Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Schon wieder schlägt Ralf zu, und dieses Mal greift er nicht von außen an, sondern von innen. Er holt zu einem mächtigen Hieb aus und setzt alles auf eine Karte. Den Seelenwächtern bleiben nicht mehr viele Möglichkeiten. Sie müssen sich mit einem ihrer Feinde verbünden, um gegen Ralf vorzugehen. Die Zeit drängt. Jess gerät tiefer zwischen die Fronten und muss sich damit abfinden, dass sie ihre Fylgja loslassen muss, wenn die Menschheit überleben soll. Dies ist der 9. Roman aus der Reihe "Die Chroniken der Seelenwächter". Empfohlene Lesereihenfolge: Bände 1-12 (Staffel 1) Die Archive der Seelenwächter 1 (Spin-Off) Bände 13-24 (Staffel 2) Die Archive der Seelenwächter 2 (Spin-Off) Bände 25-36 (Staffel 3) Bände 37-40 (Staffel 4) Das schwarze Element (die neue Reihe im Seelenwächteruniversum) Bände 1-7
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 195
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel3
2. Kapitel13
3. Kapitel23
4. Kapitel41
5. Kapitel48
6. Kapitel63
7. Kapitel65
8. Kapitel83
9. Kapitel87
10. Kapitel99
11. Kapitel107
12. Kapitel114
13. Kapitel122
Die Lesereihenfolge von der Serie »Die Chroniken der Seelenwächter«132
Die Fortsetzung der Seelenwächter:133
Impressum134
Die Chroniken der Seelenwächter
Zwischen den Fronten
Von Nicole Böhm
Jaydee
Angst!
Das war alles, was ich noch wahrnahm.
Nackte, rohe, unbeherrschte Angst.
In meinen Ohren fiepte es, ich öffnete die Augen und sah nur Dunkelheit. Meine Lungen brannten, als hätte ich flüssiges Feuer inhaliert. Ich versuchte zu atmen, zu sehen, zu fühlen, doch es ging nicht. Etwas Schweres drückte sich mir in den Rücken, verhinderte, dass ich Sauerstoff in meinen Körper pumpen konnte.
Feuer. Hitze. Rauch.
Es brannte. Schon wieder. Immer noch. Die Schreie der Menschen drangen an meine Ohren. Frauen, Kinder, Männer. Sie strebten hinaus ins Freie. Nur raus aus der brennenden Kirche. Raus in die Sicherheit.
»Jaydee! Komm da weg!«
Alfred brüllte mich an, aber ich konnte ihm nicht gehorchen. Ich musste zu Mikael. Er war hier irgendwo. Gerade eben hatte ich ihn noch gesehen. Gerade eben hatte er noch zu seiner Gemeinde gesprochen. Gerade eben war das Feuer in der Krippe ausgebrochen. Es war nur ein kleines Feuer gewesen, das konnte doch unmöglich so schnell um sich greifen.
So schnell. Zerstörerisch. Tödlich.
Ich kämpfte mich durch die flüchtenden Leiber, schob die Menschen von mir, bekam einen Ellbogen ins Gesicht und somit eine volle Ladung Angst. Von rechts, von links, von vorn. Überall waren Körper. Überall Panik. Sie stülpte sich über mich, nahm von mir Besitz, hinderte meine Beine daran, vorwärtszugehen. Ich schrie, brüllte, versuchte diese Massen von mir zu drücken. Es waren viele. So viele. Dabei war die Kirche heute nur zur Hälfte voll gewesen. Als hätte sich die Menge verdoppelt. Verdreifacht. Sie stürzten sich alle auf mich. Sie und ihre Furcht. Mit Zähnen und Klauen rissen sie an meiner Seele, versuchten mich von Mikael fernzuhalten, mich zurückzudrängen. Doch ich konnte nicht. Ich musste weiter! Weiter! Ich hörte ihn schreien. Er rief meinen Namen.
»Halt durch!«, wollte ich erwidern. »Ich helfe dir!« Doch ich blieb stumm. Die Flammen schlugen mir entgegen, verbrannten meine Haut, meine Haare, meine Kleidung. Neben mir krachte es, ein Balken stürzte herab, erwischte mich an der Schulter und zog eine brennende Schneise in meine Muskeln. Ich würde heilen. Das war kein Problem. Immer und immer wieder schaffte es mein Körper, Wunden zu heilen, aber Mikael würde verbrennen, er war ein Mensch. Ein schwacher, hilfloser Mensch! Auf einmal prallte ich gegen etwas. Gegen jemanden. Ein Wesen aus purer Angst. Es hob seine Krallen, bohrte seine Nägel in mein Fleisch, meine Muskeln, mein Herz. Es umklammerte mich, riss an meinen Eingeweiden und versuchte, sie zu zerquetschen. Ich blickte auf und sah nur noch rot. Hitze flirrte vor mir, verhinderte, dass ich etwas erkennen konnte. Mit letzter Kraft versuchte ich, mich aus den Fängen des Monsters zu befreien. Ich stemmte mich gegen seine Arme, schrie und trat um mich.
»Du kannst ihn nicht retten! Du wirst verbrennen!« Alfreds Stimme drang nur undeutlich zu mir. Alles war gedämpft, gedrückt. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. In der Kirche? Im Flur? Im Büro? Wo war Mikael? War er noch drinnen? Hatten sie ihn rausgeholt? War er in Sicherheit?
Das Monster lachte, umklammerte mich noch enger, trieb mir die Luft aus den Lungen und die pure Angst in mein Herz. Raus! Raus! Raus! Das war alles, woran ich noch denken konnte. Nur weg von dem Monster. Weg von der Angst. Ich musste sie besiegen. Ich konnte sie besiegen.
»Jaydee.«
Die Stimme hatte sich verändert. Sie klang weiblicher, leiser. Sie keuchte, zitterte.
Das Monster drang durch meine Haut. Es geiferte, freute sich über seine Beute, aber ich würde es nicht zulassen. Ich war nicht mehr schwach. Ich war ein Kämpfer, ein Krieger, ein Jäger.
Ich würde nicht mehr fliehen. Nie mehr.
Der Widerstand in meinem Rücken nahm zu. Er fraß sich in meine Kleidung, meine Haut. Unter mir zuckte es. Ich lag auf etwas Weichem, Lebendigem. Einem Körper. Ihrem Körper.
Ich lag auf Jess. Nicht in der Kirche.
Eingekeilt zwischen ihr und dem schwelenden Balken, der auf uns herabgesegelt war.
Die Erkenntnis schob sich nur langsam in mein Bewusstsein, und mit ihr kam die Gier. Die Lust, ihr wehzutun, das Verlangen, mich ihrer zu entledigen.
Mit letzter Kraft schob ich meine Arme unter mich und stemmte meinen Oberkörper auf. Der Widerstand rutschte von meinem Rücken, kam polternd neben mir zum Liegen. Meine Haut schien sich in brennenden Bahnen von meinem Rücken zu lösen. Das Shirt hatte sich in die oberste Schicht gefressen, aber es würde gleich alles heilen. So wie immer. Während die Menschen um mich herum starben, setzte sich mein Körper einfach wieder zusammen.
Jess zuckte ein weiteres Mal, bemerkte, dass ich wieder zu mir gekommen war. Der Jäger muckte. Sie lag unter mir, drehte sich langsam zu mir um. Ihre Haut war rußgeschwärzt, ein Splitter hatte sich in ihren Oberschenkel gebohrt, das Blut rann ihr die nackten Beine hinab. Blut. Sie war verletzt. Gut! Es gefiel mir, wenn sie Schmerzen hatte.
Ich schüttelte den Gedanken ab und versuchte, mich auf die Umgebung zu konzentrieren.
Wir waren vor Ilais Zimmer im Flur. Es hatte ein Feuer gegeben und dann eine Explosion – oder war es umgekehrt? Aus Ilais Tür loderten die Flammen. Sie züngelten am Boden und den Wänden entlang, formten sich zu Klauen und Zähnen. Wirkten lebendig. Wie hundsgroße, drachenartige Wesen. Das bildete ich mir ein. Das konnte nicht real sein. Eine der Kreaturen blickte zu mir, zischte und spie einen Schwall aus Feuer aus.
»Was ist das?«, rief Jess. Also keine Einbildung, die Wesen waren echt. Sie zog das verletzte Bein an und schrie vor Schmerz. Ich blickte an ihr hinab. Ihr Knöchel war dick geschwollen und färbte sich blau.
Perfekt. Lass sie einfach hier liegen, damit sie schön rösten kann.
Zähneknirschend beugte ich mich zu ihr und streckte meine Hand nach ihr aus. Neues Futter für den Jäger, aber es half nichts. Ein weiterer Balken krachte neben uns, ich zerrte sie in die Höhe. Noch mehr Angst. Noch mehr Furcht. Der Jäger sog ihre Emotionen auf und zerriss sie förmlich in der Luft. Mehr! Mehr! Gib mir mehr davon.
Meine Muskeln wurden steif, meine Hand schloss sich fester als nötig um Jess’ Arm. Die Nägel bohrten sich in ihr Fleisch, kratzten ihre Haut auf, bis es blutete.
»Lass mich los!«, brüllte sie.
Ich blickte sie an, zog sie ein Stück näher zu mir.
»Lass mich los«, wiederholte sie mit mehr Nachdruck. Ihr Gesicht ein Meer aus Schmerz. »Du musst das nicht tun.«
Oh doch, und wie ich das musste, ich ... schloss die Augen und schubste sie von mir weg, als wäre sie pures Gift. Raus hier! Nur raus! Ich drehte mich um. Rauch füllte den gesamten Flur aus. Er biss in den Lungen, den Augen. Ich hustete und versuchte, etwas durch den Dunst zu erkennen. »Wir müssen zur Treppe, aber ich kann dich unmöglich tragen.«
Jess nickte, stemmte sich mit einer Hand an die Wand und zuckte vor Schmerz. Ihre Angst hallte in meiner Seele nach. Meine Beine fühlten sich schwammig und zittrig an. Ich war zerrissen zwischen dem Verlangen sie umzubringen oder abzuhauen. Wenn ich sie zurückließ, würde das Feuer den Rest für mich übernehmen. Sie hätte kaum eine Chance. Genauso wenig wie Mikael sie gehabt hatte. Sie machte den ersten Hüpfer und hustete.
»Zieh dir dein Shirt über den Mund.« Es würde ihr nicht viel helfen, aber vielleicht ein klein wenig Linderung verschaffen. Ich musterte sie kurz. Sie trug noch den Gürtel, in dem der Dolch gesteckt hatte, aber die Waffe selbst lag am Boden. Ich bückte mich. Es kostete mich Überwindung, ihn anzufassen. Ich hasste dieses Ding, gleichzeitig beruhigte mich der Gedanke, wenn Jess ihn trug. Es half wenigstens ein bisschen, den Jäger in seinen Schranken zu halten. Ich gab ihn ihr zurück, den Griff voran.
»Was ist mit Ilai?«, rief sie durch den Stoff und befestigte den Dolch an ihrem Gürtel.
»Er kann nicht verbrennen. Geh weiter.«
In dem Moment erschütterte ein weiteres Beben das Haus. Der Boden tanzte unter uns, die Scheiben klirrten und zerbarsten in Scherben. Jess torkelte und fing sich an der Wand ab. Das Gebäude ächzte, als läge es in den Wehen.
Über uns krachte das Gebälk, der Holzboden splitterte, ein langer Riss zog sich von Ilais Zimmer ausgehend bis nach vorn zur Treppe. Darunter kam goldene Masse zum Vorschein. Sie sah aus wie flüssiges Gold und fraß sich durch das gesamte Mauerwerk. Die Decke vibrierte, Steine regneten herab, ich reagierte instinktiv, packte Jess und zerrte sie nach hinten. Kurz berühren. Nur kurz. Nicht zu viel von ihren Emotionen aufnehmen.
Sie schrie und landete auf dem Rücken. Dort, wo sie eben gestanden hatte, krachte der nächste Balken herab und versperrte uns den Weg zur Treppe. Ich blickte zu ihr. Sie verzog das Gesicht, krümmte sich vor Pein. Auf der einen Seite tat es mir leid, dass ich sie so hart anfassen musste, auf der anderen hätte ich ihr am liebsten zum Nachklang ins Gesicht getreten.
»Steh auf!«, brüllte ich sie an. Strenger als nötig.
Sie schloss kurz die Augen, versuchte sich nach oben zu stemmen, doch sie konnte nicht. Das Bein blutete heftiger als zuvor, sie sah blass aus und würde vermutlich jeden Moment ohnmächtig werden. Ich packte sie ein weiteres Mal am Ellbogen und hievte sie in die Höhe. Die nächste Welle aus Panik traf mich. Unnachgiebig und intensiv. Ich stöhnte, bohrte meine Fingernägel in ihre Haut.
»Lange kann ich das nicht mehr«, keuchte ich.
»Ich schaffe das schon.« Sie entriss mir ihren Arm und legte eine Hand auf den Griff ihres Dolches. »Wir beide.«
Etwas anderes blieb uns auch nicht übrig.
»Am Ende des Flurs ist ein Fenster. Wir müssen springen.«
Jetzt wurde sie noch blasser. Wir waren im ersten Stock. Der Sprung nach unten etwa vier Meter tief. Für mich wäre das kein Problem, aber sie konnte ihn mit ihrem verletzten Bein unmöglich bewältigen. »Wir schaffen das schon«, wiederholte ich ihre Worte. Hauptsache, wir waren draußen.
Sie nickte und setzte sich in Bewegung. Erst mussten wir an Ilais Zimmer und an diesen merkwürdigen Flammen vorbei. Ich drängte Jess auf meine linke Seite, damit ich zwischen ihr und dem Feuer blieb. Die Hitze stieg, je näher wir der Brandquelle kamen, doch es fühlte sich anders an als echtes Feuer. Es wirkte lebendiger, beherrschter. In der Kirche damals hatten die Flammen einfach willenlos um sich gegriffen. Sie hatten sich blind vermehrt, alles und jeden verschlungen, der sich ihnen in den Weg stellte, und jetzt hielten sie sich nur im Bereich um Ilais Tür auf.
Die Hitze direkt vor Ilais Zimmer war enorm. Jess hustete und krümmte sich, doch sie kämpfte tapfer weiter. Ich blickte durch die Tür, versuchte etwas zu erkennen. Der gesamte Raum stand in Flammen. Drinnen sah ich nur Umrisse. Ilais Bett, sein Körper, der auf der Matratze ruhte und ... ich stockte. Blinzelte und sah noch mal hin. War da eine weitere Person? Es sah aus wie die Silhouette eines Mannes. Er stand hinter dem Bett und breitete seine Arme über Ilais Körper aus, als würde er irgendetwas aus ihm herausziehen. Ich machte einen Schritt auf das Zimmer zu. Sofort griff mich eine der Drachenflammen an. Ich riss den Arm hoch, sie biss mir in die Haut. Heiß und bohrend drangen ihre Zähne ein. Ich keuchte, versuchte das Ding wieder abzuschütteln, doch es ließ nicht locker. Ein zweites dieser Drachenwesen stürzte sich auf mich, versuchte mich im Gesicht zu erwischen. Ich duckte mich weg, es streifte mich mit seinen Krallen an der Stirn, zog eine brennende Schneise quer über meine Haut. Die zerpflücken mich.
»Jaydee!«, rief Jess. Sie war einige Meter vor mir und kauerte an der Wand. Mit der Hand presste sie die Wunde ab, sie zitterte, stützte sich am Mauerwerk, um nicht umzukippen.
Ein letztes Mal versuchte ich, dieses Drachending abzuschütteln. Es verkantete sich noch fester in meinen Unterarm. Meine Haut verbrannte, Flammen stoben auf. Das Ding würde mich lebendig rösten, wenn ich nicht aufpasste. Ein Stück der Wand brach heraus, legte eine weitere goldene Ader frei, die allerdings dicker und glühender wirkte als die anderen weiter vorn. Und jetzt erst erkannte ich es. Diese Drachen! Sie kamen aus den Wänden. Ihre Schwänze endeten in den Adern, als würden sie aus dieser Masse aus Gold entstehen.
Ich blickte zurück ins Zimmer, versuchte mehr von dem Mann zu erkennen, der hinter Ilais Bett stand. Er schüttelte leicht den Kopf, als wolle er mich ermahnen, zurückzubleiben. Ich wagte einen weiteren Schritt auf den Raum zu. Gleichzeitig wurde das Feuer heißer. Es stürzte sich auf mich, umschlang mich, riss an meinen Haaren, meiner Kleidung. Konnte ich das aushalten? Ich konnte heilen, ja, aber ich wusste nicht, ob noch genügend von mir übrig bliebe, was heilen würde.
Es krachte neben mir. Ein weiterer Spalt entstand und riss ein tiefes Loch in den Holzboden. Darunter lag der Flur des ersten Geschosses. Jess schrie, blickte nach unten und wich weiter zurück. Ich konnte unmöglich beiden helfen. Ich wich rückwärts, sofort ließ mich die Drachenflamme los und zog sich zur Tür zurück.
Konnte dieses merkwürdige Feuer auch Ilai schaden? Es war sein Element, er war darin geboren, es floss durch seine Adern, nährte seine Seele. Aber reichte das, um ihn zu schützen?
Die Drachenflammen behielten mich im Blick, während ich zu Jess torkelte. Die Luft flirrte, glühte in meinen Lungen, meiner Nase nach. Sogar meine Stiefelsohlen schmolzen. Ich drehte mich herum, schloss zu Jess auf und deutete auf das Ende des Flures.
Der Gang endete in einer Sackgasse mit einem bodentiefen Fenster als Abschluss; die Scheibe war ebenfalls zersplittert. Es zeigte auf die Rückseite des Gebäudes mit den Rasenflächen und der Terrasse. Nur noch wenige Meter. Jess kam ins Torkeln und schwankte bedrohlich. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie ein weiteres Mal aufzufangen. Ich schlang meine Arme um ihren Brustkorb und hielt sie oben. Ihr Herz raste, ihr Atem kam abgehackt. Die Panik hatte voll von ihr Besitz ergriffen und wälzte sich sofort auf mich ab. Ich biss die Zähne zusammen, versuchte diese Flut an Gefühlen zu ignorieren.
Ich bin jetzt mein eigener Anker.
»Noch ein kleines Stück, reiß dich zusammen!«
»Ich versuche es«, keuchte sie und löste sich aus meiner Umarmung. Sofort schrie sie vor Schmerz und sackte auf ihrem verletzten Bein zusammen. Sie war am Ende. Auf den letzten Metern ging ihr die Kraft aus.
Ich atmete einmal tief durch, dann hielt ich die Luft an und legte noch mal meinen Arm um sie. »Halt dich an mir fest.«
Sie gehorchte träge, drehte sich zu mir um und schlang ihre Hand um meinen Nacken. Es fühlte sich an, als würde sie einfach durch meine Haut gleiten und sich in den Muskeln und Sehnen verknoten. Ihre Angst schwappte bis hinunter in meine Zehenspitzen. Meine Beine knickten kurz weg, ich fing selbst an zu zittern, mein Herz zu flattern.
Das ertrage ich nicht! Das ertrage ich nicht! Das ertrage ich einfach nicht!
Ich nahm den anderen Arm dazu, bückte mich und hob sie komplett hoch. Ihr Körper war heißer als das Feuer, verbrannte meine Haut, meine Seele. Der Jäger rumorte, schob seinen Zorn über Jess’ Angst. Mein Griff wurde härter, Jess keuchte. Ihre Finger strichen über meinen Nacken, die Emotionen schwangen hin und her. Sie versuchte, mir Stärke zu schicken, Zutrauen. Kraft. Mut. Sie vertraute mir. Ich fühlte es ganz deutlich, und an dieses eine Gefühl klammerte ich mich mit allem, was ich hatte. Meine Nägel bohrten sich tiefer in Jess’ Taille. Sie japste. Ich tat ihr weh. Mir war es bewusst, dennoch konnte ich mich nicht aufhalten.
Wir kamen näher an das Fenster. Ich kickte die restlichen Scherben mit dem Stiefel hinaus, die kühle Morgenluft empfing mich, linderte ein wenig die Hitze in mir. Ich drehte meinen Kopf, ihre Schulter streifte mein Kinn. Ritze ihr die Kehle an den Scherben auf und wirf sie aus dem Fenster. Kopf voran, vielleicht überlebt sie es nicht.
»Du kannst das«, flüsterte sie, als spürte sie genau, was ich gerade dachte.
»Der Aufprall wird hart, mach dich bereit«, sagte ich und sprang.
Sie schrie vor Schreck. Der Fall dauerte nur wenige Sekunden. Die Landung war wie vorhergesehen: ruppig. Ich konnte einiges an Schwung abfedern, sobald ich Boden unter den Füßen hatte, ließ ich Jess los. Sie überschlug sich ein paar Mal, ich fing mich mit einer Rolle ab und kam etliche Meter neben ihr zum Knien.
Der Rasen war noch feucht vom morgendlichen Gießen, ich verankerte sofort meine Hände in der Erde, versuchte die Kraft und Stärke, die mir normalerweise Akil mit seinen Berührungen vermittelte, dort zu finden.
»Ist alles okay?«, rief ich Jess zu.
Ihre Antwort war ein furchterregendes Husten. Jess stemmte sich auf alle Viere. Naja, eher alle Drei. Sie streckte das verletzte Bein weg. Eine dicke Blutspur zog sich ihren Oberschenkel hinunter bis zu ihrer Wade. Es erfüllte mich mit einer perversen Freude, sie so zu sehen. Fragil. Verletzt. Fast erledigt.
Ich knurrte leise. Gib ihr den Rest. Sie braucht nicht mehr viel.
»Jess! Jaydee!«, brüllte es auf einmal. Das war Will! Er kam ums Haus herum auf uns zugerannt.
»Hier«, antwortete sie hastig und rollte sich auf den Hintern. Der Knöchel war blitzeblau. Ihre Haut aufgeschürft. Verletzt von meinen Nägeln, von dem Sturz, vom Feuer. Meine Muskeln spannten sich, es wäre so leicht, mich auf sie zu stürzen. Jetzt. Schnell. Bevor Will kam.
»Hey!«, rief Will. Er war sofort bei Jess, kniete sich neben sie und legte einen Finger unter ihr Kinn. Allein für diese kleine Geste hätte ich ihm am liebsten die Hand abgehackt. Ich hatte Jess da rausgeholt! Es stand ihm nicht zu, sie zu betatschen. Ich grub meine Hände noch tiefer in die Erde und wand meinen Blick von den beiden ab. Wenn das nicht bald zwischen uns aufhörte, wurde ich wirklich noch wahnsinnig.
Neben uns brach die Hölle los. Das Haus krachte, Balken donnerten herab. Es klang, als läge ein gigantisches Tier im Sterben.
»Was ist passiert?«, fragte Will.
»Keine Ahnung. Ilais Zimmer stand in Flammen. Als wir nachsehen wollten, gab es eine Explosion.«
Er starrte fassungslos auf das Haus, aus dem Rauchschwaden aufstiegen und die aufgehende Sonne verfinsterten. Auf einmal bebte die Erde, ein tiefes Grollen breitete sich aus. Wir blickten alle drei gleichzeitig hoch.
Die Flammen schlängelten sich aus dem Fenster, die Feuerdrachen krochen an der Außenwand nach oben zum Dach, wo sie sich zu einer einzigen Flamme vereinten. Sie formten sich zu einer neuen Kreatur. Ein Gesicht entstand im Feuer, ein Mann. Er schwebte riesig und bedrohlich über unserem Haus. Sein Blick fand uns, seine Mundwinkel zu einem abstrusen Grinsen verzogen.
»Großer Gott«, sagte William und bekreuzigte sich. »Ralf.«
Das war sein Bruder? Ich hatte ihn bisher noch nicht gesehen, bei meiner Gefangenschaft war er mir aus dem Weg gegangen. Jetzt war mir auch klar, wer der Mann an Ilais Bett gewesen war.
Will trat einige Schritte nach vorn und blickte nach oben. Ralf grinste breiter, er erkannte Will.
»Das ist erst der Anfang.« Seine Stimme klang wie das Zischen von Feuer auf nassem Stein. Er blickte in den Himmel, schloss die Augen und verschwand. Das Feuer erlosch so plötzlich, wie es angefangen hatte.
Ein Teil des Daches neigte sich und krachte in sich zusammen.
Will und ich reagierten gleichzeitig. Wir sprangen auf und rannten zurück zum Haus, um Ilai zu holen.
Jessamine
Ich kauerte auf dem kühlen Rasen. Die Feuchtigkeit drang durch meine Hose, beruhigte meine erhitzte Haut. Am liebsten hätte ich mich längs hingeworfen und mich darin gesuhlt. Doch ich starrte einfach nur auf das Haus und betete.
Jaydee und Will waren noch immer da drin.
Zu lange, das dauerte alles viel zu lange. Aber nach dem Schatten der Palmen zu urteilen, konnte noch nicht so viel Zeit vergangen sein. Also immer schön ruhig bleiben und ihnen Zeit lassen.
Wenn ich ihnen doch nur irgendwie helfen könnte. Aber ich konnte ja nicht einmal aufstehen. Mein Bein pochte, meinen Knöchel wagte ich schon gar nicht mehr anzusehen. Der Schmerz hatte sich in ein dumpfes Ziehen gewandelt. Meine Lungen waren voll mit Ruß, der mich zu unkontrollierten Hustenanfällen zwang.
Wenigstens brannte das Feuer nicht mehr. Dafür stieg aus dem oberen Stockwerk schwarzer Rauch auf und tauchte den eigentlich sonnigen Morgen in Dunkelheit. Die Überreste von Ralfs Werk. Er war es gewesen. Ich hatte ihn sofort erkannt. Ihn und sein elendes Grinsen. Das gleiche, das er uns zugeworfen hatte, kurz bevor er das Portal geschlossen und Violet für mich in unerreichbare Ferne gerückt hatte. Meine Finger griffen nach dem Amulett mit meinem Blut darin. Das Symbol für unsere nicht mehr vorhandene Freundschaft. Für meine Fylgja, meine Beschützerin, die da draußen ihren eigenen Kampf ausfocht.
Eine gigantische Stichflamme schoss aus dem Haus. Ich zuckte vor Schreck zusammen, belastete den Knöchel versehentlich. Eine Schmerzsalve jagte durch meinen Körper, ähnlich intensiv und lodernd wie die Flamme. Großer Gott, das überlebte doch keiner! Nicht mal ein Seelenwächter, oder?
Risse breiteten sich in der Erde aus und verzweigten sich weg vom Haus. Ich schlang die Arme um mich und bibberte trotz der Wärme.
Bitte, bitte beeilt euch!
Es krachte noch einmal und die Fenster in der unteren Etage zersprangen. Mittlerweile zogen sich die Risse auch durch die Außenmauer des Hauses. Wie Giftschlangen wanden sie sich um das Gebäude und fraßen es langsam auf.
Risse ...
Adern ...
Da war doch was gewesen? Kurz bevor ich an Ilais Zimmer kam, hatte ich die goldenen Risse im Mauerwerk gesehen.
Das hatte ich schon mal ...
Natürlich!
Dieselben Risse hatte ich bei Logan im Haus entdeckt! In der Dusche! Das musste ich unbedingt noch Jaydee und Will erzählen. Vorausgesetzt, sie kämen je wieder raus.
Ich krallte die Finger in meinen Oberarm, an die selbe Stelle, an der mich Jaydee gepackt hatte. Seine Fingerabdrücke waren noch sichtbar – und nicht nur das: Er hatte mir seine Nägel tief ins Fleisch gebohrt, mir etliche Kratzer und blutige Schrammen zugefügt. Es sah aus, als hätte mich ein tollwütiger Hund angefallen.
Aber er hatte den Jäger kontrolliert.
Er hatte ihn im Zaum halten können, auch wenn ich kurz geglaubt hatte, er würde mich aus dem Fenster werfen.
Das hat er aber nicht. Er hat auf mich aufgepasst. Er hat mich gerettet. Uns beide.
Vielleicht – und das war jetzt ein sehr zaghaftes Vielleicht mit ganz vielen Fragezeichen und lila Herzchen drumherum –, vielleicht konnten wir uns doch noch annähern. Unser kleines Abenteuer an der Palme war mir noch allzu gut in Erinnerung. Es war schön gewesen. Und gefährlich. Und unsinnig. Und verrucht. Und ... wir hätten uns beinahe geküsst, herrje! Allein bei der Vorstellung kribbelte mein Körper.
Eine Scheibe klirrte links von mir, ein Stuhl landete auf der Terrasse. Und dann kamen sie! Jaydee und Will stolperten heraus. In ihrer Mitte trugen sie Ilai, der wie ein Sack zwischen ihnen hing. Weder konnte ich erkennen, ob er atmete, noch ob er verletzt war, ob er überhaupt noch lebte ....
Was allerdings ganz klar war: Die Glibbermasse war verschwunden. Ilai war wieder frei!
Ich sprang auf. Zumindest versuchte ich es. Das verletzte Bein schrie und schickte eine Stoßwelle Schmerz durch meinen Körper.
»Bleib, wo du bist«, rief Will. »Wir kommen zu dir.«