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Jess geht den nächsten Schritt und kappt die Verbindung zu ihrem menschlichen Zuhause. Ist der Jadestein diesen Preis wirklich wert, oder verkalkuliert sie sich? Während sie mit sich hadert, ist Jaydee weiterhin im Chugome gefangen und versucht, mit aller Macht daraus auszubrechen. Doch die Urahnen der Dowanhowee haben andere Pläne und entblättern einen Teil seiner Seele, den er bisher ignoriert hatte. Jaydee rutscht tiefer in seine Astralreise und erkennt, wie er Akil endlich helfen kann, das Armband loszuwerden. Doch um zu seinem Freund zu gelangen, muss er erst einmal den Weg zurück in die Realität finden. Dies ist der 21. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
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Seitenzahl: 188
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel3
2. Kapitel11
3. Kapitel16
4. Kapitel27
5. Kapitel36
6. Kapitel48
7. Kapitel55
8. Kapitel60
9. Kapitel68
10. Kapitel74
11. Kapitel80
12. Kapitel84
13. Kapitel89
14. Kapitel96
15. Kapitel103
16. Kapitel108
17. Kapitel114
Die Fortsetzung der Seelenwächter:123
Impressum124
Die Chroniken der Seelenwächter
Hinter der Maske
Von Nicole Böhm
Jessamine
Angeblich gab es Menschen, die freiwillig Eisbäder nahmen. Es sollte wohl gut fürs Immunsystem sein, und irgendein Holländer hielt sogar den Rekord für das längste Planschen. Mochte ja sein, dass es förderlich für die Abwehr war und die Willenskraft schulte, doch ich hatte eindeutig genug vom klirrend kalten Wasser.
In dem ich schon wieder stand.
Es schwappte gegen meine Schienbeine und sickerte in meine Stiefel. Die Kälte kroch an meinen Waden hoch, als hätte das Wasser plötzlich Saugnäpfe entwickelt, mit denen es sich unter meiner Kleidung festklebte. Mich schüttelte es, meine Zähne klapperten haltlos aufeinander, wobei das auch an der Aufregung liegen konnte. In meinem Inneren tanzten die Gefühle wild umher. Sie wechselten sich gegenseitig ab und verwandelten meine Seele in ein Potpourri aus Vorfreude, Aufgeregtheit, Sorge, Angst, Trauer, Furcht.
Mir stand etwas Großes bevor, und ich hatte keine Ahnung, ob es das Richtige war. Ich wusste nur, dass wir durch mein Opfer an den Jadestein kämen, dass er endlich zurück zu Jaydee durfte und er ihm hoffentlich helfen würde, so wie Ariadne es prophezeit hatte.
Denn wenn nicht, wäre das alles umsonst. Dann würde ich gleich einen wichtigen Teil meines Lebens sinnlos hinter mir lassen. Ein weiterer Abschied, der womöglich gar nicht sein musste, denn niemand konnte mir sagen, ob meine Entscheidung richtig war, ob der Jadestein wirklich so wertvoll war, dass er das aufwiegen würde, was ich bereit war herzugeben. Ich musste einfach daran glauben, etwas anderes blieb mir nicht mehr übrig.
Ich atmete tief ein und aus, nahm ein letztes Mal ganz intensiv die Umgebung in mich auf und ließ die vielen Erinnerungen zu, die an diesen Ort gebunden waren. Nach all den Verlusten sollte ich mich an einen Abschied gewöhnt haben, aber das hatte ich nicht. Jedes Mal brach ein Stück von mir ab, jedes Mal wurde etwas aus meiner Seele gerissen und hinterließ stattdessen Schmerz und Kummer und Dunkelheit.
»Jess?« Will stand am Ufer und wartete geduldig, bis ich soweit war, den nächsten Schritt zu gehen. Er wollte erst mit mir ins Wasser kommen, aber Kendra meinte, dass es das Ritual, das wir gleich durchführen würden, stören könnte. Feuer und Wasser vertrugen sich nun mal nicht, und ich hatte das Gefühl, dass es Will nicht ganz unrecht war. Er mied das Element, wenn möglich.
»Bist du soweit?«, fragte Will zaghaft.
»Kann ich das je sein?«
»Vermutlich nicht, aber wenn es für dich geht, würde Kendra anfangen.«
Ich blickte über meine Schulter zurück zu ihr. Sie wartete mit verschränkten Armen am Ufer neben Will und musterte mich interessiert. Das Morgenlicht verfing sich in ihren roten Locken und ließ ihre Züge weicher wirken, als sie eigentlich waren. Ihre Augenfarbe funkelte beinahe in dem gleichen Blauton wie der See. Für jeden anderen hätte sie wunderschön gewirkt, die Nähe zu ihrem Element verzauberte sie; doch ich wusste es besser, denn ich hatte mehrfach hinter diese unschuldige sommersprossige Fassade geblickt. Sie war ein Biest, das keine Rücksicht auf die Gefühle anderer nahm und mit Freuden darauf herumtrampelte.
Sie grinste mich an, als spürte sie, worüber ich nachdachte. Doch zum Glück waren Wasserwächter nicht fähig, Gedanken zu lesen. Gefühle reichten vollkommen.
Zac verharrte ganz still neben ihr und warf ihr immer wieder einen verstohlenen Seitenblick zu. Er wirkte unsicher inmitten der beiden Seelenwächter; ein wenig verloren.
»Hättest du doch lieber Anna dabei?«, fragte Will. »Sie sagte, ich solle sie anfunken, wenn du sie brauchst.«
»Schon gut. Danke.« Sie sollte sich ausruhen. Das Ritual, das wir durchgeführt hatten, war anstrengend gewesen, obendrein hatte Zac sie verunsichert. Manchmal reagierte sie so auf fremde Männer und kapselte sich ab. Oder sie war einfach zu schwach gewesen, weil sie für mich so viel ihrer Energie geopfert hatte. Es musste ohne sie gehen. »Ich bin soweit.«
»Wurde auch Zeit«, sagte Kendra und lief zu mir ins Wasser. Ihr machte die Kälte überhaupt nichts aus, im Gegenteil. Sie stiefelte mit einer Selbstverständlichkeit in den See, als ginge es hier um einen herrlich-angenehmen Sommerbadeurlaub.
»Wir müssen weiter rein«, sagte sie, als sie meine Höhe erreicht hatte, packte meine Hand, noch bevor ich etwas erwidern konnte, und zerrte mich mit sich.
Ihre Finger bohrten sich grob in meine Haut, ich wehrte mich gegen ihren Griff, aber sie ließ keinen Millimeter locker. »Zu fest für dich?«
»Nein, aber ich kann selbst laufen!«
An der Stelle, an der sie mich anfasste, brannte es leicht. Es war nicht direkt unangenehm, eher wie ein sanfter Stromstoß. Mit der Berührung flauten meine Gefühle ab. Ruhe kehrte in mich, der Sturm, der vorher so wild umhergewirbelt hatte, beruhigte sich.
Kendra hilft mir.
Schon wieder.
Sie entzog mir meine Sorge, meine Angst, meine Unsicherheit und gab mir dafür Mut und Stärke. Es war nicht das erste Mal, dass sie das tat, und es verunsicherte mich nach wie vor; denn in solchen Momenten fragte ich mich, ob ich sie nicht doch falsch einschätzte. Sie war wie ein Fähnchen, das ständig die Richtung änderte, je nachdem, woher der Wind wehte. Wie sollte ich mich auf sie einstellen, wenn sie sich so widersprüchlich verhielt?
Sie lachte leise. Sicherlich fühlte sie meine Zerrissenheit. Kendra zog mich unerbittlich in den See hinein. Ich musste die Luft anhalten, weil das eisige Wasser höher und höher unter meine Kleidung kroch und mich unterkühlte. Wenigstens war es heute windstill, die Sonne war eben erst aufgegangen und der Himmel wieder so herrlich blau wie gestern.
»Wir müssen aber nicht schwimmen, oder?«, fragte ich sie.
»Kannst du es etwa nicht?«
»Doch, ich bin immerhin hier aufgewachsen, und da wäre es ziemlich dumm, wenn ich es nicht gelernt hätte; aber es ist arschkalt, falls dir das entgeht.«
»Das tut es.« Sie lächelte mich an und watete tiefer hinein. Das Wasser reichte nun bis zu meiner Hüfte, ich verlor langsam die Bodenhaftung.
»Kendra!«, rief Will. »Das ist mehr als ausreichend.«
Oh, danke mein Held.
Kendra hielt tatsächlich an und drehte sich zu mir, so, dass wir uns gegenüberstanden. »Na gut. Wenn der Spielverderber meint, dann soll es mir recht sein. Gib mir deine Hände.«
Ich gehorchte und legte meine in ihre. Sie fühlte sich erstaunlich warm an.
»Klapper bitte leiser mit deinen Zähnen, es stört mich bei meiner Konzentration.«
Wie gerne hätte ich ihr gesagt, was sie mich mal konnte, aber im Moment brauchte ich Kendra und ihre Fähigkeiten; also musste ich alles hinunterschlucken, was mir auf der Zunge lag, und beten, dass es bald vorbei war.
»Du bist so niedlich«, sagte Kendra. »Ich sollte dich behalten und mit nach Hause nehmen. Du könntest mich an langweiligen Nachmittagen amüsieren.«
»Das wäre ja ein niemals enden wollender Spaß.«
Kendra grinste und schloss die Augen. Sie strich sanft mit den Daumen über meine Haut, jagte einen Schauer nach dem nächsten meine Arme entlang. »Fokussiere dich auf dein Zuhause, auf das, was du gehen lassen möchtest.«
Ich machte ebenfalls die Augen zu und versuchte, die Kälte zu ignorieren und ihrer Bitte Folge zu leisten. Erst fiel es mir schwer, alles in mir schrie nach Wärme und danach, diesen See zu verlassen. Meine Zehen waren taub, meine Muskeln ebenso. Es fühlte sich an, als würde mein Blut einfrieren und mein Stoffwechsel komplett herunterfahren. Ich konnte mich kaum noch bewegen, dennoch wollte ich das durchziehen; also dachte ich an mein Haus, die schönen Sommer, die wir dort verbrachten, die unzähligen Stunden, in denen wir im See schwammen – und es genossen – und wie glücklich ich hier gewesen war.
»Das ist gut«, sagte Kendra. »Mach weiter.«
Die Erinnerungen tanzten vor meinem inneren Auge. Sie wirkten farbenfroher als sonst, lebendiger, ich spürte, wie der See daran zog und in meinen Gefühlen wühlte, um zu prüfen, ob sie wertvoll genug waren. Denn das war meine Bezahlung an ihn: meine Emotionen gegen den Jadestein.
Ich fokussierte mich weiter auf die Verbundenheit und die Vertrautheit meines Heimes. Meine Gefühle waren mannigfaltig, und je mehr ich zutage förderte, umso trauriger wurde ich, dass es mir weggenommen wurde. Ein dicker Kloß formte sich in meiner Kehle, Tränen rannen mir über die Wangen. Ich ließ es zu, hieß die Trauer willkommen, denn das war ein Teil des Ganzen. Mein Körper wurde steifer, mein Herz frostiger. Es war beklemmend und erdrückend, als würde meiner Seele etwas Wichtiges entnommen. Mal wieder. »Ich ...«
»Schon gut, lass es geschehen, dir passiert nichts«, sagte Kendra. »Ich passe auf dich auf.«
Meinte sie das nun ironisch? »Kleine, du bist keine Konkurrenz für mich. Wenn ich dich aus dem Weg räumen wollte, gäbe es ganz andere Methoden.«
Das hatte sie gestern Abend zu mir gesagt, als sie mir Jaydee hatte ausreden wollen. Kendra war schon immer scharf auf ihn gewesen. Ich wollte sie nicht anblicken, um mich zu vergewissern, musste einfach darauf vertrauen, dass Will nicht tatenlos herumstehen würde, falls sie mich ertränken wollte.
»Entspann dich.« Sie verstärkte ihren Griff, ein Sog setzte an der Stelle ein, an der wir uns berührten. Es war, als würden all meine Emotionen dort gebündelt und dann aus mir herausfließen. Kendra keuchte leise. Es strengte sie an, meine Gefühle mitzubekommen, genau wie es bei Jaydee der Fall war.
»Ich ...« Gott, ich konnte kaum noch meine Lippen bewegen, so kalt war mir. Mein gesamter Körper war ein einziger Eisklotz. Lange würde ich das nicht mehr durchhalten, so viel war klar. »W-wie .... ll-lange ...?«
»Oh, das ist doch erst der Anfang, Schatz.« Auf einmal packte sie mich am Kopf und tauchte mich unter Wasser. Es ging so schnell, dass ich gar nicht richtig mitbekam, was geschah. Ich atmete instinktiv ein, schluckte einen Schwall Kälte und hustete. Irgendjemand rief meinen Namen. Zac? Will? Keine Ahnung. Ich riss die Augen auf und sah nur Kendras verschwommene Gestalt vor mir und die Sonnenstrahlen, die sich unter der Oberfläche brachen. Ansonsten verschwamm alles in Schwärze. Da ich keine Luft geholt hatte, bevor ich untergetaucht war, hatte ich auch kaum welche in der Lunge. Ich drückte gegen Kendras Hand, wollte hoch, doch sie hielt mich mit Leichtigkeit fest.
Meine Füße verloren die Bodenhaftung, ich taumelte, trat nach vorne aus, wollte von ihr wegschwimmen, doch noch immer entließ sie mich nicht. Ich atmete ein weiteres Mal ein und füllte meine Brust mit Wasser. Mein Schädel würde gleich platzen, mir wurde schummrig, mein Oberkörper stand in Flammen. Etwas griff in mich hinein. Kurz erinnerte es mich an das Ritual, das meine Mum vollführt hatte, als diese Finger kamen, in meine Seele langten und mir meine Gabe entrissen. Das Wasser breitete sich in mir aus, grub sich tiefer und tiefer in meinen Körper und suchte nach dem Opfer, das ich bereit war zu geben.
Ich fühlte, wie die Liebe für mein Heim in mir abflachte, wie dieser Ort an Wichtigkeit für mich verlor, der See nur noch einer von vielen wurde und ich die Bindungen löste. Das Haus, die Sachen darin, die Umgebung, der Wald – das alles wurde auf einmal unwichtig und unpersönlich. Es waren nur Gegenstände, nur Wände, die aus Holz irgendwann zusammengezimmert worden waren und in denen ich zufällig gewohnt hatte. Das Wasser hatte mich vollkommen umschlossen. Innerlich wie äußerlich. Eine tiefe Trauer breitete sich in mir aus, als mir klar wurde, was ich soeben aufgab – dass es keinen Weg mehr zurückgab; dass diese Entscheidung endgültig war.
Schließlich gab ich den Widerstand gegen das Wasser auf und ließ mich treiben. Kendras Hand verschwand von meinem Kopf. Ich fühlte mich schwerelos, leer, ausgelaugt. Das Element war in mir herumgetrampelt und hatte einen Teil von mir verwüstet. Er würde für immer brachliegen, dieser Abschied heute würde niemals komplett heilen. Ich spürte es.
Sanfte Wellen umfingen mich, glitten unter meine Haare, meine Arme und hoben mich ganz langsam an. Es war eine zärtliche Berührung, nicht einmal die Kälte des Wassers fühlte ich noch. Ich wurde von einer uralten Macht getragen, höher und höher. Fast meinte ich, das Bedauern des Elements zu spüren, darüber, was es mir genommen hatte. Aber Gesetz war Gesetz, und es konnte nicht anders. Vielleicht war es auch nur meine eigene Trauer, die sich aus meinen Eingeweiden nach oben arbeitete. Ich wusste, dass sie voll durchbrechen würde, sobald ich die Wasseroberfläche durchstoßen hatte; falls das überhaupt jemals wieder der Fall sein sollte. Womöglich behielt mich das Wasser auch hier in seinen Tiefen und labte sich bis in alle Ewigkeit an mir und an dem, was es mir genommen hatte.
Etwas Sanftes strich über meinen Kopf, so wie die tröstende Berührung einer Mutter für ihr weinendes Kind. Ich riss die Augen auf, erkannte nichts – außer dem dunkelblauen Schimmern rund um mich herum. Langsam glitt ich nach oben, auf das Licht der Sonne zu. Ich sah Kendra über mir, ihre Gestalt verzerrt durch die Wellen.
Und dann tauchte ich wieder auf.
Ich nahm einen kräftigen Atemzug und hustete einen Schwall Wasser aus.
»Ganz ruhig«, sagte Kendra und hielt mich sofort fest, damit ich nicht umkippte. »Einatmen! Es ist alles gut. Du lebst. Dir passiert nichts.«
Ich röchelte nach Luft, hatte das Gefühl, gar nicht schnell genug welche zu bekommen. Meine Hände waren zu Fäusten geballt, ich merkte es erst jetzt, weil sich meine Nägel schmerzhaft in meine Haut bohrten.
»Jess!«, rief Will vom Ufer aus. Ich blickte zu ihm und zu Zac. Sie waren so unendlich fern und klein. Die gesamte Umgebung verschwamm vor meinen Augen. Der viele Schnee, das Wasser, die kahlen Bäume – das alles wirkte so unwirklich, als wären wir Akteure in einem makabren Brettspiel, das mich mit jedem weiteren Würfel tiefer und tiefer in meinen seelischen Abgrund trieb. Zac stand bis zu den Knien im Wasser, aber er konnte nicht näher. Womöglich hielt das Element ihn zurück.
Ich taumelte, wäre gefallen, wenn Kendra mich nicht gestützt hätte. Sie schlang einen Arm um mich und führte mich vorsichtig zum Ufer. Mit jedem Schritt, den ich tat, hämmerte etwas auf mein Herz ein. Ich hatte es getan. Ich hatte die Liebe zu meinem Heim hergegeben, und je weiter ich mich aus dem Wasser entfernte, umso bewusster wurde mir diese Tat. Es war, als würde Kendra mich von der Leiche einer geliebten Person wegführen, als läge hinter mir ein offenes Grab, in dem meine Kindheit, meine Freude, mein Erwachsenwerden darauf warteten, dass sie zugeschüttet wurden und für immer verschwanden.
Erde zu Erde. Asche zu Asche. Wasser zu Wasser.
»Ich ... ich kann nicht ...«, keuchte ich und wollte umkehren, aber Kendra hielt mich unerbittlich.
»Weiter«, blaffte sie, doch es klang bei Weitem nicht mehr so herrisch wie zuvor.
»Ich muss ...«
»Nichts. Es ist vorbei.«
Ich ballte die Hände fester, überlegte, ob ich mich von ihr losreißen konnte ...
»Schaffst du nicht«, flüsterte sie leise.
Endlich erreichten wir das Ufer und auch Zac.
»Jess«, stammelte er und breitete die Arme aus. Will setzte sich ebenfalls in Bewegung und trat ins Wasser. Es zischte, als hätte er etwas Heißes hineingekippt. Will verzog die Miene, doch er ging weiter, bis auch er auf meiner Höhe war.
Kendra ließ mich los, das Wasser übergab mich ans Feuer.
»Ganz ruhig, ich hab dich«, sagte Will.
»Ich ebenso«, ergänzte Zac.
Die Blicke der beiden trafen sich, und für einen Moment wirkte Zac vollkommen irritiert. Er packte mich fester am Ellbogen, als wollte er klarstellen, wer Besitzansprüche an mich erheben durfte und wer nicht. Doch ich hatte weder die Energie, darüber nachzudenken, noch mich für einen der zwei zu entscheiden. Mein Körper war völlig ausgelaugt, die Eisbäder hatten ihm zugesetzt, die Trauer tat ihr Übriges. Ich zitterte haltlos. Die Kälte kroch wieder in mein Herz, die, die ich schon spürte, als ich damals mit Anna vor dem Kamin saß, nachdem sie uns aus dem Nebel gerettet hatten.
»Ich muss sie aufwärmen«, sagte Will leise.
Zac nickte zögernd, gab mich frei und trat zurück. Will schlang die Arme unter meine Beine und hob mich mit Leichtigkeit hoch. Ich sank gegen seine Wärme, seufzte und ließ mich vom Feuer auffangen. Meine Hände hatte ich nach wie vor zu Fäusten geballt, als wären sie in dieser Position festgefroren. Die Knöchel stachen weiß hervor, meine Finger waren taub.
Will stiefelte mit mir aus dem Wasser heraus, mein Bewusstsein schwappte hin und her. Da war doch noch etwas, das ich brauchte.
»Wo ist der Stein?«, wollte ich fragen, aber ich konnte nicht mehr. Mein Körper gab sich geschlagen.
Die Kälte. Die Wärme. Die Aufregung.
Ich ließ mich sinken. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, schloss ich die Augen und gab mich der bleiernen Schwere hin.
Jaydee
Meine Lungen zerbarsten. Ich krümmte mich vor Schmerzen, das Feuer fraß sich durch mein Innerstes, zerstörte alles, was von mir übrig geblieben war, und trieb mich mit jedem quälenden Atemzug näher in die Ohnmacht. Ich keuchte, schüttelte die Flammen ab, aber sie stürzten sich sofort wieder auf mich. Ausgehungert und gierig. Ich war nicht länger erwünscht, sie wollten den Eindringling loswerden, der sich ungefragt Zugang zu ihrem Reich verschafft hatte, und ich hatte keine Ahnung, was ich ihnen entgegensetzen sollte.
Jemand rief meinen Namen. Ob Abe in der realen Welt oder Ilai in der dieser, wusste ich nicht. Ich konnte kaum klar denken, geschweige denn mich auf meine Sinne verlassen. Auf keinen Fall durfte ich das Bewusstsein verlieren. Nicht, solange ich an diesem unwirklichen Ort festhing. Hier wartete etwas auf mich. Ich fühlte es.
Einer der Dowanhowee hatte mich am Arm gepackt und grub seine Finger tief in mein Fleisch. »Es ist alles in dir drin. Nutze deine Fähigkeiten«, wiederholte der Alte am laufenden Band, während er meine Hand auf das Armband an seinem Gelenk presste. Ich starrte wie gebannt darauf. Es war das gleiche, das Akil derzeit das Leben zur Hölle machte. Ich wusste es, denn ich hatte die Energie dieses Dings gespürt und gesehen, was es in Zukunft noch anrichten sollte.
»Du bist der Schlüssel zu allem«, sagte der Alte. »Lass die Veränderung zu, nimm das Opfer an, das dir geschenkt wurde.«
»Welches Opfer?«, hustete ich. Abe hatte etwas Ähnliches gesagt, bevor er mich auf diese Reise schickte: »Die Ahnen bestimmen ihren Preis selbst, doch dieses Mal werde nicht ich das Opfer sein.«
Ich war davon ausgegangen, dass ich dieses Mal zahlen musste, aber womöglich täuschte ich mich auch.
Das Armband erwärmte sich, so wie sich alles um mich herum aufheizte. Das Metall zog an mir, griff bis tief in meine Seele und legte sich um mein Innerstes. Es fühlte sich vertraut an, ich horchte in dieses Gefühl hinein, versuchte zu erkennen, was es mir sagen wollte ...
»So ist es gut«, sagte der Alte. »Konzentriere dich darauf.«
Leichter gesagt, als getan. Ich konnte kaum atmen, die Flammen brachen immer heftiger über mich herein, so, als würden sie wütender, je mehr ich herausfand.
»Du verstößt gegen den alten Eid«, sagte der Alte und deutete auf das Feuer. »Deshalb ist das Element zornig. Du hast in dem Wissen gegraben, das nicht aufgedeckt werden sollte, du hast die Balance gefährdet. Nicht einmal dein Freund wird dir nun noch helfen können.«
»Ilai?« Ich sah hinter mich. Es war ein einziges Inferno, ohne Ausweg, ohne Orientierung. Ich hatte keine Ahnung, wie ich je zurückfinden sollte, aber darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn es soweit war. »Hier gibt es etwas für mich zu entdecken, oder? Was ist es?«
Er verstärkte den Druck auf meine Finger. Das Armband sendete seine Energie in meine Haut. Es war erschaffen worden von den Dowanhowee. Es war ihr Werk. Ihre Magie. Genau wie ...
... wie ich ...
Ich stammte von ihnen ab. Meine Mutter war eine von ihnen gewesen.
»Ja«, sagte der Alte. »Ja. Du hast es. Mach weiter.«
»Mein Blut.« Ich war ein Teil beider Welten. Ich gehörte zu den Seelenwächtern und zu den Dowanhowee. Ich war eine Mischform. In mir schlummerten die Fähigkeiten der Seelenwächter, aber hieß das auch, dass ich etwas von den Dowanhowee geerbt hatte?
»Sehr gut! Nutze, was in dir steckt. Löse die Magie!« Der Alte tippte mit seinen Fingern auf meine. Eine weitere Woge aus Feuer stob über mich hinweg und verbrannte mir den Nacken. Ich krümmte mich zusammen, glühender Schmerz breitete sich in meinem Körper aus, aber ich musste noch ein bisschen durchhalten.
Noch eine Minute ...
»Fühle«, sagte er.
Und ich fühlte ...
Meine Finger kribbelten, ich spürte die Energie des Armbandes, sah vor mir, wie und aus was es zusammengesetzt war. Auf einmal war es ganz einfach. Ich erkannte den Kern seiner Magie und woraus er sich speiste: Aus Akils Fähigkeiten, aus seiner inneren Kraft. Wenn ich sie ihm entzog – so wie damals, als wir trainiert hatten –, dann konnte ich auch dem Armband die Kraft entziehen. Es musste aufgehen.
Der Alte zog mich so fest an sich, bis ich fast auf ihm lag. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als wäre er stolz auf mich, dass ich es endlich erkannt hatte. »Du bist die Lösung. Alle Fähigkeiten sind schon in dir drinnen, du musst sie nur erwecken. Du bist ein Teil beider Welten. Unser Blut fließt in deinen Adern, entfalte dein Potenzial, wende es zum Guten, denn du musst nicht das Werkzeug deiner Erschafferin sein. Du hast die Wahl. Noch.«
»Wird es irgendwann zu spät sein?«
Er nickte.
»Wann?«
Doch er antwortete mir nicht, presste nur die Lippen fest zusammen.
»Was ist mit meiner dunklen Seite? Wie kann ich den Jäger bändigen?«
Der Alte verzog das Gesicht. »Sei stärker als er.«
Na, prima. Der Jäger hatte in den letzten Stunden geschwiegen. Seit wir auf die Lichtung getreten waren, hatte er Ruhe gegeben, doch das war nur vorübergehend. Ich wusste es.
»Abe erwähnte eine dunkle Macht, die sich auf uns zubewegt. Mein Freund hat gerade damit zu kämpfen und mit dem Armband. Weißt du etwas darüber?«
Er zog sein Hemd ein Stück zur Seite und entblößte eine kleine Tätowierung auf seiner Brust: zwei Engelsflügel.
Ich wusste sofort, was sie symbolisierten, auch wenn ich sie nie zuvor gesehen hatte. Aber Akil hatte uns ausführlich von seiner Begegnung mit der Heilerin Ananka erzählt. Sie trug das gleiche Zeichen auf ihrer Brust und sie war dafür verantwortlich, dass Akil das Armband trug. Das Luder funkte überall dazwischen. »Bist du auch eine Wiedergeburt?«
»Nein. Das ist das Zeichen des Todes und des Lebens«, sagte der Alte. »Das Zeichen unserer Vergangenheit, die für immer ruhen sollte.«
»Wie meinst du das? Warum hat Ananka das gleiche?«