Die Chroniken der Seelenwächter - Band 20: Es war einmal ... - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 20: Es war einmal ... E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Nach dem Schockerlebnis am See versucht Jess, einen Sinn hinter dem Handeln ihrer Mutter zu finden. Gemeinsam mit Will und Kendra rätselt sie, wie sie bekommt, was ihr zusteht. Jaydee findet langsam zurück in sein Leben und erholt sich vom Fieberwahn. Er erzählt Abe von seinen Erlebnissen und überlegt, wie er in all den Lügen und Geheimnissen, die ihn sein Leben lang begleitet haben, einen Sinn finden kann. Auch Akil stellt sich seinen Aufgaben und tritt - gemeinsam mit Ben - in eine Welt ein, die ihm mehr abverlangt, als er je angenommen hat. Er erhält eine weitere Vision, in der er abermals ein Leben retten muss. Dieses Mal von jemanden, den er kennt - und es könnte bereits zu spät sein. Dies ist der 20. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel10

3. Kapitel19

4. Kapitel24

5. Kapitel30

6. Kapitel39

7. Kapitel48

8. Kapitel56

9. Kapitel63

10. Kapitel74

11. Kapitel82

12. Kapitel90

13. Kapitel99

14. Kapitel110

Die Fortsetzung der Seelenwächter:127

Impressum128

Die Chroniken der Seelenwächter

Es war einmal ...

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Jaydee

Als ich aus der Höhle trat, fühlte ich mich merkwürdig. Mir war schwindelig, meine Beine waren kraftlos, und in meinen Eingeweiden rumorte die Unruhe. Mein Körper gehörte nicht länger mir, er war wie ein unpassendes Kleidungsstück, das ich mir von jemandem geliehen und angezogen hatte. Es war befremdlich und unangenehm, und ich musste dieses Gefühl so schnell wie möglich abstreifen.

Ich nahm einen tiefen Atemzug und inhalierte die eisige Luft. Der Sauerstoff breitete sich in meinen Lungen aus, erinnerte mich daran, dass ich lebendig war. Die Vögel trällerten ihre Lieder, der Himmel zog sich dunkelblau über mich. Es war ein perfekter Wintertag, kalt und kristallklar. Ich schloss die Augen und sog alles wie ein Ertrinkender in mich auf, in der Hoffnung, die Eindrücke könnten mich ankern. Meine Haut prickelte, ein Teil von mir hing noch immer bei Coco fest. Die Reise war zu intensiv gewesen, als dass ich sie einfach vergessen konnte.

Ich musste Geduld haben, mir die Zeit lassen, die ich brauchte, und mir mit jedem Atemzug bewusst machen, wer ich war.

Kleinigkeit also ...

Ich fokussierte mich auf die Umgebung. Alles war versunken im Schnee, der Wind raschelte leise in den Ästen, es roch nach Tannen, nach Winter, nach Ruhe. Die Uhrzeit konnte ich nicht schätzen, ich sah die Sonne nicht, aber vermutlich war es Mittag. Ob ein Tag vergangen war, eine Woche, ein Monat, das wusste ich nicht. Wenn die Seele auf Wanderschaft ging, spielte Zeit keine Rolle mehr.

Und was für eine Wanderung es gewesen war.

Als ich vor ein paar Minuten nackt aus diesem seltsamen Trip erwacht war, hatten Leoti, Abe, Tate und Rowan noch bei mir gesessen. Sie hatten mich gesund gepflegt, mir mit Kräutern und ihrer ganz eigenen Magie die Krankheit aus dem Körper gezogen und mich dann alleingelassen. Wenigstens hatten sie mir Klamotten hingelegt: warme, mit Pelz gefütterte Schuhe, feste Hosen aus Leinen, ein langärmeliges Shirt und eine Jacke. Normalerweise störte mich Kälte nicht, ich wäre auch mit weniger ausgekommen; aber ich spürte, dass ich noch geschwächt war und Energie für die Heilung benötigte.

Ich streckte den Arm aus, drückte auf meiner Schulter herum. Sie fühlte sich besser an, etwas steif noch, und die Narbe, die sich quer über den Muskel zog, scheuerte unangenehm am Stoff. Hoffentlich legte sich das, sonst würde Anthonys Drohung doch wahr werden: »Jedes Mal, wenn du den Arm bewegst, wirst du an mich denken und an das, was ich mit dir gemacht habe. Ich bin für immer ein Teil von dir.«

Die Erinnerung an ihn trieb die Wut von Neuem nach oben. Ich ballte die Hände zu Fäusten, bohrte die Nägel fest in meine Haut, ein leises Knurren kam über meine Lippen. Ich schloss die Augen, zwang mich selbst zur Ruhe und den Jäger in seine Abgründe. Auch wenn ihn die Dowanhowee zurückgedrängt hatten, dürstete er nach dem Blut, das ihm verwehrt geblieben war. Ich musste auf ihn aufpassen, womöglich mehr als sonst. Also fokussierte ich mich auf meinen Atem, auf die kalte Luft, die mich durchflutete. Fast meinte ich, das leise Summen der Dowanhowee zu hören, ihren monotonen Singsang, mit dem sie mich aus dem Koma geholt hatten. Ich legte den Kopf schräg, lauschte dem Geräusch, doch es war nicht mehr als ein Echo aus meiner Seele.

Ob es wirklich stimmte, dass die Seelenwächter von ihnen abstammten? Es würde sehr vieles erklären, vor allen Dingen ihre Immunität uns gegenüber.

Aber nicht, warum Ilai uns nie davon erzählt hat.

Wobei es mich nicht wundern sollte. Ilai hatte sein eigenes Süppchen gekocht, das wurde mir immer mehr bewusst. Wenn ich darüber nachdachte, wie viel er vor uns geheim gehalten hatte ... Nicht nur die Sache mit mir, auch als Anna und ich nach dem Kranich geforscht hatten, hatte Will alle Beweise aus der Bibliothek verstecken müssen, damit wir im Dunkeln tappten.

»Die Seelenwächter sind nicht so rein, wie du denkst. Ilai war einer der schlimmsten.«

Cocos Worte über ihn. Sie sickerten langsam in mich, wie ein Mantra, das sich mit jeder Wiederholung verfestigte. Ilai hätte mir gleich nach meiner Ankunft vor neun Jahren von meiner wahren Herkunft erzählen können, doch er hatte es vorgezogen zu schweigen. All die Zeit hatte er mich beobachtet, mich mit meinen quälenden Gedanken alleingelassen und mir die Wahrheit verwehrt. So viele Geheimnisse. Immer und immer wieder. Auch jetzt noch. Für jeden Stein, den ich umdrehte, jede Frage, die beantwortet wurde, tauchte ein neues Rätsel auf.

So wie das mit Coco und mir. »Wir sind auf das reduziert, was wir von Anfang an waren: Seelen, die im Mutterleib zusammengefunden haben und als Geschwister das Licht der Welt erblickten.«

Noch wusste ich nicht, was ich mit dieser Information tun sollte, ob sie Auswirkungen auf mich hatte; aber bisher fühlte ich mich nicht anders als vorher auch, und selbst wenn es stimmte: Ich war nicht mehr der, den sie zurückhaben wollte. Ich war nicht Kian.

Ich bin Jaydee Stevens.

Von Mikael Stevens großgezogen. Er war mein Vater gewesen, er hatte alle Höhen und noch viel mehr Tiefen meines Erwachsenwerdens mit mir durchschritten. Er hatte mich aufgefangen, mir geholfen, wenn es mir schlecht ging, und mir seine bedingungslose Liebe geschenkt. Er war alles für mich gewesen, meine Familie, mein Halt, mein Zuhause. Ich schüttelte mich, griff an meine Schläfen und massierte sie. Mir schwirrte der Kopf von all den Eindrücken. Meine Seele stand vollkommen neben meinem Körper, als wären es zwei getrennte Wesen.

Vielleicht half Bewegung.

Ich zog den Kragen enger und stapfte ziellos durch den Schnee davon. Diese Gegend war mir vertraut, hier hatten wir damals Unterschlupf gefunden, als die Schattendämonen mutiert waren und auf alles Jagd gemacht hatten, was ihnen in die Quere gekommen war. Ben und ich waren in einem wagemutigen Stunt auf Mirabell aus der Höhle geprescht, weil wir Jess retten wollten, die in einem Dorf gestrandet gewesen war.

Jess ...

»Du verzehrst dich nach ihr, und diese Sehnsucht wird stärker sein als alles andere.«

Ja, das tat ich, und dennoch beunruhigte mich der Gedanke an sie zutiefst. Mich fröstelte auf einmal. Vielleicht lag es an der Kälte, vielleicht daran, weil mir voll und ganz bewusst war, was ich ihr angetan hatte. Was ich uns angetan hatte ...

»Lieber sterbe ich. Und dich nehme ich mit.«

Das hatte ich genauso gemeint. Jedes Wort, jedes Gefühl, jede Boshaftigkeit; alles war aus den Tiefen meiner Seele gekommen, und ich hätte sie am liebsten mit meinem gesamten Hass zerstört. Als wir uns gegenübergestanden hatten und sie mir in die Augen gesehen hatte, erkannte sie es. Ihr war klar geworden, dass sie etwas von mir verloren hatte, und ich war mir noch nicht sicher, ob ich es zurückholen konnte, ob das mit uns noch eine Zukunft hatte.

Wir hätten das niemals anfangen sollen.

Von Beginn an hatten wir gewusst, dass wir mit dem Feuer spielten, und nun hatten wir uns gehörig die Griffel verbrannt. Jess hatte mir ihr Herz und auch ihren Körper geschenkt, sie hatte mir alles gegeben und dafür Schmerzen zurückbekommen. Welche Frau wollte so einen Mann haben?

»Soll ich für dich anrufen?«, fragte auf einmal eine Mädchenstimme hinter mir.

Ich zuckte vor Schreck zusammen und fuhr herum. Im ersten Moment hätte ich schwören können, dass Coco dort stand, doch es war Flo.

Sie wartete zwei Meter von mir entfernt, Benson saß brav neben ihr und sah mich schwanzwedelnd an.

»Ich ...« Verflucht, ich hatte sie weder gehört noch gewittert oder sonst was. Waren meine Sinne durch den Fieberwahn derart verkrüppelt? »Wie lange folgst du mir schon?«

Sie zuckte mit den Schultern. Flo hatte sich verändert, seit ich sie zuletzt gesehen hatte. Bei dem Angriff der Dämonen hatte sie ihre Mutter verloren und war zur Vollwaise geworden. Der Verlust hatte die Unschuld aus ihren Zügen vertrieben und sie erwachsener gemacht. Ihre Haare waren länger, sie hatte an Gewicht und Kurven zugelegt, und ihre Gesichtszüge waren markanter geworden. Sie konnte ihre Herkunft nicht leugnen, die Dowanhowee-Gene waren nicht zu übersehen.

»Ben hat drei Mal angerufen und nach dir gefragt«, sagte sie. »Abe meinte, ich solle nach dir sehen und Ben Bescheid geben, sobald du bereit bist.«

Ben. Und Akil. Sie hatten mich hergebracht. Glaubte ich zumindest, Wills Schlafzauber hatte mich ziemlich ausgeknockt. Die beiden hatten mich überwältigt und mit allem, was sie gehabt hatten, niedergerungen. Zorn stieg bei dem Gedanken an den Kampf in mir auf. Die Wunde an meiner Schulter zuckte, ganz kurz meldete sich der Jäger. Er hasste es, wenn er verlor.

»Bist du denn bereit?«, hakte Flo nach und zog meine Aufmerksamkeit zurück zu sich. Ich biss auf die Innenseite meiner Wange, zwang mich, die niederen Instinkte dort zu halten, wo sie hingehörten.

Nicht jetzt. Der Jäger hatte seine Zeit gehabt, nun war es vorüber.

»Wo ist Akil?«, fragte ich.

»Bei Ben, in dessen Wohnung. Er hat eins eurer Pferde.«

»Einen Parsumi.«

Sie nickte. »Von Akil. Es war ein Geschenk.«

Interessant. »Wie lange war ich in der Höhle gewesen?«

»Zwei Nächte und den halben Tag.«

Verdammt.

»Es ist Mittag. Wir haben Suppe gekocht, falls du Hunger hast.«

Den hatte ich tatsächlich. Mein Magen knurrte, mein Mund war völlig ausgetrocknet. Flo lächelte mich an, drehte herum, bevor ich ihr antworten konnte, und hüpfte davon. Sie trug ein Kleid, das eher in den Sommer passte als in den Winter, Boots, die meinen nicht unähnlich waren, keine Jacke, dafür einen dicken Schal. Interessantes Styling.

Benson sprang sofort auf und folgte ihr bei Fuß. Die beiden agierten wie eine Einheit, als könnte der eine die Gedanken des anderen lesen. Würde mich nicht wundern, wenn es tatsächlich so wäre.

Ich sah mich noch einmal um, dann lief ich ihr nach. Den Weg ins Dorf hätte ich auch ohne sie gefunden, bei meinem letzten Aufenthalt hatte ich mir alles gut eingeprägt. Dennoch war es angenehm, Gesellschaft zu haben, auch wenn Flo die ganze Zeit über nur vor sich hinsummte, statt zu reden. Ab und an warf sie ein Stöckchen für ihren Hund und genoss ansonsten das Winterwetter.

Nach einem kurzen Fußmarsch gelangten wir ins Dorf. Es sah noch so aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Die Kampfspuren lauerten an jeder Ecke, einige der Häuser waren unbewohnbar, Dachziegel fehlten und zum Teil die Fenster – bei einem Gebäude sogar die Tür.

»Ihr kommt mit dem Aufbau nicht voran.«

»Nein, aber wir haben es uns trotzdem schön gemacht. Ich wohne jetzt bei Rowan. Er ist mein Vormund geworden.«

Das machte Sinn. Sie brauchte einen Elternersatz, und Rowan war im perfekten Alter dafür.

»Kann ich dich etwas fragen?«

»Das tust du doch schon.«

Ich schmunzelte. Die Dowanhowee liebten Wortklauberei. »Weißt du zufällig, wie weit die Geschichte eures Volkes zurückgeht? Also, wie viele Jahre?«

»Sehr viele Tausende Jahre. Abe erzählt gerne die alten Sagen.«

»Und welche genau?«

»Von Niakajahi, der Tochter des Schmieds, die ganz allein und zu Fuß vier Monde lang in den Bergen umherirrte, weil sie nach einem besonderen Kraut suchte, das gegen Wundbrand half. Ihr Vater hatte sich verletzt und ...«

»Ich dachte eher an Geschichten über die Seelenwächter und die Dowanhowee.«

»Warum sagst du das dann nicht?«

Ja, warum eigentlich nicht? »Ist dir etwas bekannt?«

Sie führte mich die Straße hinunter auf ein Haus zu. Hinter den Fenstern brannte Licht, ich roch Gewürze, frisches Brot, Kaffee. Mein Magen zog sich vor Hunger zusammen. Die letzte Mahlzeit lag viel zu lange zurück.

»Diese Erzählungen sind sehr alt.«

»Und du darfst nicht darüber reden?«

Flo blieb vor dem Zaun stehen, der den Vorgarten von der Straße trennte. Sie schubste Schnee von einer der Latten, ich merkte ihr an, wie sie mit der Antwort rang und sie nicht über die Lippen brachte.

»Flo?«

Sie zuckte zusammen, blickte sich um, dann kam sie ganz nahe zu mir. Der Duft nach Tannen stieg mir in die Nase. Flo war ein Naturkind. »Du darfst nicht danach fragen«, flüsterte sie.

»Warum nicht?«

»Es ist verboten.«

»Wer hat es verboten?«

Sie öffnete den Mund, doch statt zu antworten, deutete sie auf die Haustür. »Geh rein, Leoti gibt dir Essen.«

Ich wollte nachhaken, doch sie blickte mich ruhig an und signalisierte mir, dass es sinnlos war. Ihre tiefbraunen Augen ruhten auf meinen. Flo war äußerlich noch fast ein Kind, aber innerlich wirkte sie so weise wie der Rest des Stammes. Ihre Seele war älter als die der meisten Menschen, denen ich begegnete. Wir sahen uns fast eine Minute lang an, dann drehte sie herum, streichelte Benson über den Kopf und hüpfte – wieder vor sich hinsummend – die Straße hinunter.

Hol sie zurück und bring sie zum Sprechen!

Ich ballte die Hände zu Fäusten. Es wäre für mich ein Leichtes, sie zu schnappen und so lange zu bearbeiten, bis sie redete. Und eine Freude noch obendrein. Ich könnte sie hinter eins der Gebäude zerren, niemand würde ihre Schreie hören, und Schnee sah noch schöner aus, wenn er getränkt mit rotem Blut war ...

Ich brummte, schüttelte die Gedanken mit aller Macht ab, wandte mich zur Tür und trat ohne zu klopfen ein.

Der Jäger folgte mir.

2. Kapitel

Akil schreckte aus dem Schlaf hoch. Der Raum war ihm fremd, genau wie die Gerüche, das Gefühl der Kissen unter ihm. Es war warm, die Sonne biss in seinen Augen, der Duft nach Mensch hing in der Luft. Akil drehte sich und sah zum Fenster hinaus. Draußen glitzerte eine frische Schneedecke auf dem Balkon. Er brummte leise, strich sich durchs Gesicht und wurde sich nur langsam seines eigenen Körpers bewusst.

Ich bin bei Ben.

Er war tatsächlich auf seiner Couch eingeschlafen, dabei wollte er sich doch nur kurz ausruhen, bevor sie zu Abend aßen.

War wohl nichts. Da die Sonne noch recht tief stand, war es vermutlich früher Morgen. Er schwang die Beine von der Couch und wartete, bis er komplett wach wurde. Seine Hosen standen vor Dreck und Blut. Genau wie sein Shirt. Er stank nach Kampf, nach diesem widerlichen Nebel, durch den er sich gequält hatte, nach Krankheit und zu viel Kummer. Seine Kleidung erzählte die Geschichte der letzten Tage.

Es war der Horror gewesen.

Erst die Suche nach Jaydee, die Konfrontation mit Agash – Akils ganz persönlichem Dämon aus der Hölle – und schließlich der irre Kampf mit Cocos Helfern im Nebel. Akil fuhr an die Stelle am Bauch, an der Coco ihn erwischt hatte. Es zwickte ein klein wenig, aber dank einiger Flaschen Heilsirup war die Wunde fast nicht mehr zu spüren. In ein paar Tagen würde er nicht einmal mehr darüber nachdenken. Es war eine Verletzung von unzähligen, die er sich in den letzten zweitausend Jahren zugezogen hatte.

Was danach passiert war, würde viel länger in ihm nachhallen. Kaum waren alle in Sicherheit gewesen, war Jaydee durchgedreht. Gemeinsam mit Will hatte Akil versucht, Jaydee zur Vernunft zu bringen, doch Anthony hatte ihn so schwer verletzt, dass er vollkommen außer sich war. Nichts hatte geholfen. Kein Sirup, keine Heilkräfte, nicht einmal Raphael war in der Lage gewesen, das Fieber zu mildern.

Also hatte Akil ihn mit Ben zu den Dowanhowee gebracht, wo er im Moment ausharrte. Akil hatte seinen besten Freund Fremden überlassen. Es war ein komisches Gefühl gewesen, so, als hätte Akil ihn verraten – aber er wusste, dass es die beste Entscheidung für sie alle gewesen war. Wenn ihm jemand helfen konnte, dann diese besonderen Menschen mit ihren tiefen Wurzeln in die Natur.

Es klimperte in der Küche. Ben richtete offenbar das Frühstück. Akil zog das schmutzige Shirt zurecht und stand auf. Früher kam es ein paar Mal die Woche vor, dass er in fremden Kissen aufwachte. Es hatte ihm nie etwas ausgemacht, woanders zu schlafen, sein Körper passte sich leicht an. Steifer Nacken, schmerzender Rücken: Das alles kannte er nicht. Dass er bei Ben übernachtet hatte, störte ihn auch nicht, eher, dass er so früh eingeschlafen war. Eigentlich wollten sie gemeinsam über Valerian recherchieren und Noah anrufen.

Den Ben nicht erreicht hatte.

Unwillkürlich fragte Akil sich, wo er sich wohl herumgetrieben hatte. Er wusste nicht, welcher Tag war. Vielleicht ein Wochenende? Womöglich war Noah feiern gewesen.

Oder er hat lange in der Galerie gearbeitet.

Was sich wesentlich besser anfühlte als die Vorstellung, dass Noah mit einem anderen ... Akil schüttelte den Kopf wegen seiner schrägen Gedanken. Er war kein eifersüchtiger Typ, noch nie gewesen, und er würde jetzt nicht damit anfangen. Außerdem hatte er keine Besitzansprüche auf Noah. Ihre Beziehung war nicht näher definiert. Sie waren Freunde, die es in der Kiste ordentlich krachen ließen, mehr nicht.

Akil lief zur Küche, eine Maschine brummte, und kurz darauf strömte der Duft nach Kaffee in seine Nase. Leise Musik empfing ihn, rockige Beats mit viel Melodie. Akil kannte die Band nicht, er war nicht sehr auf dem Laufenden. Langsam betrat er den Raum. Ben stand mit dem Rücken zu ihm am Herd, wippte im Takt und schlug Eier auf. Der Toaster blinkte, es roch nach frischem Brot. Zwei leere Pizzakartons stapelten sich neben dem Kühlschrank. Die hatten sie gestern eigentlich zu Abend essen wollen, aber Akil war vorher eingeschlafen.

»Hast du die etwa alleine gefuttert?«

Ben zuckte zusammen und fuhr herum. »Beim heiligen Ikandu! Musst du mich so erschrecken!«

Ein Ei flutschte zu Boden, zersprang und hinterließ eine kleine Sauerei.

»Entschuldigung. Ich dachte, du hörst mich. Hab ja genug Krach gemacht.«

»In deinen Ohren vermutlich. Ich bin Polizist, kein hoch entwickeltes Superwesen, und nein: Ich habe nicht beide Pizzen gegessen. Eine habe ich auf einen Teller gepackt und Chris gegeben, als ich die Klamotten für dich geholt habe.«

Akil schmunzelte, nahm ein Küchentuch und wischte das zerschlagene Ei weg. »Danke für die Couch.«

»Jederzeit gerne. Ich hoffe, du hast gut geschlafen, hat ja lange genug gedauert.«

»Wie meinst du das?«

»Du warst einen ganzen Tag und eine weitere Nacht weggetreten. Heute ist übermorgen.«

»Wie bitte, was?« Das konnte nicht stimmen!

»Hab sogar versucht, dich zwischendurch zu wecken, aber da war nichts zu machen. Das war dann wohl der Schlaf der Gerechten.«

»Ich ... ey, du verarschst mich.«

Ben schüttelte den Kopf. »Ich würde dir ja die aktuelle Zeitung zeigen, aber das bringt dir vermutlich nicht viel.«

Richtig, denn erstens konnte er sie nicht lesen, und zweitens müsste er dazu erst einmal wissen, welcher Tag vorgestern gewesen war. »Das letzte Mal habe ich so lange geschlafen, nachdem mich Joannes Pfeifzauber ausgeknockt hat.« Akil hatte kurz darauf seine Fähigkeiten verloren, aber zum Glück war es nun nicht so. Er fühlte die Macht der Erde stark und sicher in seinen Adern pulsieren; so kräftig sie eben war, mit dem verfluchten Armband. Er streckte die Hand aus, betrachtete seine Finger. Die Nägel waren mit Dreck verkrustet, genau wie sein Arm, seine Klamotten ... Er fühlte sich klebrig und schmutzig, ebenfalls ein Zustand, den er nur zu gut kannte. Dämonenjagd war selten eine saubere Angelegenheit. »Ich muss aus diesen Sachen raus.«

»Da werde ich dir nicht widersprechen.«

»Tut mir leid, wenn ich dein Sofa besudelt habe, ich zahle dir ’ne Reinigung.«

»Die Putzfrau wird sich darum kümmern, mach dir keinen Kopf.«

»Normalerweise schlafe ich ja nackt, aber das hätte dich nur deprimiert.« Na ja, eigentlich hatte er keine Kraft mehr gehabt sich auszuziehen.

Ben runzelte die Stirn und nahm die Eier vom Herd. »Das ist überaus rücksichtsvoll, jetzt deprimiere nicht länger meine Nase und geh duschen. Frische Zahnbürsten sind im Schrank unter dem Waschbecken, Handtücher findest du im Regal links. Frühstück ist gleich fertig.«

»Gibt es was Neues von Jaydee?«

»Nein.«

»Hast du dort angerufen?«

»Ja. Dreimal gestern und gleich heute früh, bevor Flo zur Schule musste. Sie sagte, dass die anderen in der Höhle bei ihm sind. Wir müssen weiter warten.«

»Nicht mal einen klitzekleinen Hinweis, ob die Behandlung anschlägt?«

Ben schüttelte den Kopf.

»Verflucht.« Akil sollte selbst in die Berge reiten und sich davon überzeugen, dass alles gut war.

»Lass sie ihre Arbeit machen«, sagte Ben, als wüsste er genau, worüber Akil gerade nachdachte. »Sie benötigen Konzentration.«

Akil nickte missmutig. Es passte ihm nicht, aber Heilung brauchte manchmal Zeit. Er wusste das nur zu gut. »Ich sollte auch mal bei Will und Anna durchfunken, die fragen sich bestimmt, was los ist, außerdem möchte ich wissen, wie es Jess geht.« Es war nicht ungewöhnlich, dass sie mal ein paar Tage nichts voneinander hörten. Meistens spürten sie es, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten steckte. Es war wie ein unsichtbares Band, das oft bei Seelenwächterfamilien vorkam. Vor allen Dingen Anna hatte einen guten Sensor dafür entwickelt, ob einer von ihnen Hilfe brauchte. »Was ist mit Noah?«

»Er war für ein paar Tage geschäftlich in Afrika unterwegs. Deshalb ging er auch nicht ans Handy. Seine Mitarbeiterin sagte mir aber, dass er heute Abend zurückerwartet wird.«

»Afrika? Was hat er denn da gemacht?«

»Kunst kaufen, sie wollte mir keine nähere Auskunft geben, und ich hatte keine Veranlassung weiterzubohren.

»Klar.« Trotzdem fuchste es Akil, dass Noah nicht erreichbar war. Nur, weil er Sachen für die Galerie besorgte, war das doch kein Grund, die Anrufe zu ignorieren.

Vielleicht hat er keine Zeit und besorgt sich dort noch ganz andere Dinge ...

Akil schüttelte den Gedanken so schnell ab, wie er gekommen war. Es ging ihn einen Feuchten an, was Noah mit seinem Leben anstellte. »Ich brauche ein bisschen Erde, damit ich Will oder Anna anfunken kann. Darf ich mich bei einer deiner Topfpflanzen bedienen.«

Ben runzelte die Stirn.

»Ich kann auch runter vors Haus gehen.«

»Ich bitte darum, es kostet mich schon alle Mühe, meine Pflanzen am Leben zu halten.«

»Da könnte ich etwas machen.« Akil wackelte mit den Fingern. »Ich bin sozusagen mit dem perfekten grünen Daumen ausgestattet. Nach meiner Behandlung werden sie frohlocken.«

Ben seufzte resigniert und winkte ab. »Was auch immer du tust: Geh zuerst duschen!«

Akil schmunzelte. »Aye aye, Chef«, wiederholte er seinen Spruch von vorgestern, drehte herum und zog im Laufen sein Shirt über den Kopf, um Ben einen Blick auf seinen nackten Rücken zu präsentieren.

»Angeber!«, rief der ihm hinterher.