Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach den turbulenten Ereignissen mit Andrew und der Harfe versucht Jess, sich ein halbwegs normales Leben mit ihrer Mutter, Zac und den Seelenwächtern aufzubauen. Doch die Finsternis schickt bereits ihre Schatten aus. Über den Seelenwächtern zieht eine düstere Bedrohung heran, die nicht nur sie betrifft, sondern auch das Volk der Dowanhowee und die Menschen in Riverside. Während Akil gemeinsam mit Kendra vor dem Rat um deren Freiheit kämpft – und dabei eine folgenschwere Entscheidung treffen muss –, stürzt Jaydee sich in seine eigene Schlacht. Der Jäger wird stärker als je zuvor – und schon bald verschwimmen für Jaydee die Grenzen zwischen Vernunft und Wahn. Dies ist der 25. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 187
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
Rückblick4
1. Kapitel17
2. Kapitel19
3. Kapitel26
4. Kapitel35
5. Kapitel44
6. Kapitel54
7. Kapitel61
8. Kapitel68
9. Kapitel72
10. Kapitel78
11. Kapitel83
12. Kapitel93
13. Kapitel99
14. Kapitel106
15. Kapitel113
16. Kapitel122
17. Kapitel126
Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«132
Die Fortsetzung der Seelenwächter:133
Impressum134
Die Chroniken der Seelenwächter
Das Böse erwacht
Von Nicole Böhm
Für das volle Verständnis solltest du vor diesem Band den Spin-off »Der geheime Akkord« lesen. Sonst werden dir einige Informationen fehlen.
Jessamine
Ich stieg den Berg hinauf, der zu Annas Kraftplatz führte, und sah mich nach Zac um. Es war früh am Abend, die Sonne verschwand hinter den Gebirgskuppen gegenüber und der Himmel färbte sich in eine glutrote Farbe. Er sah aus, als hätte jemand heiße Lava über den Wolken ausgeschüttet. Alles schimmerte in rot-orangenen Tönen; zusammen mit dem angenehmen Geruch nach Salbei und Wüste strahlte die Szenerie einen unglaublichen Frieden aus.
Ich atmete tief ein und genoss die warme Luft, die um diese Jahreszeit wundervoll mild war. Zumindest hier in Arizona. In meinem ehemaligen Zuhause Riverside Springs herrschte der kälteste Winter seit Jahrhunderten. Es schneite so viel wie nie zuvor. Vermutlich sehr romantisch zu dieser Zeit, denn in drei Wochen war Weihnachten. Zwei Wochen waren vergangen, seit Jaydee meine Mum zurückgeholt hatte, wir uns hatten mit Andrew herumschlagen müssen und Will angeschossen worden war.
Ich konnte es nach wie vor nicht glauben, dass er im Koma lag und sein Zustand sich bislang an keinem einzigen Tag geändert hatte. Akil versorgte ihn jeden Morgen und jeden Abend mit Heilenergie. Daneben pendelte er zwischen Einsätzen und Besuchen bei Marysol. Sie bereitete alles für die Abreise von Ikarius und seiner Schwester River vor. Heute hatte sie Akil zu sich beordert. Vermutlich, um Kendras Zukunft zu besprechen. Diese war, gemeinsam mit Jaydee und Anna, in den Ratstempel eingebrochen, weil Jaydee in die Höllendimension Ud-dáva gereist war, um meine Mum zu befreien. Ihr Verschwinden vor acht Jahren war in Wirklichkeit ein Ritual gewesen, bei dem sie mir einen Teil meiner Seele entnommen hatte, um sie in Ud-dáva in Sicherheit zu bringen; dem einzigen Ort, an dem sie niemand erreichen würde – und eine der vier Welten, die Lilijas Gefängnis mit Energie versorgten.
Nun war es vorüber.
Nach über acht Jahren der Suche waren meine Mutter und ich endlich vereint – noch viel mehr als das: Ich war ein vollständiger Mensch. Ich hatte die Gabe zurück, die der Engel Sophia einst ihren Nachfahren mitgegeben hatte und die sich bei mir besonders stark zeigte. Eine Gabe, die mich dazu befähigte, Jaydees böse Seite zu ankern und die mich außerdem mit der Musik auf einzigartige Weise verband.
Wie ich Jaydees Jäger bekämpfen sollte, wussten wir noch nicht, nur, dass dazu vier Gegenstände nötig waren: eine Feder, ein Dolch, ein Amulett und ein Ring. Die Feder und der Dolch waren in unserem Besitz. Die anderen beiden Gegenstände blieben spurlos verschwunden, aber ich war mir sicher, dass wir alsbald danach suchen würden.
Ich bog um die nächste Ecke und sah meine Mutter auf mich zukommen.
»Calliope«, sagte sie und lächelte milde.
Sie nannte mich nach wie vor bei meinem ersten Vornamen, das hatte ich ihr nie abgewöhnen können, egal wie sehr ich sie darum bat, mich Jess zu rufen.
Ich erwiderte ihr Lächeln und stieg die letzten Meter des Pfades nach oben. Mum hatte sich gut erholt. Sie hatte zugenommen, ihre Haut wirkte strahlend und gesund, alle alten Verletzungen waren abgeheilt. Akil hatte es sogar geschafft, ihr getrübtes Auge zu regenerieren. Noch bedeckte ein kleiner Schleier ihre Linse, aber auch der wurde von Tag zu Tag weniger. Das Einzige, was sie nicht abgelegt hatte, waren die vielen in ihre Haare geflochtenen Knoten. Mum hatte sie in Ud-dáva als Gedankenstütze genutzt, um sich an alles zu erinnern, was sie in der Realität erlebt hatte. Die Dämonen, die in der Höllendimension existierten, hatten sich an ihr Hirn angedockt und sich so von ihren Erinnerungen ernährt.
Zum Glück hatte sie sich auch davon weitestgehend erholt, wobei sie in den letzten Tagen häufig abwesend wirkte; als müsste sie sich ständig daran erinnern, wer und wo sie war.
»Wo ist Zac?«, fragte ich meine Mutter und blickte mich nach ihm um.
»Ein Stück weiter oben. Du weißt ja, wie sehr er die Aussicht liebt.«
»Wie geht es ihm?«
»Unverändert.«
Zac war der Wirtskörper für Annas Ex-Mann gewesen und hatte dessen Seele in sich getragen. Zum Glück war es Anna gelungen, Andrew von Zac zu trennen, aber dadurch erlitt er eine Amnesie. Er hatte keine Ahnung, dass wir beide beste Freunde gewesen waren; dass wir zusammen mit Violet – meinem ehemaligen Schutzgeist – aufgewachsen waren; dass wir miteinander abgehangen und viele wundervolle Stunden verbracht hatten.
Wobei ich manchmal dachte, dass es ein Segen war, dass Zac nichts mehr wusste. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was Andrew alles mit seinem Körper angestellt hatte.
»Und wie geht es dir?«, fragte ich sie.
Mum legte den Kopf schräg und breitete ihr Lächeln aus. Ihre Augen wirkten glanzlos und matt, darüber täuschte ihre aufgesetzte Heiterkeit kein bisschen hinweg. »Es ist alles gut.«
»Mum, ich ...«
Sie legte beide Hände auf meine Schultern und drückte sie sachte. Ihre Wärme strahlte von der Stelle tief in meinen Körper hinein. Es tat so gut, sie wieder bei mir zu haben, ihre Stimme zu hören, von der ich fast vergessen hatte, wie sie klang, ihre Umarmungen zu spüren, die mich früher stets beruhigt hatten, völlig egal wie aufgeregt ich vorher gewesen war. Mum hatte nicht die Gabe in der Form, wie ich sie besaß, aber sie verfügte dennoch über ein Talent: Sie hatte eine unerschöpfliche Liebe, die mir mit jedem Atemzug zeigte, dass ich bei ihr geborgen und sicher war. Das war früher stets so gewesen.
Es hatte sich nach acht Jahren der Abwesenheit nicht geändert.
»Mach dir keine Sorgen um mich«, fuhr sie fort. »Ich brauche ein wenig Zeit. Ein wenig Geduld. Ruhe. Stille. Diese Welt ist für mich fremd geworden. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, mich nicht bei jedem Schritt nach einem Dämon umsehen zu müssen, der meine Erinnerungen stehlen will, genauso wenig wie ein festes Dach über dem Kopf zu haben.«
»Das leider nicht mehr so fest ist.« Seit Will in diesem komatösen Zustand hing, krankte das Anwesen noch mehr. Mal stürzte ein Teil der Mauer ein oder ein Dach; vorgestern wäre ich fast unter zwei Palmen begraben worden, die plötzlich umfielen. Ich war mir nicht sicher, wie lange wir noch hierbleiben konnten.
»Es ist mehr, als ich in diesen letzten Jahren hatte.«
Auch wieder wahr.
Mum sprach so gut wie nicht über ihre Erfahrungen in der Höllendimension und ich wollte sie nicht danach ausfragen. Jaydee hielt sich ebenso bedeckt, wobei das bei ihm nichts Neues war. So wartete ich ab, ob einer der beiden sich mir gegenüber jemals öffnen würde. Etwas anderes blieb mir nicht übrig, denn ich wollte sie auf keinen Fall drängen.
»Ich frage Zac, ob er Hunger hat«, sagte ich schließlich.
Mum trat näher, legte ihre Hand um meinen Hinterkopf und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. Sie wirkte erleichtert, dass ich das Thema nicht vertiefte.
»Ich hab dich lieb«, hauchte sie.
»Ich dich auch.«
Sie ließ mich los und trat einen Schritt zurück. Das Abendlicht schmeichelte ihren Zügen, sie wirkte viel jünger als sonst. Manchmal kam es mir so vor, als hätte die Zeit in Ud-dáva ihren Alterungsprozess verlangsamt. Mum sah nicht viel reifer aus als zu dem Zeitpunkt, an dem sie mich verlassen hatte. »Wir sehen uns zum Abendessen«, sagte sie und lief zurück nach unten.
Ich blickte ihr eine Weile nach, bis sie aus meinem Sichtfeld verschwunden war, und ging weiter zu Zac. Mum und ich hatten es uns zur Aufgabe gemacht, Zac jeden Tag mit Bruchstücken aus seinem Leben zu füttern und ihm zu erklären, wer er war, was wir getan hatten und warum wir nun in Arizona und nicht mehr in Riverside Springs in Kanada lebten.
Heute war ich dran, Zac Infos zu geben, aber vielleicht konnten wir das beim Abendessen angehen. Jaydee war sowieso mit Anna auf Dämonenjagd unterwegs und würde vermutlich erst später zurückkehren. Die Familie hatte strenge Auflagen bekommen, weil Derek sie auf dem Kieker hatte. Nach den jüngsten Ereignissen mussten sie mehr denn je ihre Pflicht erfüllen.
»Zac?«
»Hier.« Seine Stimme klang viel erwachsener und tiefer seit seiner Zeit mit Andrew; als wäre er aller Jugend und Unschuld beraubt worden.
Es war ja auch irgendwie so.
Ich bog um die Ecke und blickte ihn an. Seine Haare reichten ihm fast bis zum Kinn. Seine Züge waren härter. Andrew hatte Zacs Körper ziemliche Muskeln antrainiert. Zac war früher eher der Typ schmächtiger Junge gewesen, der mehr in die Höhe statt in die Breite geschossen war; schlaksig, ungelenk, aber mit einem Funkeln im Blick, weil er sich ständig irgendeinen Unfug ausdachte. Er war voller Elan und Spritzigkeit gewesen, er hatte Rollenspiele und Game of Thrones geliebt und konnte auch mal auf der Motorhaube zu Linkin Park singen.
Und nun?
Nun war da dieser Mann – nicht mehr Junge –, der aussah, als käme er von einer Schlacht zurück, deren Grauen ihn viel zu schnell hatte altern lassen. Zac hatte die Schwere eines Menschen angenommen, die noch nicht für ihn bestimmt war. Ich wünschte, es wäre ihm erspart geblieben, und irgendwie war auch ich schuld daran. Wäre ich nicht in die Kirche gegangen, um Pfarrer Stevens‘ Geist zu beschwören, wäre das alles gar nicht passiert. Aber dann wäre Mum nicht da und ich nicht gesund. Ich hätte nie Akil und die anderen kennengelernt, Ariadne würde noch leben, Violet wäre noch bei mir und ich hätte keine Beziehung mit Jaydee.
Meine Taten hatten viel Leid und viel Liebe in mein Leben gebracht. Ich sah es mittlerweile als das an, was es war: der Lauf der Zeit. Wir existierten, um zu lernen, zu wachsen, um Fehler zu machen, hinzufallen und wieder aufzustehen.
Zac fuhr sich durch die Haare und kam zu mir. Kurz zuckte seine Lippe, als wollte er mich anlächeln, aber es erstarb auf halbem Wege. Zac lächelte kaum noch.
»Bereit für weitere Infos?«, fragte ich.
Er nickte.
Ich wusste nicht, ob er es genoss, wenn ich ihm so viel aus der Vergangenheit erzählte, oder ob es eher eine Qual war.
Wenn ich ihn danach fragte, zuckte er nur mit den Schultern. So war ich dazu übergegangen, ihn einfach jedes Mal um Erlaubnis zu bitten, ehe ich ihm etwas erzählte.
Auf diese Art hatten Mum und ich Zac in den letzten Wochen alles über Schattendämonen erklärt und welchen Ärger wir mit Ralf und Joanne gehabt hatten, er wusste auch, dass Violet diesem Kampf zum Opfer gefallen war und ich sie in ihre Dimension hatte zurückschicken müssen, und natürlich, dass Ariadne tot war. Während ich Zac all diese Dinge erzählt hatte, war mir mal wieder klar geworden, was ich alles erlebt hatte; wie sehr meine Welt auf den Kopf gestellt worden war. Dann waren da ja auch noch die Entführung Anthonys gewesen, Keiras Tod, Jaydees Ausraster und sein anschließender Besuch bei den Dowanhowee, wo er Ilai getroffen und erfahren hatte, dass Damia – die erste Seelenwächterin – eine aus dem Volke der Ureinwohner gewesen war. Außerdem hatte Coco ihm offenbart, dass sie früher Geschwister gewesen waren.
An dieser Tatsache hatte ich nach wie vor zu knabbern, denn für mich war der Gedanke, dass er mit Coco verwandt sein könnte, der grausigste. Sie verfolgte mich erbittert, weil ich Lilijas Gefängnismauern zum Einsturz bringen konnte. Oder eher: Jede Nachfahrin mit der Gabe konnte es, und da Anna ihre zurückerhalten hatte, stand sie nun sicherlich auch auf Cocos »Will-ich-haben«-Liste; nicht dass es ihr im Moment viel nutzte, sie saß mit Ananka beim Rat in Haft und würde dort hoffentlich bis ans Ende aller Tage bleiben.
»Ananka hatten wir ja schon angeschnitten«, sagte ich. »Das mit den Seelen war so weit klar für dich, oder?«
»Ananka besucht einen Menschen im Augenblick seines Todes und bietet ihm einen Deal an. Wenn er einwilligt, nimmt Ananka die Seele mit und bewahrt sie bei sich auf, bis sie den richtigen Moment findet, wo sie die Seele in einen anderen Körper pflanzen kann.« Er räusperte sich. »So wie bei mir und Andrew.«
»Ja.« Niemand von uns hatte Erfahrungswerte damit gehabt und wir hatten nicht einmal gewusst, ob Zac überhaupt je zurückkehren würde. »Ananka hat früher schon Kontakt zu Akil gepflegt. Sie hat noch zwei Schwestern: Tyche, die sich in eine heilige Quelle verwandelt hat, und Moira, die als Spinnenwesen im Schicksalsberg lebt. Mit ihrer Hilfe konnte Ananka so viel von der Zukunft vorhersehen, aber Emma und Payden warfen die Frage auf, ob Moira nicht auch uns helfen wollte.«
»Warum das?«
»Weil alles wie durch Zufall miteinander verbunden war. Barrys Oma lag in dem Altersheim, in dem Payden gearbeitet hat, außerdem war er mal mit Emma liiert. Sie haben ihr Wissen zusammengeworfen und so herausgefunden, dass Ananka Kedos – einen Dämon der Dowanhowee – heraufbeschwören will. Außerdem brauchte Ananka die Harfe von König David.«
»Weil sie magische Kräfte besitzt.«
»Weil sie Dinge miteinander verknüpfen kann. Ananka wollte sie für Kedos einsetzen, um sich mit allen Seelenwächtern gleichzeitig zu verschmelzen und die Fähigkeiten auszusaugen. Bei Will war es ihm ja schon gelungen.«
»Aber er hat sein Element wieder.«
»Nicht ganz. Ich konnte ihm einen Teil zurückgeben.« Wie auch immer ich das geschafft hatte, ich wusste es nicht. Es war mir bisher nicht gelungen, die Kräfte noch einmal zu beschwören.
Obwohl ich es gerne gewollt hätte. Als ich mich mit der Harfe und dieser ganzen Magie vereint hatte, war ich von der Erde völlig losgelöst gewesen – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hatte mich mit allen Nachfahren verbunden und so Anna gestärkt.
»Erzähl mir mehr von Kedos«, sagte Zac. »Den hast du bisher nur angeschnitten.«
»Er ist ein Dämon der Dowanhowee. Im Grunde hat er sich selbst erschaffen, weil die Gottheit Ikandu dem Volk die Liebe schenkte. Leider wussten die Menschen nicht, was sie damit tun sollten. Sie kannten das Gefühl nicht. Kedos war ein Mann aus dem Volk gewesen, der Ikandu aufsuchte und ihn um Hilfe bat. Er erkannte, dass die Menschen auch den Hass kennenlernen mussten, sonst würden sie die Liebe nie verstehen. Alles braucht einen Gegenpart. Tja, und das wurde Kedos. Er tötete viele von den Dowanhowee und noch mehr Menschen, als er mit ein paar Auserwählten durchs Land zog und ganze Dörfer niedermetzelte. Es gab so viele Tote, dass schließlich die ersten Schattendämonen entstanden und ihrerseits Chaos verbreiteten. Eines Tages wehrte sich eine Familie der Dowanhowee und erschuf die Seelenwächter. Kedos wurde gebannt.«
»Weil die Seelenwächter erschaffen wurden?«
»Das ... das weiß ich gar nicht so genau, ehrlich gesagt. Ich glaube aber nicht. Ich weiß nur, dass Kedos‘ Untergang damals etwas mit den Armbändern zu tun hatte, die Ananka ebenfalls verwendet hatte.«
Es gab insgesamt sechs Stück davon. Vier Originale, zwei Nachbildungen. Eines davon hatte Akil lange getragen, bis Jaydee es ihm abnehmen konnte. Dann hatten Emma, Barry, Payden und Valerian bei dem Ritual je eins bekommen, das von Akil trug nun Coco und das letzte war unbenutzt geblieben. Soweit ich wusste, telefonierte Ben ab und zu mit Emma und Payden. Barry wollte von der Sache nichts mehr wissen, und Valerian war noch beim Rat in Gewahrsam.
»Was hatte Ananka eigentlich von der ganzen Sache?«, fragte Zac. »Warum wollte sie Kedos zurückholen?«
»Ananka wollte sich mit ihren Schwestern vereinen, sie wollte ihre Familie zurück und Kedos wollte sich an den Seelenwächtern rächen. Er hat Ananka also die Unsterblichkeit geschenkt und die Fähigkeit, Seelen zu inkarnieren – die ihr wiederum als Gefolgsleute dienten. Kedos musste nur warten, bis Ananka alles für seine Ankunft vorbereitet hatte.«
»Aber er wurde besiegt.«
»Akil hat ihn zurückgedrängt. Am See, wo ich gewohnt habe. Er hat gegen ihn gekämpft, ihm einen Stab in den Körper gerammt und ihn in die Schatten geschickt.«
»Ist er tot?«
»Vermutlich nicht.«
Zac seufzte lang und tief und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Felsen. Er rieb sich über die Stirn und kniff sich in den Nasenrücken.
»Zu viel? Sollen wir aufhören?«, fragte ich.
»Nein, es geht schon. Nur manchmal bekomme ich einen unangenehmen Druck im Schädel von den ganzen Informationen. Was du mitgemacht hast, reicht für fünf Leben.«
»Wem sagst du das.«
Er atmete ein paar Mal tief durch. Ich ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich zu sammeln. Abgesehen davon wollte ich ihn nicht überfordern. Wir konnten auch morgen weiterreden.
»Wie fühlst du dich eigentlich mit der Gabe?«, fragte er und sah mich an. Mittlerweile war die Sonne weiter untergegangen und seine eh schon braunen Augen wirkten tiefschwarz.
»Phänomenal. Es ist, als wäre ich neugeboren. Meine Haut bebt, wenn sie mit der Luft in Berührung kommt, ich habe eine Leichtigkeit im Herzen wie noch nie zuvor und ...« Ich biss mir auf die Lippe, weil ich nicht wusste, wie ich es beschreiben sollte. Das Erlebnis mit Ikarius und River hatte mich tief geprägt. Die Magie der Harfe hatte mich durchflutet und mit einer unglaublichen Kraft beseelt. Zum ersten Mal hatte ich begriffen, wie Jaydee sich wohl fühlen musste, wenn er dem Jäger freien Lauf ließ, welch unglaubliche Euphorie es in ihm auslöste. Ein Teil von mir sehnte sich nach dieser Magie zurück. Ich wollte sie wiederhaben, mit der Melodie der Harfe tanzen und sie in meinen Zellen vibrieren spüren.
Zac griff nach meiner Hand und fuhr mit dem Daumen über meine Haut. Es war eine seltene Geste der Zuneigung, die ich dankbar annahm. Früher hatten wir uns oft umarmt, hatten sogar gemeinsam in einem Bett geschlafen, bis in die Unendlichkeit geredet und nun ... Er war ein Fremder geworden, genau wie ich für ihn.
»Ich freue mich, wenn du glücklich bist.« Seine Stimme klang erschreckend emotionslos. Er hörte sich an wie ein Wissenschaftler, der ein Objekt untersuchte und seine Ergebnisse laut kundtat. »Ich glaube, meine Seele erkennt, welch ein Glück das für dich ist.«
»Tut sie das?«
Er kniff die Augen zusammen und sah mich an. Ein leichtes Funkeln stand darin, eine Erinnerung an die Zeit, wie es früher zwischen uns war, und ein Bedauern, weil es nie mehr zurückkehren würde. Wir beide wussten das. Ich wollte es mir nur noch nicht eingestehen.
»Weiter«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Dieser Tobias, der Ananka geholfen hat ...«
»... dein angeblicher Freund, ja. Kedos hat ihn getötet.«
»Denkst du eigentlich, dass wir mehr hatten?«
»Nein. Das hätte Andrew niemals gemacht und Tobias wusste ja, wer er war. Insofern ist es ausgeschlossen.«
Zac dachte kurz darüber nach. Ich wartete, bis er soweit war, dass ich fortfahren konnte.
»Ananka, Tobias und das alles hab ich verstanden. Was ist mit der Harfe? Wo ist sie jetzt? Anna hat sie doch gefunden.«
»Genau, in einer Höhle in der Nähe von Frankfurt. Die Sapier hatten sie damals dort versteckt. Aber nur den Rumpf der Harfe. Das Instrument selbst wurde einst ja von König David und seinem besten Freund Jonathan gebaut. Da sie aber so mächtig ist und Lilija befreien kann, musste sie versteckt werden, was wiederum die Sapier übernommen hatten, zumindest ein Teil von ihnen; der andere passte auf uns Nachfahren auf, aber leider sind alle mittlerweile tot.« Ich durfte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Leichen diesen Weg pflasterten. »Ein Teil der Sapier nahm die Harfe an sich. Unter ihnen war Ikarius, der Seelenwächter, der bei Marysol lebt. Gelebt hat. Er wird weggehen. Er und seine Schwester River versuchten damals, mit Jonathan und Nadira – eine der ersten Seelenwächterinnen – die Harfe zu verstecken. Als sie das Instrument zerlegen wollten, brach die Magie daraus hervor und verwandelte alle. Nadiras Körper verknöcherte und verschmolz mit dem Holzrahmen der Harfe, River nahm die Saiten als goldene Flüssigkeit in sich auf und blutete sie über Schnitte auf ihrer Haut wieder aus, Ikarius wurde mit den Noten gebrandmarkt und trägt sie heute als Narben im Gesicht. Nach vielem Hin und Her trennten sie sich alle. Ikarius wurde ein Seelenwächter, River zu einer Statue und Jonathan ist bis heute mit Nadira verschwunden. Vor Kurzem kamen River und Ikarius wieder zusammen. Wegen Andrew. Die Harfensaiten haben nämlich die Macht, den Geist eines Menschen zu lenken. So gelang es ihm, Will unter seine Kontrolle zu bringen und ...«
Zac zog die Augenbrauen zusammen und blickte zum Horizont. Seine Kieferstränge stachen hart hervor, weil er sich so anspannte.
»Soll ich aufhören?«, fragte ich. Es war wirklich viel auf einmal.
»Nein. Ich will es hören. Ich muss. Aber jedes Mal, wenn du darüber erzählst, was Andrew getan hat, bekomme ich diesen Stich ins Herz. Manchmal habe ich das Gefühl, dass er noch da ist, sich über mich lustig macht und ...«
Ich trat näher an ihn heran und legte eine Hand auf seine Brust. Sein Herz raste. »Zac. Nein. Er ist weg. Andrew ist tot! Er ist ins Licht gegangen, er kann uns nicht mehr schaden.«
»Wie kannst du dir so sicher sein?«
»Weil ich auch dabei war, als Anna ihn fortgeschickt hat. Nicht physisch, aber als Energie. Ich habe es gespürt. Andrew ist weg. Alles was du noch tun musst, ist heilen und dich wieder erinnern. Du bist Zac. Mein Freund. Ein Teil von mir. Ich liebe dich. Mum auch.«
»Ich ...«
»Glaube mir.« Ich verstärkte meinen Griff und sah ihn fest an. Wenn ich ihm doch nur über meine Willenskraft vermitteln konnte, was er war, was er mir bedeutete. Wenn ich nur mit einem Lächeln oder einer Umarmung all das ausdrücken könnte, was er wissen musste.
»Ich gebe mir Mühe.« Er nahm meine Hand von seinem Herzen und ließ mich los. Manchmal brauchte er Abstand. »Erzähl weiter.«
»Ich glaube, wir hören besser auf.«
»Nein, nur zu. Andrew brachte Will unter seine Kontrolle, und dann? Was war mit der Harfe?«
»Wie gesagt, war der Rumpf der Harfe in einer Höhle bei Frankfurt. Anna holte ihn gemeinsam mit Andrew heraus, spannte die Saiten auf, die sie von River erhalten hatte, und spielte.«
»Aber du sagtest doch, dass das Lilija befreien würde.«
»Nur wenn die Noten gespielt werden, die David einst komponierte und die Ikarius auf seiner Haut eingeritzt trägt. Ich weiß nicht, wie die Zeichen auf seinem Gesicht ein Lied ergeben, aber er meinte, dass es so wäre. Diese Sachen dürfen nie mehr vereint werden, wenn Lilija eingesperrt bleiben soll.« Deshalb brachte Ikarius alles weg. Weit fort von mir.