Die Chroniken der Seelenwächter - Band 31: Das Lied der Schatten - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 31: Das Lied der Schatten E-Book

Nicole Böhm

5,0

Beschreibung

Der Kampf gegen das Böse geht weiter. Während Akil mit aller Macht versucht, Kedos auszuschalten, suchen William und die Dowanhowee nach einer Möglichkeit, den Dämon einzusperren. William rennt die Zeit davon, denn er kämpft nicht nur gegen Kedos in der Vergangenheit, sondern muss auch seinen Freunden in der Zukunft mitteilen, dass sie den Dämon nicht töten dürfen. Auch für Jess spitzt sich die Lage zu. Gefangen zwischen den Welten stürzt sie von einer Vision in die nächste und verliert immer mehr den Bezug zur Realität. Dies ist der 31. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Seitenzahl: 178

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel16

3. Kapitel23

4. Kapitel28

5. Kapitel44

6. Kapitel49

7. Kapitel54

8. Kapitel61

9. Kapitel69

10. Kapitel81

11. Kapitel86

12. Kapitel92

13. Kapitel99

14. Kapitel103

15. Kapitel112

16. Kapitel119

17. Kapitel129

18. Kapitel149

19. Kapitel153

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«158

Die Fortsetzung der Seelenwächter:159

Impressum160

Die Chroniken der Seelenwächter

Das Lied der Schatten

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Jessamine

Wo bin ich? Wer bin ich? Was bin ich?

Essenzielle Fragen, die sich Menschen stellten. Was war der Sinn hinter dem Leben? Wozu wurden wir geboren? Was bewegten wir auf dieser Welt? Welche Fußspuren hinterließen wir?

Ich selbst hatte jahrelang nur ein Ziel verfolgt: meine Mutter zu finden. Die Suche nach ihr hatte mich dorthin gebracht, wo es dunkel und grausam war, wo ich mich selbst verloren und wiederentdeckt hatte.

Und nun?

Wer war ich geworden? Was war mein Part in dieser Geschichte? Was kam, wenn das Ziel erreicht war? Der Berg erklommen, die Strecke gelaufen, der Kampf beendet?

Was blieb am Ende übrig?

Ich schwebte. Ich fiel. Ich rannte. Ich saß. Ich blinzelte. Ich schlief. Ich fühlte. Ich lebte. Ich starb.

Mein Körper und meine Seele hatten sich in einen Bereich ausgedehnt, den ich nicht verstehen konnte. Ich war eins mit dem Universum geworden und dennoch kein Teil davon. Ich war überall und nirgendwo. Verloren in den Wirren des Seins und im Strudel der Zeit.

»Frag die Nomaden.«

»Du weißt alles, was du wissen musst.«

»Wenn du die Orientierung verlierst, dann verlierst du auch dich. Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt!«

»Wie denn?«

»Spring.«

»Was?«

»Los!«

Los.

Lassen.

Ich hatte vergessen, wie das ging. Wusste nicht, was mich erwartete, wenn ich den nächsten Schritt machte. Ich streckte die Arme aus, suchte mit den Händen nach etwas, das ich greifen konnte, aber da war nichts. Raum und Zeit spielten keine Rolle mehr. Doch ich musste zurück.

Nach Hause.

Zu Jaydee.

Zu Mum.

Zu Zac.

Zu den anderen.

Sie brauchten mich, genau wie ich sie brauchte. Wir waren eine Familie, ein Ganzes, eine Einheit, aber wie konnte ich sie finden? Wo waren sie? Wo war ich? Wo Jonathan, der eben noch in meiner Nähe gewesen war?

»Frag die Nomaden«, hatte er gesagt. Keine Ahnung, warum ausgerechnet diese Worte so stark in mir nachhallten. Ich wusste ja nicht mal, wen er meinte. Mir schwirrte der Schädel. Nicht nur von diesem Hin und Her, auch von Jonathans Worten.

Mein Vater.

Diese Erkenntnis war noch lange nicht in mein Bewusstsein gesickert.

Mein Leben lang hatte ich mich gefragt, wer mein Erzeuger war, warum er Mum verlassen hatte und nicht Teil unserer Familie hatte sein wollen. Nun wusste ich es.

Weil er ein Wanderer zwischen den Welten war. Ein Geist im Getriebe der Zeit, was auch immer das letztlich bedeutete.

Auf einmal knallte ich hart auf den Boden. Ich knickte in den Knien ein, der Schmerz schoss mir die Beine hinauf und brachte mich zu Fall. Ich kippte vornüber, landete bäuchlings auf staubigen Holzdielen. Dreck wirbelte hoch, ließ mich husten.

»Aua.« Ich streckte die Arme aus, betrachtete mich und schraubte mich langsam nach oben. Mir war unglaublich schwindelig, es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Mein Körper und mein Geist waren wie getrennt voneinander, als wäre das eine noch auf Reisen, das andere aber längst angekommen.

Ich stand auf, sah mich um und bemühte mich, alle Aufmerksamkeit auf diesen Ort zu lenken. Eben war ich noch mit Jonathan in der Bar gewesen, ehe es uns fortgerissen hatte. Er lebte in diesen Visionen und konnte sich nur alle sieben Jahre auf der Erde manifestieren. An einem dieser Punkte hatte er schließlich mich mit meiner Mutter gezeugt. Hoffentlich würde ich mich nicht genauso wie er in den Visionen verirren und auch nur noch alle sieben Jahre zurückkehren können.

Ich schob schaudernd den Gedanken beiseite und sah mich um. Ich war in einem alten Haus gelandet. Es roch nach Motten und Dreck. Die Luft war kalt, überall pfiff der Wind durch die Ritzen. Obwohl ich mitten im Staub gelandet war, haftete nichts davon an meiner Kleidung. Auch auf dem Boden hatte ich keinen Abdruck hinterlassen.

Ich bin noch immer in einer Vision.

Das hier war nicht echt. Ich hatte den Weg zurück nicht gefunden. »Jonathan?«

Ich lauschte auf Geräusche, auf Hinweise, auf alles. Doch außer einem leisen Knarzen im Gebälk vernahm ich nichts.

»Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt.«

Mal wieder typisch, dass ich genau das nicht geschafft hatte.

Mein Leben hatte mir schon viele Stolpersteine in den Weg gelegt, die letzten Monate hatten mich oft herausgefordert und an die Grenzen getrieben. Ich hätte wohl damit rechnen sollen, dass es genauso weiterging und mir das Schicksal keine Pause gönnen würde.

Ich hörte erneut dieses Knarzen über mir und zuckte zusammen. Das Geräusch klang, als gehörte es nicht an diesen Ort. Es war hier genauso wenig heimisch wie ich.

Mit gespitzten Ohren lief ich los. Das Haus war alt und wirkte auf eine komische Art vertraut. Ich entdeckte Fußspuren, die eine Treppe nach oben führten, ebenso quer durch den Raum, in dem ich war. Eine Art Empfangsbereich, von dem verschiedene Türen und ein Flur zu meiner Rechten abzweigten. Ich drehte mich um die eigene Achse, überlegte, in welche Richtung ich zuerst sollte, als ich Stimmengemurmel hörte.

Es war kaum auszumachen, erklang nur am Rande meines Bewusstseins. Die Tür vor mir stand offen, ich ging darauf zu und folgte der leisen Stimme. Auch sie wirkte vertraut und warm und griff in mein Herz. Mir wurde schwindelig, ich fasste an meine Brust, weil ich mich auf einmal fühlte, als würde ich auf einem Drehstuhl sitzen, der mit vollem Tempo um sich selbst rotierte.

Diese Macht. Diese Energie. Diese Vision. Ich konnte noch nicht verstehen, was hier passierte, doch ich spürte, wie unglaublich stark das alles war. Es fühlte sich an, als würde ich einen Fuß über eine Schwelle setzen; als würde ich in die Jahrtausende eindringen und mit einem Wimpernschlag alle Geheimnisse des Universums ergründen.

So viel.

So allumfassend.

Das letzte Mal hatte ich das gefühlt, als ich mich mit den anderen Nachfahren verbunden hatte, um Anna zu helfen. Die Energie von damals rauschte durch meine Adern. Die Wände drehten sich vor meinen Augen, der Boden schwankte, genau wie ich. Die Umgebung flirrte auf, wurde unscharf, dann wieder klar. Das komische Knarzen erklang erneut über mir, von der Seite, um mich herum. Es zog mich zu sich, wollte mich weg von diesem Ort und an einen anderen schleudern. Ich schüttelte mich und trat nach vorne ins nächste Zimmer.

Dort stand ein alter Billardtisch in der Mitte, zusammengebrochene Bücherregale zierten die Wände, ansonsten noch mehr Dreck und Staub. Mein Kopf schwirrte immer heftiger, meine Zellen bebten. Ich durfte nicht hier sein, das war kein Ort für mich, doch ich konnte auch nichts dagegen tun. Ich wusste nicht, wie ich hinausfinden sollte. Also ging ich weiter und fand mich in einem größeren Raum wieder. Das Symbol der Seelenwächter war an eine Wand gemalt, daneben stand ein kleiner Tisch und …

»O mein Gott.« Ich legte die Hand auf meine Brust. »Jaydee!«

Er kniete auf dem Boden, vor ihm war eine Luke geöffnet, die einen kleinen, dort eingelassenen Hohlraum freigab. Jaydee reagierte nicht auf meine Anwesenheit, er starrte nur den Gegenstand an, den er wohl eben aus diesem Hohlraum geholt hatte.

»Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt!«, hörte ich erneut Jonathan in meinem Kopf. Ich trat näher an Jaydee heran, betrachtete ihn. Er sah mitgenommen aus, trug dieselbe Kleidung, die er angehabt hatte, als wir uns auf der Wiese getroffen hatten; nachdem er zurück zu mir gekehrt war. In Gedanken ging ich das Gespräch mit ihm durch und rekapitulierte seine Worte. Er hatte mir gesagt, dass er bei Coco gewesen war. Dort, wo sie einst gelebt hatte.

»Die Kugel hat mich zu ihrem Haus teleportiert. Ich wusste sofort, dass es ihres war. Ich habe sie gerochen, gespürt und noch mehr.«

»Du hast Lilija gesehen.«

»Nein, nur gehört.«

»Was hat sie gesagt?«

»Das, was sie immer sagt: dass sie für mich da ist, dass sie mich versteht, dass ich und …«

»Ja?«

Ich ging neben ihm in die Hocke, doch nach wie vor reagierte Jaydee nicht auf mich.

»Du bist hier«, sagte ich. »Ich nehme daran teil, was du erlebt hast.« Bei unserem Gespräch hatte Jaydee mir nicht erörtern wollen, was Lilija ihm mitgeteilt hatte. Kurz darauf war ich in die Vision mit Jonathan gefallen. Wir hatten keine Gelegenheit mehr gehabt, näher darauf einzugehen.

Jaydee starrte auf seine Hand. Sein Körper stand unter Hochspannung, er mahlte mit dem Kiefer, strahlte so viel Zerrissenheit aus. Ich hätte ihn am liebsten umarmt, ihm gezeigt, dass ich für ihn da war und an seiner Seite stand; dass er sich auf mich verlassen konnte. Doch ich wusste, dass ich ihn nicht anfassen konnte. Ich war nur ein Geist in dieser Welt. Mein Blick fiel auf seine Finger und das, was er darin hielt.

Ein Amulett.

Es war silbern, hatte einen eingefassten Kristall in der Mitte, eine spitzere Kante dort, wo die Kette eingefädelt wurde. Mir stockte der Atem, denn etwas in mir wandte sich diesem Schmuckstück zu. So ähnlich fühlte es sich an, wenn ich den Dolch meiner Mutter oder die Feder aus den Archiven der Sapier in der Hand hielt.

»Das ist einer der vier Gegenstände«, sagte ich leise.

Ein Dolch. Eine Feder. Ein Ring. Ein Amulett.

Jaydee schloss es fester in seine Finger ein, gab ein leises Knurren von sich und ließ es schließlich in seiner Hosentasche verschwinden. War das die ganze Zeit dort gewesen? Er hatte kein Wort darüber verloren, als wir uns gesehen hatten! Ich richtete mich ebenfalls auf und biss mir auf die Unterlippe. Auf einmal kam ich mir wie ein Eindringling vor; wie jemand, der das Tagebuch eines anderen liest, jeden Moment damit rechnend, dass etwas erschien, was er nicht hören oder sehen wollte.

Ich wich einen Schritt zurück, das Knarzen erklang erneut. Lauter. Ich blickte zur Decke, wo sich Risse bildeten und nach allen Seiten ausdehnten. Sie waren schwarz, dunkler Nebel waberte aus ihnen hervor. Kälte streifte mich im Gesicht, an den Armen, den Händen. Es war die Art von Kälte, die in die Trostlosigkeit führte. An einen Ort, an dem es nichts Freudvolles gab, an dem alles Gute und Schöne sofort starb. Ich rieb über meine Schultern, um dieses Gefühl abzustreifen, doch es wurde nur intensiver.

»Du hast mich erschaffen«, sagte Jaydee und holte meine Aufmerksamkeit zurück zu sich. »Du hast … Du hast das aus mir gemacht. Ich bin …«

»… zerrissen, das weiß ich und ich sehe deinen Schmerz«, antwortete Lilija. Ihre Stimme war ganz sanft und ruhig. Sie kam aus der Wand, als stünde sie dahinter. Lilija redete mit Jaydee wie eine Mutter mit ihrem verängstigten Kind. »Aber es sollte nie so sein. Hätten Ilai und die anderen mich nicht eingesperrt, müsstest du nicht so leiden. Verstehst du das nicht? Ich bin nicht deine Feindin, die anderen haben mein Werk unterbrochen. Sie haben dich mir weggenommen. Sie sind der Auslöser deines Schmerzes, nicht ich.«

Oh, Jaydee. Ich schloss die Augen, genau wie er. Lilija war in sein Herz eingedrungen. Ich spürte es und ich sah es. Sie hatte eine Tür geöffnet, die er vor uns anderen verschlossen hielt. Sie packte ihn genau dort, wo er nicht gepackt werden wollte, es aber dennoch brauchte für seinen Seelenfrieden.

Die Risse krochen an den Wänden entlang, breiteten sich nun auch über den Boden aus. Der dunkle Nebel wurde intensiver, er zischte und züngelte. Es klang, als würden tausend Stimmen darin leben, als würden sie alle nach mir rufen. Ich bohrte die Hand in den Magen, versuchte, mich zu konzentrieren, aber es fiel mir schwer.

Dieser Ort war nicht für mich bestimmt, genauso wenig wie die Visionen. Mein Körper und mein Geist waren nicht dafür gemacht.

»Wie komme ich hier raus?«, fragte ich in den Raum hinein. Mir war plötzlich so kalt. Das Gespräch mit Lilija ging weiter, steigerte die Unruhe in mir.

»Hallo?«, rief ich und war versucht, mir die Hände auf die Ohren zu legen, damit ich nichts mehr davon mitbekam. Es stand mir nicht zu, Zeuge hiervon zu sein. Jaydee sollte es mir selbst sagen. Er sollte mir genügend vertrauen, um mich in diese Tiefen mitzunehmen.

»Bitte!«, rief ich, doch niemand antwortete. Stattdessen wurde das Knarzen lauter und die Wände brachen weiter auf. Der dunkle Nebel drang daraus hervor, dehnte sich im Raum aus. Jaydee bekam nichts davon mit, er war in seiner Welt bei Lilija.

Ich fühlte mich erdrückt von diesem Ort. So viel Macht, so viel Energie.

»Calliope!?«, hörte ich jemanden ganz weit entfernt rufen.

»Mum!« Ich fuhr herum, suchte nach ihr. »Ich bin hier! Ich … Ich weiß nicht, wie ich rauskomme. Hilf mir!«

»Jess, wach auf, verdammt«, ertönte nun auch Zacs Stimme. Er klang sorgenvoll und ängstlich, genau wie ich mich mittlerweile fühlte. Mein Herz raste, ich schlang die Arme um mich, drehte mich nach rechts, nach links.

Nun kamen die Risse von allen Seiten auf mich zu, das Knarzen bohrte sich in meinen Schädel, wurde so laut und eindringlich. Es zischte und brummte um mich herum, die Szenerie flackerte vor mir auf, wurde wieder schärfer, verlor sich.

»Spring«, hatte Jonathan gesagt. »Lass los.«

Aber wie? Wohin sollte ich springen?

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagte Jaydee nun zu Lilija und gab genau das wieder, was auch ich fühlte. Seine Stimme klang gebrochen und hohl. Er verlor sich in ihrer Gegenwart.

»Setz dich zu mir«, sagte sie. »Bleib. Schenke mir ein paar Minuten deiner Zeit, denn sobald du dieses Haus verlässt, wird diese Verbindung brechen.«

Er blickte auf, ein leichtes Funkeln im Blick. Der letzte Widerstand. »Ich werde hier alles niederbrennen.«

»Das steht dir zu. Umso mehr bitte ich dich, kurz bei mir zu verweilen. Du hast mich beim letzten Mal nach Kedos gefragt.«

Was? Kedos? Ich hielt inne, starrte ihn an. Wartete.

»Und du hast gesagt, dass du mir nichts über ihn erklären kannst.«

»Ich weiß nicht, wie er zu besiegen ist, doch es gibt etwas, das du vielleicht wissen solltest.«

Jaydee schwankte leicht hin und her, dann trat er einen Schritt auf die Mauer zu.

»Du musst aus der Vision raus, ehe sie dich mitreißt.«

Ja. Ja. Gleich.

Jaydee schluckte, ließ sich zögerlich im Schneidersitz nieder, bereit, Lilija zu lauschen und ihre Worte aufzunehmen.

»Was tue ich hier?«, sagte ich zu mir selbst, nach wie vor zerrissen von dem inneren Widerstreit, so schnell wie möglich abzuhauen oder zu bleiben.

Wenn Jaydee etwas über Kedos erfahren hatte, warum hatte er es nicht gesagt? Er hätte es den anderen mitteilen sollen. Sie kämpften gegen ihn, das wusste er doch.

Jaydee blickte nach oben zu dem Symbol der Seelenwächter. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Eine Mischung aus Traurigkeit und Trotz. Er gehörte nicht in ihre Welt, er gehörte nicht zu den Menschen. Er war ein Gefangener. Und wenn ich länger blieb und mich auf diese Vision einließ, dann wäre auch ich das.

»Jess!«, rief Zac erneut. Ich fühlte ein Rucken an meiner Schulter. Eine warme Geste, eine Berührung, ein Ziehen.

Ich atmete tief ein, genau wie Jaydee. »Na gut«, sagte er und blinzelte. »Rede.«

»Du und Kedos«, sagte Lilija. »Ihr steht euch näher, als du ahnst …«

Mein Herz setzte einen Schlag aus, das Drücken in meinem Magen wurde noch schlimmer.

Lilija sagte ihm das nicht umsonst, das war völlig klar. Sie verfolgte ihre Pläne, sie wollte Jaydee noch mehr zu sich ziehen, ihn noch abhängiger von sich machen. Es könnte alles eine Lüge sein, was sie ihm auftischte; alles nur dazu dienen, Jaydee enger an sich zu binden.

Gott, was sollte ich nur tun?

Bleiben.

Gehen.

Was?

Das hier war eine Grenze. Wenn ich diese überschritt, wenn ich lauschte, wenn Jaydee das je herausfinden würde – dann würde sich alles zwischen uns verändern.

Ich schluckte genauso trocken wie er.

»Jess!«, rief Zac – und auf einmal ging ein heftiger Schlag durch mich. Ich zuckte zusammen, die Risse wandten sich mir weiter zu, der Nebel schoss nach oben, füllte den gesamten Raum aus. Ich hustete, Jaydee verschwand in der Dunkelheit, genau wie das Zimmer, wie Lilijas Stimme, das Haus. Alles löste sich auf. Ich hob die Arme, drehte mich herum, versuchte, die Orientierung zu behalten, doch ich konnte nicht. Der Nebel schloss sich um mich, drang in meine Haut ein und verursachte ein entsetzliches Brennen. Ich schrie, schlug danach, aber es wurde nur schlimmer, je mehr ich mich dagegen wehrte. Die Risse hatten mich erreicht, der Boden spaltete sich vor mir und dehnte sich zu einem gigantischen Loch aus, das mich zu sich zog. Meine Haut wurde aufgekratzt. Ich bekam überall rote blutige Striemen, der Schmerz rauschte durch meinen Körper und ließ mich erbeben. Ein unsäglicher Kummer stülpte sich über meine Seele. Alles Leid hatte hier einen Anfang, jeder böse Gedanke hier seinen Ursprung.

Meine Welt kippte nach vorne, ich konnte nichts dagegen tun, mich nur mitreißen lassen und hoffen, dass ich irgendwo ankommen würde.

»Jess?«, hörte ich Zac noch mal, aber seine Stimme war ewig weit entfernt, ich kam nicht mehr an ihn heran, konnte ihn nicht mehr greifen oder hören oder ihm folgen.

Die Vision hatte mich zu sich geholt, ich stürzte tiefer in sie hinein und begab mich an den Ort, vor dem Jonathan mich gewarnt hatte.

Vor dem Ort, wo ich mich selbst vergessen würde.

2. Kapitel

»Verdammt noch mal, Jess: Komm zu dir!« Zac rüttelte Jess ein weiteres Mal und versuchte, sie aus der Vision zu holen, doch es war sinnlos. Sie reagierte nicht auf ihn, genauso wenig auf ihre Mutter, die mittlerweile wach geworden war.

»Was können wir noch tun?«, fragte er. »Was passiert mit ihr?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Cassandra. Sie kniete auf der gegenüberliegenden Seite und hielt Jess‘ Nacken. Die andere Hand lag auf ihrer Brust. »Calliope, wenn du mich hörst, dann folge meiner Stimme zurück. Du musst aus der Vision kommen! Bitte!«

Jess‘ Körper bebte. Ihr Herz raste unnatürlich schnell, ein Schweißfilm bedeckte ihre Haut.

»Sie zerbricht an dieser Macht«, sagte Cassandra. »Es ist alles zu viel.«

Zac richtete sich auf und setzte sich auf die Fersen. Das hatte so keinen Zweck. Jess‘ Körper hatte sich aufgeheizt wie bei einem Fieber. Sie keuchte leise, zitterte; als könnte ihre Hülle den Druck nicht aushalten, der sich innerlich aufbaute. Zac holte Luft und sprang schließlich auf.

»Wo willst du hin?«, rief Cassandra.

»Hilfe holen!« Zac eilte den Flur hinunter, überlegte, wo Jaydee sein könnte. Die anderen waren alle ausgeflogen, weil sie gegen Kedos kämpfen mussten.

Zac öffnete das erste Zimmer und fand es leer. Mit einem Fluch auf den Lippen eilte er weiter zum nächsten und nächsten und nächsten. Er riss alle Türen nacheinander auf, bis er endlich fündig wurde.

Zac stürmte in den Raum. Jaydee schlief tief und fest.

»Hey«, rief Zac, eilte zu Jaydees Bett und stockte. Der Jadestein schien sich in Jaydees Haut gebrannt zu haben. Die Stelle war gerötet und geschwollen. Zac starrte den Stein an. Irgendwas zog sich in ihm zusammen. Es war ein ähnliches Gefühl wie auf dem Anwesen, als Zac mit Jess dort gewesen und alles zusammengekracht war. Zac war von einer Energiewelle aus der Bibliothek getroffen worden, seither fühlte er sich anders. Offener. Oder so.

Er trat nach vorne und rüttelte Jaydee an der Schulter. Im Gegensatz zu Jess fühlte er sich eiskalt an, auch seine Haut war blasser als üblich. »Jaydee, du musst aufwachen. Wir brauchen deine Hilfe.«

Keine Reaktion.

»Jaydee!«, brüllte Zac und schüttelte ihn fester, doch wieder passierte nichts. Waren sie etwa beide gefangen? Hatte diese Vision nicht nur Jess mit sich gerissen, sondern auch ihn? Und wenn ja: Wie konnte Zac …?

Auf einmal schnellte eine Hand nach vorne und packte Zac an der Kehle. Jaydee warf ihn zu Boden, saß schneller auf ihm, als Zac überhaupt blinzeln konnte. Er keuchte, während Jaydee fester zudrückte und ihn mit einem silbern stechenden Blick fixierte.

»Jaydee …«, stammelte Zac und packte sein Handgelenk. Das Blut schoss ihm in den Kopf, es fühlte sich an, als würde er gleich platzen. Seine Augäpfel quollen nach vorne, er konnte nur noch unklar sehen, doch was er erkannte, genügte völlig.

Dieser Mann war irre. Und besessen. Er war das Böse. Er war der Hass. Er war all das Dunkle, was die Menschen ausmachte.

»Ich … Hilfe …« Mehr brachte Zac nicht heraus. Ihm wurde schwindelig von dem Sauerstoffverlust. Er konnte nicht mehr schlucken, sich nicht einmal bewegen. Jaydee beschwerte ihn mit seinem vollen Gewicht. Zac spannte die Beine an, schob die Arme nach oben, um sie als Hebel zu verwenden, doch Jaydee grinste nur abfällig und stemmte seine Knie auf Zacs Ellbogen.

Panik stieg in Zac hoch. Jaydee konnte ihn mit Leichtigkeit umbringen. Und so wie er aussah, dachte er auch ernsthaft darüber nach. Vermutlich war es keine gute Idee gewesen, ihn zu wecken. Jess hatte gesagt, dass Jaydee im Schlaf die Emotionen nicht ausblenden konnte und alles auf ihn einprasselte. Deshalb nächtigte er auch nie im selben Bett mit ihr.

Zac bemühte sich um Ruhe, versuchte, seine Gedanken zu sortieren.

Emotionen.

Er reagiert auf Emotionen.