Einrichtungen. Und wir Ärzte klagen über zu kleine Labore, wo wir nur eingeschränkt unsere Forschungen betreiben können. Sie haben sich mit dem Zuckerstoffwechsel beschäftigt, Fräulein Hirsch?»
«Ja, meine Dissertation war ein kleiner Beitrag zu dem großen Rätsel der Glykolyse.» Rahel lächelte scheu, erkannte aber sein Interesse und fuhr ermutigt fort: «Ich habe unzählige Versuche mit gehacktem Gewebe von Leber und Bauchspeicheldrüse durchgeführt, um herauszufinden, wer oder was den Zucker im Blut frisst. Leberzellen bauen den Zucker in einer Lösung langsam ab. Dieser Abbau verstärkt sich auffällig, wenn man ein Stück Pankreas zugibt. Das Bauchspeicheldrüsengewebe allein hat auf die Zuckerkonzentration allerdings keinen Einfluss. Es muss also im Körper etwas produzieren, das in die Leber gelangt und dort Zucker in seine Bestandteile aufspaltet. Solange wir diesem Rätsel nicht auf die Spur kommen, können wir auch die Ursache des Diabetes nicht erkennen und warum diese Patienten süßen Urin ausscheiden.»
Kraus nickte. «Ich habe Ihre Doktorarbeit gelesen. Sehr interessant. Sie haben bei meinem verehrten Lehrer Hofmeister promoviert. Der beste Mann, wenn es um physiologische Chemie geht!»
Rahel kam der Gedanke, dass sie diesem Umstand die Stelle in der Kraus’schen Klinik verdankte. Professor Hofmeister hatte ein paar freundliche Zeilen geschrieben, die offensichtlich ihren Zweck erfüllt hatten.
Der Direktor erzählte Rahel das Wichtigste über jeden Patienten, ohne dass er in den Unterlagen hätte nachsehen oder auch nur einen Blick auf das Namensschild und die Fieberkurve hätte werfen müssen, die an jedem Krankenbett befestigt waren. Als sie den letzten Krankensaal verließen, war die Visite bereits vorbei, sodass sie die meisten Assistenten bei ihrer Forschungsarbeit in den Laboren antrafen.
Die Labore, die Rahel zu Gesicht bekam, waren eher Kammern, so winzig waren sie, und auch ihre Ausstattung mutete eher altmodisch an. Professor Kraus stellte ihr seine Assistenten vor: «Dies sind die Herren Dr. Steyrer, Dr. Mohr und Dr. Böninger. Mein geschätzter erster Assistent Umber hat die Charité zu meinem Bedauern vor kurzem verlassen, um in Altona die Innere Abteilung zu leiten. Leider hat er auch meinen Assistenten Theodor Brugsch mitgenommen.»
Rahel reichte jedem die Hand und versuchte, sich die Namen und die Forschungsgebiete zu merken. Sie lächelte, doch die meisten Mienen blieben starr, und wenn sie meinte, eine Reaktion zu bemerken, dann war es eher ein Staunen oder manchmal vielleicht sogar eine Ablehnung. Ihr war klar, dass es nicht leicht werden würde, das Vertrauen der Kollegen zu gewinnen. Gerade in Berlin war eine Ärztin immer noch ein exotisches Wesen, das Misstrauen hervorrief.
Kraus und Rahel verließen die Labore und gingen weiter. Auf einem Flur begegneten ihnen zwei weitere Ärzte, die wie Rahel noch neu in der Charité waren. «Julius Citron und Gustav von Bergmann, Sohn unseres großen Professors Ernst von Bergmann, Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik in der Ziegelstraße», stellte der Direktor die jungen Ärzte einander vor.
Ernst von Bergmann – diesen Namen kannte Rahel. Der berühmte Arzt hatte die Asepsis bei der Wundheilung eingeführt und sich als Hirnchirurg einen Namen gemacht. Außerdem war er Vorsitzender der berühmten Berliner Medizinischen Gesellschaft, die sich jeden Mittwochabend im Langenbeckhaus in der Ziegelstraße traf, um bei Vorträgen den neuesten medizinischen Forschungsergebnissen zu lauschen.
Rahel gab sich für einen Moment dem Tagtraum hin, genau dort am Podium zu stehen, während sie den gespannt lauschenden Ärzten ihre Forschungsergebnisse vortrug. Ach, wenn ihr Großvater das noch erleben könnte! Wie stolz wäre er auf seine Enkelin.
«Dr. Hirsch? Sehen Sie mal, wer sich hierher in meine Klinik verirrt», rief der Direktor plötzlich. «Lieber Brugsch, wie geht es Ihnen in Altona? Was macht die Arbeit?»
Ein Mann in Zivil trat zu ihnen und strahlte Kraus mit einem jungenhaften Lächeln an. Er sah gut aus, war groß und schlank, das Gesicht bartlos und mit angenehm männlichen Zügen. Vermutlich lag es an dem Lächeln, das seine Augen warm leuchten ließ, was ihn vom ersten Augenblick an sympathisch machte. Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
«Ganz prächtig, Professor Kraus», sagte Brugsch. «Wir haben in Altona weniger alte Menschen auf der Station. Eher junge, kräftige Hafenarbeiter. Interessante Fälle, im Moment viel Lungenentzündung, aber auch Alkoholiker im Delirium, denn in der kalten Jahreszeit arbeitet es sich draußen am Wasser nur mit viel Köm. So nennen sie den gelblichen Brand. Außerdem haben wir Fälle von Gelenkrheumatismus, was vermutlich auch von der kühlen Feuchte am Hafen kommt.»
Brugsch schenkte seinem ehemaligen Chef noch ein Lächeln, dann wanderte sein Blick zu Rahel. Sie konnte die Frage in seinen Augen sehen, doch ehe sie reagieren konnte, stellte Kraus sie einander vor.
«Doktor Rahel Hirsch», wiederholte Brugsch und schüttelte ihr lange die Hand. «Das ist ja mal eine Überraschung. Eine Volontärärztin in der Charité! Da bedaure ich ja fast, dass ich weggegangen bin.»
Versuchte er etwa, mit ihr zu flirten? In solchen Dingen hatte Rahel keine Übung. Außerdem fand sie so etwas in Anwesenheit des Direktors höchst unpassend. Verlegen blickte sie zu Boden.
Doch Brugsch war anscheinend nicht zu bremsen. «Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Stelle hier, denn Sie sind bei einem der großartigsten Mediziner unserer Zeit gelandet.»
«Schmeichler!», wehrte Kraus ab, doch es schien ihm nicht unangenehm zu sein.
«Nein, das ist wahr», bekräftigte Brugsch.
Rahel hob die Lider und sah ihn verstohlen an. Was für ein netter junger Mann. Er musste jünger sein als sie, vielleicht Mitte zwanzig. Vermutlich hatte er direkt nach dem Abitur mit dem Studium begonnen und nicht wie sie mit einer anderen Ausbildung viel Zeit verloren.
«Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?», erkundigte sich der Direktor.
«Ich habe einige Unterlagen vergessen, die ich für meine Versuche in Altona brauche. Und ich weiß leider nicht mehr, wo ich sie gelassen habe», fügte Brugsch mit einem weiteren entwaffnenden Lächeln hinzu.
Der Professor brummte etwas von Ordnung und Disziplin.
«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?», rutschte es Rahel heraus, die sich über sich selbst wunderte.
Wieder dieses warme Lächeln, das seine Augen funkeln ließ. «Aber gern. Das eine ist eine graugrüne Mappe mit meinem Namen drauf, das andere ist eine Sammlung loser Blätter, die ich, so glaube ich, in eine dunkelblaue Aktenmappe gelegt habe.»
«Gut», sagte Kraus, «dann helfen Sie Brugsch. Aber machen Sie sich darauf gefasst, Fräulein Hirsch, das wird eine Weile dauern.» Er überlegte kurz. «Sie können danach für heute Schluss machen. Doch ich warne Sie: Das wird für lange Zeit der einzige Tag sein, an dem Sie so früh Feierabend haben. Ich lege großen Wert darauf, dass meine Assistenten neben ihrer täglichen Arbeit auch ihre Forschungsprojekte vorantreiben. Ich lasse Ihnen dabei freie Hand. Seien Sie neugierig!»
Rahel nickte. «Ich freue mich auf beides, die Patienten und die Forschung», sagte sie ehrlich.
Direktor Kraus verabschiedete sich, und Rahel folgte dem jungen Dr. Brugsch in eine mit Papierstapeln, Büchern und Aktenmappen vollgestopfte Kammer.
«Ich fürchte, die Sachen sind hier gelandet», sagte er. «In meinem früheren Labor sind sie jedenfalls nicht mehr.
Rahel fragte sich, was sie nur geritten hatte, ihm ihre Hilfe anzubieten. Sie kannte sich hier doch gar nicht aus und wäre sicher besser beraten gewesen, sich von Professor Kraus Anweisungen für ihre Arbeit mit den Patienten zu holen. Nun aber saß sie in der Falle und konnte nicht zurück, denn das wäre sehr unhöflich gewesen.
«Fangen Sie doch mal dort drüben im Regal an, ich mache mich hier ans Werk», schlug Brugsch vor.
Rahel begann, eine Mappe nach der anderen herauszuziehen. Um die eintretende Stille zu durchbrechen, wandte sie sich an Brugsch: «Welche Forschungen betreiben Sie in Altona?»
«Ich beschäftige mich mit Harnsäureausscheidung und fettspaltenden Fermenten des Magen-Darm-Kanals, und ich interessiere mich dafür, was sich im Körper unter dem Einfluss extremen Hungers im Stoffwechsel verändert. Außerdem möchte ich die Funktion der Bauchspeicheldrüse weiter erforschen.»
«Oh, ich habe über den Zuckerabbau der Leber unter Einwirkung der Bauchspeicheldrüse promoviert», sagte Rahel, und schon waren sie in ein Fachgespräch verwickelt.
Ein Glücksgefühl durchströmte Rahel. Ja, genau so hatte sie es sich erträumt. Sich mit Kollegen wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Ihren eigenen Standpunkt klarzumachen, während ihr Gegenüber aufmerksam zuhörte und ihre Argumentation bewertete, um dann fachlich fundiert zu erwidern, was sie ihrerseits überprüfen konnte.
Es schien Brugsch nicht im mindesten zu stören, dass er mit einer Frau sprach. Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, dass er sie behandelte wie seinesgleichen. Wie gut das tat! Schade, dass er die Charité verlassen hatte. Mit ihm hätte sie wahrscheinlich problemlos zusammenarbeiten können …
Auf einmal hielt sie eine blaue Mappe mit Blättern in der Hand, die kreuz und quer mit Bemerkungen und Zahlen bedeckt waren. «Könnte es diese sein?», erkundigte sich Rahel und hielt sie Brugsch hin.
«Ja! Sie sind ein Schatz. Jetzt fehlt nur noch die grüne Mappe. Aber sehen Sie dort oben, das könnte sie sein.» Er schob eine Leiter ans Regal und erklomm die Sprossen. «Gefunden!», rief er. «Das ging schneller als erwartet.»
Rahel hatte das Gefühl für die Zeit verloren, doch als sie die fensterlose Kammer verließen, sah sie, dass die Sonne bereits untergegangen war. Gemeinsam traten sie aus dem Spital in den kühlen Herbstabend.
«Virchows Vermächtnis!», sagte Brugsch mit Bewunderung in der Stimme, als sie auf das neue Pathologische Institut mit dem angeschlossenen Museum zuschritten.
Wie gern hätte Rahel den berühmten Pathologen kennengelernt, doch er war im vergangenen Jahr unerwartet verstorben. An den Folgen eines Sturzes. Beim Verlassen einer Straßenbahn hatte er sich den Oberschenkelhals gebrochen.
«Kannten Sie ihn?», erkundigte sie sich.
Brugsch nickte. «Ja, ich bin ihm bereits als Schüler begegnet, als ich meinen Vater eines Abends begleitete. Virchow fragte mich über lateinische Lektüre aus und dann auch noch über Grammatik.»
«Und, wie haben Sie sich geschlagen?», fragte Rahel.
«Es war fürchterlich! Ich habe mich so sehr vor dem berühmten Geheimrat Virchow geschämt. Er sagte zu meinem Vater, die Schüler von heute wären weniger gebildet und würden zu wenig Latein lernen.»
«Aua», kommentierte Rahel und lachte.
Brugsch fiel in ihr Lachen ein. «Sie sagen es! Danach habe ich in den Lateinstunden tatsächlich besser aufgepasst. Leider war das nicht das letzte Mal, dass ich mich vor ihm blamierte. Es gab später, als ich seine Vorlesungen besuchte, noch reichlich Gelegenheit dazu.»
«Sie haben ihn gemocht, oder?», vermutete Rahel.
«Gemocht, gefürchtet und bewundert», ergänzte Brugsch. «Er war ein wahrlich großartiger Mann.»
Zwischen Ziegelstapeln und Sandbergen schlenderten sie auf Professor Heubners neue Kinderklinik zu, die bereits ihren Betrieb aufgenommen hatte, obgleich noch immer einige Bauarbeiten nicht beendet waren.
«Ich hoffe für Direktor Kraus, dass sein neues Klinikgebäude nun bald gebaut wird und er umziehen kann. Dann gibt es endlich genügend Raum für die Forschung und natürlich auch Krankenzimmer und Bäder, die den Anforderungen der heutigen Zeit entsprechen.»
Sie erreichten das Tor. Brugsch blieb stehen und wandte sich ihr zu.
«Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenlernen zu dürfen, Dr. Hirsch.»
Rahel ergriff die ihr entgegengestreckte Hand. «Danke. Das Kompliment kann ich nur erwidern. Schade, dass Sie von hier weggegangen sind.»
«Ja, schade», bestätigte er und zwinkerte ihr zu. Dann wandte er sich ab und schritt durch die Dunkelheit davon.
Marlene
Barbara stapfte die Treppen bis in die vierte Etage hinauf. Trotz der späten Stunde liefen Kinder kreischend durch die Gänge, Männer polterten und Frauen schimpften. Schwaden von gekochtem Kohl, Zwiebeln und geschmortem Gemüse zogen durch das Treppenhaus. So wie die Häuser zunehmend schäbiger wurden, je weiter sie von der einzig schönen Fassade an der Hauptstraße entfernt standen, so wurden die Innenhöfe zunehmend dunkler und kleiner; drei bis vier Innenhöfe waren keine Seltenheit in Berlin.
Auch die Stockwerke unterschieden sich. Gab es im ersten Stock häufig Wohnungen mit Küche und mehreren Zimmern, so nahm deren Größe nach oben und dem Keller zu ab. Unter dem Dach war es im Sommer unerträglich heiß und im Winter zugig, aber in den unteren Wohnungen war es noch schlimmer, denn diese trockneten nie vollständig aus. Es roch nach Moder und Schimmel, und nicht selten wurden die Bewohner lungenkrank.
Barbara lebte mit Marlene und Franz nördlich des Oranienburger Tors, doch in den Arbeitervierteln im Wedding, in der Luisenstadt oder in Friedrichshain sah es bestimmt nicht anders aus. Und noch elender waren vermutlich die Quartiere im Scheunenviertel nördlich des Alexanderplatzes, denn dort lebten die Ärmsten der Stadt und die meisten Huren, die sich zu Tausenden nachts auf den Straßen herumtrieben.
Sie stieß die Wohnungstür auf. «Marlene?»
Es war dunkel. Seltsam. Sie entzündete eine Lampe und sah, dass Marlenes Nähmaschine noch auf dem Tisch stand. Zugeschnittene Stoffe waren über einen Hocker gebreitet. Auf dem Tisch lagen Knöpfe, Fadenrollen und andere Dinge, die sie für ihre Arbeit benötigte. Nur Marlene fehlte.
Barbara trat an den Ofen. Er war kalt. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Normalerweise hätte Marlene den Ofen längst angeheizt, und das Abendessen müsste in einem Kessel bereit sein, doch außer einer Handvoll Gemüse, das Marlene bereits am Morgen geschnitten hatte, war vom Abendessen nichts zu sehen. Barbara kaute auf ihrer Lippe. Auch Franz war nicht da, was allerdings nicht ungewöhnlich war. Um diese Zeit saß er vermutlich mit seinen Kumpeln in der Kneipe. Ihr Blick wanderte zur geschlossenen Tür der kleinen Kammer, die sie sich mit Marlene teilte; Franz musste sich mit dem Sofa unter dem Fenster des größeren Zimmers begnügen. Zögernd öffnete Barbara die Tür einen Spaltbreit. Der schwache Lichtschein vom Tisch her strich über eine Gestalt, die zusammengekrümmt im Bett lag, die Decke bis über den Kopf gezogen.
«Marlene? Was is mit dir?»
Bevor Barbara die Kammer betreten konnte, hielt Marlenes Stimme sie mit ungewohnter Schärfe zurück. «Nee, bleib weg. Mir is nich jut! Kannste für dich und Franz wat zu ess’n mach’n?»
Zögernd blieb Barbara stehen. «Ja, natürlich. Und du? Möchtest du nix, Marlene?»
«Nee, mir is nich jut», wiederholte ihre Tante.
«Was haste denn? Is es der Magen? Haste Fieber?» Barbaras Blick huschte zurück zu dem Berg zugeschnittener Stoffe, die noch genäht und pünktlich ausgeliefert werden mussten. Wenn es Marlene zu schlecht ging, würde sie selbst die halbe Nacht nähen müssen … Dabei musste sie doch morgen pünktlich um sechs im Waschhaus erscheinen!
Auch wenn Marlene sicher nichts für ihren Zustand konnte, verspürte Barbara doch einen Hauch von Ärger. Sie war von ihrer langen Arbeitssuche erschöpft und brauchte ihren Schlaf. Andererseits brauchten sie auch Marlenes Lohn. Wenn Marlene ihre Arbeit verlor, waren sie so weit wie vorher. Ihr eigener Verdienst im Waschhaus würde auf keinen Fall für die Miete und alles andere reichen, und auf Franz war kein Verlass. Er hatte zwar im Moment eine Arbeit, aber meist war er nicht bereit, ebenfalls seinen vollen Anteil in die Haushaltskasse zu legen. Marlene war immer viel zu gutmütig, anstatt ihm mal so richtig die Leviten zu lesen. Aber es war ihr Sohn, der Einzige der Familie, der ihr noch geblieben war. Außer sie selbst, aber sie war eben nur die Nichte.
Es nutzte nichts, weiter zu grübeln. Barbara ließ die Tür zur Kammer offen und machte sich daran, das Herdfeuer in Gang zu bringen. Dann stellte sie einen Topf mit Wasser auf und warf das bereits geschnittene Gemüse und ein paar Knochen mit Fleischresten hinein. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie doch eigentlich Gutes zu berichten hatte.
«Ich muss dir was erzähl’n», begann sie mit erhobener Stimme, damit Marlene sie auch hören konnte. «Ich fang morgen in der Wäscherei von der Charité an. Ich soll da auch näh’n, wenn was geflickt werd’n muss.»
«Det is jut», erklang Marlenes Stimme ohne allzu große Begeisterung.
Wieder musste Barbara ihren Ärger unterdrücken. Sie hatte sich die Füße wund gelaufen, um eine neue Stelle zu finden. Ein wenig mehr Freude wäre sicher angebracht!
Ging es Marlene wirklich so schlecht? Ob es etwas Ernstes war? Musste sie vielleicht in die Charité gebracht werden? Könnten sie ihr dort überhaupt helfen? Nach allem, was sie bis jetzt gehört hatte, hatte Barbara keine allzu gute Meinung von den Ärzten und dem Krankenhaus, aber wenn Marlene krank war, musste sie sich kümmern. Außerdem liebte sie ihre Tante inzwischen wie eine Schwester oder Mutter, und sie hatte ihr viel zu verdanken!
Barbara schälte Kartoffeln, schnitt sie in Würfel und ließ die Stücke ins Wasser gleiten. Mit einem Knall legte sie den Holzlöffel neben den Topf, wandte sich um und griff nach der Lampe. Ihr war es egal, welche Krankheit Marlene befallen hatte. Es musste ihr wirklich schlechtgehen, so wie sie sich verhielt. Wie könnte Barbara sie da einfach allein in ihrer Kammer liegen lassen? Sie würde sich um Marlene kümmern.
«Nee!», rief Marlene entsetzt.
Barbara starrte irritiert auf die völlig verhüllte Gestalt.
«Geh raus!», ertönte es, doch Barbara setzte sich an den Rand des Bettes und zog energisch das Deckbett von Marlenes Kopf. «Du kannst nich …», begann sie, dann stieß sie einen Schrei aus. «Guter Gott, was is passiert?» Ungläubig glitt ihr Blick über Marlenes übel zugerichtetes Gesicht. So ähnlich hatte Franz im letzten Jahr ausgesehen, als er sich in einer Kneipe mit ein paar Studenten geprügelt hatte.
Sie griff nach Marlenes Händen, sah, dass die Ärmel ihres Kleides zerrissen waren und voller Dreck und Blut.
«Ick bin die Treppe runtergefall’n», sagte Marlene und mied den Blick ihrer Nichte.
«Würdest du mir so ’ne miese Ausrede glaub’n?», fragte Barbara streng.
Marlene schossen Tränen in die Augen und rannen über ihre aufgeschürfte Wange.
«Das war doch nich der Franz?», stieß Barbara mit einem Aufkeuchen aus.
«Nee! ’türlich nich!», rief Marlene empört.
Barbara erhob sich, und ehe Marlene begriff, was sie vorhatte, zog sie ihr mit einem Ruck die Decke ganz weg. Marlene schrie auf, während Barbara vor Entsetzen verstummte.
Marlene schluchzte und verkroch sich erneut unter der Decke, doch ihre Nichte hatte schon genug gesehen, um zu begreifen: Auch der Rock war zerrissen, Schmutz und Blut bedeckten Marlenes Beine, die sie ganz eng an den Körper gezogen hatte.
Barbara spürte, wie ihre Knie weich wurden. Kraftlos ließ sie sich noch einmal aufs Bett sinken. «Wer war das? Wer hat das getan?»
Marlene wischte sich mit dem Zipfel der Decke über das Gesicht. «Woher soll ick det wiss’n?», flüsterte sie mit rauer Stimme. «Denkste denn, ick bin mit solchen Männern bekannt?»
«Männern? Du meinst, das war’n mehrere?», fragte Barbara leise.
«Zweie», gab Marlene widerstrebend zu.
«Und du hast sie nich erkannt?»
Marlene schüttelte den Kopf. «Es war schon dunkel», sagte sie, doch Barbara hatte den Verdacht, dass sie log.
«Wir müss’n zur Polizei gehen. Wir müss’n die anzeig’n!»
«Wozu?», fauchte Marlene. «Denkste, det ändert wat?»
«Nee, das macht nix ungeschehen», räumte Barbara ein. «Aber willste denn nich, dass die bestraft werd’n?»
Marlene barg das Gesicht in den Händen. «Die auf der Wache glaub’n mir eh nich.» Vermutlich war ihr allein der Gedanke, einem Polizisten von ihrer Schande zu erzählen, unerträglich.
Barbara legte den Arm um ihre Schulter. «Weißte was? Ich mach jetzt Wasser heiß und richte dir drüben ’ne Wanne. Dann ziehst du dich aus und wäschst dich. In einem saubren Kleid fühlste dich bestimmt gleich besser.»
Es dauerte eine Weile, bis die Zinkwanne gefüllt war. Barbara streute getrocknete Kamillenblüten ins Wasser, die hoffentlich verhindern würden, dass sich die Wunden entzündeten. Dunkle Schlieren wirbelten in der Wanne, als sich Marlene vorsichtig ins Wasser sinken ließ, das Gesicht zu einer Grimasse verzerrt. Barbara packte ihre Kleider in einen Beutel und schob diesen in die Ecke neben dem Ofen. Dann holte sie frische Wäsche, Strümpfe und Marlenes zweites Alltagskleid und legte alles neben das Handtuch aufs Sofa. Sie kniete sich neben die Wanne und wusch Marlene sanft den Rücken, an dem sich bereits erste blaue Flecken zeigten. Marlene wimmerte leise, doch sie saß nur stocksteif da und ließ Barbara gewähren.
Die nahe Kirchturmuhr schlug sechs, als Barbara durch das offene Gittertor in den Hof trat. Offensichtlich war sie eine der letzten Arbeiterinnen, die in das Gebäude der Wäscherei drängten.
«Barbara, auf ein Wort!» Frau Küfer empfing sie mit finsterer Miene. «Wenn es heißt, wir beginnen um sechs, bedeutet das, dass du um sechs Uhr an deinem Arbeitsplatz bist!» Offensichtlich hatte sie sich entschieden, Barbara auch weiterhin zu duzen.
«Es tut mir leid, Frau Küfer», sagte Barbara und unterdrückte ihren aufsteigenden Unmut. «Aber ich weiß nich, wo mein Arbeitsplatz is.»
Frau Küfer starrte sie an und überlegte. «Komm mit, ich will sehen, wo du gebraucht wirst. Wir haben im Moment vierunddreißig Wäscherinnen und Näherinnen angestellt. Neben dem Inspektor gibt es einen Heizer, einen Kesselwärter und einen Wächter.»
Barbara folgte der Vorsteherin durch verschiedene Räume, in denen die Frauen schon emsig bei der Arbeit waren.
«Wir bekommen die Wäsche einmal pro Woche», erklärte Frau Küfer. «Jede Abteilung sammelt sie in verschlossenen und beschrifteten Wäschesäcken. Dann wird gezählt und sortiert, das hängt vom Stoff ab und von der Verschmutzung. Leicht verschmutzte Wäsche kommt direkt in die Maschinen, stark verschmutzte Wäsche wird mit einem Kilo Soda in den großen Bottichen eingeweicht, die du da siehst. Das kann bis zu vierundzwanzig Stunden dauern. Dabei muss man ganz genau darauf achten, aus welcher Abteilung