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Zurück zuhause, muss sich Jess nicht nur mit dem Erlebten auseinandersetzen, sondern auch mit Jaydee. Der Riss in ihrer Beziehung sitzt tief, eine Versöhnung scheint unmöglich. Um sich abzulenken, kehrt Jess an den See zurück, wie es ihre Mutter wünschte – und macht eine interessante Entdeckung. Jaydee kämpft indes mit dem Fieber, das Anthony in ihm hinterlassen hat, und wird von wirren Wahnvorstellungen gepackt. Auch Coco ringt mit ihrem Verstand. Der Kranich hat pures Chaos in ihr angerichtet. Sie reist zurück zu ihrem einstigen Leben und muss erneut durchleben, wie sie zu dem wurde, was sie heute ist. Dies ist der 19. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
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Seitenzahl: 187
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel3
2. Kapitel12
3. Kapitel16
4. Kapitel24
5. Kapitel33
6. Kapitel42
7. Kapitel44
8. Kapitel50
9. Kapitel58
10. Kapitel67
11. Kapitel71
12. Kapitel75
13. Kapitel84
14. Kapitel91
15. Kapitel104
16. Kapitel115
Die Fortsetzung der Seelenwächter:124
Impressum125
Die Chroniken der Seelenwächter
Fieber
Von Nicole Böhm
1. Kapitel
Jessamine
Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben so sehr gefroren wie in diesem Moment.
Es hatte natürlich Tage gegeben, an denen mir kalt gewesen war. Die Winter in Kanada waren hart, wir hatten oft wochenlang Tiefschnee gehabt, und ich hatte am liebsten draußen gespielt, bis meine Glieder so steif waren, dass ich sie kaum mehr bewegen konnte. Violet hatte mich dann zwingen müssen reinzugehen. Sie hatte ein Feuer im Kamin entfacht, heiße Schokolade gekocht – die echte, nicht die vorgefertigten Pulverdinger – und sich mit mir vor die knisternden Flammen gesetzt. Manchmal war mein Gesicht so kalt, dass ich kaum noch lächeln oder reden konnte. Letzteres hatte Vi stets als Segen empfunden und sich mit Vorliebe über mich lustig gemacht. Diese Zeit war wundervoll gewesen. Vi. Ich. Das Feuer. Unsere Gespräche. Ich hatte es geliebt, wie die Wärme langsam zurück in meine Knochen kroch und mich mit Leben füllte.
Heute glaubte ich nicht, dass mir je wieder warm werden würde. Die Grabeskälte des Nebels hatte sich in mir verankert und war bis in die letzte Zelle meines Körpers gekrochen. Ich saß, eingewickelt in zwei Decken, in einem Sessel vor dem Kamin in der Bibliothek und klammerte mich an eine Teetasse. Meine Augen brannten, weil ich seit einer Stunde in die Flammen starrte, aber ich konnte den Blick nicht abwenden. Ich wollte Licht, gierte regelrecht danach, brauchte es um mich herum, in mir drinnen, damit es die Finsternis vertrieb, aus der ich gekommen war.
Es fühlte sich irreal an, zurück in Arizona zu sein, als wäre dies der Traum, aus dem ich jederzeit aufwachen musste, um mich in Anthonys Realität wiederzufinden. Weiter durch die Gänge hetzend, weiter gefangen im Nebel – und weiter auf der Flucht vor dem Jäger.
Mit zitternden Händen führte ich die Tasse an meine Lippen, trank einen Schluck, nur um einen meiner Sinne anzuregen. Der Tee war warm und leicht bitter. Also hieß das wohl, dass ich nicht schlief, oder? Im Traum schmeckte man schließlich nichts. Ich nahm noch einen Zug und genoss das milde Kribbeln in meinem Bauch, als die Kräuter ihre Wirkung entfalteten. Anna meinte, dass er mir helfen würde herunterzukommen – und das hatte ich auch nötig.
Seit ich Coco mit dem Kranich vertrieben hatte, hatte sich alles überschlagen. Aiden und Akil hatten darauf bestanden, dass ich mich sofort in Sicherheit brachte; vor allen Dingen weg von Jaydee, weg von dem Jäger. Es hatte mich meine gesamte Überwindung gekostet, das zu tun, ich wollte ihm helfen, ihn aus der Dunkelheit zerren, so wie Akil mich herausgezerrt hatte; aber ich wusste, dass ich es alleine nicht schaffen konnte. Meine Kräfte reichten einfach nicht aus, solange meine Gabe unterdrückt war, auch wenn es in der Nacht einige Momente gegeben hatte, in denen ich hatte zu ihm durchdringen können.
Ich hatte vorher gewusst, dass er mit sich rang, dass Gut und Böse in ihm tobten und er mit aller Macht dagegen ankämpfte; aber mir war nicht klar gewesen, wie tief der Hass auf mich in ihm verwurzelt war: »Lieber sterbe ich. Und dich nehme ich mit.«
Seine Worte hämmerten in meinem Gehirn. Wie konnte jemand so viel Abscheu für einen anderen empfinden, dass er sich selbst opfern würde? Und wo war die Liebe, die wir in den letzten Tagen geteilt hatten, wo die Wärme, der Halt, die Zärtlichkeit? Das konnte und durfte doch nicht alles verschütt gegangen sein!
Ich kniff in meinen Nasenrücken und schloss die Augen, aber sobald ich das tat, kehrten die restlichen Bilder zurück. Ich sah mich selbst, wie ich den Kranich rief, damit er Coco abtransportierte, ich fühlte Sophias Macht; in meinen Adern, meinem Herzen und ganz tief in meinen Zellen. Ich sah Keira, die mir zulächelte, mit dem Vogel in einem Lichtblitz verschwand und Coco mit sich riss.
Sie war tot. Gestorben, weil sie mir helfen wollte.
Ich atmete tief ein und ließ einen Schluchzer hinaus. Die Trauer um sie waberte in meinem Inneren, so wie die Eiseskälte es tat. Keira. Joshua. Ariadne. Sie hatten sich an einen jahrtausendealten Eid gebunden, der meine Blutlinie schützte, sie hatten alles geopfert, um die Nachfahren Sophias in Sicherheit zu bringen. Ob ich wollte oder nicht: Für den Tod dieser Menschen war ich mitverantwortlich.
»Darf ich?«, fragte Anna und deutete auf den Sessel neben mir.
Ich schreckte hoch, hatte vollkommen vergessen, dass sie auch im Raum war. »Natürlich.«
Sie zog den Sessel zu mir, kam so dicht, dass sich die beiden Lehnen berührten. Zarter Mandarinenduft wehte zu mir herüber, ihr Körper strahlte eine ganz eigene Kühle ab, doch erstaunlicherweise empfand ich sie nicht als unangenehm; als würde sich ihre Magie meiner Konstitution anpassen. Im Sommer war es herrlich, Anna zu umarmen, eine wohltuende Abkühlung an heißen Tagen. Und nun, obwohl ich fror, war es mindestens genauso schön. Es linderte das Brennen in meinem Herzen. Ein wenig zumindest.
»Gibt es was Neues?«, fragte ich.
»Will hat mich eben angefunkt. Er ist noch in England und untersucht den Zauber, den Coco aufgebaut hat, aber er meinte, er wäre neutralisiert. Akil hat Sirup getrunken, die Wunde in seinem Bauch heilt schnell, und er kümmert sich um ... um Jaydee. Er bringt ihn gerade in den Stollen.«
Der Ort, an dem er auch festgehalten wurde, nachdem er das erste Mal auf mich losgegangen war. Ich nickte, verkniff es mir, weiter nach ihm zu fragen. Noch sperrte sich mein Innerstes dagegen. Der Gedanke an ihn war so verzerrt und überlagert von Gewalt – ich musste das alles erst sortieren und mir klarwerden, wie ich damit umgehen sollte.
Zum Glück hakte Anna nicht nach. »Aiden und Kendra geht es ebenfalls gut. Sie werden wieder.«
»Gott sei Dank.« Coco hatte Akil schwer am Bauch verletzt, die Wunde stammte von einer Titaniumwaffe, er konnte sie demzufolge nicht selbstständig heilen. Doch die Seelenwächter gingen mit Kämpfen anders um als Menschen. Sie steckten Verletzungen besser weg, nicht nur körperlich, auch mental. »Kendra war so verwirrt.«
»Will hat sie gefunden. Sie saß zusammengekauert an einem alten Brunnen des Schlosses und suchte nach ihrem Element. Er hat sie mit Aiden zurückgeschickt und meinte, sie müssten beide zu einem Kraftplatz. Sie sollten gleich da sein.«
»Gut.« Ich trank noch einen Schluck, klammerte mich an die Wärme des Tees, an den Geschmack, das Gefühl auf meiner Zunge. Konnte ich nicht für immer hier sitzen bleiben, in die Flammen sehen und dieses Zeug in mich schütten? »Was ist mit Cocos Helfern?«
»Sie sind beide tot. Einen hat ja Akil überwältigt, der andere wurde von Aiden erledigt.« Anna strich über meine Hand. Die Berührung war herrlich leicht und luftig. »Willst du darüber reden, was euch passiert ist?«
Ja.
Nein.
Unbedingt.
Es wollte aus mir heraus, ich fühlte die Worte in meinem Herzen herumlungern. Sie warteten auf ihren Einsatz, lechzten danach, endlich hervorzuplatzen. Anthony. Sein Tod. Unsere Gefangenschaft. Die Flucht. Jaydees Kampf. Der Jäger. Der Nebel. Meine Mutter. Der See. Einfach alles!
Mehrfach setzte ich an, holte Luft, stockte, ließ sie wieder aus. »Ich ... Ich ... kann nicht. Noch nicht.«
»Okay.« Anna drückte meine Hand fester. Die Stelle kribbelte leicht; aufgeladen mit Seelenwächterkraft. »Lass dir Zeit.«
Gut. Danke. Ich wischte über meine Augen, die immer noch so schrecklich brannten. Der Nebel hatte sie ausgetrocknet. »Wie lange waren wir eigentlich weg?«
»Zwei Nächte und einen Tag.«
Und mir war es vorgekommen wie eine halbe Ewigkeit.
Ich legte meinen Kopf gegen die Lehne und sah sie an. Anna und ich. Wir stammten aus der gleichen Blutlinie, wir waren Nachfahren eines Engels, der einen größeren Einfluss auf mein Leben hatte, als mir bisher klar gewesen war. Ich hatte ihre Macht gespürt, war von ihr umarmt und geheilt worden. Ohne Sophias Energie hätte ich diese Nacht nicht überlebt.
Ich fuhr über meine Hosentasche, wo die Stimmgabel steckte. Seit ich den Kranich damit gerufen hatte, hatte ich sie nicht mehr herausgeholt und wollte es auch nicht tun. Als könnten die Wärme, die Kraft und die Liebe, die von ihr ausgegangen waren, verpuffen. Wenn ich mir das alles nur eingebildet hatte, wollte ich noch eine Weile an dieser Illusion festhalten. Sie fühlte sich zu gut an, um sie loszulassen.
»Ich sollte wohl auch mal duschen.« Seit ich aus England zurückgekehrt war, saß ich hier. Anna hatte mich vorne am Tor in Empfang genommen und sich sofort um mich gekümmert, während Will zu den anderen geritten war. Ich war ihr einfach gefolgt, hatte kaum noch aufrecht gehen können, geschweige denn einen vernünftigen Gedanken fassen. Erst wollte sie mich auf mein Zimmer bringen, aber da konnte ich im Moment nicht hin. Ich wollte nicht in das Reich, in dem sein Duft hing, die Bettwäsche nach unseren Abenteuern roch, sein Shirt auf meinem Boden lag.
Frage nach ihm! Vielleicht braucht Jaydee dich! Aber ich wusste, dass es nicht so war. Dass ihn mein Anblick nur noch mehr aufregen würde. Ich kannte den Jäger.
»Was ... was passiert eigentlich mit Keira? Also ihrem Körper?« Coco hatte sie aufgespießt und ausbluten lassen. Alles Teil ihres makabren Rituals.
Anna fuhr mit dem Nagel über eine alte Kruste auf ihrer Hand, ohne sie abzukratzen. »Wir werden ihre Überreste ordentlich bestatten. Will kümmert sich auch darum.«
»Es tut mir so schrecklich leid.«
»Mir auch. Sie hat um dich gekämpft wie eine Löwin und alles getan, was sie konnte, um euch zu finden.«
»Ich ... ich habe ihre Seele getroffen. Im Nebel.«
Anna nickte, als wäre es vollkommen logisch. Auch diese Dinge gehörten in den Alltag der Seelenwächter.
»Sie meinte, dass sie jetzt vieles verstehen würde und dass es gut so sei. Sie wollte helfen. Auch nach ihrem Tod.«
»Und das hat sie. Ich habe sie gefühlt. Will und ich haben in Ilais Büchern nach einer Lösung gesucht. Ich saß da drüben in der Bibliothek, als ich sie spürte. Ihre Seele hatte zu mir Kontakt aufgenommen. Sie hatte mir gezeigt, wie wir Cocos Helfer ausschalten können.«
»Sie war mit Coco verbunden. Durch das Ritual. Sie hat mir so viel erklärt.« Ich erzählte Anna von der Begegnung mit Keiras Seele im Nebel und was sie zu mir gesagt hatte. Sie hörte mir aufmerksam zu, nahm jedes meiner Worte genau auf. »Coco beobachtet anscheinend auch dich.«
»Ich wüsste nicht, wozu. Ich kann ihr definitiv nicht helfen.« Jetzt kratzte sie die Kruste doch ab. Es blutete sofort. Anna saugte es weg. »Meine Gabe ist weg.«
Ich sah in die Teetasse und schwenkte den Inhalt herum. Unsere Gabe. So diffus und so wertvoll. Anna hatte mir mal erzählt, wie das mit ihrer Gabe gewesen war. Dass sie früher gerne gesungen hatte, aber es nicht so gewesen wäre, dass sich die Leute danach umdrehten. Womöglich zeigte sich unser Talent auf unterschiedliche Weise. Vielleicht lag ihr nicht das Singen, sondern das Spielen eines Instruments. Ich seufzte frustriert. »Es ist alles so verwirrend.«
»Komm erst mal zu dir. Du brauchst Zeit, um das zu verarbeiten.«
Da hatte sie wohl Recht. »Ihr habt wirklich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um uns zu finden.«
»Natürlich haben wir das. Ihr seid unsere Familie.« Sie strich zärtlich über meinen Handrücken und hinterließ eine angenehm kühle Spur darauf. Ihre Haut war voll mit Narben und frischen Wunden. Alles Ausdruck ihrer eigenen Seelenpein. Als ich in Jaydees und meinem Unterbewusstsein gefangen gewesen war, wollte ich mich auch unbedingt kratzen. Der Juckreiz hatte mich wahnsinnig gemacht, ich hatte nicht aufhören können, bis ich blutete.
Ich starrte auf Annas Haut, ihre zarten Finger, die Adern, die sich darunter abzeichneten. »Anthonys Tattoos.« Ich schloss die Augen, rief mir die Zeichen auf Jaydees Brust ins Gedächtnis, die uns zusammengebracht hatten. »Sie hatten alle Emotionen gespeichert, die Jaydee und ich zwischen uns aufgebaut hatten. Anthony hat sie alle auf einmal entlassen, die gesamten Gefühle sind über ihn hereingebrochen und auch über mich, als er ... wir waren ... verbunden. Im Geist und in der Seele.«
»Du großer Gott. Das muss fürchterlich gewesen sein.«
»Deshalb ist er so ... so außer sich. Es war zu viel. Alles. Anthony hat uns ... er hat ihn ... am Arm.« Ich strich über die Stelle, wollte Anna die Dinge bis ins Detail erklären, aber viel lieber hätte ich diese Bilder verdrängt, nie wieder darüber nachgedacht und die letzten Tage aus meinem Kopf gelöscht. »Auf einmal waren die Zeichen weg. Sie sind nacheinander ausgebrannt. Anthony hat Jaydee in einer Barriere eingesperrt, er konnte sich befreien und ihn jagen.« Und damit ging alles andere ebenfalls los.
»Akil sorgte dafür, dass die Tinte zerstört wurde«, sagte Anna. »Es hatte mit Agash zu tun, Anthony hat dessen Macht genutzt, und Akil hat sie endgültig vernichtet.«
»Agash? Das meinte er also, als er sagte, er hätte noch eine Rechnung mit einem Dämon offen.« Ich erinnerte mich sehr gut an die Erzählungen aus Akils Vergangenheit.
»Ja, Anthony hat ein Artefakt ausgegraben.« Sie erzählte von Akils Forschungen und wie er einer Spur zur anderen folgte, um am Ende den Dämon für immer zu begraben.
Mein Bedürfnis, Akil zu sehen, wurde größer. Ich wollte zu ihm, mich bei ihm bedanken, ihm sagen, dass er keine Sekunde zu spät gekommen war, aber dann hätte ich wohl auch ihn sehen müssen. »Wären die Tattoos nicht ausgebrannt, wären wir ... wäre ich ...« Mausetot. Ich trank rasch einen weiteren Schluck, konzentrierte mich voll und ganz auf diese einfache Sache. Tasse an die Lippen, Tee trinken, Tasse abstellen. Mehr nicht.
»Du bist wieder hier bei uns.«
Ich nickte, sog diese Worte auf und schluckte sie genauso hinunter wie den Tee. In Sicherheit. In Arizona. Meine Freunde waren da. Alles war gut, bis auf eine Sache. »Das zwischen Jaydee und mir. Auch seine Tattoos sind weg. Es ist vorbei.«
»Das ist es nicht. Ihr werdet einen anderen Weg finden. Es gibt immer einen.«
Ich schnaubte, doch gleichzeitig hörte ich auch Keira in meinem Ohr, die mich ebenfalls dazu ermahnte, auf ihn aufzupassen. »Mit Liebe. Freundschaft. Zusammenhalt. Er darf nicht fallen.«
Anna strich eine verkrustete Strähne aus meiner Stirn. Meine Haare waren komplett verknotet, vermutlich musste ich ein gutes Stück abschneiden, um sie zu entwirren.
»Ich habe die Liebe für dich in seinen Augen gesehen. Als ich da drüben auf der Couch lag, mit der Wunde, die ich mir zugefügt hatte, und ihm sagte, dass du verletzt bist, brach die Welt für ihn zusammen. Er liebt dich. Er braucht dich. Lass diese Sache nicht zwischen euch kommen. Lass Anthony nicht die Genugtuung, dass er euch auseinandergebracht hat.«
»Wie? Wie soll das gehen, wenn ein Teil von ihm mich so sehr hasst, dass er lieber sterben würde, als mich an sich heranzulassen?«
»Ich weiß es nicht, Jess. Was du erlebt hast, ist schrecklich, aber manchmal bürdet uns das Schicksal Dinge auf, von denen wir glauben, daran zu ersticken. Es schnürt uns die Luft ab, macht uns taub und blind und starr vor Angst. Wir werden geprügelt, getestet, gefordert. Es ist nicht fair und gewiss nicht schön. Oft können wir das, was uns passiert, nicht beeinflussen. Das einzige, was in unserer Macht liegt, ist zu entscheiden, wie wir damit umgehen. Das ist auch deine allergrößte Stärke. Du hast die Fähigkeit, jedes Mal neu anzufangen, jedes Mal aufzustehen, jedes Mal zu wachsen und eine weitere Hürde zu erklimmen. Ob es dich am Ende glücklich macht, wirst du für dich herausfinden müssen, doch egal wohin dich dein Weg führt: Du darfst niemals stehenbleiben, denn dann bist du verloren. Lass dich nicht beugen. Von niemandem.«
Ich nahm ihre Worte auf und sagte lange nichts. Anna trug von allen, die hier wohnten, mit die schwerste Last. Jeder hatte viel erlebt, jeder hatte seine Vergangenheit, die ihn von Zeit zu Zeit einholte. Auch Akil hatte hart gekämpft. Er war durch die Straßen Madaktus gekrochen und hatte an eine Freundschaft geglaubt, die es nicht mehr gab. Will war von seiner Familie fortgegangen, um seinem Bruder all das zu überlassen, was er sich gewünscht hatte – und dennoch war es nicht genug gewesen. Und Anna ... sie hatte all diese Qualen überstanden. Sie war tausendmal schlimmer als ich geprügelt worden, sie war im Dreck gelegen, sie war aufgestanden – und sie atmete. Noch immer. Sie hatte sich zu einem wundervollen Wesen entwickelt, erfüllt von Schönheit und einer unglaublich starken und reinen Seele. Diese Worte aus ihrem Mund zu hören, ließ sie doppelt so schwer wiegen. Sie waren echt. Sie kamen von Herzen.
Meine Augen füllten sich mit Tränen. Mit einem Mal fühlte ich mich klein und schwach neben ihr. Ich war ein Mensch in einer übernatürlichen Welt, aber Anna hatte einen übernatürlichen Willen. Sie war eine wahre Kriegerin.
Anna lächelte milde und wischte mit dem Daumen über meine Wange. »Ich sage das nicht, damit du dich schlecht fühlst, ich sage es, um dich großzumachen. Du musst dein Wesen erkennen, das da drinsteckt.« Sie zeigte auf meine Brust. »Deine Seele ist stärker, als du es dir je erträumen kannst. Ihre Kraft wird dich am Leben halten, sie wird dich durch jede Finsternis tragen, dich zu Gipfeln führen, die du nur erahnst. Lass dich von ihr leiten. Und nimm Jaydee mit.«
Ich blickte wieder in meine Teetasse. Mein Gesicht spiegelte sich darin, verzerrt und verschwommen, genauso wie ich mich fühlte. »Wie mache ich das?«
»Indem du dir selbst vertraust und nicht der Angst nachgibst. Außerdem bist du nicht alleine, du hast uns.«
Das stimmte. Die Seelenwächter waren die stärkste Rückendeckung, die ich mir erträumen konnte. Sie trugen die Last von Jahrtausenden auf ihren Schultern. Sie hatten Kriege erlebt, Leiden gesehen, sie hatten gekämpft, gesiegt und verloren. Ich war nur ein kleines Leuchten in ihrer Welt. »Hilfst du mir dabei?«
»Immer.«
Ich atmete tief durch und nickte. Annas Worte sanken in mein Herz und breiteten sich dort aus, wie der warme Tee in meinem Magen. Ich trank die Tasse aus und deutete darauf. »Könnte ich noch einen haben?«
»Gerne.« Sie erhob sich und lief zur Kanne, die auf dem Tisch stand, als es draußen plötzlich knallte. Anna hielt inne, horchte. »Will ist zurück.« Ein leichtes Lächeln erhellte ihre Züge, als hätte sie seit Tagen auf ihn gewartet und seiner Rückkehr entgegengefiebert.
»Wollen wir ihn begrüßen?«, fragte ich.
»Das liegt ganz allein bei dir.«
Ich legte eine der Decken ab, die andere behielt ich um die Schultern und stand auf. »Komm. Vielleicht hat er noch etwas Interessantes herausgefunden.«
2. Kapitel
Jaydee
»Du darfst die Nachfahrin nicht töten. Sie muss leben ...«
»Wir sind eins. Wir sind vom gleichen Blut. Lilija hat uns beide erschaffen.«
»Lass mich dir helfen.«
»Lieber sterbe ich!«
»Erst wenn Lilija freikommt, wirst du dein volles Potenzial entwickeln. Willst du für den Rest deines Lebens Sklave deiner selbst sein?«
»Das muss aufhören. Irgendwie.«
Irgendwie. Irgendwie. Irgendwie!
Mein Körper war erfüllt vom Fieber. Es brannte in mir, wütete in meinen Zellen, so wie alles in mir wütete. Der Jäger bemühte sich freizukommen. Er wehrte sich. Weiter und weiter und weiter, aber Akil behielt mich sicher im Griff, hatte meine Hände auf meinem Rücken gefesselt und ließ mir nicht einen Millimeter Spielraum. Die ganze Zeit über redete er beruhigend auf mich ein, sprach Worte, die kaum in mich drangen. Ich hatte völlig die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, wo wir hingen, ob noch beim Ritt zwischen den Welten oder in Arizona oder in England. Womöglich steckte ich noch immer in dem Nebel fest.
»Komm, Bruder. Komm wieder zu mir.«
Ich riss die Augen auf und keuchte.
»Wir sind zu Hause«, sagte Akil und schob mich voran. Ich stolperte mehr, als dass ich ging.
Die Düfte vermengten sich zu einem wirren Brei. Ich roch die Wüste, den Staub, sogar Rauch wie von einem Feuer. Alle Eindrücke prasselten ungefiltert auf mich ein. Lichter. Schatten. Kälte. Wärme. Mein Unterbewusstsein konnte nicht mehr unterscheiden, was wichtig war und was nicht. Akils Gefühle überfluteten mich oder gesellten sich zu denen, die sowieso schon in mir tobten. Erst jetzt, da die Tattoos weg waren, fiel mir auf, wie störend die Empathie sein konnte. Die ganze Zeit über hatten die Zeichen alles von mir abgeblockt und mich davor bewahrt, nun waren sie verschwunden – und mit ihnen die Mauer, die mich geschützt hatte.
»Ich hole dich zurück.«
Er wollte mir helfen, wollte, dass ich die tiefe Verbundenheit zwischen uns wahrnahm, unsere Freundschaft aufsog und mich an dieser Art von Liebe festhielt. Ich konnte es nicht. Meine Seele schrie nach ihr, wir waren noch nicht miteinander fertig – würden es vermutlich auch nie sein.
»Wir sind gleich im Stollen, hörst du?«
Nein. Ich hatte mich vollkommen verloren, taumelte blind durch den Fieberdunst. Mein Arm schmerzte derart, dass ich kurz vor der Ohnmacht stand. Jede kleine Berührung, jedes Rucken, jede Vibration trieb mir den Schweiß in den Nacken.
»Wir bekommen das hin. Du wirst wieder gesund.«
Und was, wenn nicht? »Jedes Mal, wenn du den Arm bewegst, wirst du an mich denken und an das, was ich mit dir gemacht habe. Ich bin für immer ein Teil von dir. Irgendwann wirst du wahnsinnig werden vor Schmerzen.«
Ich war es jetzt schon. Anthony hatte ganze Arbeit geleistet. Selbst nach seinem Tod hatte der Mistkerl mich noch im Griff.
»Wir sind sofort da. Willst du noch mal Heilsirup?«
Hatte ich schon welchen gehabt?
»Jay ...«
Mir war so übel, dass ich mich gleich übergeben musste. Die Schmerzen beherrschten meinen Körper, ich musste sie loswerden, genau wie diese elenden Gefühle. So viele davon. Alles miteinander vermischt. Wie sollte mein Geist das ertragen?
Akil löste vorsichtig die Fesseln von meinen Handgelenken. Es tat gut, als das Blut wieder durch meine Arme floss und ich meine Schulter freier drehen konnte. Eine Hand legte sich auf meine Stirn, sie war heiß. Nicht angenehm. Ich schlug sie weg. Er packte mich. Ich roch kalten Stein, hörte Wasser tropfen.
Nein ...
Ich war zurück in Anthonys Gefängnis.
Ich schrie, tobte und wehrte mich aus Leibeskräften.
»Jay, beruhige dich! Du bist in Sicherheit!«
Niemand würde mich wieder einsperren! Ich durfte das nicht zulassen. Auf keinen Fall!
»Hey!«
Ich drosch blind umher, wusste nicht, auf was ich traf oder gegen wen ich mich wehrte, wollte nur weg.
»Verflucht noch mal!«