Die Chroniken der Seelenwächter - Band 7: Tod aus dem Feuer - Nicole Böhm - E-Book

Die Chroniken der Seelenwächter - Band 7: Tod aus dem Feuer E-Book

Nicole Böhm

4,5

Beschreibung

Jess befindet sich in ihrer ganz persönlichen Hölle. Hilflos an Jaydee gekettet muss sie mit anhören, wie Violet vor Qualen schreit und Ralf anfleht, aufzuhören. Aber auch Jaydee geht es nicht besser: Er versucht mit aller Kraft, den Jäger in seinen Schranken zu halten und weiß, dass er es nicht schaffen wird. Sobald er seine Ketten gesprengt hat, wird er sich auf Jess stürzen und ihr Blut fordern. Mittlerweile wirken sich Ralfs Pläne nicht nur auf das Leben von Jess und Violet aus. Der Polizist Benjamin Walker wird erneut in die Welt der Seelenwächter gezogen und sieht sich einer Dämonin gegenüber, die stärker und unberechenbarer ist als je zuvor. Das Spiel mit dem Feuer hat begonnen. Und es bringt eine uralte teuflische Kraft in die Welt, die nur durch eine Sache befriedigt werden kann: Menschenseelen. Dies ist der 7. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7

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Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel3

2. Kapitel9

3. Kapitel17

4. Kapitel24

5. Kapitel30

6. Kapitel34

7. Kapitel48

8. Kapitel58

9. Kapitel66

10. Kapitel71

11. Kapitel84

12. Kapitel89

14. Kapitel101

13. Kapitel105

15. Kapitel114

Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«131

Die Fortsetzung der Seelenwächter:132

Impressum133

Die Chroniken der Seelenwächter

Tod aus dem Feuer

Von Nicole Böhm

1. Kapitel

Jessamine

Wenn es eine Hölle gab, dann war ich darin gefangen.

Anders konnte es einfach nicht sein, denn nur der Teufel war in der Lage, sich eine derart perfide Situation auszudenken.

Vor gar nicht allzu langer Zeit war ich – mit Handschellen auf dem Rücken – in einem Polizeiwagen gesessen, weil ich wegen Mordverdachts verhaftet worden war. Damals stufte ich dieses Ereignis als Katastrophe ein. Es hatte meine Welt erschüttert, mich verwirrt, geängstigt und mich schließlich ins Asyl der Seelenwächter getrieben.

Seither hatte ich gegen eine Undine gekämpft, mich aus den Fängen von Dämonen befreit, den Verlust Ariadnes verarbeiten müssen und gleichzeitig meinen Körper bis an seine Grenzen und darüber hinaus strapaziert. Ich hatte meinem Heim und meinem besten Freund Zac den Rücken gekehrt, hatte alles verlassen, was mir Sicherheit gab, und mich dafür in ein waghalsiges Abenteuer gestürzt.

Meine Nerven hatten gelernt, einiges auszuhalten. Ich hatte gelernt, einiges auszuhalten. Doch hier und jetzt war ich vollkommen überfordert. Diese Situation übertraf alles bisher Erlebte.

Ich hing gefesselt an einer Höhlenwand. Meine Handgelenke waren wundgescheuert, mein Herz raste in einem unkontrollierten Rhythmus, mein Shirt, meine Haare: Alles klebte schweißnass an mir. Die Luft war klamm und kalt, dennoch brannte sie auf meiner Haut. Aufgeheizt von meinen Gefühlen und von dem Mann, an den ich geknebelt war: Jaydee.

Sein Körper strömte eine unnatürliche Hitze aus. Sein Atem rasselte. Er keuchte dumpf, schlug immer wieder mit dem Hinterkopf gegen die Höhlenwand. Meine Tränen und mein Schweiß hatten schon lange sein Shirt aufgeweicht, und je mehr ich versuchte, mich zurückzuhalten – meine Emotionen zu kontrollieren –, umso schlimmer wurde es.

Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit bisher vergangen war. Eine Stunde, vielleicht auch erst eine Minute oder ein ganzer Tag. Es spielte im Grunde auch keine Rolle, denn in der Hölle gab es keine Zeit. Es gab nur noch Qualen.

Dabei wusste ich nicht, was schlimmer auszuhalten war: Jaydees derbe Beschimpfungen, bei denen er mir in schillernden Details erklärte, wie er mich zu Tode würgen wollte, sobald er frei war – oder die offenkundige Tortur, die er durch mich erlitt. Mir war klar, dass er nicht mehr bei Verstand war, dass der Jäger, wie er ihn nannte, aus ihm sprach. Seine Stimme klang schwer und vor Wut triefend. Könnte ich mich bewegen und ihm in die Augen blicken, würden sie silbern glühen und mich voller Hass anfunkeln.

Ich wünschte, ich wäre in der Lage, den Strom an Gefühlen auszustellen, der unkontrolliert in ihn hineinfloss. Ich wünschte, ich könnte mehr Abstand zwischen uns bringen. Ich wünschte, er könnte meine Berührungen aushalten.

Ich wünschte und betete und hoffte … erfolglos.

Er entzog mir meine Angst genauso schnell, wie sie wieder nachkam. Die winzigen Augenblicke, in denen ich tatsächlich ein wenig Mut verspürte, verpufften wie ein Tropfen Wasser im Feuer.

Ich war in der Hölle.

Wir alle waren das.

Und Joanne hatte uns direkt hineingeschubst. Akil, Anna und Ilai lagen in Arizona und durchstanden vermutlich Höllenqualen. Was mit Will war, wusste ich nicht, und Violet war in unerreichbare Ferne gerückt. Eine weitere Woge aus Angst schwappte über mich. Jaydee keuchte erneut und stieß gleichzeitig ein tiefes Knurren aus.

»Es tut mir leid«, sagte ich zum x-ten Mal. Als könnte eine Entschuldigung irgendetwas verbessern. »Sag mir bitte, was ich tun kann. Ich will dir helfen.«

»Krepieren kannst du, damit wäre mir geholfen.«

Ich biss auf meine Lippe. Das ist nicht er, das ist nicht er, das ist nicht … Oder war es genau umgekehrt? Vielleicht war das sein wahres Ich und das andere nur gespielt. Vielleicht gab es keinen guten Jaydee, auch wenn Akil so felsenfest davon überzeugt war. Violet hatte mich stets vor ihm gewarnt. Sie hatte von Anfang an das Böse in ihm erkannt und es gefürchtet.

Zu recht?

Die Angst, die eben so heftig in mir aufgewallt war, ließ wieder nach. Mir war klar, dass Jaydee sie aufgenommen hatte und nun selbst verarbeiten musste. Es würde nicht lange dauern, bis das Gefühl erneut in mir hochkam, aber vielleicht konnte ich die Zeit nutzen.

Vorsichtig prüfte ich den Sitz meiner Fesseln. Meine Arme, meine Beine, mein Oberkörper waren arretiert. Jaydee wurde sogar von doppelt so vielen Ketten gehalten. Joanne machte eben keine halben Sachen, und so pappten wir aneinander, als wäre Kleister zwischen uns geschmiert. Obwohl das grotesk klang, fand ich es schön, bei ihm zu sein. In den wenigen Sekunden, in denen er mir meine Angst nahm, fühlte ich mich tatsächlich geborgen, wenngleich das hirnrissig war.

Und bizarr.

Und abnormal, aber so war es eben. Jaydees Nähe löste etwas in mir aus, was ich weder erklären noch verstehen konnte und ich … Moment! War das vielleicht die Lösung? Wenn Jaydee meine negativen Gefühle aufnahm, dann doch auch meine positiven, oder nicht? Bisher hatte er immer heftig auf meine Berührungen reagiert, aber bisher war alles, was er je von mir zu spüren bekam, meine Angst oder meine Wut, weil er mich mal wieder geärgert hatte. Immer wenn wir uns nach dem Training berührt hatten, dann war es nur kurz gewesen und er hatte meinen gesamten Stress vom Tag abbekommen. Wenn ich das jetzt umkehren wollte, müsste ich also etwas Gutes heraufbeschwören. Etwas, das uns beide verband. Leider war die einzig schöne Erinnerung, die ich mit ihm teilte, unser Gespräch im Stall. Reichte das als Basis?

Schätze, ich würde es gleich herausfinden.

Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wieder dort zu sein, zu fühlen, was ich an diesem Tag empfand … seine Wärme, seine Zuneigung, die Zärtlichkeit, mit der er meinen Namen ausgesprochen hatte. Ich rief mir seine Worte ins Gedächtnis, die meine Seele gestreichelt und mir mehr Geborgenheit und Zuneigung geschenkt hatten als jede Umarmung der Welt.

Er und ich. Allein im Stall.

Jessamine … Wie ich dich behandle, ist gewiss nicht richtig, aber du bist so …

Er hatte sich tief zu mir heruntergebeugt, so nahe, dass wir uns fast berührten, und tatsächlich konnte ich es wieder spüren. Ich roch das Heu, hörte die Pferde, fühlte seine Nähe …

Er brummte tief. Die Ketten klirrten, als er sich bewegte. »Was tust du da?«

»Ich versuche, dir zu helfen.«

Ich erinnerte mich an den Moment, als er mit seinem Daumen eine Träne von meiner Wange tupfte, wie er seine Lippen damit benetzte und eine Verbindung zu mir herstellte.

Als würden wir uns küssen.

»Hör auf damit«, keuchte er. »Das ist zu ….«

Aber das konnte ich nicht mehr. Die Gefühle rauschten einfach aus mir heraus und Jaydee nahm sie auf, so wie er meine Angst aufgenommen hatte.

Er stöhnte und wummerte wieder mit dem Kopf gegen die Wand, und dann waren die guten Emotionen plötzlich weg. Jaydee hatte sie absorbiert. Ich blinzelte und fühlte mich auf einmal merkwürdig nackt. Ein weiteres Wummern folgte, und dann verwandelte sich sein Keuchen in ein derbes Lachen.

»Was ist so witzig?«, fragte ich.

»Du. Du bist so jämmerlich. Glaubst du wirklich, ein bisschen Schwärmerei kann mir helfen?«

Ich schloss die Augen, wappnete mich für die erneute Beleidigungswelle, die ganz sicher einsetzen würde, und wusste jetzt schon, dass ich dabei versagen würde.

»Bildest du dir tatsächlich ein, dieses Gerede im Stall hätte mir etwas bedeutet? Dass wir uns dadurch nähergekommen sind? Oder noch schlimmer: Dass ich tiefere Gefühle für dich haben könnte?«

»Ich …« – biss mir auf die Lippen. Er wollte mich provozieren, ich wusste es. Doch bevor ich es aufhalten konnte, drang die Enttäuschung über seine Worte nach oben und traf somit auch ihn.

Sein Lachen wurde fieser. »Ach, sei doch nicht so naiv, Blümchen. Nur weil ein Typ dir ein paar nette Worte um die Ohren haut, heißt das noch lange nicht, dass er sie auch so meint. Im besten Fall will er dich damit in die Kiste bekommen.«

Das ist nicht er, das ist nicht er, das ist nicht er … »Da besteht bei dir ja keine Gefahr. Dazu müsstest du mich schließlich anfassen.«

Er spannte die Muskeln, ich spürte es an meinem Bauch, meiner Brust, meiner Wange, die fest gegen seine Schulter gepresst war.

»Hm, aber du hättest das gerne, oder? Du wirst mich doch nicht etwa nett finden?«

»Nein, tue ich nicht.«

»Lügnerin.« Ein Rucken ging durch Jaydees Körper, die Fesseln klirrten, doch sie hielten. Dann kam das vertraute Schlagen seines Kopfes gegen die Höhlenwand. Die einzige Möglichkeit, wie er sich einen Hauch Erleichterung verschaffen konnte. Ich fühlte die erneute Woge aus Angst in mir hochkochen und wusste, dass sie sich jeden Moment ihren Weg nach draußen bahnte.

Jaydee sog die Luft durch die Zähne. Ein tiefes Knurren entwich seiner Kehle, ich fühlte ein Kribbeln, mein Puls beschleunigte sich, und dann war es wieder vorbei. Jaydee hatte meine Angst aufgesogen und musste sie von Neuem verarbeiten.

Es tat mir so unendlich leid und ich würde alles darum geben, diese Situation abzustellen.

»Jaydee, ich …«

Plötzlich durchfuhr mich ein heller, panikerfüllter Schrei. Diese Stimme kannte ich nur zu gut. Sie gehörte meiner besten Freundin.

»Violet.« Ich biss auf meine Lippen und presste die Augen zusammen, als könnte ich dadurch das Geräusch ausschließen. Das war schon das dritte Mal, dass sie schrie. Das dritte Mal, dass sich mein Herz vor Grauen zusammenzog und alles in mir danach brüllte, ihr zu helfen. Was taten sie nur mit ihr? Für was brauchten sie meine Fylgja?

Ein weiterer Schrei hallte durch die Mauern, gefolgt von der Bitte, endlich aufzuhören. Es schnürte mir die Kehle zu, sie so zu hören. Violet war immer die Stärkere von uns beiden gewesen, die Vernünftige, die, die wusste, was zu tun war. Sie war meine Beschützerin.

Erneut füllten sich meine Augen mit Tränen, mein Herz schlug wieder schneller, Jaydee keuchte, als ihn meine wiederaufkeimende Angst traf.

Wumms.

Er schlug wieder mit dem Kopf gegen die Wand.

Wumms.

Ich presste meine Wange gegen seine heiße Schulter und hielt es einfach aus.

Wumms.

Ich war in der Hölle.

Wumms.

Eindeutig.

2. Kapitel

»Eia niakajahijaa, eia niakajahijaa, eia niakajahijaa …«

Der monotone Singsang der beiden alten Frauen, gepaart mit dem rhythmischen Trommelschlag durch Rowan, lullte Bens Sinne ein. Die feucht-warme Luft in der Hütte strich über seinen nackten Oberkörper. Der Schweiß rann Bens Schläfen hinab. Die Temperaturen waren aufgeheizt durch das Feuer in der Mitte und die sechs Personen in dem engen Raum.

Und das bei dreißig Grad im Schatten draußen. Auf solche Ideen konnten nur die Dowanhowee kommen. Bens Großvater Abraham hatte ihm vorher erklärt, wie die Meditationssitzung ablaufen würde, doch ganz so anstrengend hatte er es sich nicht vorgestellt. Es war, als steckte er in einem Heißluftballon, umgeben von drückender, beißender Luft. Fast hatte er sogar das Gefühl, als würde er schweben. Oder war es eher ein Fallen? Genau konnte er es nicht deuten. Es war eine Art Schwerelosigkeit, ein Nicht-Mehr-Wahrnehmen des eigenen Körpers. Was seine Seele umgab, hatte sich aufgelöst und sein Innerstes entblößt. Er spürte weder seine Hose noch seine Beine, die er übereinander in den Schneidersitz geschlagen hatte, noch den Holzfußboden, auf dem er saß. Einzig die Worte seiner fünf Stammeskollegen und das Getrommel, dazu der süßliche Geruch des Räucherwerks, drangen noch zu ihm durch.

Neben dem Gespür für seinen Körper hatte er auch jegliches Zeitgefühl verloren. Er war in eine andere Ebene aufgestiegen und hatte die Barrieren seines menschlichen Seins hinter sich gelassen. Bald schon würden die Geister der Urahnen zu ihm kommen und ihm die Erleuchtung schenken. Sie würden ihm erklären, warum er so anders als die anderen war. Warum er gegen die Fähigkeiten der Seelenwächter und jegliche Magie immun war … Die alten Energien würden zu Ben sprechen und alle Fragen, die ihm durchs Hirn spukten, erklären können.

So ein Quatsch.

Ben zwang sich, die Augen weiter geschlossen zu halten. Diese ganze Prozedur dauerte nun schon länger, als ihm recht war, und er hatte auf dem Schreibtisch noch jede Menge Arbeit liegen. Eigentlich hatte er diesem Firlefanz nur zugestimmt, um seinem Großvater Abe einen Gefallen zu tun. Nach seinem Erlebnis mit den Seelenwächtern hatte Ben mit ihm telefoniert und ihm berichtet, was vorgefallen war. Er hatte es zumindest versucht, denn Ben hatte versprochen, nichts über die Seelenwächter preiszugeben. So redete er um den heißen Brei herum, versuchte seinem Großvater zu erklären, dass Ben das Gefühl hatte, als stimmte etwas nicht mit ihm. Immerhin hatte sein Körper es geschafft, jedwede Zauberkraft der Seelenwächter abzublocken. Er hatte sogar ihren Heilsirup vertragen, den sie normalerweise keinem Menschen geben konnten. Abe hatte sich alles in Ruhe angehört – ohne neugierige Fragen zu stellen – und Ben gebeten, ins Reservat zu kommen, in dem sein Stamm lebte. Wobei der Begriff Reservat nicht ganz zutraf: Die Dowanhowee wohnten am Rande von Riverside Springs an einer einsamen Bergstraße. Es waren exakt zwanzig Stammesmitglieder übrig, von denen zwei erst vor drei Monaten geboren worden waren. Alle anderen waren weggezogen, hatten geheiratet, die Blutlinie mit anderen vermischt. Außer Abes Leuten gab es niemanden mehr, der die alten Traditionen pflegte. Nach einer kleinen Diskussion mit Abe fand sich Ben also in dieser Hütte wieder. Halb bekleidet, umgeben von Räucherwerk, das er nicht näher definieren konnte und das ihm den Kopf vernebelte. Ein leichtes Kribbeln fuhr durch Bens Körpermitte, als versuchte irgendeine Energie, nach ihm zu greifen. Waren das vielleicht doch die Urahnen, von denen sein Großvater ihm erzählt hatte? Kamen die Geister seiner Familie, um sich mit ihm zu unterhalten?

Er wünschte es sich.

Wirklich.

Er wollte glauben, vor allem nach seinen Erlebnissen mit den Seelenwächtern. Immerhin hatte Ben am eigenen Leib die Magie gespürt, die sie wirkten. Er hatte sogar gegen Dämonen gekämpft, war verletzt und wiederbelebt worden, Herrgott, und trotzdem konnte sein Verstand nicht akzeptieren, dass all diese übernatürlichen Dinge direkt um ihn herum existierten. Es war zu abstrus. Diese ganze Meditationssitzung war abstrus. Wie sollten Geister reden können? Sie waren tot. Fertig. Auch wenn Abe ihm ausführlich erklärt hatte, dass keine Seele jemals richtig tot war und alles zurückkehren konnte.

Ben fokussierte sich wieder auf das Geschehen, versuchte seinen Verstand zurückzudrängen und das logische Denken nach hinten zu schieben.

»Eia niakajahijaa, eia niakajahijaa, eia niakajahijaa …«

Aja und Leoti hatten sich in Trance gesungen. Ihre Stimmen erschallten in völligem Gleichklang. Kraftvoll und herausfordernd. Ben hätte nie herausgehört, dass beide bereits über achtzig Jahre alt waren. Sie klangen so stark und jung, als stünden sie in der Blüte ihres Lebens. Wenn sie sich auf dieses Ritual einlassen konnten, warum dann nicht auch er?

Komm schon, Ben, streng dich an! Werde eins mit dem Trommeln, lass die Worte in dir wirken!

Öffne deine Seele!

Mach schon, verdammt!

Ben versuchte, sich dem Singsang hinzugeben und die Gedanken zu verscheuchen, die ihn davon abhielten.

Es ist ganz einfach.

Lass dich fallen.

Atme das Räucherzeugs ein.

Glaube.

Fühle.

Fühlst du schon?

Los! Jetzt!

Verdammt, ich muss pinkeln!

Er verlagerte sein Gewicht, um den Druck auf seiner Blase zu mildern.

Und ich werde Überstunden schieben müssen, bei all der Arbeit, die im Büro liegen bleibt, weil ich hier hocke!

Abe seufzte. »Dein Geist ist wie der Wind. Du musst ihn zügeln.«

»Ich versuche es. Ehrlich.«

»Dann höre auf, es zu versuchen. Lass es einfach zu.«

Einfach. Ja. Natürlich. Es war ganz einfach. Augen schließen, den Trommeln lauschen und zack, bum, bäng waren die Geister da und erklärten ihm, was nicht mit ihm stimmte.

»Benjamin«, sagte sein Großvater mit mehr Nachdruck, als müsse er einen ungehörigen Jungen rügen.

»Ich will es doch! Aber ich kann nicht.«

»Ich werde die alten Energien nicht mehr länger halten können«, mischte sich Hakan ein. »Sie werden nicht ewig warten.«

»Dann lass sie gehen«, sagte Abe. »Wir beenden die Anrufung.«

Wie aufs Stichwort hörte Rowan auf zu trommeln und Aja und Leoti verstummten, als hätte ihnen jemand den Saft abgedreht. Ben fühlte einen kalten Luftzug auf der Haut, als wäre die Tür geöffnet worden. Er drehte den Kopf, um nachzusehen. Sie war immer noch geschlossen.

»War es das?«, fragte er leise.

»Für den Moment«, sagte Abe.

»Es tut mir leid. Ich will wirklich.«

»Genau das ist das Problem«, sagte Abe und streckte seine Beine aus. Mit einem Mal war die Stimmung in der kleinen Hütte anders. Kälter. Selbst das Feuer schwächelte. Ben blickte sich um. Die beiden Frauen und die drei Männer saßen im Kreis um ihn herum, als verfolgten sie eine spannende Sendung im Fernsehen.

Vermutlich hatte sie nicht das gewünschte Ende.

Ben seufzte und sah zu Abe. Er war trotz seiner fünfundsiebzig Jahre ein stattlicher Mann und überragte Ben um fast einen Kopf. Seine grauen Haare trug er immer zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Gesicht war wettergegerbt und gebräunt, genau wie seine Hände und sein Oberkörper. In einer geschmeidigen Bewegung stand er auf.

Die anderen taten es ihm gleich.

»Komm!« Abe streckte Ben die Hand hin, um ihm in die Höhe zu helfen. »Wir gehen frische Luft schnappen.«

»Ich danke euch«, sagte Ben in die Runde und verneigte sich. Aja und Leoti lächelten ihm zahnlos zu. Die beiden redeten nur das Nötigste und nur, wenn es etwas Wichtiges zu sagen gab. Da dies selten der Fall war, schwiegen sie meist. Rowan war mit seinen sechsunddreißig Jahren der Jüngste von allen. Auch er trug kein Shirt, seine rabenschwarzen Haare fielen ihm bis fast zu den Hüften. Er ließ Ben nicht aus den Augen, als warte er darauf, dass die alten Energien doch noch über ihn herfielen und mit ihm sprachen. Oder es war ein stummer Vorwurf, weil es nicht geklappt hatte. Rowan war den alten Geistern sehr zugetan und schätzte die Traditionen des Stammes. Vielleicht mehr als jeder andere hier im Raum.

Da niemand mehr etwas zu ihm sagte, folgte Ben Abe nach draußen. Ein Schwall frischer Luft traf auf seine nackte Haut. Obwohl die Sonne noch nicht einmal untergegangen war und die Temperatur sicherlich noch um die dreißig Grad lag, fröstelte ihn leicht. Er atmete tief ein und genoss diesen frisch-herben Duft, den er nur in den Bergen fand. Frei vom Smog der Stadt.

Abe legte eine Hand auf Bens Schulter. »Du hast dich gut geschlagen.«

»Danke, aber du musst mich nicht trösten, ich weiß, dass ich versagt habe.«

»Wir werden es noch mal versuchen.«

»Ich weiß nicht.« Ben lief zu seinem Land Rover, öffnete die Beifahrertür, fischte sein Shirt heraus und streifte es über. »Denkst du, das macht Sinn? Vielleicht bin ich einfach nicht fähig dazu.« Die Dienstwaffe und die Marke ließ er auf dem Sitz, die würde er später anlegen. Sein Handy sollte er jedoch gleich checken. Er beugte sich zum Armaturenbrett und nahm es an sich: acht Anrufe in Abwesenheit, alle von Kate. Na großartig. So schnell konnte einen die Realität wieder einholen. Ben hatte seiner Partnerin erzählt, dass er für einige Stunden nicht erreichbar war, doch offenkundig hatte es sie nicht interessiert. »Vielleicht gibt es keine Erklärung für meine Andersartigkeit.«

Abe lehnte sich an den Wagen und beobachtete Ben aufmerksam. »Keine Frage wird je unbeantwortet bleiben, denn das Eine kann ohne das Andere nicht sein. Genauso wenig wie der Tag ohne die Nacht. Hab Vertrauen – und folge deinem Gefühl.«

Ben war sich manchmal nicht sicher, ob sein Großvater diese Sprüche einfach nur zum Besten gab, weil es dem Klischee des Häuptlings entsprach. »Wenn du es sagst.«

Abe trat näher an Ben heran. »Du wirst finden, wonach du suchst.«

»Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr über diese ganze Sache erzählen kann.« Aber dann müsste er die Seelenwächter verraten.

»Das ist nicht nötig. Die alten Energien wissen, was du brauchst. Sobald du dich ihnen anvertraust, werden sie zu dir sprechen.«

»Gab es schon mal jemanden in unserem Stamm, der … der besondere Fähigkeiten hatte? Irgendjemand, der anders war als andere Menschen?«

Abe grinste und entblößte dabei die Zahnlücke oben. »Niemand aus unserem Stamm ist wie andere Menschen. Jeder trägt seine eigene Magie im Herzen.«

Also waren noch mehr wie Ben? Waren die anderen auch immun gegen die Kräfte der Seelenwächter? Er hätte so gerne danach gefragt, so gerne mehr Antworten erhalten – aber wie, wenn er nichts verraten durfte?

»War es bei meinem Vater so?« Dylan war der Sohn von Abe, nur leider hatten sie sich vor über drei Jahrzehnten zerstritten. Dylan hatte schließlich eine kanadische Frau in Riverside geheiratet und dem Stamm den Rücken gekehrt. Wenige Jahre später war er an einem Herzinfarkt gestorben und hatte Ben und Marissa zurückgelassen. Sie war es gewesen, die Ben schließlich mit Abe und dem Stamm bekannt gemacht hatte. Sie meinte, dass er wenigstens seine Ahnen kennen sollte, auch wenn Dylan nichts mit ihnen zu tun haben wollte. Als Kind war Ben häufig hier oben in den Bergen gewesen und hatte einige Wochenenden bei Abe verbracht. Sie waren zusammen ausgeritten oder mit dem Kanu die Flüsse entlanggepaddelt. Obwohl sie so ein gutes Verhältnis hatten, sprach Abe nie über seinen Sohn, und wenn Ben nach seinem Vater fragte, erntete er nur Schweigen. So waren die Dowanhowees. Das Läuten seines Handys riss ihn aus den Gedanken. Es war Kate. Schon wieder.

»Ich muss da ran. Die Arbeit ruft.«

Abe nickte, drehte um und ging wortlos davon. Ohne Abschied oder sonst etwas, aber Ben war das gewohnt. Er seufzte, lehnte sich gegen die Motorhaube und nahm das Gespräch an. »Hey, Kate. Was ist denn so dringend?«

»Endlich! Wo warst du denn?«

»Ich habe dir doch gesagt, dass ich für ein paar Stunden nicht erreichbar bin.«

»Ja, aber du kannst wenigstens an dein Telefon! Du bist Detective!«

Was in ihren Augen gleichbedeutend war mit: stets im Dienst. »Schieß schon los. Was steht an?«

»Hier ist eine Frau. Sie will dich unbedingt sprechen. Ihre Name ist Vivian Blair.«

»Kenn ich nicht.«

»Sie meinte, sie hat Informationen über Calliope Jessamine Harris. Das ist doch die Verdächtige im Shoemaker-Mord, die spurlos verschwunden ist.«

»Sie ist keine Verdächtige mehr …« Und sie war nicht verschwunden. Ben wusste von Jaydee, dass Jess bei ihnen in Arizona lebte und von einer Dämonin Namens Joanne hereingelegt worden war. Außerdem hatte sich die Akte zu dem Shoemaker-Mord auf magische Weise verändert. Die Fingerabdrücke, die sie auf der Mordwaffe gefunden hatten, stimmten auf einmal nicht mehr mit denen von Jessamine Harris überein. Die Forensik konnte sich diesen Patzer nicht erklären, Ben schon. Einer von Jaydees Leuten war dagewesen und hatte die Akte manipuliert, damit Jess entlastet war. »… außerdem war das Marks Fall gewesen, nicht meiner.«

»Der, wie du ja weißt, noch im Urlaub ist. Diese Vivian Blair lässt sich nicht abwimmeln und sie möchte nur mit dir sprechen.«