Die Chroniken der Seelenwächter - Band 17: Entfessle den Jäger - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 17: Entfessle den Jäger E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Jess und Jaydee sind miteinander verbunden und gefangen. Gemeinsam driften sie in Wahnvorstellungen, ohne Halt und Wendepunkt. Anthony setzt seine makabren Spiele fort und treibt die beiden weit über ihre Grenzen. Akil und Will machen eine folgenreiche Entdeckung. Die Macht, die Anthony für seine Magie nutzt, ist fast so alt wie die Seelenwächter selbst. Und sie ist unberechenbar. Keira steht indes ihrer alten Feindin gegenüber und muss wieder einmal erkennen, dass nichts so ist, wie es scheint. Sie trifft eine Entscheidung, die den Rest ihres Lebens für immer verändert. Dies ist der 17. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Seitenzahl: 178

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Inhaltsverzeichnis

Jaydee / Jessamine4

Jaydee / Jessamine5

Jaydee / Jessamine6

Jaydee / Jessamine7

1. Kapitel8

2. Kapitel18

3. Kapitel28

4. Kapitel33

5. Kapitel40

6. Kapitel45

7. Kapitel49

8. Kapitel56

9. Kapitel64

10. Kapitel69

11. Kapitel76

12. Kapitel86

13. Kapitel89

14. Kapitel95

15. Kapitel100

16. Kapitel105

17. Kapitel110

18. Kapitel116

19. Kapitel121

20. Kapitel125

21. Kapitel126

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«128

Die Fortsetzung der Seelenwächter:129

Impressum130

Die Chroniken der Seelenwächter

Entfessle den Jäger

Von Nicole Böhm

Jaydee / Jessamine

Gefangen.

Gehetzt.

Gebrochen.

Ich habe mich verloren. Bin gestrandet an einem Ort des Nichtseins. Lichter flackern. Geräusche schwappen.

Es stinkt.

Nach Blut. Nach Schweiß. Nach Tränen. Nach Angst.

Fremde Gerüche.

Starke Gerüche.

Ich mag das. Nein, ich liebe es!

Die Angst, die Panik, das Endgültige. Nahrung für meine Seele.

All diese Emotionen stärken mein Innerstes. Füttern den Jäger. Wecken das Böse in mir.

Ich brauche mehr davon!

Viel mehr!

Jaydee / Jessamine

Er reißt an meinem Herzen und an meinem Verstand. Seine Finger umschlingen mich, halten mich fest in diesem Käfig aus nackter Angst.

Ich hatte keine Ahnung, dass es so etwas gibt.

Dass ein Gefühl so stark sein kann, bis es einen erstickt. Es zerrt an meinen Eingeweiden, frisst sich durch meine Adern.

Ich sterbe. Ich weiß es. Er treibt mich in den Tod und will trotzdem, dass ich lebe. Es ist ein Paradoxon. Wie kann man jemanden lieben und gleichzeitig hassen?

Ich weiß es nicht.

Er auch nicht.

Er jagt mich weiter und weiter an den Rand eines unendlichen Abgrunds.

Wir fallen. Für immer vermutlich. Es gibt kein Entkommen.

Für keinen von uns.

Jaydee / Jessamine

Mehr! Mehr! MEHR!

Bitte, gib mir mehr davon!

Ich will alles von dir spüren, will dein Innerstes nach außen kehren und mich an deinen Schmerzen laben.

Das ist das, was mich stärkt. Das gibt mir Kraft.

Erkennst du es immer noch nicht? Nach allem, was wir durchgemacht haben. Nach der Liebe, dem Hass, dem Zorn: Du kannst mich nicht besitzen! Niemand kann das. Ich wurde erschaffen, um zu zerstören, nicht, um zu lieben. Du musst verstehen, was ich bin!

Wer ich bin.

Warum ich bin.

Im Feuer geboren, durch das Wasser getauft, verankert in der Erde und beseelt von der Luft.

Ich bin alles und nichts.

Ich bringe das Leben und den Tod.

Ich liebe dich.

Ich hasse dich.

Jaydee / Jessamine

Wo bin ich?

Wer bin ich?

Lebe ich?

Atme ich?

Hört mich jemand?

Ich weiß es nicht.

Ich schwebe auf einer Welle des Schmerzes. Emotionen. So viele Emotionen. Ich bin ich, und dennoch fühlt es sich falsch an. Alles fühlt sich falsch an. Als hätte ich eine fremde Haut übergezogen. Als würde dieser Körper nicht mehr länger mir gehören.

Es ist beängstigend. Verstörend. Grausig.

In mir tobt der Hass. Die Wut. Die Rage. Sie haben meine Seele übernommen. Sie verändern mich, wollen mich auf ihre Seite ziehen und mich Faser um Faser auffressen.

Aber das ist nicht mein Weg. Ich weiß das! Meine Seele weiß es, und dennoch kommt sie nicht dagegen an.

Er wird nicht eher ruhen, bis ich ihm folge.

In die Finsternis.

In die Schmerzen.

1. Kapitel

Akil stand vor der Wand und starrte den Felsen an. Seine Finger ruhten auf dem Symbol, das vor ihm in Stein gemeißelt war. Gemeinsam mit Will und Aiden hatte er im Laden Spuren zu Anthony gesucht, doch natürlich hatten sie keine offensichtlichen gefunden. Der Sack hatte aufgeräumt.

Gründlich.

Sie hatten schon aufgeben wollen, als Akil ein Kribbeln auf seiner Brust bemerkt hatte. Je näher er Richtung Keller gelaufen war, umso intensiver war es geworden. Will hatte schließlich ein Loch in den Boden gefräst, und die beiden waren in einem unterirdischen Tunnel gelandet, während Aiden zurück nach Hause gemusst hatte, um Anna und Kendra zu helfen.

Will und Akil waren nach einem kurzen Fußmarsch auf eine Steinwand gestoßen, die nachträglich eingesetzt worden war. Als hätte jemand etwas zumauern wollen, was nicht gefunden werden durfte. Akil hatte sie eingeschlagen, und sie hatten zwei Skelette entdeckt.

Und ein Symbol.

»Akil?« Will war dicht neben ihm. Die einzige Lichtquelle war eine kleine Flamme, die er auf der Hand hielt und die tapfer den Bereich ausleuchtete. »Kennst du dieses Zeichen?«

»Besser, als mir lieb ist«, sagte er leise. Er wollte es sich nicht eingestehen, hätte sich am liebsten abgewandt und vergessen, was er hier gefunden hatte, aber er konnte nicht. Er schloss die Augen und ließ die Bilder zu, die sich in sein Bewusstsein drängten. Es lag nicht lange zurück, da hatte er unfreiwillig eine Reise in seine Vergangenheit angetreten. Er war wieder ein Mensch gewesen. Ein Junge, dürr, ausgehungert, bettelarm, aber glücklich, seine besten Freunde um sich zu haben. Es war Markttag gewesen und die drei auf Beutezug. Akil erinnerte sich genau, wie die Straßen Madaktus gerochen hatten, er spürte die Hitze der Sonne auf seiner Haut, seine speckigen Klamotten, die so verschlissen waren, dass die Nähte kaum hielten. An einem Tag hatte sich sein Leben von einer Sekunde auf die andere geändert, Akil hatte eine Entscheidung getroffen, ohne die er heute womöglich kein Seelenwächter wäre: Er hatte einem Fremden einen Beutel mit Münzen geklaut ...

Akil ballte die Hand zur Faust, fühlte den Lederknoten, den seine Finger geschickt lösten, um seine Beute vom Gürtel zu trennen.

Er öffnete die Augen und starrte auf das Symbol vor ihm an der Wand. Es bestand kein Zweifel, er musste es nur aussprechen, um die Wahrheit in seinen Kopf zu lassen.

»Agash.«

Das Wort klang in seinem Inneren nach und kochte alle Emotionen von Neuem hoch, die ihn damals heimgesucht hatten. Die Trauer, die Verzweiflung, die Angst, die Reue, Unschuldige getötet zu haben, auch wenn sie für andere nicht unschuldig gewirkt hatten. Sein Bruder, seine Mutter, Tus, Ramin ... sie alle waren durch Akils Wünsche gestorben.

»Das ist sein Zeichen.« Er fuhr die Konturen des Kreises nach. In der Mitte war der katzenartige Schädel abgebildet, der Agash selbst darstellte. Ein Dämon, der vor Urzeiten von einem Engel gefangen und verbannt worden war. Um weiter zu existieren, hatte Agash Münzen auf der Erde hinterlassen und Männer für sich rekrutiert, die diese unters Volk brachten. Zu Menschen wie Akil, die zufällig ihren Weg kreuzten und dem Drang nicht widerstehen konnten, sich die Dinger unter den Nagel zu reißen.

»Der Dämon, der damals in Madaktu gewütet hat?«, fragte Will leise und kam näher. Er zog das Kreuz an der Kette aus seinem Hemdkragen und küsste es.

»Genau der.« Nach seiner Rückkehr hatte Akil Jess und Jaydee alles ausführlich berichtet. Später natürlich auch Will und Anna. Akil war ein paar Tage verschwunden gewesen, sie sollten wissen, warum. Allerdings hatte er das mit Agash mehr oder weniger unter den Tisch fallen lassen. Obwohl sie seine Familie waren, wollte er nicht alles mit ihnen teilen. Viele Seelenwächter behielten ihre Menschenerfahrungen für sich. Es war etwas Privates, fast schon Intimes. Dass er Jess und Jaydee davon erzählen konnte, lag vermutlich daran, dass die beiden kein fester Bestandteil der Seelenwächtergemeinschaft waren.

Und weil Jay mein Bruder ist.Im Geiste zumindest.

»Agash hatte damals nicht nur in Madaktu gewütet, er hatte mich verflucht. Ich ... ich hatte das Zeichen auf meiner Brust.« Er erzählte Will, wie er dem Wanderer Druj Nasu die Münzen geklaut und wie damit alles begonnen hatte. »Auf einmal hatte ich den Drang, mir Dinge zu wünschen. Sobald ich sie aussprach, starb jemand, der im Besitz einer der Münzen war. Ich hatte insgesamt drei, aber es gab ursprünglich sogar fünf davon. Es war ein Teufelskreis. Die Münzen wurden stetig weiter verteilt.« Sein Bruder Zareen hatte sie von Akil selbst genommen. Als er starb, klaute seine Mutter Ewa das Geldstück. Die zwei anderen landeten je bei der Stadtwache Ramin und bei Tus – ebenfalls einem Straßenjungen. Auch sie verendeten qualvoll, weil Akil seinen Wünschen nicht widerstehen konnte. Er hatte es nicht wissentlich getan, trotzdem fühlte er sich für ihren Tod verantwortlich. Noch immer. Nach über zweitausend Jahren war diese Wunde nicht verheilt.

»Wie wurde der Fluch umgekehrt?«

»Er wurde nicht direkt umgekehrt. Tyche – die Quelle – hat meine Realität geändert und den Moment gelöscht, als ich die Münzen gestohlen habe. Fertig.« Genau wie seine Freundschaft zu Azam. Es war der Preis, den Akil für Tyches Dienste hatte zahlen müssen. Sie hatte ihm alles genommen, und auch die Toten waren tot geblieben. Akil hatte seine Freunde und seine Familie verloren. »Ich habe nie herausgefunden, was aus Agash oder dem Wanderer Druj Nasu geworden ist. Ob sie sich neue Opfer gesucht oder sie sich ebenfalls in Luft aufgelöst haben ...« Er hatte allerdings auch nie danach gefragt oder geforscht. Akil hatte bei Safraz, dem Pferdehändler, ein neues Leben angefangen und war mehr als glücklich gewesen, die Sache mit Agash hinter sich zu lassen.

»Ich muss in unserer Bibliothek nachsehen, vielleicht kann ich mehr über ihn herausfinden.« Will trat näher an den Felsen und tupfte auf die schwarze Flüssigkeit, die zwischen den Fugen herauslief. »Dieses Zeug ist überall. War das damals auch so?«

»Nein. Definitiv nicht. Ich ... verflucht, ich habe keine Ahnung, was Anthony da angerichtet hat. Was das alles hier soll!«

Er raufte sich die Haare und drehte sich um. Es fiel ihm schwer zu atmen, als würden die Wände plötzlich näher rücken und ihm die Luft aus der Lunge quetschen. Er starrte die beiden Skelette an. Wie lange lagen sie schon hier herum? Waren sie Opfer von Agashs Wünschen geworden? Waren sie die Bezahlung? Und wenn ja, waren die Münzen noch da?

Akils Muskeln versteiften sich. Er fühlte sich in die Enge gedrängt, verwundbar. Sein Körper erinnerte sich an alles. Er wusste, wie es gewesen war, nichts gegen die Wünsche tun zu können. Wenn sich die Worte auf den Lippen formten und er sie nur noch aussprechen musste. Er hatte damals nichts besessen außer den verdreckten Lumpen an seinem Leib. Agash hatte ihm einen Ausweg geboten, der ihn zum reichsten Mann der Welt gemacht hätte, aber er hatte abgelehnt.

»Wenn wir es mit Agash zu tun haben ... ich habe keine Ahnung, was wir gegen ihn unternehmen können. Was Anthony mit ihm anstellt, ob er die Kraft der Wünsche nutzt. Ich ... verflucht noch mal.« Er trat einen kleineren Felsbrocken weg, der an die nächste Wand donnerte und eine Staubwolke aufwirbelte.

»Ganz ruhig bleiben. Wir müssen überlegt vorgehen.«

Akil schnaubte. Natürlich mussten sie das, aber er wollte nicht länger überlegt vorgehen, er wollte handeln! Jaydee und Jess retten. Sofort! »Wenn Anthony Agashs Magie nutzt, sind wir am Arsch. Hörst du? Und zwar so richtig! Du hast keine Ahnung, wie das ... wie mächtig er ...« Akil fasste sich an die Brust, wo er einst das Zeichen getragen hatte. »Agash nutzt die menschliche Schwäche aus, nie genug haben zu können. Jemand wie Anthony ist das perfekte Opfer. Skrupellos und allzeit bereit, über Leichen zu gehen. Es schert ihn doch einen Dreck, wer wegen ihm hopsgeht. Verdammt, er könnte uns eine Münze in die Hand drücken und sich wünschen, dass wir tot umfallen!«

»Akil.« Will drehte sich herum und legte beide Hände auf seine Schultern. Die Wärme des Feuers floss ein weiteres Mal durch seine Adern. Will hatte das vorhin schon getan, als sie oben gestanden hatten und er kurz davor gewesen war durchzudrehen. Es war eigentlich nicht seine Art. Akil war der ruhigste in der Familie, er war geerdet, gesetzt, stark. Aber diese ganze Sache schnitt eine tiefe Kerbe in seine Seele und traf ihn an seiner empfindlichsten Stelle: der Liebe zu seinen Freunden. Genau das war Akils Achillesferse.

»Eins nach dem anderen. Überlege doch mal: Wenn Anthony die Münzen besäße, hätte er sich die Mühe mit der Entführung und Keira gar nicht machen müssen. Er hätte es sich einfach gewünscht, und Jaydee wäre ihm in die Falle gegangen.«

»Ich ...«, verdammt, das stimmte. Agash konnte alles Mögliche erfüllen, außer jemanden von den Toten zurückholen. Die Welt hätte Anthony offen gestanden. »Aber ... das Zeichen an der Wand. Es ist Agash, ganz sicher.«

»Okay, aber das heißt noch nicht, dass Anthony die Münzen hat, oder?«

»Aber wer hat sie dann, und warum ist das Symbol hier unten? Und die Leichen? Was soll das alles?«

»Es gab fünf Münzen, sagtest du?«

»Genau, sie hatten Ziffern auf eine Seite geprägt, die gleichzeitig die Reihenfolge darstellten, wer als Nächstes auf der Todesliste stand. Ich hatte die Eins, Zwei und die Vier geklaut. Die Drei und die Fünf waren verloren gegangen. Druj Nasu hat nie gesagt, was mit ihnen passiert war.«

»Wie lange konntest du dir etwas wünschen? Einmal alle Münzen durch, oder ging das unendlich so weiter?«

»Ich ...« Akil schloss die Augen und rief sich das Gespräch in der Kneipe wach, das er mit Druj Nasu geführt hatte. Er war in ständiger Begleitung seines Dieners gewesen, der Akil mitleidige Blicke zugeworfen hatte, bestimmt hatte er gewusst, was passieren würde und in welchen Schlamassel Akil sich hineingeritten hatte.

»Druj Nasu sagte, dass der Prozess nicht aufgehalten werden kann. Wer einmal die Münze in Händen hält, gehört Agash. Ich vermute, dass sich der Fluch nur stoppen lässt, wenn derjenige, der die Wünsche trägt, stirbt. So hatte ich es zumindest verstanden.« Akil wäre sogar bereit gewesen, sein eigenes Leben zu opfern und die anderen zu retten, doch auch das wäre unnötig gewesen. Jeder, der zu dem Zeitpunkt eine Münze besaß, wäre mit ihm gestorben.

»Ich nehme eine Probe von dieser schwarzen Flüssigkeit. Ich habe sie zwar schon untersucht, als Jaydee mir die Tinte gebracht hatte, aber womöglich mischt Anthony weitere Sachen hinein, wenn er die Tinte für sich herstellt. Schau, ob du noch etwas bei den Skeletten findest. Vielleicht steckt in den Klamotten ein Ausweis oder irgendwas, was uns helfen kann.«

Toll, er wurde zum Leichenfledderer.

»Wir können auch tauschen, ich meinte es nicht so, dass du die schlimme Arbeit machen musst.«

»Ich weiß, schon gut. Erfüll du deine Aufgabe, und ich erfülle ... die andere.« Will wusste, was er für eine Probe benötigte, es durfte nichts schiefgehen. »Kannst du mehr Licht machen?«

»Mh.« Will drehte sich um die eigene Achse. Er klaubte Dreck und Unrat vom Boden auf und schichtete es auf einen Haufen. Diesen zündete er mit einem Fingerschnippen an. Akil half ihm, mehr zusammenzusuchen, und nach kurzer Zeit hatten sie den Bereich ausgeleuchtet. Die kleinen Flammen züngelten und warfen tanzende Schatten an die Wände. Die Luft wurde wärmer, der Geruch nach Verbranntem intensiver.

Akil rieb die Hände aneinander und beugte sich über das erste Skelett. Im Laufe der Jahre hatte er viele Tote gesehen und begraben. Er achtete das Leben, er beschützte das Leben, er verteidigte es gegen alles Übernatürliche. Es war die Aufgabe der Seelenwächter, und er scheute sich gewiss nicht davor, mit dem Tod in Berührung zu kommen; aber er mochte es nicht, dessen Ruhe zu stören. Diese Menschen waren gestorben, sie hatten ihren Frieden gefunden, ihre Seelen waren hoffentlich weitergewandert und ins Licht gegangen. Während er den ersten Knochen anhob, um die Jacke zu greifen, die darunterlag, kam er sich vor, als würde er wider seine Natur handeln. Vorsichtig zog er den Stoff hervor und untersuchte ihn. Eine Staubwolke stob auf und stieg ihm in die Nase. Der Geruch des Todes breitete sich in seinen Lungen aus. Akil mochte ihn nicht, dafür feierte er das Leben zu sehr.

Er drapierte die Jacke neben sich und durchsuchte eine Tasche nach der anderen. Dem Zustand der Kleidung nach zu urteilen, lagen sie schon ein paar Jahre hier unten. Die Farbe war gräulich abgewetzt, an den Ärmeln befanden sich Löcher, als hätten sich die Motten darauf gestürzt. Als er die Jacke umdrehte, fiel etwas Metallenes heraus.

»Was hast du gefunden?«, fragte Will.

»Ein Armband. Es ist aus Leder mit einer silbernen Plakette in der Mitte.« Akil hob es auf. Das Leder war brüchig und ausgetrocknet, das Metall zerkratzt. Dennoch erkannte er eine feine Gravur auf der Oberfläche. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Zahlen zu entziffern, doch mal wieder meldete sich seine Leseschwäche. Akil hatte es in über zweitausend Jahren nicht geschafft, das Lesen und Schreiben zu lernen. Er konnte es an ruhigen Tagen, wenn er sich voll darauf fokussierte. Da war er sogar in der Lage, ein Buch zu lesen. Langsam. Aber im jetzigen Zustand konnte er das vergessen. Das Licht war schlecht, er emotional viel zu aufgewühlt.

»Zeig mal her«, sagte Will. Natürlich wusste er um Akils Manko. Er nahm ihm das Armband ab und betrachtete es im Schein einer Flamme. »Da steht ein Datum: 24. August vor achtundzwanzig Jahren und daneben ein Name: Dylan.«

»Ob das der Tote ist?«

»Könnte sein. Ich bin gleich fertig, dann helfe ich dir.«

»Gut.« Akil stand auf und lief zum zweiten Skelett. Er kniete sich hin und durchsuchte das Hemd, das nur eine Tasche oben an der Brust besaß. Obwohl die Zeit drängte und er die Eile im Nacken fühlte, konnte er hierbei nicht schneller machen. Er wollte den Gebeinen Respekt zollen, das einzige, was ihm noch blieb. Im Hemd war nichts, aber neben der Leiche lag eine alte Umhängetasche. Akil griff hinein und stockte, als er das Metall spürte. Alles in ihm zog sich zusammen, als wäre er in einen eiskalten Pool gesprungen.

War das eine Münze?

Er hielt die Luft an und schloss die Augen.

»Alles klar?«, fragte Will.

»Das weiß ich noch nicht.« Vorsichtig bewegte er die Finger, es fühlte sich rund an und flach. Die Größe stimmte auch.

Scheiße, bitte nicht!

Wenn es eine war, dann war es zu spät. Jeder, der das Ding berührte, war verflucht. Azam hatte es am eigenen Leib zu spüren bekommen. Er war ebenfalls in den Besitz einer Münze gelangt und wollte sie loswerden, aber sie hatte an ihm geklebt wie Kaugummi. Wenn Akil wirklich eine von ihnen in der Hand hielt, wäre er in den Fluch eingetreten und von nun an davon abhängig, ob sich derjenige, der über Agash bestimmte, etwas wünschen würde.

Und in welcher Reihenfolge Akil dran wäre.

Wäre. Hätte. Könnte ... Noch ist es nicht sicher.

Akil zog die Hand zurück und nahm das heraus, was er umschlossen hielt. Seine Finger zitterten. Sein Mund war mit einem Mal so trocken, dass er kaum noch schlucken konnte. Er hörte Will neben sich, der langsam auf ihn zukam.

»Was ist das?«, fragte Will.

Er wollte es gar nicht wissen, aber da er schlecht mit geschlossenen Augen für den Rest seiner Zeit hier herumhocken konnte, sah er doch hin.

Er blinzelte, öffnete seine Hand ...

»Verfluchte Scheiße!«

Der katzenartige Skelettkopf Agashs blitzte ihm entgegen. Das Geldstück war abgewetzt, das Metall stumpf, aber es war eine Münze. Er hatte eine verfluchte Münze in der Hand!

Akil konnte nicht mehr atmen oder klar denken. Ein Drücken setzte in seiner Magengegend ein, er spürte einen Sog in der Mitte, als wollte die Vergangenheit ihn an sich ziehen und zu einer weiteren Reise abholen. Er zwang den Fokus auf seinen Körper, verankerte sich im Hier und Jetzt.

Nicht fallen. Nicht fallen. Kein Flashback!

»Akil«, sagte Will ganz dicht bei ihm.

Er war erledigt, vielleicht nicht sofort, aber bald! »Ich bin ... verflucht! Er hat mich erwischt.«

»Ruhig atmen.« Will legte seine Hand über Akils Finger und sendete Wärme in seinen Körper. Damals war Akil ein Junge gewesen und völlig allein mit diesem Müll, heute war er erwachsen. Ein Krieger, der über enorme Ressourcen verfügte.

Langsam drehte er die Hand und betrachtete die Münze von hinten. Sie trug die Ziffer Nummer fünf. Es war eine von denen, die verschwunden gewesen waren.

»Du musst mir das mit dem Fluch noch mal ganz genau erklären«, sagte Will und ging neben ihm in die Hocke.

»Ich ...« Er konnte das nicht.

»Rede mit mir!«

»Ich ... ich ... die Münze, ich kann sie nicht mehr ... sie bleibt bei mir. Also, ich kann sie nicht mehr loslassen, das ist Teil des Fluches.«

Will griff nach seiner Hand. »Lass mich sehen.«

Vorsichtig öffnete er Akils Finger, bis die Münze auf der offenen Handfläche lag. Dann drehte er Akils Hand einfach um, und das Geldstück fiel zu Boden.

»Ich ...«, stammelte Akil. »Was soll das?«

Will runzelte die Stirn, griff nach der Münze ...

»Warte!«, rief Akil, aber es war zu spät. Will hielt sie in den Fingern. »Sag mal, hast du sie noch alle?«

»Ich ...« Er starrte erst gebannt auf das Geldstück, dann ließ er es ebenfalls los, und es plumpste genauso zu Boden wie bei Akil eben. Beide atmeten vor Erleichterung aus.

»Heißt das, es gibt doch keinen Fluch?«, sagte Akil.

»Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung.« Will schluckte und hob die Münze ein weiteres Mal auf. Er nahm sie zwischen die Finger und knickte sie um, als ob er von einer Tafel Schokolade ein Stück abbrechen wollte. Sie zersprang in zwei Hälften.

»Hol mich Ahriman!«

»Sie ist aus einer Art Sandstein«, bestätigte Will.

»Aber ... das ist doch! Ist es eine Fälschung?« Akil nahm ihm die Münzteile ab und inspizierte sie genau. Oberflächlich waren sie perfekt nachgebildet. Sie waren mit einer dünnen Metallschicht überzogen, sogar das Gewicht stimmte. Allein der Kern war unecht. Er ließ sie durch seine Finger gleiten, nur langsam sickerte in ihm ein, was es bedeutete: nichts.

Es gab keinen Fluch. Zumindest nicht für ihn. Er wischte sich den Schweiß aus dem Nacken »Verdammt, ich bin zu alt für diesen Scheiß.«