16,99 €
Wenn zu Beginn dieser Darlegungen über »Legalität« und »Legitimität« die heutige innerstaatliche Lage Deutschlands staats- und verfassungsrechtlich als »Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates« gekennzeichnet wird, so ist das nur als eine zusammenfassende, kurze, fachwissenschaftliche Formel gemeint. Optimistische oder pessimistische Vermutungen und Prognosen interessieren hier nicht; von »Krisen« – seien es nun biologische, medizinische oder ökonomische Krisen, Nachkriegskrisen, Vertrauenskrisen, Gesundungskrisen, Pubertätskrisen, Schrumpfungskrisen oder was immer – soll ebenfalls nicht gesprochen werden. Um die ganze Problematik des heutigen Legalitätsbegriffes, des ihm zugehörigen parlamentarischen Gesetzgebungsstaates und des aus der Vorkriegszeit überlieferten Rechtspositivismus richtig zu verstehen, bedarf es staats- und verfassungsrechtlicher Begriffsbestimmungen, welche die gegenwärtige innerpolitische Lage in ihren staatlichen Zusammenhängen im Auge behalten. Aus der Einleitung
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
CARL SCHMITT
Legalität und Legitimität
Veröffentlicht unter Mitwirkung des wissenschaftlichen Beirats der Carl-Schmitt-Gesellschaft e.V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Erste Auflage 1932Zweite Auflage 1968 Dritte Auflage 1980Vierte Auflage 1988Fünfte Auflage 1993Sechste Auflage 1998Siebente Auflage 2005
Alle Rechte vorbehalten© 2012 Duncker & Humblot GmbH, BerlinDruck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, BerlinPrinted in Germany
ISBN 978-3-428-13844-9 (Print)ISBN 978-3-428-53844-7 (E-Book)ISBN 978-3-428-83844-8 (Print & E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ƀ
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsübersicht
Einleitung.
Das Legalitätssystem des Gesetzgebungsstaates gegenüber andern Staatsarten (Jurisdiktions-, Regierungs- und Verwaltungsstaaten)
I.
Das Legalitätssystem des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates
1.
Gesetzgebungsstaat und Gesetzesbegriff
2.
Legalität und gleiche Chance politischer Machtgewinnung
II.
Die drei außerordentlichen Gesetzgeber derWeimarer Verfassung
1.
Der außerordentliche Gesetzgeber
ratione materiae;
der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung als eine zweite Verfassung
2.
Der außerordentliche Gesetzgeber
ratione supremitatis;
eigentliche Bedeutung: plebiszitäre Legitimität statt gesetzgebungsstaatlicher Legalität
3.
Der außerordentliche Gesetzgeber
ratione necessitatis;
eigentliche Bedeutung: die Maßnahme des Verwaltungsstaates verdrängt dasGesetz des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates
Schluß
Anhang:
Editorische Nachbemerkung
Korrekturbemerkungen Carl Schmitts
Faksimiles des Handexemplars A von Carl Schmitt
Namenverzeichnis
Diese Abhandlung lag am 10. Juli 1932 abgeschlossen vor.
Einleitung
Das Legalitätssystem des Gesetzgebungsstaates gegenüber andern Staatsarten (Jurisdiktions-, Regierungs- und Verwaltungsstaaten)
Wenn zu Beginn dieser Darlegungen über „Legalität“ und „Legitimität“ die heutige innerstaatliche Lage Deutschlands staats- und verfassungsrechtlich als „Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzgebungsstaates“ gekennzeichnet wird, so ist das nur als eine zusammenfassende, kurze, fachwissenschaftliche Formel gemeint. Optimistische oder pessimistische Vermutungen und Prognosen interessieren hier nicht; von „Krisen“ – seien es nun biologische, medizinische oder ökonomische Krisen, Nachkriegskrisen, Vertrauenskrisen, Gesundungskrisen, Pubertätskrisen, Schrumpfungskrisen oder was immer – soll ebenfalls nicht gesprochen werden. Um die ganze Problematik des heutigen Legalitätsbegriffes, des ihm zugehörigen parlamentarischen Gesetzgebungsstaates und des aus der Vorkriegszeit überlieferten Rechtspositivismus richtig zu verstehen, bedarf es staats- und verfassungsrechtlicher Begriffsbestimmungen, welche die gegenwärtige innerpolitische Lage in ihren staatlichen Zusammenhängen im Auge behalten.
Als „Gesetzgebungsstaat“ wird hier eine bestimmte Art politischen Gemeinwesens bezeichnet, dessen Besonderheit darin besteht, daß es den höchsten und entscheidenden Ausdruck des Gemeinwillens in Normierungen sieht, die Recht sein wollen, daher bestimmte Qualitäten beanspruchen müssen, und denen deshalb alle andern öffentlichen Funktionen, Angelegenheiten und Sachgebiete untergeordnet werden können. Was man in den Staaten des europäischen Kontinents seit dem 19. Jahrhundert unter „Rechtsstaat“ verstand, war in Wirklichkeit nur ein Gesetzgebungsstaat, und zwar der parlamentarische Gesetzgebungsstaat. Die überragende und zentrale Stellung des Parlaments beruhte darauf, daß es als „gesetzgebende Körperschaft“ diese Normie[8]rungen mit der ganzen Würde des Gesetzgebers, des „législateur“, aufstellte.
Ein Gesetzgebungsstaat ist ein von unpersönlichen, daher generellen, und vorbestimmten, daher für die Dauer gedachten Normierungen meß- und bestimmbaren Inhalts beherrschtes Staatswesen, in welchem Gesetz und Gesetzesanwendung, Gesetzgeber und Gesetzesanwendungsbehörden voneinander getrennt sind. Es „herrschen Gesetze“, nicht Menschen, Autoritäten oder Obrigkeiten. Noch genauer: die Gesetze herrschen nicht, sie gelten nur als Normen. Herrschaft und bloße Macht gibt es überhaupt nicht mehr. Wer Macht und Herrschaft ausübt, handelt „auf Grund eines Gesetzes“ oder „im Namen des Gesetzes“. Er tut nichts als eine geltende Norm zuständigerweise geltend machen. Die Gesetze macht eine gesetzgebende Instanz, die aber nicht herrscht, und auch ihre Gesetze nicht selber geltend macht oder anwendet, sondern eben nur die geltenden Normierungen aufstellt, in deren Namen dann gesetzesunterworfene Gesetzesanwendungsbehörden staatliche Macht handhaben dürfen. Die organisatorische Verwirklichung des Gesetzgebungsstaates führt immer zur Trennung von Gesetz und Gesetzesanwendung, Legislative und Exekutive. Das ist nicht eine nur theoretisch ausgedachte Teilung und keine nur psychologisch begründete Vorsorge gegen die Machtgelüste der Menschen; es ist das unmittelbar notwendige konstruktive Grundprinzip des Gesetzgebungsstaates, in welchem eben nicht Menschen und Personen herrschen, sondern Normen gelten sollen. Der letzte, eigentliche Sinn des fundamentalen „Prinzips der Gesetzmäßigkeit“ alles staatlichen Lebens liegt darin, daß schließlich überhaupt nicht mehr geherrscht oder befohlen wird, weil nur unpersönlich geltende Normen geltend gemacht werden. In der allgemeinen Legalität aller staatlichen Machtausübung liegt die Rechtfertigung eines solchen Staatswesens. Ein geschlossenes Legalitätssystem begründet den Anspruch auf Gehorsam und rechtfertigt es, daß jedes Recht auf Widerstand beseitigt ist. Spezifische Erscheinungsform des Rechts ist hier das Gesetz, spezifische Rechtfertigung des staatlichen Zwanges die Legalität.
Es gibt andere Gemeinwesen, in denen der entscheidende politische Wille in andern Formen und Verfahren auftritt. Es gibt Jurisdiktionsstaaten, in welchen der einen Rechtsstreit entscheidende Richter statt des normierenden Gesetzgebers das letzte Wort spricht; und wiederum [9] andere politische Gebilde, die Regierungs- oder Verwaltungsstaaten sind, je nach dem spezifischen Ausdruck, in welchem die letzte Entscheidung sich konkret äußert und durch welchen die letzte Instanz, der „dernier ressort“, erscheint. Typischer Ausdruck des Jurisdiktionsstaates ist die konkrete Fall-Entscheidung, in der richtiges Recht, Gerechtigkeit und Vernunft sich unmittelbar offenbaren, ohne durch vorherbestimmte generelle Normierungen vermittelt zu sein, und die sich infolgedessen in dem Normativismus der bloßen Legalität nicht erschöpft. Typischer Ausdruck des Gesetzgebungsstaates ist die vorherbestimmte, inhaltlich meß- und bestimmbare, dauernde und generelle Normierung, als deren bloße Anwendung die richterliche Entscheidung sich darstellt, wie überhaupt alles staatliche Leben von einem geschlossenen, tatbestandsmäßige Subsumierungen ermöglichenden Legalitätssystem erfaßt werden soll. Der Jurisdiktionsstaat scheint insofern eher ein „Rechtsstaat“ zu sein, als in ihm der Richter unmittelbar Recht spricht und dieses Recht auch gegen den normierenden Gesetzgeber und dessen Gesetz geltend macht. Am andern Gegenpol des Gesetzgebungsstaates steht der Regierungsstaat, der seinen charakteristischen Ausdruck im hoheitlichen persönlichen Willen und autoritären Befehl eines regierenden Staatshauptes findet. Doch ist noch eine andere Staatsart denkbar, in welchem Befehl und Wille nicht autoritär und persönlich erscheinen und trotzdem nicht bloße Anwendungen von höheren Normierungen sein wollen, sondern nur sachliche Anordnungen: der Verwaltungsstaat, in welchem weder Menschen regieren, noch Normen als etwas Höheres gelten, sondern nach der berühmten Formel[1] „die Dinge sich selbst verwalten“. Wenn das auch eine Utopie sein mag, so ist doch ein Verwaltungsstaat denkbar, dessen spezifischer Ausdruck die nur nach Lage der Sache bestimmte, im Hinblick auf eine konkrete Situation getroffene, ganz von Gesichtspunkten sachlich-praktischer Zweckmäßigkeit geleitete Maßnahme ist.
Zwar werden in der geschichtlichen Wirklichkeit fortwährend Verbindungen und Mischungen eintreten, weil zu jedem politischen Gemeinwesen sowohl Gesetzgebung, wie Jurisdiktion, Regierung und Verwaltung gehören. In jedem Staat wird immer nicht nur befohlen und kommandiert, sondern auch gesetzlich normiert und mit geschäftsbesorgenden Maßnahmen verwaltet. Man könnte sogar, im Anschluß an Richard Thoma (Handbuch des deutschen Staatsrechts, Band 2 S. 127), in jedem einzelnen staatlichen Vorgang ein Element sowohl [10] von Gesetzgebung, wie von Verwaltung, wie von richterlicher Entscheidung entdecken. Namentlich werden sich beim Souverän alle diese Elemente und Erscheinungsformen wieder vereinigen: der Souverän ist höchster Gesetzgeber, höchster Richter und höchster Befehlshaber zugleich, letzte Legalitätsquelle und letzte Legitimitätsgrundlage. In schwachen Staaten wird eine legitime Regierung sich gern der Legalitätswirkungen von Beschlüssen der gesetzgebenden Körperschaft bedienen; ein Verwaltungsstaat wird die Justiz benutzen, um seine politischen Maßnahmen zu sanktionieren usw. Trotzdem bleibt meistens sogar ohne weiteres erkennbar, wo der Schwerpunkt des entscheidenden Willens liegt und welche der verschiedenen Möglichkeiten für das normale und durchschnittliche Dasein im Mittelpunkte steht, welche Art höchsten Willens im entscheidenden Augenblick maßgebend oder ausschlaggebend hervortritt und für das Gemeinwesen artbestimmend ist. Ein Schwebezustand, ein Nebeneinander oder Durcheinander von höchster Justiz, höchster Regierung, höchster Normierung und höchster Verwaltung ist allerdings ebenfalls möglich; in vorübergehenden Zwischenzeiten vielleicht sogar ein glückliches Gleichgewicht mehrerer verschiedenartiger, voneinander unabhängiger, höchster Gewalten.
Die Unterscheidung des Gesetzgebungsstaates mit seinem geschlossenen Legalitätssystem gegenüber den (unter sich wieder verschiedenen) Legitimierungsweisen von Jurisdiktions-, Regierungs- und Verwaltungsstaaten scheint mir für die Erkenntnis der staatlichen Gegenwart fruchtbarer zu sein als andere, in vergangenen Situationen entstandene Unterscheidungen, zum Beispiel die Antithesen von Herrschaft und Genossenschaft, Autorität und Freiheit, Rechtsstaat und Diktatur usw. Auch die überlieferte Dreiteilung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie mit ihren Modifikationen soll hier nicht zur Verwendung kommen. Nicht als wäre die aristotelische Lehre unmodern und überwunden. Aber heute tritt die normativistische Fiktion eines geschlossenen Legalitätssystems in einen aufälligen und unabweisbaren Gegensatz zu der Legitimität eines wirklich vorhandenen, rechtmäßigen Willens; das ist heute der entscheidende Gegensatz, nicht der von Monarchie, Aristokratie, Oligarchie oder Demokratie, der meistens nur verdunkelt und verwirrt. Zudem befindet sich unser Staatswesen in einer Wandlung, und die für den gegenwärtigen Moment charakteristische „Wendung zum totalen Staat“ mit ihrer unvermeidlichen Tendenz zum „Plan“ (statt, wie vor hundert Jahren, zur „Freiheit“) erscheint heute [11] typisch als eine Wendung zum Verwaltungsstaat.[2] Der totale Staat ist seiner Natur nach ein Verwaltungsstaat, auch wenn er sich der Justiz – und zwar Straf-, Zivil-, Disziplinar-, Verwaltungs- oder Verfassungsjustiz –, sei es als Instrument, sei es als Korrektiv, bedient. Daß insbesondere auch ein „Wirtschaftsstaat“ unmöglich als parlamentarischer Gesetzgebungsstaat arbeiten kann und zum Verwaltungsstaat werden muß, ist heute schon fast allgemein bekannt. Eine andere Frage ist es, wieweit jeder Staat seinen Kern in der Verwaltung hat. Sowohl Platons „Republik“ wie des Aristoteles „Politik“ sind, wie Lorenz von Stein gesagt hat, „Lehren der staatlosen und damit verwaltungslosen Gesellschaft“. Max Weber hält einen „Verwaltungsstab“ für ein Wesensmerkmal des politischen Verbandes überhaupt. Am deutlichsten tritt für unser geschichtliches Bewußtsein der enge Zusammenhang von Staat und Verwaltung im 16. und 17. Jahrhundert zutage, als es zur Herausbildung von politischen Gemeinwesen kommt, die sich gerade durch ihren gut funktionierenden, bureaukratischen Apparat in charakteristischer Weise als „Staaten“ von den Rechtsgemeinschaften des mittelalterlichen bloßen „Rechtsbewahrstaates“ (ein treffender Ausdruck von Fritz Kern) abheben. Im übrigen setzt auch der parlamentarische Gesetzgebungsstaat mit seiner Trennung von Gesetz und Gesetzesanwendung für diese Gesetzesanwendung eine gesetzmäßig funktionierende, aber trotz ihrer Gesetzesunterworfenheit dennoch selbständige und unterscheidbare „Exekutive“ voraus. Doch kommt es hier auf das spezifische Rechtfertigungssystem an, in welchem der staatliche Verwaltungsapparat steht, und das war im 17. und 18. Jahrhundert die dynastische Legitimität des absoluten Fürsten.