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Das Lager der Seelenwächter bleibt gespalten. Auf der einen Seite rüstet Lilija Jaydee für weitere Kämpfe gegen die Schattendämonen, auf der anderen wollen die Seelenwächter nicht länger warten und greifen Tashis Anwesen an. Ein unerbittlicher Kampf bricht aus, bei dem Jaydee seine Stärke ein weiteres Mal unter Beweis stellen muss. Mit verheerenden Folgen. Anna und Will finden sich langsam wieder in der Gegenwart zurecht und unterstützen Akil in seinem Vorhaben, Jaydee zu retten. Auch Jess verfolgt weiter ihren Plan, Hilfe bei Sophia zu finden. Gemeinsam mit Jaxon und Zac sucht sie nach einer Möglichkeit, wie sie doch noch mit der Urmutter Kontakt aufnehmen können. Dies ist der 38. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
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Seitenzahl: 233
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Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel3
2. Kapitel16
3. Kapitel23
4. Kapitel42
5. Kapitel52
6. Kapitel66
7. Kapitel74
8. Kapitel80
9. Kapitel89
10. Kapitel99
11. Kapitel104
12. Kapitel108
13. Kapitel115
14. Kapitel125
15. Kapitel130
16. Kapitel140
17. Kapitel156
18. Kapitel169
19. Kapitel176
Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«181
Die Fortsetzung der Seelenwächter:182
Impressum183
Die Chroniken der Seelenwächter
Wasser
Von Nicole Böhm
... das Wasser beherrscht das Feuer, ...
Jason stieg von seinem Parsumi und blickte zum Berg, der sich vor ihm im Dunst der aufgehenden Sonne erhob. Die Temperatur war mild, aber der Himmel diesig. Es sangen keine Vögel, kein Wind wehte, die Luft war drückend. Diese Gegend hatte schon immer etwas Unwirkliches an sich gehabt. Nicht nur vom Wetter her, auch die Atmosphäre und das Licht wirkten, als wäre Jason nicht mehr auf der Erde, sondern auf einem anderen Planeten.
Womöglich lag es aber auch an seinen Erfahrungen von früher. Jason hatte hier in der Nähe lange mit seiner Seelenwächterfamilie gelebt. Mit Luena, Antara und Sarina. Die Ersten, die er je auf diese Seite geholt hatte. Irgendwann hatte er sich von ihnen abwenden müssen, weil er der Hüter des Ringes geworden war und seine Welt in Dunkelheit versank. Jason hätte nicht gedacht, dass ein so kleiner Gegenstand eine derartige Wirkung auf sein Leben haben könnte. In der ersten Zeit, als er den Ring zur Aufbewahrung erhalten hatte, dachte er, den Verstand zu verlieren. Die damit verknüpfte Höllendimension sandte so viel Energie aus, dass es Jasons Seele fast zerriss. Mit der Zeit hatte er sich daran gewöhnt, aber es hatte erst aufgehört, als Moira ihm den Ring weggenommen und ihn so ein Stück weit erlöst hatte.
Jason schob die alten Erinnerungen zur Seite, orientierte sich kurz, doch es war niemand außer ihm hier. Auch die Einheimischen mieden die Gegend, so gut es nur ging. Zu viele Gerüchte rankten sich um diesen Ort, zu viele Mythen und Legenden, die von dem grausigen Spinnenwesen erzählten, das angeblich unschuldige Seelen in seinen Bau zog, um sie zu verspeisen.
Jason vermutete, dass Moira das tatsächlich tat. Bei seinem letzten Besuch hatte er menschliche Überreste gefunden, die darauf schließen ließen, dass ihre Nahrung nicht nur aus Insekten bestand. Ihm graute davor, diesen Teil ihres Reiches zu betreten, aber er hatte keine Wahl. Er brauchte Informationen darüber, wie es möglich sein könnte, den Verstorbenen den Weg ins Licht offen zu halten, wenn sie diesen nicht fanden. In der Regel schloss diese Pforte sich innerhalb von sechs bis acht Wochen nach dem Tod. Jason hatte lange nach einer Lösung gesucht, er hatte Jahrhunderte darauf verschwendet, diese eine Sache herauszufinden, aber nirgendwo eine Antwort gefunden. Vermutlich gab es sie da draußen, aber mit seinen beschränkten Mitteln war er an seine Grenzen gekommen.
Also blieb nur Moira.
Er blickte auf seine handschuhbedeckten Finger und ballte sie zur Faust. Was würde er dieses Mal wohl zahlen müssen? Was würde Moira für ihre Dienste verlangen? Er hatte keine Ahnung, was er noch geben konnte, aber auch das würde er bald herausfinden.
Außerdem musste Jason besonnen vorgehen. Moira sprach gerne in Rätseln und antwortete nie konkret auf Fragen. Formulierte man sie schlecht, bekam man Informationen, mit denen man nichts anfangen konnte. Jason hatte den Fehler ganz zu Beginn gemacht, weshalb er nun in der Situation war, überhaupt noch mal herkommen zu müssen. Hätte er damals schon an alle Eventualitäten gedacht, wäre dieser Besuch heute nicht nötig.
»Es ist, wie es ist.« Er war nie ein Mann, der mit dem eigenen Schicksal haderte. Er würde zu Moira gehen, den Preis bezahlen und dann erhalten, was er brauchte, um die Menschen zu retten.
Ein letztes Mal atmete er durch, nahm sich eine Flasche Heilsirup aus der Satteltasche und steckte sie in den kleinen Rucksack, den er mitgenommen hatte. Falls Moira ihm erneut körperlichen Schaden zufügen würde, könnte er ihn so hoffentlich eindämmen. Außerdem checkte er seine Waffen. Ein Schwert, ein Dolch, ein kleineres Wurfmesser. Nicht dass er Moira verletzen wollte oder konnte, aber er fühlte sich besser so.
Als er alles verstaut hatte, streichelte er seinem Parsumi über den Hals, um ihn etwas zu beruhigen. Das Tier war angespannt und scharrte mit den Hufen. Es spürte die Macht, die hier lauerte.
»Ganz ruhig, ich bin bald wieder da.«
Hoffentlich.
Langsam und mit einer Hand am Messer lief er auf den Berg zu, der jedes Mal wie ein schlafendes Ungeheuer aus schwarzem Gestein wirkte. Je näher Jason kam, desto kälter und dunkler wurde es. Zum Glück machte es ihn nicht mehr ganz so nervös wie beim ersten Mal. Dennoch blieb er auf der Hut, lauschte auf jedes Geräusch um sich herum und setzte jeden Schritt mit Bedacht.
Der Weg führte ihn durch einige Engpässe, die Jason einschlossen und das Tageslicht aussperrten. Mit jedem zurückgelegten Meter wurde es finsterer und bedrückender. So stellte er sich den Vorhof zur Hölle vor, und es würde ihn nicht wundern, wenn dieser Ort Menschen dazu inspiriert hatte, Fantasygeschichten darüber zu schreiben. Der Schicksalsberg, ein grausiges Spinnenwesen, das darin hauste, diese drückende Stimmung … Er konzentrierte sich auf seinen Atem und sein Element, das sich an diesem Ort so anders anfühlte. Hier schien die Kraft der Natur ausgehebelt zu werden, als würde alles Leben zum Stillstand kommen.
Jason erreichte einen weiteren Engpass, den er mit einem mulmigen Gefühl im Bauch durchquerte, weil der Felsen sich auch über seinem Kopf vereinigte und so eine Art Höhle bildete. Normalerweise empfand er es als beruhigend, derart von seinem Element eingeschlossen zu werden, aber nicht hier. Nicht in Moiras Reich.
Hinter der nächsten Biegung sah er die ersten Spinnweben, die sich über das Gestein zogen. Jason hatte keine Angst vor diesen Tieren, dennoch wurde er nervös – er würde gleich einem Wesen gegenübertreten, das nichts mit den Spinnen gemein hatte. Moira war einzigartig, grausig und auf ihre eigene Art faszinierend schön. Es war schwer, Worte für sie zu finden, sie war ein abstruses Geschöpf, geboren aus dem Schrecken einer Nacht, in der ihre Schwestern versucht hatten, sie umzubringen.
Er zog den Kopf ein, duckte sich unter einen Vorsprung weg und schob gleichzeitig die Spinnweben zur Seite, die ihm über die Haare strichen. Ein Teil blieb in seinem Nacken hängen, er spürte ein leichtes Kribbeln auf seiner Haut. Er fasste an die Stelle und bekam eine kleinere Spinne zu fassen, die Schutz unter seiner Kleidung gesucht hatte. Sachte setzte er sie wieder auf dem Felsen ab und ging weiter. Er kam nun langsamer voran, der Weg wurde schmaler und enger, er musste immer wieder die Spinnweben wegziehen. In den Ecken raschelte es, er hörte das Leben um sich herum, das keine Eindringlinge gewöhnt war.
Irgendwann kam er an den Eingang der Höhle und stockte. Er war eigentlich auf den Anblick gefasst gewesen, doch es schockte ihn auch beim zweiten Mal zutiefst. Rechts und links der Pforte hingen menschengroße Kokons an den Wänden. Einige waren in sich zusammengefallen, aus anderen ragten Hände und Füße. Zum Teil waren nur noch Skelette vorhanden, manche Körper waren frisch. Seit Jasons letztem Besuch waren zwei weitere dazugekommen. Er passierte die Kokons, zog die Schultern ein und atmete flach, denn aus der Nähe rochen sie stark nach Verwesung und Tod.
Jason betrat vorsichtig die Höhle und gab sich einen Moment, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Es war dunkel und trocken. Der Geruch nach altem Papier schwebte in der Luft, aber er wusste, dass es von den Spinnweben kam, die überall an der Decke und den Wänden hingen. Jason lief langsam weiter und hielt die Ohren gespitzt. Spinnen wuselten in den Ecken herum, an manchen Stellen so geballt, dass er sie nur als schwarze wogende Masse erkannte. Er bekam unweigerlich Gänsehaut, ignorierte es, so gut es ging, und suchte sich einen Weg tiefer in die Höhle. Sie war zum Teil verwinkelt, aber durch seinen ersten Besuch wusste er, wohin er gehen musste und fand recht zielstrebig den Weg. Mit jedem Schritt, den er weiter in Moiras Reich eindrang, wurde ihm mulmiger. Er fürchtete sich vor der Bezahlung und was sie ihm abverlangen könnte. Er war nicht bereit, mehr von sich und seinem Element zu opfern, aber er musste es durchziehen.
Das alles diente einem höheren Zweck. Wenn er jetzt tapfer blieb, konnte er den Menschen eine gute Zukunft schenken. Es war seine Bestimmung, auf sie aufzupassen und dafür zu sorgen, dass sie in Frieden lebten. Wenn es hieß, dass er selbst dabei zugrunde ging, dann war es eben so.
Jason bog um eine letzte Ecke und kam schließlich ins Herz der Höhle und dorthin, wo Moira hauste. Ein runder Raum, mit einem Podest in der Mitte. Die Wände schimmerten rot und orange, es roch intensiv nach diesem alten Papier und den Spinnweben, die alles bedeckten. Jason trat ins Zentrum vor und blickte sich um. Dieser Ort war das Faszinierendste, was er je gesehen hatte. Die Spinnweben, so wusste er mittlerweile, waren nicht unwillkürlich angeordnet, sie stellten die Schicksale aller Seelen dar, die jemals auf der Erde gelebt hatten und noch leben würden. Sie bewegten sich ständig, überkreuzten und verknoteten sich, formten andere Wege oder fielen sogar von der Wand, wenn ein Pfad zu einem Ende kam. Auf dem Boden lagen unzählige abgetrennte Fäden, die halb vertrocknet waren und keinen Sinn mehr zu haben schienen. Jason vermutete, dass dies die Seelen der Schattendämonen waren, die die Seelenwächter getötet hatten, denn diese wurden aus dem natürlichen Kreislauf des Lebens gerissen und für immer ausgelöscht.
Verloren in der Unendlichkeit des Universums.
Er sah auf einen größeren Haufen, der das letzte Mal nicht dort gelegen hatte. Vielleicht waren das alle Seelen, die Jaydee in Bangkok vernichtet hatte. Jason hielt einen Moment inne und erkannte dieses Opfer an. Er war kein kaltblütiger Mörder, wie es für viele vermutlich schien, Jason fühlte mit jeder Seele, die sie töteten und es berührte ihn zutiefst.
»Es tut mir leid, dass dies nötig ist«, flüsterte er und fasste sich ans Herz, ehe er weiterging. Noch war es still, aber er spürte, dass sie ihn beobachtete; dass sie irgendwo in den Schatten lauerte und ihn längst gewittert hatte.
»Moira.« Er vernahm eine Bewegung zu seiner linken Seite. Ein leises Zischen erklang, es trieb ihm erneut die Gänsehaut über den Körper. »Ich brauche ein weiteres Mal deine Hilfe«, sagte er ruhig, auch wenn ihn seine Instinkte dazu antreiben wollten, zu fliehen.
»Jason Salvorian«, hallte ihre Stimme von allen Seiten.
»Ich benötige noch eine Information von dir. Du musst mir sagen, was ich tun soll, um ein gewisses Ergebnis zu erhalten.«
»Mh«, machte sie und etwas raschelte. Er drehte sich langsam um, darum bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn diese Situation stresste.
»Du willst Wissen«, sagte sie, und aus den Spinnweben wölbte sich ein Körper hervor. Erst erkannte er nur ihre Umrisse. Zierliche weibliche Kurven, die menschlicher wirkten, als er es zu Beginn vermutet hätte. Jason hatte sich bei seinem ersten Besuch darauf eingestellt, eine gigantische Spinne zu treffen, aber Moira war anders.
Sie trat weiter hervor, die Spinnweben zogen sich über ihre Brüste, den Bauch, die Hüften und bedeckten sie wie Kleidung. Langsam kam sie auf ihn zu, ihre Haut war blass und hob sich kaum von der Umgebung ab. Moira hatte weiche Gesichtszüge. Ihre Augen waren rabenschwarz und schimmerten grünlich, wenn sie den Kopf drehte oder das Licht in einem anderen Winkel einfiel. Ihre Haare bewegten sich eigenständig und wogten um ihren Körper herum. Sie streckte die Arme aus, dehnte sich, als wäre sie eben erst aus einem langen Schlaf erwacht. Auf dem Rücken reckten sich sechs weitere Arme, ehe sie sich zurückzogen und wieder einklappten.
Jason blieb ganz still stehen, während sie sich auf ihn zubewegte. Moira zischte erneut und öffnete ihre Lippen, sodass Jason ihre spitzen Fangzähne erkennen konnte. Angeblich war ihr Biss mit einem heftigen Nervengift versehen und tödlich. Er hatte nicht vor herauszufinden, ob es stimmte.
»Ich wittere deine Angst«, sagte sie und schritt um ihn herum.
»Die habe ich. Unser letztes Treffen war sehr schmerzhaft für mich.«
»Und dennoch kommst du zurück.«
»Weil die Antwort auf meine Frage wichtiger ist. Schmerzen vergehen.« Hoffentlich.
Jasons Hände waren seither an manchen Tagen zu nichts zu gebrauchen, aber wenn das der Preis war, dann würde er ihn eben zahlen. Wenn sie erfolgreich waren und alle Schattendämonen vernichtet wurden, gäbe es sowieso keine Seelenwächter mehr. Er könnte zu seinem Element zurückkehren und Frieden finden.
»Welche Frage hast du mitgebracht?«, fragte sie und trat näher zu ihm. Jason biss sich auf die Innenseite seiner Wange und hielt den Blick geradeaus.
»Ich …« Vorsichtig jetzt. Er musste seine Worte weise wählen. Jede Frage erforderte eine Bezahlung. Wenn Jason zu lange drum herumredete, wäre das äußerst schmerzhaft für ihn. »Was kann ich tun, um zu verhindern, dass Schattendämonen je wieder entstehen?«
Moira gab ein leises Brummen von sich, beugte sich zu Jason und nahm einen tiefen Atemzug. Die Spinnweben um ihren Körper bewegten sich, Jason sah sogar einige der Tiere darin herumkriechen und in ihren Haaren verschwinden.
Er schluckte den Ekel hinunter und hielt ihrem Blick stand. Ihre schwarzen Augen schienen direkt durch ihn zu sehen und bis auf den Grund seiner Seele vorzudringen. Es war verstörend, aber er musste es aushalten, wenn er Antworten wollte. Moira zeigte mit einem ihrer langen knochigen Finger auf die Wand hinter Jason. Er wandte sich um und musterte die unzähligen Fäden, die dort verwoben waren.
»Eine Seele, die den Pfad ins Licht nicht findet.« Eine der Spinnweben leuchtete auf und stach stärker hervor als die anderen. Moira ging an die Stelle, zog den Faden vorsichtig heraus und wickelte ihn um ihre Finger. Sie hob ihn dicht vor ihre Nase, nahm einen tiefen Atemzug, als könnte sie so herausriechen, was sie wissen wollte. Zu Jasons Linker glomm ein nächster Faden auf und wieder einer und noch einer. »Dämonen des Schattens.«
Er hatte keine Ahnung, wie Moira aus diesem Gewirr aus Schicksalen Antworten fand, aber sie tat es. Sie lief einen Faden nach dem anderen ab, zog manch einen heraus, verknüpfte sie erneut an einer neuen Stelle, nickte, murmelte, zischte.
Nach und nach arbeitete sie sich so durch ihr Netz, schuf frische Verbindungen und kappte alte. Jason verhielt sich ruhig, wartete geduldig ab, bis Moira zum Ende kam. Beim ersten Mal hatte der Prozess mehrere Stunden gedauert, er hoffte, dass es heute schneller ging.
Tatsächlich hielt Moira irgendwann inne und starrte auf die Fäden, die sie um ihre Hände gewickelt hatte. Sie leuchteten auf, als wären sie mit kleinen Lichtern ausgestattet worden und schlangen sich um Moiras gesamten Unterarm. Sie nickte, zog noch mal ein paar Fäden heraus und hob dann ihre Finger, um Jason das Gebilde zu zeigen. Er sah nur Wirrwarr, aber Moira wirkte zufrieden.
»Die Tür, die sich schließt, kann nur offen bleiben, wenn die Reinheit fließt. Nutze die Kraft, die alles in sich vereint.«
In der Mitte des Geflechts flammte ein kleiner Kreis auf, und Jason hätte schwören können, dass er für einen Moment das Symbol der Seelenwächter aufblitzen sah, das von zwei großen Flügeln umrahmt wurde. Es verschwand allerdings so schnell, dass er es nicht richtig erkennen konnte.
»Die Kraft, die alles in sich vereint.« Er kannte natürlich ein Wesen, das dem entsprach. »Du redest von Jaydee?«
»Ist das eine weitere Frage an mich?«
»Ich …« Jason fuhr sich übers Gesicht und kaute auf seiner Unterlippe. Moira verlangte die Bezahlung für ihre Dienste erst am Schluss. Je mehr Fragen er stellte, desto härter müsste er dafür büßen. »Ich weiß es nicht. Darf ich kurz nachdenken?«
»Wenn es dein Wunsch ist.« Moira ließ die Hände sinken, wackelte mit den Fingern, und das Geflecht aus Fäden, das sie mit so großer Sorgfalt herausgezogen hatte, bröselte als Staub zu Boden. Sie fixierte Jason und gab wieder diesen leise rasselnden Zischlaut von sich. Er zuckte zusammen, wich einen Schritt vor ihr zurück, denn er fühlte sich auf einmal unwohler als eben noch.
Moiras Oberlippe kräuselte sich, für eine Sekunde blitzten ihre scharfen Eckzähne auf. Jason musste unweigerlich an die Menschen denken, die draußen vor der Höhle in ihren Kokons hingen und nur darauf warteten, von ihr gefressen zu werden.
»Ich glaube nicht, dass ich dir schmecken werde«, sagte er leise, weil er nicht wusste, wie er ihren Blick bewerten sollte.
»Wer kann das schon wissen, Seelenwächter.« Moira kam langsam auf ihn zu und umrundete ihn, während er eine Hand auf sein Schwert legte. Das letzte Mal hatte er sich auch unwohl gefühlt, aber nicht so direkt bedroht wie jetzt. Vielleicht hatte Moira da keinen Hunger gehabt. Er behielt sie fest im Blick, während er versuchte, einen Sinn hinter ihren Worten zu finden. Das Wesen, das alles in sich vereint, musste Jaydee sein. In all den Jahrtausenden, in denen Jason nun auf der Erde war, kannte er keinen anderen wie ihn. Die Frage war allerdings, wie er Jaydee dazu bringen sollte, diese Tür offen zu halten und wann. Musste er es tun, nachdem er alle Schattendämonen ausgelöscht hatte oder währenddessen? Sollten sie an einen bestimmten Ort? Mussten sie ein Ritual durchführen oder musste Jaydee eingesperrt werden? Würde er die Prozedur überleben? Wenn Jason Moira jetzt verließ, müsste er all das selbst herausfinden. Sie würde ihm zwar die Lösung auch nicht auf dem Silbertablett servieren, aber sie würde ihn in die Richtung weisen, in die er blicken musste.
Er brauchte mehr Informationen, und dazu musste er mehr Fragen stellen.
»Na schön«, sagte er und fixierte sie. »Was muss Jaydee tun, damit die Tür für die verstorbenen Seelen offen bleibt und sie nicht zu Schattendämonen werden?«
Moira reckte wieder das Kinn, ihr rechtes Auge zuckte, ein Arm auf ihrem Rücken klappte aus. Sie zischte, wandte sich erneut an das Geflecht aus Fäden und startete ein zweites Mal mit der Prozedur.
»Meine Bezahlung …«, sagte sie leise, während sie ihrer Arbeit nachging.
»Ja. Natürlich. Ich weiß nicht, was ich dir noch geben kann. Du hast bereits meine Heilkraft.«
Moira griff nach einem der Fäden in dem Gewirr, während eine andere Hand sich Jason entgegenstreckte. Er wollte zurückweichen, aber einer ihrer anderen Arme schoss ebenfalls nach vorne und versperrte ihm den Weg. Auf einmal kam sie ihm viel größer vor als eben noch, als würde sie die gesamte Höhle ausfüllen.
»Du hast noch ganz viel, was mir nützlich sein wird, Seelenwächter der Erde. Erster deines Elements.« Es rasselte neben Jason, er bemerkte aus dem Augenwinkel, wie sich ein weiterer Arm auf ihn zubewegte. Wie, bei allen Göttern, konnte sie auf einmal überall um ihn herum sein? Er hielt die Luft an, seine Finger ruhten auf seinem Schwert, aber er wollte sich nur wehren, wenn es nicht mehr anders ging. Er war gekommen, um Antworten zu erhalten, und das würde er nicht, wenn er Moira verletzte.
Also hielt er still, während sich an seinen Beinen etwas nach oben bewegte. Es kroch unter seine Hose und über seine Haut und ließ ihn schaudern. Jason wagte einen Blick nach unten und schnappte erschrocken nach Luft. Er war kein ängstlicher Mann, aber das war selbst für ihn mehr, als er erst mal ertragen wollte. Hunderte von Spinnen krabbelten über seine Füße, seine Waden, seine Knie. Sie waren über und unter der Kleidung und bewegten sich in einem stetigen Strom an seinem Körper entlang nach oben.
»Moira.«
»Hab keine Furcht, Seelenwächter. Ich nehme mir nur, was mir zusteht. So viele Fragen hast du. So viele Antworten willst du.« Sie zog einen weiteren Faden heraus, als ginge sie das gar nichts an, was mit ihm passierte, aber er war sich sicher, dass sie ihn nicht aus den Augen verlor und ihre Aufmerksamkeit überall war.
Die Spinnen erreichten seine Hüfte, seinen Bauch. Er spannte die Hände zu Fäusten und konzentrierte sich darauf, ruhig zu bleiben. Das Kribbeln auf seiner Haut war fast unerträglich, es fühlte sich an, als würden sie ihn mit kleinen Giftstacheln piksen, während sie sich ihren Weg nach oben bahnten. Wann würden sie haltmachen? Was würden sie von ihm nehmen? Das letzte Mal war das nicht passiert. Moira hatte es selbst getan, hatte seine Hände in ihre genommen und ihm so die Heilkraft aus dem Körper entzogen. Es war eine schmerzhafte Prozedur gewesen, bei der er fast das Bewusstsein verloren hatte. Das heute lief auf einer anderen Ebene ab. Subtiler, aber nicht minder bedrohlich.
»Ah«, sagte Moira, als sie einen weiteren Faden herauszog. »Hier ist deine Antwort. Willst du sie hören?«
Jason spannte den Rücken an, denn die Spinnen hatten nun fast seinen Hals erreicht und krochen aus dem Kragen seines Hemdes, um nach oben zu krabbeln. Moira streckte noch immer einen ihrer Arme in die Luft und wackelte mit den Fingern, als würde sie den Spinnen etwas diktieren. Sie schnipste einmal, und tatsächlich hielt das Getier auf Jasons Haut inne.
Er schloss für einen Moment die Augen und spürte die Spinnen wie eine zweite Haut um sich herum. Sie stanken nach verfaultem Fleisch und wärmten ihn auf eine unnatürliche Art. Obwohl es so viele Einzeltiere waren, kam es ihm vor, als wären sie ein Organismus.
Moira wandte sich zu Jason um und hielt einen einzigen hell leuchtenden Faden in die Höhe. Er strahlte intensiver als alle anderen, die sie bisher herausgezogen hatte, und blendete Jason so sehr, dass er kaum etwas erkennen konnte.
»Deine Sinne sind ausgezeichnet«, sagte Moira. »Erdwächter sind stark mit der Natur verbunden. Ihr hört, riecht, seht mehr als andere.«
»D-das tun wir.« Er zog die Augenbrauen zusammen, verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, er fühlte sich beklemmt und unwohl. Die Spinnen drückten ihm den Sauerstoff ab, die ersten Tiere krabbelten langsam weiter nach oben und teilten sich an seinem Hals auf. Einige krochen auf seine Ohren zu, andere auf seinen Mund und seine Nase.
»Was … Was hast du vor?«
»Dir die Antworten geben, für die du gekommen bist, und mir das nehmen, was ich dafür haben will.« Sie trat näher und hob den Faden höher über ihren Kopf. Jason riss die Augen auf, als die ersten Spinnen in seine Ohren eindrangen und es merkwürdig darin krachte.
»Moira …«
»Entspann dich, Seelenwächter. Gib mir einen deiner Sinne und du sollst sehen, was du sehen willst.«
»Nein, nein, warte!«, rief er, aber es war zu spät. Die Spinnen drangen nun in seinen Mund und in seine Nase. Einige bedeckten seine Augen und verhinderten so, dass er etwas sehen konnte. Er wollte nach ihnen schlagen, sie von seinem Körper reißen, aber er konnte sich nicht mehr rühren. Sie quetschten ihn zusammen, hielten ihn fest und drückten ihm die Luft ab. Jason schrie, was alles nur schlimmer machte, denn so kamen noch mehr Spinnen in seinen Rachen. Er röchelte, hustete, wollte atmen, aber er konnte nicht mehr.
Moira lachte, sie reckte den Faden weit über ihren Kopf, Jason sah den Lichtstrahl daraus explodieren. Mit ihm kamen die Bilder in seine Gedanken – und in einer Sekunde sah er alles, was er wissen musste, um die Tür für die verstorbenen Seelen offen zu halten.
»Um die Geburt eines Schattendämons zu verhindern, musst du den Grund kennen, warum sie überhaupt entstehen. Sieh hin. Ein letztes Mal.«
Er blickte hin, er verlor sich in den schillernden Details dessen, was er zu tun hatte. Er sah den Ort, an dem alles angefangen hatte und offenbar auch enden konnte. Er sah die Geburtsstunde der Schattendämonen, diesen einen Moment in der Geschichte der Menschen, als sich alles für sie veränderte. Da erst wurde ihm klar, was er zu tun hatte. Was er mit Jaydee tun musste, um alle zu retten.
Jason riss die Augen ein weiteres Mal auf und sog so viel in sich auf, wie er nur konnte.
Es war das letzte Mal, dass er je wieder etwas sehen sollte.
Jessamine
Ich erwachte abrupt aus einem unruhigen Schlaf und hatte im ersten Moment Schwierigkeiten zu begreifen, wo ich war. Die Geräusche klangen fremd, die Luft war frisch, durch das Fenster neben meinem Bett drangen die Sonnenstrahlen und tauchten mein Zimmer in ein angenehmes orangefarbenes Licht. Mein Herz pochte so heftig, dass es fast schmerzte, ein Schweißtropfen rann mir übers Genick und ließ mich frösteln.
»Jonathan«, flüsterte ich und legte die Hand flach auf meine Brust. War das eben ein Traum gewesen oder echt? Hatte ich mich wirklich mit ihm getroffen und besprochen, dass er mir seine Fähigkeiten schenken wollte?
Ich richtete mich im Bett auf, streckte meine Finger aus, drehte sie herum und betrachtete sie von allen Seiten. Meine Haut schimmerte leicht, ansonsten fühlte ich mich ganz normal. Ich blickte neben mich, wo meine Mutter friedlich in ihre Decken eingerollt schlief. Ich hatte bei ihr übernachtet, weil ich sie nach dem Ausflug zu Ashriel nicht hatte alleinlassen wollen. Zum Glück hatte Haley ihre Verletzungen komplett heilen können, sie schwebte nicht mehr in Gefahr.
Ich zog die Beine an und stützte mein Kinn darauf, während ich weiter darüber nachdachte, was eben mit mir passiert war.
Jonathan. Unser Abschied. Sein Geschenk.
Noch konnte ich nicht begreifen, was er mir damit gegeben hatte. Die Fähigkeit, zwischen den Welten zu wandern? Hieß das, dass ich jetzt teleportieren konnte – und wie genau musste ich das tun? Brauchte die Fähigkeit Zeit, um sich zu entfalten, oder war sie schon aktiv? Ich fühlte mich völlig normal und hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich das abrufen sollte.
Ich blickte zum Fenster und blinzelte gegen die Sonnenstrahlen. Der Himmel war tiefblau, vermutlich war es bereits Mittag, dennoch verspürte ich nicht den Drang aufzustehen. Ich wollte einfach nur hier sitzen, die Nähe meiner Mutter genießen und alles Revue passieren lassen, was mir zugestoßen war.
Irgendwann regte sich allerdings meine Mum und gab leise einen verschlafenen Laut von sich.
»Calliope?«
»Ja.«
»Wie spät ist es?«
»Keine Ahnung. Geht es dir gut?«
»Ja. Dir auch?« Sie richtete sich auf, gähnte und musterte mich. Ein paarmal blinzelte sie, als hätte sie in zu helles Licht geschaut. »Irgendwas an dir ist anders.«
Also erkannte man es doch? Ich fasste an meinen Hals und wandte mich ihr zu. »Ich … Ich hatte einen sehr merkwürdigen Traum. Oder auch nicht. Das weiß ich noch nicht so genau und ich bin …«
Ehe ich weitererzählen konnte, hörte ich Schritte, die sich auf unser Zimmer zubewegten. Auf einmal sprang die Tür ohne Vorwarnung auf und Zac stand im Rahmen.
»Schon mal was von Klopfen gehört, junger Mann?«, fragte meine Mutter und zog die Decke höher über ihre Brust.
»Ja. Tut mir leid. Ich … Ihr müsst sofort mitkommen.«
»Was ist denn passiert?«, fragte ich und stand vom Bett auf. »Sag bitte nicht, dass es eine weitere Katastrophe gab.«
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Nein, ganz und gar nicht. Zieht euch an. Sofort!« Er trat genauso flink aus dem Raum, wie er reingekommen war.
Ich warf meiner Mutter einen fragenden Blick zu, ging schnell ins Bad und machte mich fertig. Auch meine Mutter stand auf und zog sich rasch an. Wir verließen gemeinsam das Zimmer, liefen die Treppe hinunter, Zac wartete bereits an der Haustür und riss sie sofort auf, als er uns sah.
»Mitkommen!«
»Was ist denn passiert?«
»Seht ihr gleich.«
»Aber …« Er packte mich mit einer Hand und meine Mutter mit der anderen, dann zerrte er uns quer über die Straße rüber zu Ikarius‘ Haus. Ich verstand nach wie vor nichts, doch Zac wirkte kein bisschen beunruhigt. Könnte zur Abwechslung etwas Gutes geschehen sein?
Zac trat auch in Ikarius‘ Haus, ohne sich die Mühe zu machen, vorher anzuklopfen. Mum und ich folgten notgedrungen. Im Inneren war es angenehm warm. Akil kniete vor der Couch und verdeckte die Sicht auf jemanden, der vor ihm lag. Es duftete nach dem Feuer im Kamin, nach Erde wegen Akil und nach …
»O mein Gott!«, sagte ich und hielt in der Bewegung inne. War das etwa … Mandarine?
Akil drehte sich zu mir und lächelte mich an.
Zum ersten Mal seit Wochen sah ich den alten Lebensmut in seinen Augen aufblitzen.
Zum ersten Mal wirkte er ruhiger, gesetzter, hoffnungsvoller.