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»Zu erwähnen, daß nicht nur Bücher, sondern auch Redensarten ihr Schicksal haben, wäre eine Banalität, wenn man damit nur die im Laufe der Zeit sich abspielenden Veränderungen meinte, um durch eine nachträgliche Prognose oder ein geschichtsphilosophisches Horoskop zu zeigen, ›wie es kam, daß es kam‹. Das ist aber nicht das Interesse dieser Arbeit, die sich vielmehr um systematische Zusammenhänge bemüht und deren Aufgabe gerade darum so schwierig ist, weil ein zentraler Begriff der Staats- und Verfassungslehre untersucht werden soll, der, wenn er überhaupt beachtet wurde, höchstens beiläufig an den Grenzen verschiedener Gebiete […] undeutlich erschien, im übrigen aber ein politisches Schlagwort blieb, so konfus, daß seine ungeheure Beliebtheit ebenso erklärlich ist wie die Abneigung der Rechtsgelehrten, sich darauf einzulassen.« Aus den Vorbemerkungen zur 1. Auflage (1921) von Carl Schmitt In dieser Auflage sind die Korrekturen berücksichtigt, die Carl Schmitt in sein Handexemplar eingetragen hat. Sie sind dem Haupttext als Anhang beigefügt.
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Seitenzahl: 546
CARL SCHMITT
Die Diktatur
Veröffentlicht unter Mitwirkung des wissenschaftlichen Beiratsder Carl-Schmitt-Gesellschaft e. V.
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage Zweite Auflage Dritte Auflage Vierte Auflage Fünfte Auflage
1921 1928 1964 1978 1989
Sechste Auflage (Neusatz auf Basisder 1928 erschienenen zweiten Auflage) 1994 Siebente Auflage 2006 Achte, korrigierte Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany
ISBN 978-3-428-14692-5 (Print) ISBN 978-3-428-54692-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84692-4 (Print & E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ƀ
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorbemerkung zur 8. Auflage
In der achten Auflage des Buches „Die Diktatur“ von Carl Schmitt sind die Korrekturen berücksichtigt, die in einem Handexemplar vom Verfasser eingetragen wurden. Es befindet sich im Nachlass Carl Schmitts im Landesarchiv NRW, Abtlg. Rheinland, RW 265, Nr. 28248. Die Korrekturstellen sind im Text durch Anmerkungen in eckigen Klammern gekennzeichnet, die Korrekturen selbst sind dem Haupttext als Anhang nach dem Register beigefügt.
Kommentierende Bemerkungen des Autors, die keine Textkorrekturen sind, wurden nicht berücksichtigt.
Berlin, im März 2015
Gerd Giesler
Für den wissenschaftlichen Beirat der Carl-Schmitt-Gesellschaft
Vorbemerkung des Verlages zur 6. Auflage
Carl Schmitts „Die Diktatur“ wurde in den Jahrzehnten nach seinem Erscheinen 1921 mehrfach nachgedruckt. Dabei war es unvermeidlich, daß sich die Schriftqualität zunehmend verschlechterte. Für die hier vorgelegte Auflage wurde der Text aus diesem Grund neu gesetzt. Schriftgröße und Satzspiegel wurden so gewählt, daß der Seitenumbruch in Anlehnung an die alte Seitenaufteilung gestaltet werden konnte. Offensichtliche orthographische und grammatische Fehler wurden beseitigt; stilistische Eigenheiten Schmitts blieben hingegen unberührt. Die zuvor seitenweise gezählten Fußnoten wurden kapitelweise durchnummeriert. Neu eingefügte Kolumnentitel sollen dem Leser eine leichtere Orientierung ermöglichen.
Berlin, im Mai 1994
Duncker & Humblot
Vorwort zur 4. Auflage (1978) S. VIII.
Vorwort zur 3. Auflage (1964) S. VIII.
Vorwort zur 2. Auflage (1928) S. IX.
Vorbemerkung (Einleitung) zur 1. Auflage (1921) S. XIII.
Systematische Inhaltsübersicht S. XXI.
Namen- und Sachregister S. 203.
Korrekturen aus dem Handexemplar von Carl Schmitt S. 210.
Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung (1924) S. 215.
Vorwort zur 4. Auflage (1978)
Seit 1969 haben sich die Bemühungen um das Problem der Ausnahme-Situation im Recht in unerwartetem Maße gesteigert. Das entspricht der Dynamik einer Entwicklung, die Notlagen und Krisen zu integrierenden oder desintegrierenden Bestandteilen eines abnormen Zwischenzustandes von Krieg und Frieden gemacht hat.
Dadurch behält eine historisch dokumentierte und begrifflich durchdachte Monographie zum Thema Diktatur ihr wissenschaftliches Interesse. Es könnte sogar sein, daß manche Kapitel dieses Buches in einem völlig neuen Licht erscheinen.
Februar 1978
C. S.
Vorwort zur 3. Auflage (1964)
Die Hinweise am Schluß des Vorwortes zur zweiten Auflage (unten Seite XII) lassen sich durch mehrere spätere Aufsätze ergänzen, die das Thema Diktatur weiterführen und besonders die Entwicklung vom klassischen, d. h. polizeilichen und militärischen Belagerungszustand des 19. Jahrhunderts zum finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Ausnahmezustand des 20. Jahrhunderts behandeln. Diese Aufsätze sind in dem Abschnitt Ausnahmezustand und Bürgerkriegslage in meiner Sammlung „Verfassungsrechtliche Aufsätze“ 1958 (Seite 233 bis 371) abgedruckt. Das systematische Sachregister der Sammlung verweist (unter den Stichworten: Ausnahmezustand, Diktatur, Notstand und Notverordnungen sowie Klassischer Begriff des Ausnahmezustandes) auf die einschlägigen Stellen.
Dezember 1963
C. S.
Vorwort zur 2. Auflage (1928)
Der vorliegenden zweiten Auflage dieses Buches ist eine Erörterung der Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung als Anhang beigefügt. Abgesehen von einigen unbedeutenden Änderungen und einem Zusatz über das sogenannte Ausführungsgesetz zu Art. 48 handelt es sich dabei um den Bericht, den ich im April 1924 auf der Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer in Jena erstattet habe, neben dem Bericht meines verehrten Kollegen Prof. Erwin Jacobi-Leipzig. Der Verlag der „Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer“, W. de Gruyter, hat freundlicherweise die Zustimmung zu der neuen Veröffentlichung gegeben. Infolge der technischen Besonderheit des Verfahrens, in welchem diese zweite Auflage hergestellt wurde, mußte der Text der ersten Auflage unverändert bleiben; auch wurde der Anhang hinter das Sachregister (S. 203 – 209) gestellt. Die ausführliche Inhaltsübersicht S. 216 ersetzt vielleicht den Mangel eines Sachregisters.
Eine wissenschaftliche Kritik der ersten Auflage, mit der eine zweite Auflage sich auseinandersetzen müßte, ist leider nicht erschienen. Einiges allgemeine Lob, beiläufige Anerkennung oder stillschweigende Übernahme der erarbeiteten Begriffe, ein paar hämische Glossen in der „Zeitschrift für öffentliches Recht“, damit hat die wissenschaftliche Diskussion sich bisher begnügt. Eine Ausnahme, die allerdings wegen der wissenschaftlichen Bedeutung ihres Autors von besonderem Interesse ist, betrifft eine Einzelfrage, nämlich die Deutung der Worte „höchstes Regal“ in den Abmachungen des Kaisers mit Wallenstein beim zweiten Generalat 1632 (S. 89 des vorliegenden Buches). Ulrich Stutz hat in der Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Kanonistische Abteilung XII, 1922, S. 416 ff. gezeigt, daß das jus reformandi als „höchstes Regal“ bezeichnet werden kann; Joh. Heckel hat in derselben Zeitschrift, XIII S. 518 ff. zur Ergänzung noch weitere Nachweise dieses Sprachgebrauchs erbracht. Ich bestreite nicht, daß in andern Zusammenhängen mit den Worten „höchstes Regal“ auch das jus reformandi gemeint sein kann, aber sie haben nicht immer und nicht ausschließlich diesen Inhalt. Hier kommt es darauf an, was sie in dem Satz der Abmachungen von 1632 besagen: „5. Von den eingenommenen Landen das höchste Regal im Reiche, als ein extraordinar Recompens.“ Eine Wendung wie „höchstes Regal“, „bestes Regal“, [x] „kostbarstes und vollkommenstes Kleinod“ usw. (vgl. Heckel a. a. O. S. 523) wird, besonders in einer barocken Sprechweise, leicht ohne einen ausschließlichen Sinn gebraucht. Ferner ist im 17. Jahrhundert das Gebiet des Kirchlichen von dem des Weltlichen selbstverständlich getrennt, so daß innerhalb jedes dieser Gebiete ein „höchstes Regal“ bestehen kann. In den Abmachungen mit Wallenstein ist kein politisches Interesse an dem jus reformandi erkennbar. Dagegen entspricht die Auffassung, es handle sich hier bei dem „höchsten Regal“ um die Kurwürde, ebenfalls dem Sprachgebrauch der Zeit, sie ergibt außerdem im Zusammenhang der aufgezählten Belohnungen den vortrefflichen Sinn einer „Extra-Belohnung“ und paßt auch gut zu der Situation des Jahres 1632.
Meine Erörterung der Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Weimarer Verfassung beruht ganz auf den geschichtlichen und staatstheoretischen Untersuchungen des vorliegenden Buches. Es scheint mir zweifelhaft, ob es wissenschaftlich ergiebig oder auch nur zulässig ist, ein so schwieriges und umfassendes Problem wie die richtige Auslegung des Art. 48 ohne den historischen und systematischen Zusammenhang einer demokratischen Verfassungslehre zu behandeln. Auf jeden Fall aber sollte die Widerlegung einer so fundierten Ansicht auf diesen Zusammenhang eingehen. Zum Unterschied von dem Buch über „Die Diktatur“ ist jene Erörterung der Diktatur des Reichspräsidenten öfters besprochen und kritisiert worden. Aber auch die beiden Autoren, die umfangreiche Widerlegungen veröffentlicht haben — H. Nawiasky, im Archiv des öffentlichen Rechts, N. F. 9 Heft 1, und Richard Grau in seinem Bericht auf dem 33. Deutschen Juristentag und in der Gedächtnisschrift für Emil Seckel, 1927, S. 430 ff. —, behandeln die verfassungstheoretische Grundlage nicht. Sie geben Wortinterpretationen, widersprechen meiner Deutung der Entstehungsgeschichte1 und bewegen sich im Grunde weniger in Argumenten als in einer „Atmosphäre“: in dem rechtsstaatlich-liberalen Mißtrauen gegen die Diktatur. Rumor dictatoris injucundus bonis. Der Kern ihrer Darlegungen bleibt, daß „die Verfassung unantastbar“ ist; ihre Theorie nennt sich selbst die „Unantastbarkeitslehre“. Solche Worte und Gedankengänge setzen die ganze Unklarheit eines Verfassungsbegriffes voraus, unter dem die heutige Verfassungslehre lei[XI]det. Die Verfassung wird mit jedem einzelnen der 181 Artikel der Verfassung identifiziert, ja mit jedem verfassungsändernden Gesetz, das nach Art. 76 der Weimarer Verfassung zustande gekommen ist; Verfassung ist jedes einzelne Verfassungsgesetz; Verfassungsgesetz nach der „formalen“ Betrachtungsweise ein Gesetz, das nur unter den erschwerten Voraussetzungen des Art. 76 geändert werden kann! Daß „die“ Verfassung unantastbar ist, besagt auf diese Weise nur, daß jede verfassungsgesetzliche Einzelheit für den Diktator bei der Erfüllung seiner Aufgabe ein unüberwindliches Hindernis darstellt. So werden Sinn und Zweck der Diktatur — die Sicherung und Verteidigung der Verfassung als eines Ganzen — mißachtet und in ihr Gegenteil verkehrt. Jede einzelne verfassungsgesetzliche Bestimmung wird wichtiger als die Verfassung selbst; der Satz „Das Deutsche Reich ist eine Republik“ (Art. 1 Abs. 1) und der andere Satz „Dem Beamten ist Einsicht in seine Personalnachweise zu gewähren“ (Art. 129 Abs. 3) werden unterschiedslos als „die“ unantastbare Verfassung behandelt. Solche absurden Konsequenzen eines unklaren Verfassungsbegriffs beweisen, wie sehr es notwendig und unvermeidlich ist, innerhalb der zahlreichen „formalen“ Verfassungsgesetze zu unterscheiden. Wenn also der Versuch gemacht wird, innerhalb der verfassungsgesetzlichen Regelung ein unantastbares „organisatorisches Minimum“ zu umschreiben, so ist das mit einigen formalistischen Hinweisen (daß z. B. Art. 48 den Art. 50 nicht zitiert) keineswegs erledigt.
Ohne tiefere Untersuchungen der Verfassungsgeschichte und Verfassungslehre wird man heute weder eine solche Auslegungsfrage noch das allgemeine Problem der Diktatur wissenschaftlich behandeln können. In verschiedenen Gestalten zeigt sich in fast allen europäischen Ländern das gleiche merkwürdige Phänomen: als offene Diktatur, als Praxis der Ermächtigungsgesetze; in scheinbar legalen, d. h. die vorgeschriebenen Formen einer Verfassungsänderung wahrenden Verfassungsdurchbrechungen, in der Gesetzgebung absoluter Parlamentsmehrheiten usw. Es ist durchaus nicht „positiv“, das einfach zu ignorieren. Auch die Wissenschaft des öffentlichen Rechts ist verpflichtet, sich der Probleme ihrer Zeit bewußt zu werden. So rechtfertigt sich der vorliegende Versuch, einige Jahrhunderte des Problems der Diktatur zu behandeln. Anders freilich steht es mit der Frage einer Prognose. Ich habe von jedem derartigen Versuch abgesehen, obwohl hier schon einige Präzedenzfälle vorliegen. Erwin v. Beckerath z. B. sagt am Schluß seines überaus klugen und klaren Buches über „Wesen und Werden des fascistischen Staates“ (Berlin 1927, S. 154 / 55), mit steigender Konzentration der wirtschaftlichen und politischen Macht in wenigen Händen werde die Majoritätsideologie sich zersetzen, und wenn die wirtschaftlichen und politischen Spannungen in Europa [XII] weiter wachsen („wie anzunehmen“), „so ist es wahrscheinlich, daß, zugleich mit einer Umformung der politischen Ideologie, der autoritäre Staat innerhalb der abendländischen Kulturgemeinschaft Terrain zurückgewinnt“. Lapidarer in Form und Inhalt hat H. Nawiasky am 18. Februar 1925 in München etwas Gegenteiliges prophezeit: „Mussolinis Sturz ist nur mehr eine Frage der Zeit“ (Die Stellung der Regierung im modernen Staat, Heft 37 der Sammlung „Recht und Staat“, Tübingen 1925, S. 23). Nun ist freilich alles Irdische auf die Dauer nur „eine Frage der Zeit“ und das Risiko selbst solcher Prophezeiungen infolgedessen nicht sehr groß. Trotzdem ziehe ich vor, mich darauf nicht einzulassen.
Über den Gang der Idee der Diktatur finden sich auf S. IX /X (die geschichtsphilosophische Gestalt der Diktatur in der Gegenwart) und S. 143 / 44 (der rationalistische Anfang der Diktatur im 18. Jahrhundert) einige Bemerkungen. Eine vollständige Darlegung dieser Entwicklungslinie fehlt noch. Doch sind einige entscheidende Momente der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts in meiner Abhandlung „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (insbesondere in Kapitel III, Die Diktatur im Marxistischen Denken, 2. Auflage, 1926, S. 63 ff.) gezeigt, worauf ich hier mit einem Wort hinweisen möchte.
Bonn, August 1927.
C. S.
Vorbemerkung zur 1. Auflage (1921)
Zu erwähnen, daß nicht nur Bücher, sondern auch Redensarten ihr Schicksal haben, wäre eine Banalität, wenn man damit nur die im Laufe der Zeit sich abspielenden Veränderungen meinte, um durch eine nachträgliche Prognose oder ein geschichtsphilosophisches Horoskop zu zeigen, „wie es kam, daß es kam“. Das ist aber nicht das Interesse dieser Arbeit, die sich vielmehr um systematische Zusammenhänge bemüht und deren Aufgabe gerade darum so schwierig ist, weil ein zentraler Begriff der Staats- und Verfassungslehre untersucht werden soll, der, wenn er überhaupt beachtet wurde, höchstens beiläufig an den Grenzen verschiedener Gebiete — politische Geschichte, Politik im Sinne Roschers, allgemeine Staatslehre — undeutlich erschien, im übrigen aber ein politisches Schlagwort blieb, so konfus, daß seine ungeheure Beliebtheit ebenso erklärlich ist wie die Abneigung der Rechtsgelehrten, sich darauf einzulassen. 1793 klagte ein Jakobiner: on parle sans cesse de dictature. Man hat heute noch nicht aufgehört, davon zu sprechen, und es wäre vielleicht eine unterhaltende Beschäftigung, eine vollständige Übersicht über die verschiedenen konkreten und abstrakten Subjekte einer wirklichen oder geforderten Diktatur anzufertigen. Damit wäre jedoch für eine Erfassung des Begriffs der Diktatur noch nicht viel getan und höchstens die allgemeine Verwirrung noch einmal eindringlich zum Bewußtsein gebracht. Trotzdem kann, nachdem aus andern Zusammenhängen ein Begriff der Diktatur gewonnen ist, bereits hier gezeigt werden, welche für die Erkenntnis der Sache wesentlichen Momente im politischen Sprachgebrauch enthalten sind, wodurch in die betäubende Vieldeutigkeit des Schlagworts eine vorläufige, nicht nur rein terminologische Orientierung gebracht und ein Hinweis auf den Zusammenhang mit weiteren Begriffen der allgemeinen Rechts- und Staatslehre möglich wird.
In der sozialistischen Literatur der „Diktatur des Proletariats“ wird es dafür um so deutlicher, wenn auch nur in den weiten Dimensionen einer mit ganzen Staaten und Klassen operierenden Geschichtsphilosophie. Nach der Diskussion, die zur Zeit — im Sommer 1920 — unter Marxisten geführt wird, könnte es den Anschein haben, als wäre für sie Diktatur wesentlich Verneinung der parlamentarischen Demokratie, unter Verzicht auf die formale demokratische Grundlage. Wenn Kautsky, dessen Schrift Terrorismus und Kommunismus (1919) der Anknüpfungspunkt dieser Diskussion ist, eine Diktatur des Proletariats dadurch widerlegen will, daß er Diktatur als die notwendig persönliche Herrschaft eines einzelnen definiert und eine Kollektivdiktatur als Selbstwiderspruch ansieht, so ist das nur ein terminologisches Argument. Gerade für den Marxismus, für den kein einzelner, sondern eine Klasse der Träger alles wirklichen politischen Geschehens ist, war es nicht schwierig, das Proletariat als kollektive Gesamtheit zum eigentlich Handelnden zu machen und daher auch als Subjekt einer Diktatur zu betrachten. Der Inhalt seines diktatorischen Handelns kann freilich verschiedenartig aufgefaßt werden. Nach den Erörterungen über die Schrift Kautskys hat es den Anschein, als käme es auf die Beseitigung der Demokratie an, wie sie sich am stärksten in der Ablehnung oder Auflösung einer nach demokratischen Grundsätzen gewählten konstituierenden Nationalversammlung äußert. Aber daraus braucht noch nicht zu folgen, daß für marxistische Anhänger der Diktatur des Proletariats notwendig die Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit gemeint ist. In den Antworten, die Lenin, Trotzki und Radek bisher auf die Schrift von Kautsky gegeben haben, wird vielmehr kein Zweifel darüber gelassen, daß nicht etwa prinzipielle Gründe gegen die Benutzung demokratischer Formen bestehen, sondern daß diese Frage, wie jede andere, namentlich auch die von Legalität und Illegalität, nach den Verhältnissen des einzelnen Landes verschieden beantwortet werden muß und nur ein Moment in den strategischen und taktischen Maßnahmen des kommunistischen Planes ist. Je nach Lage der Sache kann es zweckmäßig sein, mit der einen oder andern Methode zu arbeiten, auf jeden Fall ist das Wesentliche der Übergang zu dem kommunistischen Endziel, für dessen Herbeiführung die Diktatur des Proletariats ein technisches Mittel ist. Auch der Staat, in dem das Proletariat, sei es als Mehrheit oder als Minderheit, die herrschende Klasse ist, heißt als Ganzes, als „zentralisierte Maschine“, als „Herrschaftsapparat“, Diktatur. Nun will dieser proletarische Staat nichts Definitives, sondern ein Übergang sein. Dadurch erhält der wesentliche Umstand, der in der bürgerlichen Literatur zurückge[XVI]treten war, wiederum seine Bedeutung. Die Diktatur ist ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen; weil ihr Inhalt nur von dem Interesse an dem zu bewirkenden Erfolg, also immer nur nach Lage der Sache bestimmt ist, kann man sie nicht allgemein als die Aufhebung der Demokratie definieren. Andererseits läßt auch die kommunistische Argumentation erkennen, daß sie, weil sie der Idee nach ein Übergang ist, nur ausnahmsweise und unter dem Zwang der Verhältnisse eintreten soll. Auch das gehört zu ihrem Begriff, und es kommt darauf an, wovon eine Ausnahme gemacht wird.
Wenn die Diktatur notwendig „Ausnahmezustand“ ist, kann man durch eine Aufzählung dessen, was als das Normale vorgestellt wird, die verschiedenen Möglichkeiten ihres Begriffes aufzeigen: staatsrechtlich kann sie die Aufhebung des Rechtsstaates bedeuten, wobei Rechtsstaat wiederum Verschiedenes bezeichnen kann: eine Art der Ausübung staatlicher Macht, die Eingriffe in die Rechtssphäre der Bürger, persönliche Freiheit und Eigentum nur auf Grund eines Gesetzes zuläßt; oder eine verfassungsmäßige, auch über gesetzliche Eingriffe erhabene Garantie gewisser Freiheitsrechte, die durch die Diktatur verneint werden. Ist die Verfassung eines Staates demokratisch, so kann jede ausnahmsweise eintretende Aufhebung demokratischer Prinzipien, jede von der Zustimmung der Mehrheit der Regierten unabhängige Ausübung staatlicher Herrschaft Diktatur heißen. Wird eine solche demokratische Herrschaftsausübung als allgemein gültiges politisches Ideal aufgestellt, so ist jeder Staat Diktatur, der diese demokratischen Grundsätze nicht beachtet. Wird das liberale Prinzip unveräußerlicher Menschen- und Freiheitsrechte als Norm genommen, so muß eine Verletzung dieser Rechte auch dann als Diktatur erscheinen, wenn sie auf dem Willen der Mehrheit beruht. So kann Diktatur eine Ausnahme von demokratischen wie liberalen Prinzipien bedeuten, ohne daß beides zusammentreffen müßte. Was als Norm zu gelten hat, kann positiv durch eine bestehende Verfassung oder aber durch ein politisches Ideal bestimmt sein. Daher heißt der Belagerungszustand Diktatur wegen der Aufhebung positiver Verfassungsbestimmungen, während von einem revolutionären Standpunkt aus die gesamte bestehende Ordnung als Diktatur bezeichnet und dadurch der Begriff aus dem Staatsrechtlichen ins Politische überführt werden kann. Wo nun, wie in der kommunistischen Literatur, nicht nur die bekämpfte politische Ordnung, sondern auch die erstrebte eigene politische Herrschaft Diktatur heißt, tritt eine weitere Veränderung im Wesen des Begriffes ein. Der eigene Staat heißt in seiner Gesamtheit Diktatur, weil er das Werkzeug eines durch ihn zu bewirkenden Überganges zu einem richtigen Zustand bedeutet, seine Rechtfertigung aber in einer Norm liegt, die nicht mehr bloß politisch oder gar positiv-verfassungsrechtlich ist, son[XVII]dern geschichtsphilosophisch. Dadurch ist die Diktatur — weil sie als Ausnahme in funktioneller Abhängigkeit von dem bleibt, was sie negiert — ebenfalls eine geschichtsphilosophische Kategorie geworden. Die Entwicklung zum kommunistischen Endzustand muß nach der ökonomischen Geschichtsauffassung des Marxismus „organisch“ (im Hegelschen Sinne) vor sich gehen, die wirtschaftlichen Verhältnisse müssen reif sein für die Umwälzung, die Entwicklung ist (ebenfalls im Hegelschen Sinne) „immanent“, die Zustände können nicht gewaltsam reif „gemacht“ werden, ein künstliches, mechanisches Eingreifen in diese organische Entwicklung wäre für jeden Marxisten sinnlos. Aber die bolschewistische Argumentation sieht in der Tätigkeit der Bourgeoisie, die sich mit allen Mitteln dagegen wehrt, ihren entwicklungsgeschichtlich längst erledigten Platz zu räumen, ein äußerliches Eingreifen in die immanente Entwicklung, ein mechanisches Hindernis, durch das der organischen Entwicklung der Weg verbaut wird und das mit ebenso mechanischen und äußerlichen Mitteln beseitigt werden muß. Das ist der Sinn der Diktatur des Proletariats, die eine Ausnahme von den Normen der organischen Entwicklung und deren Kernfrage ebenso rein geschichtsphilosophisch ist wie die Argumentation, mit der sie sich rechtfertigt. In den letzten Schriften, Lenins über den Radikalismus (1920) und Trotzkis Anti-Kautsky (1920), wird das noch deutlicher als sonst: die Bourgeoisie ist eine „durch die Geschichte dem Untergang geweihte Klasse“, das Proletariat hat, weil es die „historisch aufsteigende Klasse“ ist, ein Recht zu jeder Gewaltanwendung, die ihm gegenüber der historisch absteigenden Klasse im Interesse der geschichtlichen Entwicklung zweckmäßig erscheint. Wer auf der Seite der kommenden Dinge steht, darf das, was fällt, auch noch stoßen.
Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht zufällige Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffes liegt darin, daß gerade die Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit gesichert werden soll. Zwischen der Herrschaft der zu verwirklichenden Norm und der Methode ihrer Verwirklichung kann also ein Gegensatz [1] bestehen. Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirklichung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entsprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus. Einen konkreten Erfolg bewirken, bedeutet aber, in den kausalen Ablauf des Geschehens eingreifen mit Mitteln, deren Richtigkeit in ihrer Zweckmäßigkeit liegt und ausschließlich von den tatsächli[XVIII]chen Zusammenhängen dieses Kausalverlaufs abhängig ist. Gerade aus dem, was sie rechtfertigen soll, wird die Diktatur zu einer Aufhebung des Rechtszustandes überhaupt, denn sie bedeutet die Herrschaft eines ausschließlich an der Bewirkung eines konkreten Erfolges interessierten Verfahrens, die Beseitigung der dem Recht wesentlichen Rücksicht auf den entgegenstehenden Willen eines Rechtssubjekts, wenn dieser Wille dem Erfolg hinderlich im Wege steht; demnach die Entfesselung des Zweckes vom Recht. Allerdings, wer im Kern alles Rechts selbst wieder nur einen solchen Zweck sieht, ist gar nicht imstande, einen Begriff der Diktatur zu finden, weil für ihn jede Rechtsordnung nur latente oder intermittierende Diktatur ist. Jhering äußert sich folgendermaßen (Zweck im Recht II3 251): das Recht ist Mittel zum Zweck, zum Bestehen der Gesellschaft; zeigt sich das Recht nicht imstande, die Gesellschaft zu retten, so greift die Gewalt ein und tut, was geboten ist, das ist dann die „rettende Tat der Staatsgewalt“ und der Punkt, wo das Recht in die Politik und die Geschichte mündet. Genauer gesprochen wäre es aber der Punkt, an dem das Recht seine wahre Natur offenbart und die vielleicht selbst wieder aus Zweckmäßigkeitsgründen gebilligten Abschwächungen seines reinen Zweckcharakters aufhören. Krieg gegen den äußern Feind und Unterdrükkung eines Aufruhrs im Innern wären nicht Ausnahmezustände, sondern der ideale Normalfall, in dem Recht und Staat ihre innere Zweckhaftigkeit mit unmittelbarer Kraft entfalten.
Die Rechtfertigung der Diktatur, die darin liegt, daß sie das Recht zwar ignoriert, aber nur, um es zu verwirklichen, hat also wohl inhaltliche Bedeutung, ist aber noch keine formale Ableitung und daher keine Rechtfertigung im Rechtssinne, denn der noch so gute wirkliche oder vorgebliche Zweck kann keinen Rechtsbruch begründen, und die Herbeiführung eines den Prinzipien normativer Richtigkeit entsprechenden Zustandes verleiht noch keine rechtliche Autorität. Das formale Merkmal liegt in der Ermächtigung einer höchsten Autorität, die rechtlich imstande ist, das Recht aufzuheben und eine Diktatur zu autorisieren, d. h. eine konkrete Ausnahme zu gestatten, deren Inhalt im Vergleich zu dem andern Fall einer konkreten Ausnahme, der Begnadigung, ungeheuerlich ist. Abstrakt gesprochen, wäre das Problem der Diktatur das in der allgemeinen Rechtslehre bisher noch wenig systematisch behandelte Problem der konkreten Ausnahme. Darauf ist in dieser Arbeit nicht eingegangen, aber für die Erkenntnis der Diktatur war es notwendig, zu untersuchen, von welcher höchsten Autorität, die allein solche Ausnahmen gewähren kann, die bisherigen Konstruktionen der Diktatur ausgehen. Denn eine weitere Eigenart der Diktatur liegt in Folgendem: weil alles berechtigt wird, was, unter dem Gesichtspunkt des konkret zu erreichenden Erfolges betrachtet, er[XIX]forderlich ist, bestimmt sich bei der Diktatur der Inhalt der Ermächtigung unbedingt und ausschließlich nach Lage der Sache; daraus entsteht eine absolute Gleichheit von Aufgabe und Befugnis, Ermessen und Ermächtigung, Kommission und Autorität. Bei einer solchen Identität ist jeder Diktator notwendig in einem besondern Sinne Kommissar. Der Geschichte dieses wichtigen Begriffes nachzugehen, ließ sich bei einer nähern Untersuchung nicht vermeiden. Daraus entstand die Gliederung der vorliegenden Arbeit, bei der jedesmal der theoretischen, der allgemeinen Staats- und Verfassungslehre angehörenden Erörterung eine geschichtliche Betrachtung der unmittelbaren, kommissarischen Ausübung staatlicher Autorität folgt. Im Mittelpunkt steht dann die (im IV. Kapitel begründete) wesentliche Unterscheidung, die das Ergebnis der Arbeit enthält, indem sie eine erste Schwierigkeit zu lösen und den Begriff der Diktatur einer rechtswissenschaftlichen Erörterung überhaupt erst zugänglich zu machen sucht: die Unterscheidung von kommissarischer und souveräner Diktatur. Sie konstruiert den Übergang von der früheren „Reformations-“ zur Revolutions-Diktatur theoretisch auf der Grundlage des pouvoir constituant des Volkes. Im 18. Jahrhundert erscheint zum ersten Male in der Geschichte des christlichen Abendlandes ein Begriff der Diktatur, nach welchem der Diktator zwar Kommissar bleibt, aber infolge der Eigenart der nicht konstituierten, aber konstituierenden Gewalt des Volkes ein unmittelbarer Volkskommissar, ein Diktator, der auch seinem Auftraggeber diktiert, ohne aufzuhören, sich an ihm zu legitimieren.
Die weitere, in das 19. Jahrhundert fortgehende ideengeschichtliche Entwicklung konnte nur in einer längeren Anmerkung (S. 143) angedeutet werden. Seit dem Jahre 1848 trennt sich, wenigstens in Deutschland die allgemeine Staatslehre allmählich völlig vom positiven Staatsrecht und laufen außerdem mehrere Ideengänge selbständig nebeneinander her, so daß dieser Teil der Arbeit einer getrennten Darstellung vorbehalten bleibt. Politisch gesprochen durch den Klassenbegriff, verfassungs- und staatsrechtlich durch die moderne Koalitionsfreiheit, hat der aus früheren Jahrhunderten überlieferte Begriff der Souveränität sich wesentlich verändert und der heute noch herrschende, allen andern Subjekten der Souveränität entgegengehaltene Begriff einer „Staats“-Souveränität ist vielfach nur die Umschreibung einer tergiversatio vor dem eigentlichen Problem. Die Schwierigkeit der Arbeit lag daher einmal in dem Problem selbst, dann aber auch in dem geschichtlichen, rechtswissenschaftlichen und philosophischen Material, durch das die Untersuchung einen wenig geebneten Weg nehmen mußte. Das Material ist freilich nicht ganz so veraltet als vielleicht auf den ersten Blick erscheinen könnte [2]. Die mit Bodin beginnende, im I. Kapitel der Arbeit dargestellte Kontroverse z. B., ob der Diktator souverän ist, [XX] wird von einem Rechtsgelehrten wie James Bryce wenigstens noch erwähnt. Aber auch abgesehen davon ist das Material nicht als Selbstzweck gesammelt, sondern um an ihm die Entwicklung eines systematisch wesentlichen Begriffes zu zeigen. Es darf daher noch bemerkt werden, daß das Interesse dieser Arbeit sich nicht erst an den gegenwärtigen Diskussionen über Diktatur, Gewalt oder Terror entzündet hat. Der Rechtswert der Entscheidung als solcher, unabhängig von ihrem materiellen Gerechtigkeitsinhalt, ist bereits 1912 in der Abhandlung „Gesetz und Urteil“ zur Grundlage einer Untersuchung der Rechtspraxis gemacht worden; dabei wurde besonders auf Bentham hingewiesen, dessen Lehre von der Rechtsbestimmtheit durch Austins Souveränitätsbegriff unmittelbar für die Staatslehre wichtig geworden ist, der aber gerade hier an Hobbes einen unerwarteten Vorläufer und an de Maistre eine noch weniger wahrscheinliche Unterstützung hat. Die Weiterführung dieses Gedankens ergab den Gegensatz von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichungsnorm, der in prinzipiellem Zusammenhang in der Abhandlung über den Wert des Staates (1914) untersucht ist, von der ich nur bedaure, daß ich bei ihrer Abfassung H. Krabbes Lehre von der Rechtssouveränität noch nicht kannte. Die Abhandlung ist nach entgegengesetzten Seiten mißverständlich beurteilt worden: ein Gelehrter von der Bedeutung Weyrs identifizierte ihren Rechtsbegriff ohne weiteres mit der nach meiner Meinung eine contradictio in adjecto in sich bergenden positivistischen „Form“ Kelsens, für den das Problem der Diktatur sowenig ein rechtliches Problem sein kann wie eine Gehirnoperation ein logisches Problem, entsprechend seinem relativistischen Formalismus, der verkennt, daß es sich hier um etwas ganz anderes handelt, nämlich darum, daß die Autorität des Staates von seinem Wert nicht getrennt werden kann; L. Waldecker dagegen sah in der Abhandlung nur „Naturrecht alten Angedenkens“, womit sie (wenigstens damals noch, im Jahre 1916) erledigt war. Daher lag es nahe, den kritischen Begriff der Rechtsverwirklichung, also die Diktatur, gesondert zu betrachten und durch eine Darstellung ihrer Entwicklung in der modernen Staatslehre zu zeigen, daß es unmöglich ist, sie, wie bisher, nur gelegentlich einzelner Verfassungskämpfe ad hoc zu behandeln und im übrigen prinzipiell zu ignorieren. Die Darstellung konnte bis zu dem vorliegenden, abgeschlossenen Teil geführt werden, freilich unter den ungünstigsten äußern Bedingungen, in einer Zeit
cum desertis Aganippes
Vallibus esuriens migraret in atria Clio.
1 Ein schönes Beispiel „formaler“ Beweisführung möchte ich nicht unerwähnt lassen. R. Grau sagt, Gedächtnisschrift für E. Seckel, S. 484/85, gegen meine Behauptung, daß Art. 48 Abs. 2 Satz 2 im Staatenausschuß entstanden ist, das sei unrichtig; der Satz „findet sich vielmehr schon in der an den Staatenausschuß gelangten Vorlage der Reichsregierung (Art. 67)“. Dabei könnte er schon in dem Kommentar von Giese nachlesen, daß die Vorlage in Verhandlungen mit einem Ausschuß der Staatenkonferenz entstand.
Inhalt
I. Die kommissarische Diktatur und die Staatslehre
a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie
Die überlieferte Vorstellung der römisch rechtlichen Diktatur 1–6. Machiavellis Begriff der Diktatur 6 – 7. „Technizität“ als Merkmal seiner Staatsauffassung 7 – 10. Rationalismus, Technizität und Exekutive als Merkmale des entstehenden modernen Staates 10–13. Die Literatur der Staats-Arcana als Ausdruck einer solchen Staatsauffassung 13 – 16. Diktatur und Ausnahmezustand in der Arcana-Literatur 16–19. Die rechtsstaatliche Argumentation der Monarchomachen in den Vindiciae des Junius Brutus 19 – 21. Die zwei Arten des modernen Naturrechts: Gerechtigkeits- und (natur-) wissenschaftliches Naturrecht in ihrem Gegensatz von Interesse an dem Inhalt der Entscheidung und der Erkenntnis des in der Entscheidung als solcher liegenden Wertes, insbesondere bei Hobbes und Pufendorf 21 – 24. Locke als Vertreter der ständischen Gerechtigkeitsauffassung 24–25.
b) Die Definition der kommissarischen Diktatur bei Bodin
Der Souveränitätsbegriff bei Bodin und die mit ihm entstehende Kontroverse über Diktatur und Souveränität bei Bodin, Grotius, Hobbes, Pufendorf, Thomasius und Wolff 25 – 32. Bodins Definition des Diktators als eines Kommissars und seine Definition des Kommissars 32 – 36. Untersuchung dieser Definition; der Diktator als Aktionskommissar 37–39. Die Diktatur bei A. Sidney und Locke 39 – 41.
II. Die Praxis der fürstlichen Kommissare bis zum 18. Jahrhundert
Die päpstliche plenitudo potestatis, ihre Ausübung durch Kommissare und ihre Bekämpfung durch die konziliare Theorie der intermediären Gewaltausübung 42 – 45. Der Kommissar als judex delegatus und als persönlicher Repräsentant (vices gerens) 45 – 47. Kommissare weltlicher Fürsten, ihre verschiedenartigen Aufgaben und Befugnisse 47 – 49. Regierungs- und Heereskommissare im Kirchenstaat des 15. Jahrhunderts 49 – 55. Kommissare als Werkzeug des fürstlichen Absolutismus zur Beseitigung der ständischen Rechte: a) der Exekutionskommissar: die Exekution als Krieg 57; die Exekution im Deutschen Reich und die Bedeutung der kaiserlichen Kommissare gegenüber dem militärischen Befehlshaber 58 – 62; die Exekution gegen die böhmischen Rebellen durch Her[XXII]zog Maximilian von Bayern als Exekutionskommissar 63 – 65. b) Die Entwicklung des Heereskommissars in Deutschland zum ordentlichen Beamten 66 – 72; die typische Bedeutung der Entwicklung in Preußen 73 – 74. c) Der Reformationskommissar als Aktionskommissar, dargelegt an dem Beispiel einer Reformationskommission in Steiermark 74 – 77
Exkurs über Wallenstein als Diktator
III. Der Übergang zur souveränen Diktatur in der Staatslehre des 18. Jahrhunderts
Die Intendanten des Königs von Frankreich als Kommissare der zentralistischen Regierung und ihr Gegensatz zu den intermediären Gewalten 95 – 100. Die Verbindung der Theorie von den intermediären Gewalten mit der Lehre von der sog. Teilung, richtig der Balancierung der Gewalten bei Montesquieu 102 – 105. Die ausnahmslose Geltung des generellen Gesetzes als Mittel der politischen Freiheit wie des Despotismus 105 – 107. Der despotisme légal als Diktatur der aufgeklärten Vernunft: Voltaire, die Physiokraten, insbesondere Le Mercier de la Rivière 107 – 110. Die Konstruktion des Königtums als erblicher Diktatur bei Cérutti 110. Die Aufhebung der absolutistischen Argumentation von der natürlichen Bosheit des Menschen bei Morelly und Mably 110 – 112. Die Diktatur bei Mably als Reformationsdiktatur und theoretische Vorwegnahme der jakobinischen Diktatur 112 – 114. Die Diktatur bei Rousseau im Zusammenhang des Contrat social und die Ersetzung des Vertragsgedankens durch den modernen Begriff des Kommissars 114 – 117; die volonté générale und die Dialektik des Terrors 117 – 122; législateur und dictateur im Contrat social und ihre Bedeutung für den Begriff der souveränen Diktatur 122 – 126.
IV. Der Begriff der souveränen Diktatur
Der moderne Begriff der konstituierenden Gewalt des Volkes war nicht die theoretische Grundlage der Herrschaft Cromwells 127 – 131. Die souveräne Diktatur als Aktionskommission, ihre Unterscheidung von der absoluten Monarchie und vom Polizeistaat auf der einen, von der kommissarischen Diktatur auf der andern Seite 131 – 134. Der Begriff des pouvoir constituant des Volkes als Voraussetzung der theoretischen Möglichkeit der souveränen Diktatur 134 – 137. Das Wesen des pouvoir constituant 137 – 140. Die Kommissare des pouvoir constituant (Volkskommissare) im Gegensatz zu den Kommissaren eines pouvoir constitué 140 – 142. Die souveräne Diktatur als revolutionäre Aktionskommission eines pouvoir constituant 142 – 144. Die souveräne Diktatur des Nationalkonvents von 1793 - 1795, 144 – 149.
V. Die Praxis der Volkskommissare während der französischen Revolution
Kommissare der verfassunggebenden Nationalversammlung von 1789 - 1791, 150 – 154; der gesetzgebenden Versammlung von 1791 - 1792, 154 – 156. Aufgaben und Befugnisse der Kommissare des Nationalkonvents bis zur Errichtung des Comité de salut public 156 – 160. Die weitere Entwicklung zur unbedingten Aktionskommission 160 – 164. Der Übergang zu geregelten Zuständigkeiten 164 – 165. Außerordentliche Kommissare Napoleons I. und der königlichen Regierung 1814 und 1815, 165 – 167.
VI. Die Diktatur in der bestehenden rechtsstaatlichen Ordnung (Der Belagerungszustand)
Der Kern des martial law: eine Aufhebung des Rechtszustandes im Interesse einer wirksamen Aktion 168 – 171. Rechtliche Form und „zusammengesetzte Amtshandlung“ 171 – 176. Die loi martiale von 1789, 176 – 179. Der état de siège in dem Gesetz von 1791, 179 – 184. Die Suspension der Verfassung 184 – 185. Der état de siège nach dem Dekret von 1811, 185 – 187; in der Verfassung von 1815, 187 – 189; während der Restauration 189 – 192 und während des Bürgerkönigtums 192 – 194. Die souveräne Diktatur der Nationalversammlung von 1848, 194 – 197. Der Artikel 48 der deutschen Verfassung von 1919, 197 – 202.
Namenund- und Sachregister
Korrekturen von Carl Schmitt, notiert in seinem Handexemplar
Anhang
I. Die kommissarische Diktaturund die Staatslehre
a) Die staatstechnische und die rechtsstaatliche Theorie
Für die humanistischen Schriftsteller der Renaissance war die Diktatur ein Begriff, den sie in der römischen Geschichte und bei ihren klassischen Autoren vorfanden. Die großen Philologen und Kenner des römischen Altertums stellten aus Cicero, Livius, Tacitus, Plutarch, Dionysius von Halicarnass, Sueton usw. die verschiedenen Äußerungen zusammen und interessierten sich für das Institut als eine Angelegenheit der Altertumskunde, ohne einen Begriff von allgemeiner staatsrechtlicher Bedeutung zu suchen1. Dadurch begründeten sie eine Überlieferung, die bis ins 19. Jahrhundert hinein ziemlich gleichgeblieben ist: die Diktatur ist eine weise Erfindung der römischen Republik, der Diktator ein außerordentlicher römischer Magistrat, der nach der Vertreibung der Könige eingeführt wurde, damit in Zeiten der Gefahr ein starkes Imperium vorhanden war, das nicht, wie die Amtsgewalt der Konsuln, durch die Kollegialität, durch das Einspruchsrecht der Volkstribunen und die Provokation an das Volk beeinträchtigt war. Der Diktator, der auf Ersuchen des Senats vom Konsul ernannt wird, hat die Aufgabe, die gefährliche Lage, die der Grund seiner Ernennung ist, zu beseitigen, nämlich entweder Krieg zu führen (dictatura rei gerendae) oder einen Aufruhr im Innern niederzuschlagen (dictatura seditionis sedandae); später wurde er auch für besondere Einzelheiten bestellt, wie die Abhaltung einer Volksversammlung (comitiorum habendorum), Einschlagen eines Nagels, das aus religiösen Gründen vom praetor maximus vorgenommen werden mußte (clavi figendi), Leitung einer Untersuchung, Feststellung der Feiertage usw. Der Diktator wird für 6 Monate ernannt, legt aber, wenigstens nach dem löblichen Brauch der alten republikanischen Zeit, seine Würde schon vor Ablauf dieser Frist nieder, wenn er seinen Auftrag voll[2]zogen hat. Er ist an Gesetze nicht gebunden und eine Art König mit unumschränkter Gewalt über Leben und Tod. Ob durch die Ernennung des Diktators die Amtsgewalt der übrigen Magistrate erlischt, wird verschieden beantwortet. Gewöhnlich sah man in der Diktatur ein politisches Mittel, durch das die patrizische Aristokratie ihre Herrschaft gegenüber den demokratischen Ansprüchen der Plebejer zu schützen suchte. Eine historische Kritik der überlieferten Nachrichten fehlte natürlich2. Die spätern Diktaturen Sullas[3]und Caesars wurden meistens mit der Diktatur der ältern Zeit als etwas zwar politisch Verschiedenes (in effectu tyrannis, wie Besold sagt), aber staatsrechtlich Gleiches zusammengenommen.
Gerade diese auffällige Verschiedenheit der ältern republikanischen und der spätem sullanischen und caesarischen Diktatur hätte eine nähere Bestimmung innerhalb des Begriffes der Diktatur nahelegen können. Der Gegensatz von kommissarischer und souveräner Diktatur, der im folgenden als die grundlegende Entscheidung entwickelt werden soll, ist hier bereits in der politischen Entwicklung selbst angedeutet und liegt eigentlich in der Natur der Sache. Aber weil die geschichtliche Beurteilung immer abhängig ist von den Erfahrungen der eigenen Gegenwart3, so wandte sich das Interesse [4] des 16. und 17. Jahrhunderts weniger auf die Entwicklung von der Demokratie zum Caesarismus. Denn das absolute Fürstentum, das sich damals einrichtete, sah nicht in der irgendwie herbeigeführten Zustimmung des Volkes seine Rechtsgrundlage, sondern war von Gottes Gnaden und setzte sich gegen die Stände, d. h. für die damalige Auffassung gegen das Volk durch. Die sprachliche Bedeutung des Wortes Diktatur, die zu seiner Ausdehnung auf alle diejenigen Fälle führt, in denen man sagen kann, daß eine Anordnung „diktiert“ wird, und die heute zweifellos zu der Verbreitung des Wortes beiträgt (dictator est qui dictat4), zeigt sich damals noch nicht5. Wo in Deutschland das römisch-rechtliche Institut mit[5]staatlichen und politischen Verhältnissen des 16. Jahrhunderts verglichen wird, handelt es sich — im Gegensatz zu den Erörterungen, welche die Rechtsstellung des deutschen Königs mit der des römischen Kaisers vergleichen, oder zu einigen Argumentationen des kanonischen Rechtes6 — nicht um eine Verwertung römischer Einrichtungen für eine rechtswissenschaftliche Begriffsbildung, sondern zunächst nur um eine Umdeutung, die in ihrer Naivität an die biblischen und mythologischen Bilder erinnert, auf denen Ereignisse der Vergangenheit im Kostüm der Gegenwart erscheinen, deren historische Deutung aber trotzdem auch sachliches Interesse hat. So nennt die Straßburger Liviusübertragung von 1507 die Konsuln Bürgermeister, den Senat gelegentlich „Rat“, den Diktator, wenn das Wort überhaupt übersetzt wird, einen „obristen gewaltigen“, der „die Hauptmannschaft des Krieges“ hat7. Sebastian Franck hebt in seiner Chronika am Diktator als wesentlich hervor, daß er in größter Not erwählt wurde, die „höchste Gewalt“ hatte mit dem Tod zu strafen, ohne daß von seinem Urteil appelliert werden konnte, und der „öberste deß Regiments zu Rom“ war, dessen „gewalt und macht vor der Wirdigkeit des Rathsherrlichen Pfleg“ ging8. Bei den politischen und staatsrechtlichen Schriftstellern dieses Jahrhunderts sind aber schon Parallelen zwischen der römischen Diktatur und den Einrichtungen anderer Staaten gezogen, die einen mehr oder weniger bewußten Versuch enthalten, das Institut als einen Begriff der allgemeinen Staatslehre zu entwickeln. Das gilt an erster Stelle von Machiavelli, der hier zu erwähnen ist, obwohl mit Recht von ihm gesagt wird, daß er niemals eine Staatstheorie aufgestellt habe.9
[6] In den Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio (1532, fünf Jahre nach dem Tode Machiavellis erschienen) lag es nahe, die Diktatur im allgemeinen zu erörtern, weil die Livianische Geschichte, die in den Discorsi glossiert wird, zahlreiche Fälle der Diktatur aus den ersten Jahrhunderten der Republik erwähnt. Man hat Machiavelli öfters alle Originalität abgesprochen und seine Schriften als einen Abklatsch antiker Vorbilder, als „Lesefrüchte“ aus Aristoteles und Polybius oder als „humanistische Dissertationen“ bezeichnet10. Doch beweisen gerade seine Bemerkungen über Diktatur selbständiges politisches Interesse und Unterscheidungsvermögen. Neben den bekannten, zu allen Zeiten wiederholten Dingen, daß für außergewöhnliche Verhältnisse außergewöhnliche Maßnahmen nötig sind, und den bis ins 19. Jahrhundert hinein beliebten Ausführungen über die Tugend der republikanischen Römer, die ihre Diktatur oft schon vor Ablauf der Amtsdauer niederlegten (I, cap. 30, 34), finden sich doch auch Bemerkungen über den Geschäftsgang des ordentlichen Dienstbetriebs, dessen Umständlichkeit und kollegiale Beratungsweise in dringenden Fällen gefährlich werden und einen schnellen Entschluß unmöglich machen können. Gerade für die Republik soll die Diktatur eine Lebensfrage sein. Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Diktatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren. In der venetianischen Republik, die Machiavelli als die beste moderne Republik bezeichnet, besteht daher eine ähnliche Einrichtung (cap. 34), und es kommt nur darauf an, die Diktatur mit verfassungsmäßigen Garantien zu umgeben. Der Diktator wird definiert als ein Mann, der, ohne an die Mitwirkung irgendeiner anderen Instanz gebunden zu sein, Anordnungen treffen und sie sofort, d. h. ohne daß weitere Rechtsmittel gegeben wären, vollstrecken kann (un huomo che senza alcuna consulta potesse deliberare et senza alcuna appelaggione eseguire le sue deliberazioni, cap. 33). Die auf Aristoteles zurückgehende Entgegenstellung von Beschlußfassung und Vollstrekkung, deliberatio und executio, benutzt Machiavelli zu einer Definition der Diktatur: der Diktator kann „deliberare per se stesso“, alle Maßnahmen treffen, ohne an die beratende oder beschließende Teilnahme einer anderen Stelle gebunden zu sein (fare ogni cosa senza consulta), und auf sofort rechtskräftige Strafen erkennen. Aber alle diese Befugnisse sind von der gesetzgeberischen Tätigkeit zu unterscheiden. Der Diktator kann die bestehenden Gesetze nicht ändern, [7] weder die Verfassung noch die Behördenorganisation aufheben, noch neue Gesetze machen (fare nuove leggi). Die ordentlichen Behörden bleiben nach Machiavelli bei der Diktatur bestehen als eine Art Kontrolle (guardia). Darum ist die Diktatur ein verfassungsmäßiges Institut der Republik, während die Dezemvirn gerade durch ihre unbegrenzten gesetzgeberischen Vollmachten die Republik in Gefahr gebracht haben (cap. 35).
Die Diktatur erschien Machiavelli und der folgenden Zeit zu sehr als ein der freien römischen Republik wesentliches Institut, als daß sie die beiden verschiedenen Arten der Diktatur, die kommissarische und die souveräne, unterschieden hätten. Daher ist auch der absolute Fürst für sie niemals Diktator. Der Principe, dessen Bild Machiavelli entworfen hat, ist von späteren Schriftstellern gelegentlich ein Diktator und die im Principe geschilderte Regierungsmethode eine Diktatur genannt worden. Das widerspricht jedoch der Auffassung Machiavellis. Der Diktator ist immer ein zwar außerordentliches, aber doch verfassungsmäßiges republikanisches Staatsorgan, er ist „capitano“, wie der Konsul und andere „Chefs“ (discorsi II, cap. 33). Der Principe dagegen ist souverän, und die nach ihm benannte Schrift Machiavellis enthält in der Hauptsache einige mit historischer Belesenheit geschmückte politische Rezepte darüber, wie man als principe die politische Macht in der Hand behält. Der ungeheure Erfolg des Buches beruht darauf, daß es der Staatsauffassung des 16. und 17. Jahrhunderts, d. h. der des entstehenden modernen Staates, entspricht, und zwar aus einem bestimmten Interesse daraus, das allerdings gerade auf das Wesen der Diktatur führt. Die vielen Diskussionen über das „Rätsel des Principe“ knüpfen sich teils an die Widersprüche bei Machiavelli, der in den Discorsi als freiheitlich gesinnter Republikaner, im Principe aber als Ratgeber des absoluten Fürsten erscheint, teils an die Amoralitäten des Buches. Aber weder die Widersprüche noch die Amoralitäten lassen sich daraus erklären, daß man in der Schrift einen versteckten Angriff gegen die Tyrannen sieht11 oder die Vorschläge eines [8] verzweifelten Nationalisten12, noch aus allgemeinen Erörterungen über das Macht- oder Nützlichkeitsinteresse, das den Egoismus über die Moral gesetzt habe13. Sie entfallen vielmehr vollständig, weil ein rein technisches Interesse herrscht, wie es für die Renaissance charakteristisch war, und in dessen Folge auch große Künstler der Renaissance mehr den technischen als den ästhetischen Problemen ihrer Kunst nachgingen. Auch Machiavelli selbst hat sich am liebsten mit rein technischen wie militärwissenschaftlichen Problemen beschäftigt14. Bei diplomatischen und politischen Angelegenheiten nimmt ihn die Frage, wie ein bestimmter Erfolg erreicht werden kann, wie man etwas „macht“, am meisten in Anspruch, und wo sich im Principe ein ehrlicher Affekt verrät, ist es Haß und Verachtung für den Dilettanten, den Stümper des politischen Lebens, der eine Sache halb macht, mit halben Grausamkeiten und halben Tugenden (cap. VIII). Aus der absoluten „Technizität“15folgt die Indifferenz gegenüber dem weitern politischen Zweck in der gleichen Weise, wie bei einem Ingenieur ein technisches Interesse an der Herstellung einer Sache vorhanden sein kann, ohne daß er an dem weitern Zweck, dem die herzustellende Sache dient, das geringste eigene Interesse zu haben braucht. Irgendein politisches Resultat — sei es nun die absolute Herrschaft eines einzelnen oder eine demokratische Republik, die politische Macht des Fürsten oder die politische Freiheit des Volkes — ist als Aufgabe gestellt. Die politische Machtorganisation und die Technik ihrer Erhaltung und Erweiterung ist bei den verschiedenen Staatsformen verschieden, aber immer etwas, das sachtechnisch herbeigeführt werden kann, wie der Künstler nach der rationalistischen Auffassung ein Kunstwerk schafft. Je nach den konkreten Verhältnissen — geogra[9]phische Lage, Charakter des Volkes, religiöse Anschauungen, soziale Machtgruppierung und Traditionen — ist die Methode verschieden und entsteht ein verschiedenartiges Gebäude. In den republikanischen Discorsi rühmt Machiavelli die guten Instinkte des Volkes, im Principe wiederholt er, daß der Mensch von Natur böse, Bestie, Pöbel ist. Das hat man als anthropologischen Pessimismus bezeichnet16, aber es hat theoretisch eine ganz andere Bedeutung. In jeder Argumentation, die den politischen oder staatlichen Absolutismus rechtfertigt, ist die natürliche Bosheit des Menschen ein Axiom, um die staatliche Autorität zu begründen, und so verschieden die theoretischen Interessen von Luther, Hobbes, Bossuet, de Maistre und Stahl [3] sind, dieses Argument tritt bei allen entscheidend hervor. Im Principe handelt es sich jedoch nicht um die moralische oder juristische Begründung, sondern die rationale Technik des politischen Absolutismus. Hierfür wird, als von einem Konstruktionsprinzip, davon ausgegangen, daß der Mensch gewisse moralisch vielleicht als minderwertig erscheinende Qualitäten haben muß, um sich als Material für diese Staatsform zu eignen. Denn Menschen, bei denen das Konstruktionsprinzip des republikanischen Gemeinwesens, die virtù, gegeben ist, würden eine Monarchie nicht ertragen. Die Art politischer Energie, die sich in der virtù äußert, verträgt sich eben nicht mit absolutistischen Regierungsformen, sondern läßt nur eine Republik zu. Je nachdem nun die Aufgabe gestellt wird, ein absolutes Fürstentum oder eine Republik zu konstruieren, muß das Menschenmaterial, mit dem das technische Verfahren zu rechnen hat, verschieden sein, da sonst der gewünschte Erfolg nicht erreicht werden kann.