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Eine junge Frau und die Herausforderung ihres Lebens
1961: Als die Berliner Lehrerin Helene ihre neue Stelle in Hessen an der deutsch-deutschen Grenze antritt, begegnet man ihr im ländlichen, erzkatholischen Ort zunächst mit Ablehnung. Der althergebrachte drakonische Erziehungsstil, die Gleichgültigkeit der Kollegen - für die engagierte Helene ist es ein Kampf gegen Windmühlen. In Tobias, dem Landarzt, findet sie schließlich einen Verbündeten. Schon bald bedeutet er ihr mehr, als ihr lieb ist. Denn Helene hat ein Geheimnis - sie ließ sich nicht ohne Grund genau an diesen Ort versetzen ...
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Seitenzahl: 571
1961. Als die junge Lehrerin Helene von der Großstadt ins ländliche, erzkatholische Hessen versetzt wird, begegnet man ihr zunächst mit Ablehnung. Der althergebrachte drakonische Erziehungsstil, die Gleichgültigkeit der Kollegen: Für die engagierte Helene ist es ein Kampf gegen Windmühlen. In Tobias, dem anfangs wortkargen, später jedoch deutlich zugänglicheren Landarzt, findet sie schließlich einen Verbündeten. Niemand ahnt: Ihre Versetzung aufs Land war kein Zufall. Denn mitten durch den Landstrich zieht sich die Grenze zur »Ostzone« …
Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem verdiente sie zunächst als Richterin und Rechtsanwältin ihre Brötchen, bevor sie die Juristerei endgültig an den Nagel hängte. »Vom Bücherschreiben kriegt man einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht.«
Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.
E V A V Ö L L E R
DieDorfschul-lehrerin
Wasdie Hoffnungverspricht
ROMAN
L Ü B B E
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anna Hahn, Trier
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.deunter Verwendung von Illustrationen von © arcangel: Elisabeth Ansley;© shutterstock: Jeka | grop | Quick-Sale.de | PushAnn
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-0983-5
luebbe.de
lesejury.de
Für Lioba
Ein beißend kalter Windstoß trieb Helene eine Ladung Schnee ins Gesicht. Sie zog sich die Mütze fester über die Ohren und sprach sich innerlich Mut zu. Weit konnte es nicht mehr sein. Zweieinhalb Kilometer, höchstens drei, hatte die Frau gemeint, die sie bis zur letzten Abzweigung mitgenommen hatte. Als Helene vor gut zwanzig Minuten aus dem Wagen ausgestiegen und losmarschiert war, hatte allerdings noch freie Sicht geherrscht, und auch die Straße war, obschon bereits ziemlich verschneit, noch passierbar gewesen. Doch mittlerweile hatte der Wind orkanartige Züge angenommen, und die Luft schien nur noch aus peitschendem Schneefall zu bestehen. Die Fahrbahn, auf der sie ging, war unter der weißen Decke kaum noch auszumachen. Einmal geriet sie versehentlich in den Straßengraben und versank fast bis zur Hüfte in einer Schneewehe. Unter Mühen und zahlreichen Flüchen kämpfte sie sich wieder frei und stapfte gegen den Wind gestemmt weiter.
Frühmorgens, bei ihrem Aufbruch in Frankfurt, hatte nichts auf einen derart massiven Wintereinbruch hingedeutet, es hatte dieselbe regenfeuchte, ungemütliche Witterung geherrscht wie die ganze letzte Woche über. Allerdings war es erst Anfang Februar, da war der Winter noch lange nicht vorbei, und in diesen Höhenlagen musste man natürlich auch vermehrt mit Schneefall rechnen.
Bis Hünfeld war sie noch gut mit dem Zug durchgekommen, doch von dort fuhren bei ihrer Ankunft wegen der einsetzenden Schneefälle bereits keine Busse mehr zu den Dörfern der Umgebung. Helene hatte sich schon auf eine längere Wartezeit eingerichtet, notfalls sogar eine Übernachtung, aber dann war ihr am Bahnhof eine Frau über den Weg gelaufen, die ebenfalls in die Rhön wollte und ihr anbot, sie ein paar Kilometer mitzunehmen.
Wenigstens trug sie einen gefütterten Mantel und warme Stiefel, dazu Wollmütze und Fäustlinge, und der Rucksack war auch nicht besonders schwer. Außerdem war es ja nur noch ein kurzes Stück, kaum mehr als ein Spaziergang. Angeblich. Inzwischen konnte sie durch den dicht fallenden Schnee fast nichts mehr sehen. Immer wieder kam sie vom Weg ab und landete im Graben. War das überhaupt noch die richtige Straße, oder hatte sie sich verlaufen, auf irgendeinen Feldweg, der ins Nirgendwo führte? Dann würde sie womöglich noch stundenlang hier herumwandern, weit entfernt von jeder menschlichen Behausung.
Trotz ihrer warmen Kleidung begann sie zu frieren. Die Temperatur musste stark unter den Gefrierpunkt gefallen sein, ihre Nasenspitze fühlte sich taub an, und auch ihre Hände in den Fäustlingen spürte sie kaum noch. Gerade als sie überlegte, ob es vielleicht besser sei, einfach hinter dem nächstbesten Baum Schutz zu suchen und auf ein Nachlassen dieses Wintersturms zu warten, tauchten vor ihr aus dem Zwielicht des Schneetreibens zwei Lichtkegel auf. Ein Wagen kam ihr entgegen, und Helene entwich ein erleichterter Seufzer – sie befand sich noch auf der regulären Straße! Und die Gegend war auch nicht so menschenleer und einsam, wie es vorhin noch den Anschein gehabt hatte, denn die sich nähernden Autoscheinwerfer erhellten ein Gehöft ganz in der Nähe. Beim Haus schien die Straße allerdings zu enden, jedenfalls soweit es durch das Schneegestöber zu erkennen war – die gesamte Umgebung bestand aus einer durchgehenden Schneedecke.
Der Wagen hielt neben ihr an, die Scheibe wurde herabgekurbelt. Ein Mann sprach sie durch das offene Fenster an. »Isabella?«
Sie wandte sich zu ihm um, damit er sehen konnte, dass er sie verwechselt hatte. »Ist das hier die Straße nach Kirchdorf?« Sie musste beinahe schreien, um den heulenden Wind und das Brummen des Motors zu übertönen.
»Nein, da sind Sie wohl vom Weg abgekommen«, sagte der Mann, womit sich Helenes eben noch gehegte Befürchtungen zu ihrem Schrecken bestätigten. Er wies auf das Bauernhaus. »Ich hab da vorn zu tun, aber wenn ich fertig bin, fahre ich zurück nach Kirchdorf und kann Sie mitnehmen. Zu Fuß kommen Sie bei dem Wetter nicht weiter. Steigen Sie ein.«
Das ließ Helene sich nicht zweimal sagen. Obwohl das Gehöft schon in Sichtweite war, nahm sie ihren Rucksack ab und warf ihn auf die Rückbank, ehe sie auf der Beifahrerseite einstieg.
»Danke«, sagte sie aus tiefstem Herzen. Sie zog ihre von Schnee und Eis schon ganz steifen Fäustlinge aus und blies sich in die kalten Hände. »Ich dachte schon, ich müsste hier draußen in der Einöde erfrieren!«
»Das hätte leicht passieren können«, gab der Mann zurück. »Ist jedenfalls hier in der Gegend schon vorgekommen.« Es klang nicht so, als würde er scherzen, und Helene musterte ihn verstohlen von der Seite. Sein sandfarbenes Haar war zu einem Bürstenschnitt gestutzt, fast so militärisch kurz wie bei den GIs, denen man in Hessen an jeder Ecke begegnete. Er war um die vierzig und sah mit seinen kantigen, wettergegerbten Gesichtszügen attraktiv, aber auch erkennbar besorgt aus. Nach einer Unterhaltung stand ihm offenbar nicht der Sinn, was ihr nur recht war.
Als er nach kurzer Fahrt vor dem Gehöft anhielt und ausstieg, blieb Helene im Auto sitzen, in der Annahme, dass sie hier auf ihn warten sollte, bis er in dem Haus fertig war, womit auch immer. Doch er streckte den Kopf durch die geöffnete Wagentür und sah sie ungeduldig an. »Nun kommen Sie schon, worauf warten Sie?« Dann holte er eine große abgewetzte Ledertasche aus dem Kofferraum und rannte damit auf den Hauseingang zu. Irritiert stieg Helene ebenfalls aus und folgte ihm zögernd. Jemand im Haus riss die Tür auf, und Helene hörte einen erleichtert klingenden Ausruf.
»Herr Doktor! Endlich!«
Eine alte Frau ließ sie ein, und Helene betrat hinter dem Fremden, bei dem es sich offensichtlich um den für diese Gegend zuständigen Landarzt handelte, das Haus. Bullige Wärme drang aus der Küche neben dem Flur, und wie schon vorhin im Wagen war Helene zutiefst dankbar, nicht länger der eisigen Kälte ausgesetzt zu sein. Bei allem, was ihr im Laufe des vergangenen Jahres widerfahren war, hatte die Kälte zu den Dingen gehört, die am schwersten zu ertragen waren.
Aus dem Obergeschoss des Hauses drang der lang gezogene Schmerzensschrei einer Frau. Helene zuckte erschrocken zusammen.
»Jetzt douerts höchstens zwä Minutte, doss Keind is fast do! Die Isabella kömmt wohl net mee durch bei dämm Schnee: De Eugen is mitem Bulldog los un wollt se hol, äbber dos wird nüscht mee. Muss es ebe ohne se geh«,1 erklärte die Alte aufgeregt im breiten Platt der hiesigen Rhön. Sie warf Helene einen fragenden Blick zu. »Oder senn Sie die Vertretung?«
»Nein, ich bin nur zufällig hier und fahre später mit dem Herrn Doktor weiter nach Kirchdorf«, sagte Helene höflich. »Ich bin die neue Lehrerin, mein Name ist Werner. Helene Werner.«
»Mir senn die Wiegands.« Die alte Frau zeigte durch die offene Küchentür auf einen großen, blankgescheuerten Holztisch. »Do is Mellich un Brot und Griebeschmaalz un off em Härd is noch Sopp. Ich honn genunk gekocht. Naahme Se sich, bann Se Honger honn.«
Der Arzt war bereits die hölzerne Stiege hinaufgeeilt, und die Alte folgte ihm, wobei sie um einiges länger brauchte als er, zumal sie beim Aufstieg eine Reihe von Kindern zur Seite scheuchen musste. Wie die Orgelpfeifen hockten sie auf den Stufen und starrten Helene neugierig an, zwei Jungen und drei Mädchen unterschiedlichen Alters – das jüngste Kind war vielleicht drei, das älteste höchstens zehn Jahre alt.
Das kleinste Mädchen weinte, augenscheinlich hatte es Angst. Es saß auf der untersten Stufe und schniefte erbärmlich. Spontan ging Helene vor der Kleinen in die Hocke.
»Wie heißt du denn?«
»Gabi.« Die Antwort kam von der nächstgrößeren Schwester, die eine Stufe höher saß.
»Ah. Und du?«
»Renate.«
Helene fasste die Geschwisterschar ins Auge.
»Wisst ihr eigentlich, wieso ich hier bei euch zu Hause bin?«, wandte sie sich erneut an Gabi, die immer noch weinte.
Stumm schüttelte die Kleine den Kopf.
»Na, ich hab mich im Schneesturm verlaufen, und da fand mich der Herr Doktor und hat mich gerettet.«
Gabi hörte auf zu weinen, und um sie weiter abzulenken, fragte Helene: »Wünschst du dir eine kleine Schwester oder lieber einen Bruder?«
Der älteste Junge mischte sich ein. »Mir müsse naahm, bos mer krieche!«
Helene unterdrückte ein Grinsen. »Gehst du in Kirchdorf zur Schule? Wie ist dein Name?«
»Ich bin Ernst und geh in die vierte Klasse.« Nun um eine hochdeutsche Ausdrucksweise bemüht, wies er auf zwei seiner Schwestern. »Renate geht in die erste und Rita in die zweite.«
»So ein Zufall. Dann krieg ich euch ja vielleicht alle drei im Unterricht! Da würde ich mich aber freuen!« Sie musste die Stimme erheben, um einen weiteren Schmerzensschrei von oben zu übertönen. Es klang schaurig, sie schluckte beklommen.
Immerhin, einen Teil ihrer künftigen Schulkinder kannte sie nun bereits, und sie prägte sich gleich die Namen ein. Ernst, Renate und Rita Wiegand.
Hauptsächlich die unteren Klassen, hatte der für den Landkreis zuständige Schulrat gesagt, dem sie sich in der vergangenen Woche vorgestellt hatte. Vielleicht auch noch zeitweise die Klassen fünf bis acht, aber höchstens mal vertretungshalber, wie er in beinahe entschuldigendem Ton hinzugefügt hatte. Helene hatte mit keinem Wort protestiert, im Gegenteil. Sie wolle sich, das hatte sie umgehend bekräftigt, allen Herausforderungen stellen. Bloß nichts äußern, das gegen sie sprach. Nur keine Zweifel aufkommen lassen, schon gar nicht an ihrer Kompetenz und ihrer Einsatzbereitschaft.
Die kleine Gabi wischte sich mit dem Ärmel das nasse Gesichtchen ab, die Tränen waren versiegt. In einer spontanen Aufwallung mütterlicher Gefühle strich Helene dem Kind übers Haar und musterte es dabei unauffällig. Wie seine Geschwister war es ärmlich gekleidet. Der Pullover war vom häufigen Waschen verfilzt, die Latzhose vielfach geflickt. Doch es fanden sich keine äußeren Anzeichen von Vernachlässigung – alle Kinder waren ordentlich gekämmt, sie hatten saubere Gesichter, und die Kleidungsstücke waren, obschon abgetragen, weder löchrig noch übermäßig schmuddelig. Und sie waren gut genährt. Es mochte in diesem Haushalt an allen Ecken und Enden das Geld für Anschaffungen fehlen, aber die Familie hatte satt zu essen.
Bei diesem Gedanken erinnerte sich Helene unwillkürlich an die Einladung der alten Frau und blickte durch die offene Küchentür zum Esstisch hinüber. Das aufgeschnittene Brot sah lecker aus, und vom Herd duftete es einladend nach der warmen Suppe. Vielleicht sollte sie wirklich eine Kleinigkeit essen, wer wusste schon, wann es die nächste Mahlzeit gab. Sie hatte zwar vor ihrem Aufbruch in Frankfurt reichlich gefrühstückt, aber das war lange her.
Großtante Auguste hatte sich wie immer in den letzten Wochen selbst überboten. Milchreis mit Zucker und Zimt und eingemachten Pflaumen, Toast mit Marmelade, Orangensaft, dazu eine ganze Kanne echter Bohnenkaffee – Helene hatte fast andächtig den Duft eingeatmet, sie hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass sie jetzt jeden Tag Kaffee trinken konnte.
Aus dem Obergeschoss erklang ein weiterer durchdringender Schrei, und Helene schlug sich auf der Stelle jeden Gedanken an Essen aus dem Kopf. Die auf der Treppe versammelten Kinder waren genau wie sie entsetzt zusammengefahren – und brachen im nächsten Moment in Jubel aus. Das Quäken eines neugeborenen Babys war zu hören.
Helene atmete erleichtert aus. Es war geschafft! Das war doch sehr viel schneller gegangen als gedacht, sie hatte sich bereits auf stundenlanges Warten gefasst gemacht.
Doch im nächsten Moment tönte das laute Rufen des Arztes durchs Haus. »Ich brauch hier sofort Hilfe!«, brüllte er.
Da er kaum die Kinder gemeint haben konnte, rannte Helene ohne nachzudenken die Treppe hinauf und durch den engen Flur zu dem Raum, aus dem gerade weitere Schreie der Frau drangen. Unter dem niedrigen Türbalken stand die alte Frau, die zur Seite wich, als Helene ins Zimmer trat. Sie hatte das greinende Neugeborene in ein blutbeflecktes Tuch gewickelt und hielt es in ihren Armen. Ihre faltigen Gesichtszüge waren von Angst verzerrt, und im selben Augenblick erkannte Helene den Grund – die Mutter des Babys verlor Unmengen von Blut. Mit angezogenen Beinen lag sie im Bett, die Schultern gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt, zwischen ihren Schenkeln die Nachgeburt. Der Arzt kniete dicht neben ihr und drückte mit beiden Händen auf ihren Bauch. Er fluchte unterdrückt vor sich hin.
»Was kann ich tun?«, fragte Helene voller Entsetzen.
»Ich brauche Schnee. Eis. Möglichst viel davon! Schnell!«
Helene rannte die Treppe hinunter, stürzte zur Haustür hinaus. Der kalte Wind fuhr ihr schneidend ins Gesicht, und während sie versuchte, den Schnee mit bloßen Händen vom Boden aufzuklauben, wurde ihr klar, dass sie auf diese Weise nicht genug davon ins Haus befördern konnte. Sie nahm ihre Mütze aus der Manteltasche und stopfte sie in hektischer Eile mit Schnee voll. Dabei sah sie neben dem Haus eine volle Regentonne stehen. Kurz entschlossen zog sie einen ihrer Stiefel aus und schlug mit dem Absatz die Eisschicht auf dem Regenwasser entzwei. Sie ergriff einige der größeren Bruchstücke, um auch diese mitzunehmen.
Mit der prall gefüllten Mütze hetzte sie an den Kindern vorbei wieder nach oben. Verängstigte Ausrufe begleiteten sie auf ihrem Weg zur Schlafkammer, das älteste Mädchen wollte ihr folgen, doch oben an der Treppe erschien die alte Frau und scheuchte das Kind zurück.
Helene rannte weiter in die Kammer und reichte dem Arzt die Mütze mitsamt Schnee und Eis. Der presste das ganze Ding so, wie es war, mit aller Kraft gegen den Unterleib der frisch entbundenen Frau. Dabei verharrte er in angespannter Haltung. Seine Schultern zitterten vor Anstrengung. Die Muskeln an seinem Nacken traten hervor, und Helene sah an seiner Schläfe eine Ader pochen.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Frau, die mit bleichem Gesicht dalag und vor sich hin stöhnte, während der Arzt um ihr Leben kämpfte. Die eisige Kompresse entfaltete Wirkung. Zwischen den Beinen der Frau quoll immer noch Blut hervor, aber nicht mehr schwallweise wie eben noch, sondern in deutlich geringerer Menge, bis es schließlich versiegte.
Nach scheinbar endlosen Augenblicken entspannte sich der Arzt und lockerte seinen Griff. Seine Schultern sanken herab, die bedrohliche Situation war gemeistert.
»Verflucht, Liesel, das war knapp«, sagte er zu der Frau. »Jetzt hörst du aber auf mit dem Kinderkriegen, oder?«
»Sag das dem Eugen«, gab die Frau mit schwacher Stimme zurück, und obwohl sie gerade um Haaresbreite dem Tod entronnen war, lächelte sie schwach. Helene lehnte mit wackligen Knien am Türrahmen und holte tief Luft.
Der Arzt drehte sich zu ihr um und musterte sie besorgt. »Geht’s? Nicht, dass Sie mir noch umkippen.«
»Alles in Ordnung«, behauptete Helene, obwohl sie drauf und dran war, sich zu übergeben. Das viele Blut, der Hauch des Todes, der eben noch durch das Zimmer geweht war – wie gut, dass sie vorhin trotz des Angebots nichts gegessen hatte, denn das hätte sie in diesem Moment zweifelsohne alles wieder ausgespuckt. So musste sie nur ganz kurz würgen und ein paarmal durchatmen. Mit zitternden Händen zog sie ihren Stiefel wieder an.
»Das Kind?«, fragte die Frau auf dem Bett mit banger Miene.
Die Alte stand mit dem Baby in der offenen Tür. Es hatte aufgehört zu weinen und lugte mit großen Augen aus der Decke hervor, in die es eingewickelt war.
»Dem geht’s gut«, erklärte die alte Frau.
»Gib es mal her«, sagte der Arzt. Er nahm das Neugeborene entgegen, wickelte es aus der Decke, untersuchte es und prüfte einige Reflexe, ehe er mittels eines Skalpells aus seinem Arztkoffer die Reste der Nabelschnur entfernte und den Stumpf mit einer Kompresse versah.
»Alles wie es sein soll«, sagte er. »Ein hübsches kleines Mädchen.«
Das Kind hatte wieder angefangen zu krähen, und der Arzt lachte, was eine erstaunliche Veränderung bei ihm bewirkte. Sein eben noch so grimmiger Gesichtsausdruck verschwand, mit einem Mal sah er Jahre jünger aus, beinahe lausbubenhaft.
Mit schwachem Schaudern schaute Helene zu, wie er die Nachgeburt begutachtete. Das Ergebnis schien ihn zufriedenzustellen, er nickte erleichtert.
»Wie soll das Kind denn heißen?«, fragte er anschließend die Frau auf dem Bett.
Diese richtete ihre dunkel umflorten Augen auf Helene.
»Wie heißen Sie denn?«
»Helene«, erwiderte Helene verdutzt.
»Dann soll das Kind auch so heißen.«
»Ein schöner Name.« Der Arzt reichte der frischgebackenen Mutter das Baby und stand vom Bett auf. Er dehnte den verspannten Rücken und wandte sich dann zu Helene um.
»Danke übrigens.«
»Ach, das war doch nichts Besonderes«, wehrte sie ab.
»Doch, das war’s, es ging buchstäblich um Sekunden.« Sein Lächeln war verflogen, er sah wieder ernst aus und deutete eine etwas steife Verbeugung an. »Ich fürchte, ich habe mich noch nicht vorgestellt, es ging vorhin alles so schnell. Entschuldigen Sie das Versäumnis. Tobias Krüger.« Er streckte Helene die Hand hin, riss sie jedoch sofort wieder zurück, als Helene sie ergreifen wollte. Erneut entschuldigte er sich bei ihr. »Tut mir leid, aber ich sollte mir wohl besser erst mal die Hände waschen.«
Das musste er in der Tat; seine Hände und Unterarme waren bis zu den aufgekrempelten Hemdsärmeln blutbesudelt.
Während er sich wieder der Frau auf dem Bett zuwandte und ihr für die kommenden Tage Anweisungen gab, ging Helene zurück nach unten und erzählte den wartenden Kindern, dass sie ein neues Schwesterchen hatten. Sie schmierte ihnen in der Küche Schmalzbrote und fütterte die kleine Gabi mit Suppe, und als Tobias Krüger nach einer Weile ebenfalls von oben herunterkam und zum Händewaschen an den Spülstein trat, hatte sie das Gefühl, die Lage bestens im Griff zu haben.
Dies war der erste Tag ihres neuen Lebens. Es würde sich alles wieder zum Guten wenden. Natürlich nicht sofort; ihr war bewusst, dass es nicht heute und nicht morgen passieren würde. Aber gewiss sehr bald. Und bis dahin würde sie das tun, womit sie sich die ganzen letzten Monate am Leben gehalten hatte – mit aller Kraft hoffen.
*
Tobias konzentrierte sich schweigend aufs Fahren. Etliche andere Fahrzeuge, die vor ihm hier entlanggekommen waren, hatten breite Spurrillen im Schnee hinterlassen, sodass der Verlauf der Straße problemlos zu erkennen war. Dank der Schneeketten ging es recht gut voran. Im Winter gehörten die Ketten hier auf dem Land quasi zur ärztlichen Grundausrüstung.
Mittlerweile schneite es nicht mehr. Die Wolkendecke war an manchen Stellen aufgerissen und der Himmel dahinter erstaunlich klar, aber das Blau war bereits von purpurnen Schatten durchzogen. Es würde bald dunkel werden. Die Sonne war vor ein paar Minuten hinter den Bergen verschwunden. Flammendes Abendrot umriss die schneebedeckten Hügel und schuf eine malerische Silhouette vor dem leuchtenden Horizont.
Kegelspiel, so nannte man diesen von prägnanten Basaltformationen gekennzeichneten Gebirgsausläufer im Nordwesten der Rhön. Einer Sage zufolge hatten einst Riesen in dieser Gegend eine Kegelbahn besessen, daher der Name.
Tobias widerstand dem Drang, häufiger als nötig den Blick auf die Beifahrerin neben ihm zu richten. Was hatte eine Frau, die so aussah und auftrat wie diese Helene Werner, hier am Ende der Welt verloren? Schon ihre körperliche Erscheinung war ungewöhnlich. Groß, gertenschlank, das helle Haar zu eigenwilligen kurzen Locken gestutzt – sie stach von allen Frauen ab, die Tobias kannte.
Was erhoffte sie sich davon, eine Arbeit auf dem Land anzunehmen? Sicher, sie war Volksschullehrerin, und Leute wie sie wurden hier dringend gebraucht. Im Zonenrandgebiet herrschte ein geradezu verzweifelter Mangel an Lehrkräften, nur ein Teil der Planstellen konnte längerfristig besetzt werden. Vereinzelt wurde versucht, dem Missstand mit unerfahrenen Junglehrern abzuhelfen, doch die waren von den Zuständen in den Dorfschulen zumeist heillos überfordert. Klassenstärken jenseits des Erträglichen, dazu regelmäßig unterschiedliche Altersgruppen in einem Raum – das hielten nur erfahrene Pädagogen auf Dauer durch, und die konnten sich bessere Stellen aussuchen. In Kirchdorf gaben sich folglich seit Monaten die Vertretungskräfte die Klinke in die Hand. In permanent wechselnder Folge versuchten sie mehr schlecht als recht, den Schulbetrieb irgendwie aufrechtzuerhalten. Kaum waren sie aufgetaucht, verschwanden sie auch schon wieder und wurden durch andere ersetzt, es herrschte ein einziges Kommen und Gehen.
Diese vom Landkreis entsandten Aushilfslehrer stammten allerdings alle aus der Gegend. Helene Werner hingegen kam aus Berlin, und das war wahrhaftig weit weg.
Tobias hatte versucht, eine unverbindliche Unterhaltung in Gang zu bringen. Aber auf die zwei, drei beiläufigen Fragen, die er Helene bisher gestellt hatte, waren nur einsilbige und erschöpft klingende Antworten gekommen, und ehe sie ihn für aufdringlich halten konnte, hielt er lieber den Mund. Bisher hatte er folglich nur in Erfahrung gebracht, dass sie aus Berlin kam, seit gut sechs Jahren im Beruf stand und fürs Erste im Goldenen Anker logierte.
Eine Aura von Unnahbarkeit schien sie zu umgeben, und er hätte schon ein Volltrottel sein müssen, um nicht zu merken, dass sie sich nicht unterhalten wollte.
Außer vielleicht mit den Wiegand-Kindern. Mit denen hatte sie gescherzt, ihnen Brote geschmiert und beim Essen Geschichten erzählt. Zum Beispiel die über die kegelnden Riesen in der Rhön, woher auch immer sie die kannte.
Als sie dort mit den Kindern am Tisch gesessen hatte, war er drauf und dran gewesen, ihr zu sagen, dass sein achtjähriger Sohn Michael ebenfalls auf die Schule ging, an der sie unterrichten würde. Doch bevor er darauf zu sprechen kommen konnte, war von draußen das Knattern von Eugen Wiegands Trecker ertönt, und Isabella war endlich doch noch eingetroffen. Während Eugen sogleich wie ein Verrückter nach oben gestürmt war, um nach seiner Frau und dem jüngsten Töchterchen zu sehen, hatte Tobias die Hebamme kurz mit Helene bekannt gemacht und sie dann über alle Einzelheiten der Entbindung ins Bild gesetzt. Isabella besaß eine Menge Erfahrung, er konnte ihr guten Gewissens die Nachsorge überlassen.
Liesel Wiegand würde sich bei entsprechender Umsicht rasch erholen, auch wenn es für kurze Zeit ziemlich schlecht um sie ausgesehen hatte, eine Uterusatonie, die ihm den Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte. Es war aus seiner Sicht reiner Dusel, dass die Kältekompresse auf Anhieb gewirkt hatte und dass er nicht zu anderen, wesentlich invasiveren und blutigeren Interventionen gezwungen gewesen war. Er hatte zwar in der Geburtshilfe notgedrungen einiges dazugelernt, seit er vor knapp acht Jahren die väterliche Praxis übernommen hatte, aber von Haus aus war er Internist, kein Gynäkologe. Wenn die Hebamme ihn in schwierigen Fällen hinzurief, ließ er lieber oft gleich den Rettungswagen kommen, der die Frauen zügig ins Krankenhaus beförderte. Sicher war sicher. Er war ohnehin kein Freund von Hausgeburten, da konnte einfach zu viel schiefgehen, wie er heute wieder festgestellt hatte.
Sie waren fast da. Im schwindenden Tageslicht tauchte das Dorf vor ihnen auf, überragt vom spitzen Turm der mittelalterlichen Kirche.
»Da wären wir«, sagte er ein wenig hölzern, während er vor dem Goldenen Anker anhielt. Das Gasthaus lag ebenso wie die Kirche, das Rathaus und die Schule an dem lang gestreckten Dorfplatz, der unter der Schneedecke wie ein weites weißes Feld wirkte.
Tobias stieg aus und wollte um den Wagen herumgehen, um Helene Werner die Tür zu öffnen, doch sie war bereits ausgestiegen und holte ihren Rucksack aus dem Fond.
»Vielen Dank, dass Sie mich mitgenommen haben«, sagte sie.
»Ich habe Ihnen zu danken«, erwiderte Tobias, und es war sein voller Ernst. »Ohne Sie hätte das kleine Mädchen jetzt vielleicht keine Mutter mehr.«
In ihren Zügen zeigte sich eine Andeutung von Schmerz, aber vielleicht spielten seine Augen ihm auch einen Streich, weil es allmählich dunkel wurde. Trotzdem blieb er nach der Verabschiedung noch für einige Sekunden stehen und blickte ihr nach, als sie hinüber zum Gasthof ging.
*
Helene hatte mit der Inhaberin vom Goldenen Anker bereits vorab telefonisch einen monatlichen Pauschalpreis für Kost und Logis vereinbart. Es war nicht ganz billig, aber sie würde zurechtkommen. Sie stellte keine großen Ansprüche.
Die Gastwirtin hieß Martha Exner und war eine füllige Frau mittleren Alters, die Helene in breitem Rhöner Platt willkommen hieß und ihr sofort eine gewaltige Abendmahlzeit auftischte, bestehend aus Unmengen von Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und eingelegter rote Bete.
»Es wärd Ziet, däss e neu Lehrerin kömmt«, meinte sie aufgeräumt, während sie sich vergewisserte, dass Helene auch tüchtig zulangte. »Hoffentlich blinn Se länger als di annere. On mimm Ässe solls net lei.«
Nein, an dem wirklich leckeren Essen würde es gewiss nicht liegen, wenn Helene hoffentlich früher als erwartet ihre Zelte im Dorf wieder abbrach, aber das behielt sie lieber für sich.
Sie bedankte sich höflich für die reichhaltige Mahlzeit und ging anschließend mit Martha Exner nach oben, um sich ihre neue Bleibe zeigen zu lassen.
Ihr Zimmer lag unterm Dach und wurde noch mit einem alten Ofen beheizt. Die Kohle musste Helene sich selbst aus dem Keller holen, aber daran störte sie sich nicht – sie hatte schon als Kind täglich in den Kohlenkeller runtergemusst.
Die Einrichtung der Dachkammer bestand aus einem Sammelsurium alter Möbel, es sah aus, als wäre bei diversen Haushaltsauflösungen immer mal ein Teil übrig geblieben, das hier im Mansardenkämmerchen des Gasthauses noch Verwendung fand. Das Bett quietschte erbärmlich, das Gestell war uralt. Die Matratze war ziemlich durchgelegen, aber die Laken waren peinlich sauber, und Martha Exner hatte auch für frische Handtücher gesorgt.
Für Schreibarbeiten stand ein wurmstichiger kleiner Sekretär zur Verfügung. Die Klappe ließ sich zwar nur mit Gewalt öffnen und hing leicht durch, aber das Ding würde seinen Zweck erfüllen.
Helene konnte das Badezimmer der Inhaberfamilie mitnutzen, zu der außer Martha Exner nur deren kriegsversehrter Vater gehörte. Albert Exner hatte nur noch einen Arm und ein Auge, war aber dessen ungeachtet meist bester Laune und riss gern Witzchen über seine eigene Behinderung.
»Mer konn aa mit äm Aach de schönne Weiber zugezwinker«, sagte er bei der ersten Begegnung zu Helene und führte es ihr prompt vor.
Helenes Pläne, die Gegend auszukundschaften, lagen in den beiden Tagen nach ihrer Ankunft fürs Erste auf Eis. Draußen türmte sich immer noch der Schnee. Martha Exner hatte erzählt, dass man kaum aus dem Ort herauskam, und die Fußwege abseits des Dorfs waren erst recht nicht passierbar. Folglich kam Helene in den ersten zwei Tagen nur zum Essen aus ihrem Zimmer. In der großen, verräucherten Gaststube saß sie für sich allein und versuchte, die neugierigen Blicke der übrigen Anwesenden zu ignorieren, ebenso deren lärmende Unterhaltungen, das laute Lachen, den Zigarettenqualm. Meist ging sie erst zu Tisch, wenn der Andrang nachgelassen hatte und die Leute schon wieder gegangen waren. Sie redete nicht viel, nur das Nötigste. Wenn sie schlief, hatte sie wirre Träume, aus denen sie oft hochschreckte. Häufig war sie in Gedanken versunken und versuchte, Pläne zu schmieden. Pläne, auf deren Verwirklichung sie kaum Einfluss nehmen konnte. Mehr als hierherzukommen hatte sie bisher nicht tun können, und wie alles weiterging, stand in den Sternen.
1Einige Platt-Wendungen werden am Ende des Romans erklärt
Der dritte Tag war ein Sonntag, folglich überwand sie notgedrungen ihre Scheu vor der Öffentlichkeit und ging zur Kirche, wie es sich für die Lehrerin einer katholischen Dorfschule gehörte. Ein Spalier neugieriger Menschen aller Schichten und Altersklassen säumte ihren Weg, und im ersten Moment kam es Helene so vor, als müsse sie einen Spießrutenlauf absolvieren. Doch dazu kam es nicht, denn fast sofort trat ein Mann auf sie zu und begrüßte sie mit festem Handschlag. In ungezwungenem Ton stellte er sich als Bürgermeister des Ortes vor.
Sein Name war Brecht. »Wie der andere Brecht, nur ohne Bertolt, dafür mit Harald«, erklärte er, und diesen nur mäßig witzigen Kalauer quittierte Helene pflichtschuldigst mit einem Lachen. Für einen Amtsträger seiner Funktion erschien er ihr erstaunlich jung, er war höchstens Mitte dreißig. Und er sah recht gut aus – auf eine entfernte Art ähnelte er mit seinem schmalen Schnurrbart und dem offenen Lächeln dem Schauspieler Clark Gable.
»Gefällt es Ihnen denn hier in unserem schönen Kirchdorf?«, wollte er wissen, und weil eine andere Antwort kaum zur Debatte stand, bejahte sie die Frage.
Umgehend stellte er sie diversen anderen Honoratioren vor, Helene kam sich vor wie das Schaustück einer Ausstellung. Harald Brecht machte sie mit dem Pfarrer bekannt, dem Apotheker, dem Inhaber des örtlichen Kolonialwarenladens, dem Eigentümer des Sägewerks, dem Besitzer der Autowerkstatt, und danach noch mit einigen mehr. Die meisten Männer hatten ihre Ehefrauen dabei, es war ein reges Händeschütteln. Helene bemühte sich derweil redlich, die genannten Namen und Funktionen im Kopf zu behalten, und fragte sich, wie sie wohl auf die Leute wirken mochte. In manchen Blicken meinte sie es lesen zu können.
Zu groß. Zu dünn. Zu schäbig gekleidet. Typisch Ostzone, die armen Schweine, denen man Päckchen schicken muss, weil es die guten Sachen da nicht gibt. Kaffee, Nylons, richtige Schokolade – davon können die nur träumen.
Dabei lebten auch hier im Dorf eine Menge Menschen, die sich all das kaum leisten konnten. Schon an der Kleidung der Betreffenden war zu erkennen, dass sie zum ärmeren Teil der Bevölkerung gehörten. Von ihnen war in den Augen des Bürgermeisters anscheinend niemand wichtig genug, um an dieser Vorstellungsrunde teilzuhaben.
»Da vorn wartet schon unsere hiesige Lehrerschaft«, erklärte Harald Brecht launig, während er Helene zu einer weiteren Gruppe dirigierte, die aus drei Männern und einer Frau bestand.
Er wandte sich an den ältesten der Männer. »Herr Rektor, hier bringe ich Ihnen unsere langersehnte neue Lehrerin!«
Der Rektor war ein stattlicher Mann Mitte sechzig, der Helene mit herzhaftem Händedruck und breitem Lächeln willkommen hieß. »Gestatten, Ignaz Winkelmeyer, Rektor.«
»Helene Werner«, stellte sie sich vor.
»Ich weiß, steht ja in den Personalunterlagen. Wie sehr es mich freut, Sie endlich hier begrüßen zu dürfen! Sie ahnen nicht, wie dringend Sie hier gebraucht werden, Fräulein Werner!«
»Frau Werner, bitte«, sagte Helene.
»Ach, Sie haben einen Ehemann?«, fragte der Rektor erstaunt. Er sah sich suchend um. »Ist er hier?«
»Ich bin verwitwet«, erklärte Helene wahrheitsgemäß. Die kurze Aufwallung von Freude über die herzliche Begrüßung verflog. Sie fragte sich, warum er sich das nicht gemerkt hatte, schließlich war auch ihr Personenstand in ihren Unterlagen vermerkt.
Sie verdrängte das ungute Gefühl und konzentrierte sich auf die anderen drei Lehrer, die der Rektor ihr der Reihe nach vorstellte.
Der Kollege Wessel war ein hagerer Mittfünfziger mit leidendem Gesichtsausdruck. Er lispelte stark beim Sprechen, und Helene ahnte, dass er in der Schule schlimm unter diesem Sprachfehler zu leiden hatte. Wahrscheinlich war er ein Opfer ständigen Spotts. Nachdem er ihr die Hand geschüttelt hatte, rieb er sich unauffällig die Finger an der Hosennaht ab. Er versuchte, es zu verbergen, aber Helene sah es trotzdem. Ein wenig pikiert wandte sie sich der einzigen Frau des Lehrerkollegiums zu. Fräulein Meisner war eine korpulente Person Ende vierzig, sie wirkte verkniffen und ablehnend.
Der letzte Lehrer des Kollegiums wurde ihr als Herr Göring vorgestellt, ein Mann mit akkurat gescheiteltem Haar, makellos glatt rasiertem Gesicht und sorgfältig manikürten Händen. Er war jünger als die anderen, etwa Ende dreißig, doch Helene fand auch ihn nicht sonderlich sympathisch. Sein Lächeln wirkte gekünstelt, der Blick unstet, der Händedruck schlaff.
Rektor Winkelmeyer unterbreitete einen Vorschlag. »Frau Werner, was halten Sie davon, wenn ich Ihnen heute noch die Schule zeige? Sagen wir, direkt nach dem Mittagessen, um zwei Uhr? Dann haben Sie alles schon mal gesehen, ehe es morgen mit dem Unterricht losgeht! Und bei der Gelegenheit kann ich Ihnen auch gleich die Stundenpläne und die Lehrberichte Ihres Vorgängers mitgeben. Dann müssen wir morgen vor dem Unterricht gar nichts mehr groß besprechen.«
»Gern«, stimmte Helene höflich zu. Sie atmete auf, als die Vorstellungsrunde endlich abgeschlossen war. Von den künftigen Kollegen war ihr nur der Rektor mit offener Freundlichkeit gegenübergetreten, nicht gerade ein guter Schnitt. Doch sie war ja nicht hergekommen, um neue Freunde zu finden.
In der Menge entdeckte sie ein bekanntes Gesicht – es war der Arzt, Tobias Krüger, der auf dem Weg zur Kirche näher kam und bei ihr stehen blieb. Er war in Begleitung einer älteren Frau sowie eines Jungen erschienen, ein rothaariger Knirps mit Sommersprossen und verträumter Miene.
»Meine Tante Beatrice Krüger, mein Sohn Michael«, stellte er die beiden vor. »Er ist acht Jahre alt und geht in die dritte Klasse. Michael, das ist die neue Lehrerin, Frau Werner. Sag ihr bitte guten Tag.«
Der Kleine machte brav einen Diener. »Guten Tag, Frau Lehrerin.«
Auch die ältere Frau schüttelte Helene kurz die Hand. Sie war um die siebzig und hatte ein fröhliches rundes Gesicht. Unter dem Kapotthut quollen graue Löckchen hervor.
Aus der Kirche ertönte Orgelspiel, es war Zeit, hineinzugehen. Tobias steuerte auf eine freie Bank zu und ließ seiner Tante sowie seinem Sohn den Vortritt, und Helene, die direkt hinter ihm ging, nahm ohne groß nachzudenken zu seiner anderen Seite Platz. Als nach ihr weitere Leute in die Bank drängten, musste sie aufrücken, bis sie unversehens Schulter an Schulter mit Tobias saß. Die unbeabsichtigte Berührung war ihr unangenehm und machte sie nervös. Sie war eine solche körperliche Nähe nicht mehr gewöhnt, erst recht nicht zu einem Mann. Das Ende der Messe empfand sie daher als Erlösung, und sie gehörte zu den Ersten, die aufstanden und nach draußen strebten, wo sie eilig hinüber zum Gasthaus lief.
Für den restlichen Vormittag vergrub sie sich in ihrem Zimmer und ging auch nicht zum Mittagessen hinunter.
*
Rektor Winkelmeyer erschien erst eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit. Helene, die vorsorglich ein paar Minuten früher eingetroffen war, stand vor dem Schulgebäude und stampfte frierend von einem Fuß auf den anderen. Die Temperaturen waren gegenüber den Vortagen zwar merklich gestiegen, aber die feuchtkalte Luft machte das Warten nicht angenehmer.
Rektor Winkelmeyer begrüßte sie mit derselben Jovialität wie am Morgen vor der Kirche. Strahlend schüttelte er ihr die Hand. Dass er sie hatte warten lassen, schien ihn nicht weiter zu stören.
»SBZ-Lehrkräfte hatten wir hier noch nicht«, bemerkte er, während er Helene in das Schulgebäude führte. So, wie er den Begriff benutzte, klang es unvoreingenommen, sogar interessiert und freundlich, doch wie immer, wenn Helene diesen Ausdruck hörte, versetzte es ihr einen Stich.
SBZ. Sowjetisch besetzte Zone. Es war eine amtliche Bezeichnung, doch zugleich spiegelte es auch wider, wer sie war – ein Flüchtling, eine Davongekommene. SBZ, das war hierzulande ein subtiler Hinweis darauf, dass es von ihrer Sorte eigentlich schon viel zu viele gab, mehr als das Land brauchte. Und täglich kamen neue dazu, Hunderte, zuletzt Tausende, und die Willkommensfreude hielt sich in Grenzen. Das war Helene schon in dem von Menschen überquellenden Aufnahmelager klar geworden.
»Wie schön, dass Sie ab morgen zum Kollegium gehören!«, sagte Rektor Winkelmeyer, und es klang so aufrichtig begeistert, dass Helene es kaum fassen konnte. Hier musste ja wirklich Not am Mann herrschen!
»Ich freue mich ebenfalls sehr auf meine Arbeit hier«, antwortete sie. »Und ich verspreche, mein Bestes zu geben!«
Dasselbe hatte sie bei ihrem Einführungsgespräch auch zum Schulrat gesagt. Indessen taugte ihr Bestes ohnehin nur begrenzt für den bundesdeutschen Schuldienst, wie man ihr zu verstehen gegeben hatte. Ihre Qualifikation, so hatte der Schulrat freimütig erläutert, sei leider nur ausreichend für eine befristete Anstellung als Hilfslehrerin. Dass sie an einer richtigen Universität studiert hatte und keine aus irgendwelchen DDR-Schnellkursen hervorgegangene Neulehrerin war – geschenkt.
»Mit Verlaub, junge Frau, ein Universitätsstudium in der Ostzone will nicht viel heißen, da besteht der Lehrplan ja hauptsächlich aus politischer Agitation, das ist eine allseits bekannte Tatsache.«
Aber natürlich sei sie nicht chancenlos, auch als SBZ-Lehrerin winke ihr ein Aufstieg – lediglich zwei Semester Zusatzstudium an einer Pädagogischen Hochschule des Landes Hessen, und schon könne man sie ins Beamtenverhältnis übernehmen!
Rektor Winkelmeyer riss sie aus ihren Gedanken.
»Ich gehe übrigens zu Ostern in Pension«, informierte er sie leutselig. »Vom Schulamt soll noch eine Vertretung kommen, aber das kann dauern. Die haben ja niemanden. Einstweilen wird dann wohl Herr Wessel als Konrektor die Schulleitung übernehmen.«
Helene musste schlucken. Wie sollte das funktionieren? Der gesamte Lehrkörper bestünde nach der Pensionierung des Rektors nur noch aus vier Personen, sie selbst mitgezählt.
Die Schule war jedoch fünfklassig, wie sie aus dem Gespräch mit dem Schulrat wusste. Erstes und zweites Schuljahr in einer Klasse zusammengelegt, drittes und viertes in der nächsten, desgleichen das fünfte und sechste. Lediglich das siebte und achte war, wie der Schulrat ihr berichtet hatte, seit ein paar Jahren auf zwei Klassen verteilt.
»Die beiden oberen Klassen müssen nach meiner Pensionierung bis zum Eintreffen einer neuen Lehrkraft zwangsläufig wieder zusammengelegt werden«, fuhr Rektor Winkelmeyer fort. »Und wenn mal Not am Mann ist und jemand ausfällt, auch die anderen Klassen. Das tun wir sowieso andauernd. Zum Glück sind die Klassenräume groß genug, und der Hausmeister und seine Frau haben schon Übung im Umhertragen der Tische und Bänke.« Es klang fast vergnügt, als wäre das alles überhaupt kein Problem.
»Fällt denn oft jemand aus?«, erkundigte Helene sich vorsichtig.
»Sehr oft. Fräulein Meisner – nun ja, sie ist von einer etwas schwächlichen Konstitution. Und Herr Wessel nicht minder, der hat’s am Rücken. Nur, dass Sie schon mal Bescheid wissen.«
Helene musste nicht nachfragen, was das für sie bedeutete. Fräulein Meisner war wie Herr Göring für die unteren und mittleren Klassen zuständig. Und Herr Wessel unterrichtete wie der Rektor in den Jahrgangsstufen sieben und acht. Wenn er wegen seiner Rückenprobleme krankgeschrieben war, musste jemand anderes aus dem Kollegium einspringen. Zusätzlich und neben dem eigenen Unterricht.
»Deshalb waren wir so froh über Ihre Bewerbung, da Sie in allen Jahrgangsstufen Erfahrung haben«, meinte Rektor Winkelmeyer in lockerem Plauderton, während er Helene mit einem sonnigen Lächeln bedachte. Sie lächelte automatisch zurück. Er schien ein wirklich umgänglicher Mensch zu sein, aber irgendetwas an ihm kam ihr seltsam vor, ohne dass sie hätte sagen können, was es war.
»Einen Ehemann haben Sie wohl nicht, oder?«, fragte er. Die Frage klang arglos. Dann hielt er inne und furchte grübelnd die Stirn. »Darüber sprachen wir schon, oder? Na, egal, wir wollen uns ja noch die Schule ansehen, deswegen sind Sie schließlich hier, nicht wahr?«
Helene nickte stumm, sie wusste jetzt, was sie an ihm irritiert hatte. Das war nicht nur einfache Gedankenlosigkeit oder Vergesslichkeit. Offensichtlich ließen seine geistigen Kräfte nach. Der arme Mann! Seine Pensionierung kam für ihn sicher gerade zur rechten Zeit. Dass man ihn nicht längst vorzeitig aus dem Schuldienst entfernt hatte, war bestimmt nur auf die extreme Lehrerknappheit zurückzuführen; man wollte ihn wahrscheinlich so lange auf seinem Posten halten wie irgend möglich. Wie er unter diesen Umständen wohl seinen Unterricht und die erforderliche Verwaltungsarbeit bewältigte? Ob ihm dabei die Routine half?
Doch anscheinend beschränkten sich seine Ausfälle auf vereinzelte Aussetzer. Als er erneut sprach, klang es wieder durchaus sachlich.
»Die meisten Lehrkräfte mit jahrelanger Unterrichtserfahrung wollen in die Stadt. Sie sind die Erste, die sich direkt hierher beworben hat. Ich meine – jemand wie Sie, der aus Berlin kommt! Die Gegend hier an der Zonengrenze muss Ihnen doch hinterwäldlerisch erscheinen!« Er hatte es nicht als Frage formuliert, schien aber eine Erklärung zu erwarten.
»Die Rhön habe ich schon als Kind sehr geliebt«, sagte sie, und das war die reine Wahrheit.
Zu ihrer Erleichterung gab er sich damit zufrieden und stellte keine weiteren Fragen. Stattdessen führte er sie in der Schule herum und zeigte ihr die einzelnen Räume. Dabei legte er einen merkwürdigen Besitzerstolz an den Tag. Sein Blick für die Realität war jedoch eindeutig getrübt, es gab nichts zu sehen, was man hätte bewundern können.
Das Gebäude hatte etliche Jahrzehnte auf dem Buckel, ebenso wie die Einrichtung. In den Klassenzimmern standen ramponierte Tische und Bänke. Der Wandanstrich war verschrammt, die Schränke wurmstichig, der Belag der Schiefertafeln an manchen Stellen abgeplatzt.
Auch die Ausstattung im Lehrmittelraum war alles andere als gepflegt, wie Helene mit einem Blick erkannte. Die Landkarten waren zerfleddert, Globen und Atlanten stammten noch aus Vorkriegszeiten. Einige technische Gerätschaften wie ein Mikroskop, ein Radio oder ein Diaprojektor waren zwar vorhanden, aber von einer dicken Staubschicht überzogen, folglich wurden sie wohl nur selten genutzt. Weiterer Unterrichtsbedarf war wie Kraut und Rüben in den Regalen verteilt, als hätte niemand sonderliches Interesse daran, hier Ordnung zu halten.
Wenigstens die Heizung war irgendwann vor nicht allzu langer Zeit erneuert worden, in den Räumen gab es moderne Heizkörper, die mit Öl betrieben wurden.
Nur mit halbem Ohr lauschte Helene dem unaufhörlichen Redestrom des Rektors, der ihr während der Besichtigung alle möglichen – teils sehr privaten – Informationen über den Rest des Kollegiums zuteilwerden ließ, ehe er sich in lauter nebensächlichen Einzelheiten über stattgefundene und noch bevorstehende dörfliche Ereignisse erging. Der runde Geburtstag des Herrn Pfarrer. Die Fastnachtsfeier des Schützenvereins. Die Sitzung des Gemeinderats zur Modernisierung der Kanalisation. Die Einweihung des neuen Löschwagens der Feuerwehr. Nichts davon interessierte sie wirklich, doch zugleich war sie froh, dass er sie nicht mit Fragen behelligte.
Der Rundgang führte weiter in den Werkraum, gefolgt vom Nähzimmer für den Handarbeitsunterricht. Wie üblich wurden Jungen und Mädchen in diesen Fächern getrennt unterrichtet – Mädchen lernten den Umgang mit Nadel und Faden, Jungen den mit Hammer und Säge. Die Handarbeitslehrerin war eine im Ort lebende Schneiderin, was Helene mit einiger Erleichterung erfüllte; das Fach war nie ihre Stärke gewesen.
Das Lehrerzimmer wirkte, obschon etwas zeitgemäßer eingerichtet, nicht sonderlich einladend. Um einen großen Resopaltisch standen fünf Stühle, für jede Lehrkraft einer. Auf einer Anrichte konnte man sich mittels eines Tauchsieders Tee oder Kaffee zubereiten. In der Ecke war ein Waschbecken angebracht, darüber ein schlichter Spiegel. An den Wänden hingen Dienstpläne und ein paar vergilbte Zeitungsausschnitte mit Berichten über vergangene Schulfeiern. Auf der Fensterbank fristete ein Gummibaum sein kümmerliches Dasein.
Eine Aula oder eine Turnhalle gab es nicht, nur eine Abstellkammer mit einem unsortierten Sammelsurium an Sportzubehör – unter anderem einige Bälle, Staffelhölzer, ein uraltes Reck, eine abgewetzte Turnmatte.
Der Unterricht im Fach Leibeserziehung, so erfuhr Helene von dem Rektor, fand bei gutem Wetter draußen auf der Wiese statt, bei schlechtem Wetter gar nicht.
Vervollständigt wurde der Rundgang schließlich durch eine kurze Besichtigung der Sanitärbereiche. Für die Lehrerschaft stand eine eigene Toilette im Schulgebäude zur Verfügung, während die Schülertoiletten sich in einem eingeschossigen Nebengebäude befanden, in dem es durchdringend nach Desinfektionsmitteln stank und von allen Seiten eiskalt hereinzog.
Helene dachte bei sich, dass man den Schulen in der DDR einiges Schlechte nachsagen konnte, aber ganz sicher nicht, dass sie wesentlich schäbiger und armseliger ausgestattet waren als die im Westen. Natürlich abgesehen von jenen, die man in der BRD seit dem Krieg neu erbaut hatte – was das anging, würde der Westen den Osten zweifelsohne bald abgehängt haben. Allein schon deshalb, weil es hier, anders als im Osten, nicht an allen Ecken und Enden am nötigen Baumaterial fehlte.
Rektor Winkelmeyer sprach immer noch ohne Punkt und Komma, was bei Helene die Vermutung festigte, dass er auch im Unterricht überwiegend schwadronierte und auf diese Weise nicht nur die Stunden füllte, sondern auch seine beginnende Demenz kaschierte. Seine Worte rauschten an ihr vorbei wie ein dahinplätschernder Bach. Zwischendurch verlor er mehrmals den Faden. Dann besann er sich kurz und knüpfte an einer gänzlich anderen Stelle an.
Nach der Besichtigung musste Helene ihn an die Stundenpläne und die Lehrberichte erinnern, die er ihr noch mitgeben wollte. Es dauerte eine Weile, bis er die Mappe mit den Unterlagen im Schrank des Lehrerzimmers gefunden hatte. Nach minutenlangem Herumkramen überreichte er sie ihr mit feierlicher Gebärde, ehe er sich verabschiedete und ihr noch einen schönen Tag wünschte. Von Mitleid erfüllt drückte sie ihm die Hand und war froh, dass sie für heute hier fertig war.
*
Als sie anschließend wieder draußen auf dem weitläufigen Dorfplatz stand, sah sie auf ihre Uhr. Höchste Zeit, sich endlich die Umgebung genauer anzuschauen. Inzwischen waren die Wege rund um das Dorf wieder einigermaßen begehbar.
Ein Räuspern ertönte hinter ihr, sie fuhr herum. Tobias Krüger stand vor ihr.
»Tut mir leid«, meinte er. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Haben Sie nicht. Ich war nur … in Gedanken.«
Sie musterte ihn unauffällig. Er trug eine dicke Cordjacke mit Lammfellfutter, die besser zu ihm passte als der förmliche dunkle Wintermantel, den er am Morgen in der Kirche getragen hatte. Zum ersten Mal nahm sie bewusst die Farbe seiner Augen wahr – sie waren von einem seltenen Goldton, eine Mischung zwischen Braun und Bernstein.
Er wies auf die Mappe unter ihrem Arm. »Vorbereitung für morgen?«
Sie nickte, und er räusperte sich erneut. Anscheinend hatte er was auf dem Herzen.
Ihr Gefühl hatte sie nicht getrogen.
»Ich sah Sie zufällig hier stehen und dachte, ich frage Sie einfach mal, ob Sie vielleicht kurz mit mir über meinen Sohn sprechen können. Da gibt es eine Sache, von der ich denke, dass Sie darüber Bescheid wissen sollten. Natürlich nur, wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben«, schloss er einschränkend.
»Sicher«, sagte sie widerstrebend. Schließlich gab es keinen vernünftigen Grund, ihm den Wunsch nach einer Unterredung mit der neuen Lehrerin seines Sohnes abzuschlagen. Außerdem wollte sie vor dem geplanten Spaziergang sowieso noch zurück in den Goldenen Anker, um die Mappe aufs Zimmer zu bringen, da konnte sie genauso gut auch noch eine Viertelstunde für ein Gespräch abzweigen.
»Wollen wir uns kurz zusammensetzen?« Er deutete auf den Goldenen Anker. »Vielleicht bei einer Tasse Kaffee?«
Sie nickte nur wortlos.
Im Gasthaus half Tobias Krüger ihr aus dem Mantel, rückte ihr am Tisch den Stuhl zurecht und fragte sie, was er für sie bestellen dürfe. Seine Manieren ließen nichts zu wünschen übrig.
Sie wählte Kaffee und Breite Koche, so nannte man hier den Kuchen vom Blech; Martha Exner buk ihn regelmäßig selbst, mit unterschiedlichem Obstbelag, mal mit, mal ohne Streusel. Schon am frühen Morgen waren verheißungsvolle Düfte durchs Haus gezogen, und da Helene nicht zu Mittag gegessen hatte, kam ihr ein Stück Kuchen als Ersatz gerade recht.
»Sie haben es hier bei Martha gut getroffen, oder?«, fragte Tobias Krüger, erkennbar um einen leichten Konversationston bemüht.
»Ja, es ist nett hier.« Sie wünschte, er würde endlich zur Sache kommen.
Ein hübsches junges Mädchen servierte Kaffee und Kuchen.
»Möchten die Herrschaften sonst noch etwas?«, fragte es mit ausgesuchter Höflichkeit.
»Danke, Agnes, alles bestens«, sagte Tobias.
Helene blickte dem Mädchen nach, während es durch die Schwingtür hinter der Theke zurück in die Küche ging. Martha Exner beschäftigte mehrere Aushilfen, aber das Mädchen hatte Helene vorher noch nicht hier gesehen.
»Die Kleine sieht nicht so aus, als wäre sie schon alt genug zum Arbeiten«, bemerkte sie.
»Agnes ist vierzehn«, sagte Tobias Krüger. »Sie geht noch zur Schule, letzte Klasse. Aber arbeiten muss sie auch, und das nicht zu knapp. Wenn sie nicht gerade auf dem Hof ihrer Eltern mit anpackt oder auf ihre jüngeren Geschwister aufpasst, hilft sie stundenweise hier im Gasthaus aus, mal zum Putzen, mal beim Bedienen. Bei den Hahners gibt’s eine Menge Mäuler zu stopfen, die brauchen jeden Pfennig. Hier oben in der Rhön leben viele arme Familien, und die Zonengrenze macht es nicht besser. Die jungen Leute zieht es in die Städte. Umgekehrt kommt zum Arbeiten kaum jemand freiwillig in die Gegend. Sie sind seit Langem die Erste.« Er sah sie fragend an, als erwarte er eine Erklärung, doch Helene ging nicht darauf ein. Inzwischen wussten hier alle, dass sie aus der Ostzone kam, er eingeschlossen. Sollte er doch dasselbe glauben wie die anderen – dass sie als SBZ-Lehrerin froh und dankbar war, überhaupt eine Anstellung bekommen zu haben, und sei es auch im hintersten Zonenrandgebiet.
Er nahm einen der auf dem Tisch liegenden Bierdeckel und spielte damit herum, eine Geste der Verlegenheit. Es schien ihm nicht ganz leicht zu fallen, mit seinem Anliegen herauszurücken. Helenes Blick wurde automatisch auf seine Hände gelenkt. Es waren kräftige Hände, an ihnen war nichts Zartes, sie wirkten kantig und stark wie der ganze Mann. Hastig hob sie den Kopf und sah ihn an. »Hat Ihr Sohn Probleme in der Schule?«, fragte sie geradeheraus.
Er atmete hörbar aus, sichtlich erleichtert, dass sie es an seiner Stelle aussprach und damit zum eigentlichen Thema kam.
»Ja, das kann man so sagen«, gab er zurück. »Michael kann sich schlecht konzentrieren, das Aufpassen fällt ihm schwer, und er vergisst manchmal seine Hausaufgaben, wenn man nicht hinterher ist. Die Noten sind nur noch mittelmäßig, und wenn das so weitergeht, kann er das Gymnasium vergessen.« Ihm war anzumerken, wie sehr ihm diese Aussicht zu schaffen machte. Helene konnte seine Empfindungen nur allzu gut verstehen. Die berufliche Zukunft eines Kindes hing davon ab, welche Bildungschancen man ihm einräumte. In der DDR hatte sie häufig ohnmächtig mit ansehen müssen, dass glänzend begabte Kinder vom Besuch der Oberschule ausgeschlossen wurden, nur weil die Eltern keine überzeugten Sozialisten waren.
Sie sah Tobias Krüger fragend an. »Und wie schätzen Sie Ihren Sohn selbst ein?«
»Als intelligentes und wissbegieriges Kind«, entgegnete er prompt. Bedrückt fügte er hinzu: »Leider spiegeln seine schulischen Leistungen das nicht wider.«
»Er ist jetzt in der dritten Klasse, nicht wahr? War es denn vorher mal besser?«
»Ich denke schon. Mir ist jedenfalls nichts Gegenteiliges bekannt.« Auf Helenes fragenden Blick hin erklärte er das näher. »Der Junge hat bis vor einem halben Jahr bei seiner Mutter in Wiesbaden gelebt und ging da auch zur Schule. Bei mir war er nur ab und zu, entweder übers Wochenende oder in den Ferien. Er wohnt erst seit dem Tod seiner Mutter bei mir.«
»Tut mir leid, dass Ihre Frau verstorben ist«, sagte Helene betroffen.
»Wir waren schon lange geschieden, sie hatte sich bereits vor Jahren neu verheiratet.« Tobias bog den Bierdeckel so stark zusammen, dass er in der Mitte durchbrach. Achtlos warf er ihn zurück auf den Tisch. »Gudrun hat sich von mir getrennt, als ich hier die Praxis übernahm, da war Michael noch ein Baby. Sie ist mit dem Jungen in Wiesbaden geblieben, dort hatten wir vorher gewohnt. Mitte letzten Jahres ist sie zusammen mit ihrem zweiten Mann auf einer Urlaubsreise ums Leben gekommen. Verkehrsunfall. Michael war zum Glück nicht mit im Wagen, er verbrachte zu der Zeit gerade seine Ferien bei mir.«
Helene dachte an den rotschopfigen Knirps, der heute Morgen so artig seinen Diener vor ihr gemacht hatte. Ihr Herz schnürte sich schmerzhaft zusammen. »Ihr Sohn hat einen schlimmen Verlust erlitten. In Verbindung mit einer so plötzlichen Veränderung der Lebenssituation kann das bei Kindern zu starker seelischer Belastung und damit auch zu Schulproblemen führen.« Sie sprach betont sachlich.
»Verdammt, denken Sie, das weiß ich nicht?«, entfuhr es ihm. Sofort hielt er inne. »Tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Es ist alles nur so … Mir geht die ganze Situation in der Schule gehörig auf die Nerven. Ich habe mit dem Rektor gesprochen, doch der kann nicht mehr richtig …« Wieder besann er sich, offenbar darauf bedacht, nichts zu äußern, was man als Verstoß gegen seine ärztliche Schweigepflicht hätte auslegen können. »Mit Michaels letzter Lehrerin habe ich natürlich ebenfalls geredet, aber die war nur drei Monate da, dann wurde sie schwanger und hat aufgehört. Die davor war auch nicht viel länger an der Schule. Wie ich schon sagte, hier hält es kaum jemand auf Dauer aus. Und die paar Lehrer, die hier hängen geblieben sind …« Er unterbrach sich erneut, offensichtlich musste er sich eine wenig schmeichelhafte Bemerkung über das hiesige Lehrerkollegium verkneifen. Ein Ausdruck mühsam gezügelten Ärgers stand in seinem Gesicht. Dann fuhr er mit beherrschter Stimme fort: »Ich will bestimmt keine Extrawurst für meinen Sohn, schließlich gibt es auf der Schule genug andere Kinder, die ebenfalls ihre Probleme haben. Außerdem ist mir völlig klar, dass sich in den paar Wochen, die bis zum Ende des Schuljahrs noch bleiben, an den Noten so kurzfristig nicht mehr viel ändern lässt. Mir war nur wichtig, dass Sie über Michael Bescheid wissen. In der Zwischenzeit werde ich versuchen, eine Lösung zu finden. Nachhilfe, Unterricht zu Hause, irgendwas, das ihn fördert und wieder ins Gleis bringt.«
Helene bemühte sich um eine pädagogisch einfühlsame und zugleich professionelle Antwort. »Das klingt sehr gut! Wenn demnächst das neue Schuljahr anfängt, schlagen wir sozusagen ein neues Kapitel auf. Ich werde ein Auge darauf haben, wie Ihr Sohn zurechtkommt.«
»Danke. Damit wäre ihm schon ein großes Stück geholfen. Und mir auch.«
»Wer kümmert sich denn um Michael, wenn Sie arbeiten?«, fragte sie in einer Aufwallung von Neugier.
»Meine Tante, die haben Sie ja heute Morgen schon kennengelernt. Sie ist vor drei Jahren nach dem Tod meiner Mutter bei mir eingezogen und führt mir den Haushalt. Tante Beatrice liebt Michael heiß und innig, aber mit ihren dreiundsiebzig ist sie nicht mehr die Jüngste. Und sie neigt dazu, alle nur erdenklichen kindlichen Probleme mit Schokolade lösen zu wollen.«
»Hm«, machte Helene unverbindlich. Bei sich dachte sie, dass Schokolade manchmal nicht das Schlechteste war. Vor allem nicht für Kinder, die sonst davon nur träumen konnten.
Geflissentlich ignorierte sie Tobias’ forschenden Blick und aß hastig den Rest von ihrem Kuchen auf. Anschließend trank sie ihren Kaffee aus und stellte die leere Tasse ab. Mit einem raschen Blick auf ihre Armbanduhr meinte sie: »Jetzt muss ich aber los … Ich werde sehen, was ich für Ihren Sohn tun kann. Aber Sie sollten etwas mehr Vertrauen in ihn haben. Manche Dinge brauchen einfach nur Zeit.« Sie zog ihr Portemonnaie hervor. Kaffee und Kuchen am Nachmittag waren in ihrer Pauschalvereinbarung mit Martha Exner nicht inbegriffen.
Doch sofort gebot Tobias Krüger ihr Einhalt.
»Nicht doch! Sie sind selbstverständlich eingeladen!«
»Danke vielmals«, sagte sie höflich. »Und einen schönen Sonntag noch.«
Eilig holte sie an der Garderobe ihren Mantel und verschwand über die Treppe nach oben.
*
In ihrem Zimmer angekommen, zog sie die Tür hinter sich zu, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen. Würde das jemals aufhören? Dieses Gefühl, vor irgendwas oder irgendwem davonlaufen zu müssen? Letztes Jahr vor den Zwängen eines Regimes, das nicht ohne Parolen und Einschüchterung auskam. Und hier vor neugierigen Blicken und möglichen Fragen, die ihr Geheimnis aufdecken könnten, wenn sie bei ihren Antworten nicht genug achtgab.
Helene zog ihren Mantel wieder an, streifte sich Mütze, Schal und Handschuhe über und nahm das Fernglas aus ihrem Rucksack. Sie verließ das Gasthaus über den Hintereingang, um nicht gesehen zu werden und weitere unvorhergesehene Begegnungen und Gespräche mit irgendwelchen Einheimischen zu vermeiden.
Während sie durch die Gassen des Dorfs in Richtung Ortsausgang marschierte, spürte sie die harten Konturen des Fernglases an ihrem Brustkorb. Es war ein altes, aber noch präzise funktionierendes Gerät, Tante Auguste hatte es vom Dachboden geholt, wo sie die Hinterlassenschaften ihres Mannes aufbewahrte, der schon vor dem Krieg verstorben war. Bereitwillig hatte sie das Fernglas Helene überlassen, wohl wissend, wofür diese es brauchte, aber zugleich hatte sie aus ihrer Besorgnis keinen Hehl gemacht.
»Lenchen, du musst gut auf dich aufpassen, versprich mir das!«, hatte sie in ihrer melodiösen Frankfurter Mundart gemahnt. »Sonst schnappen sie dich und sperren dich wieder ein, und dann vielleicht für immer!«
Sie nannte Helene stets Lenchen, so wie damals schon, als sie einander noch hatten besuchen können. Doch das war lange her. Als Kind war Helene mit ihren Eltern mindestens einmal im Jahr zu Großtante Auguste nach Frankfurt gefahren, und manchmal war Auguste auch zu ihnen nach Weisberg gekommen und ein paar Tage geblieben, Helene hatte diese Besuche noch in schöner Erinnerung.
Diese Treffen hatten mit der Scheidung ihrer Eltern aufgehört. Auguste war die Tante von Helenes Vater und somit Teil seiner Familie, zu der Helenes Mutter nach der Trennung keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Helene war zehn Jahre alt gewesen, als ihre Mutter mit ihr in den Zug nach Berlin gestiegen war. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie ihrem Vater zum Abschied durchs Fenster zugewinkt und dabei vergeblich versucht hatte, nicht zu weinen. Es war ihr vorgekommen, als würde man ihr das Herz herausreißen. Das war mitten im Krieg gewesen, sie hatte zuerst geglaubt, dass es irgendwie damit zusammenhing, aber ihr Aufbruch hatte andere Ursachen gehabt.
Ihre Mutter hatte versucht, ihr alles zu erklären. »Manchmal geht es eben nicht anders«, hatte sie gesagt. »Dann heiraten zwei Menschen und merken erst viel später, dass sie nicht zusammengehören. Jedenfalls nicht so, dass es für den Rest des Lebens reicht. Dann muss man von vorn anfangen. Und du siehst deinen Vater ja noch. In den Ferien und zwischendurch. Er ist nicht aus der Welt, Leni.«
Für die Eltern war sie Leni gewesen, auch später für den Stiefvater in Berlin, der überraschend schnell im Leben ihrer Mutter aufgetaucht war. Sogar ein zehnjähriges Kind musste merken, dass er bereits im Hintergrund darauf gewartet hatte, in Erscheinung treten zu können. Aber er war ein anständiger Mensch gewesen, lieb und fürsorglich und immer für sie und ihre Mutter da. Mittlerweile war er seit acht Jahren tot, viel zu jung gestorben. Herzinfarkt, mit nur sechsundfünfzig. Und die Mutter war ihm bloß ein Jahr später gefolgt, natürlich auch viel zu früh, nur ein paar Wochen nach ihrem fünfzigsten Geburtstag. Doch der Krebs hatte nicht nach dem Alter gefragt.
Der Vater lebte noch. In ihrem alten Elternhaus in Weisberg. Sie musste kurz überlegen, wann sie das letzte Mal dort gewesen war, vor drei Jahren oder vor vier? Jedenfalls war es viel zu lange her, so wie eigentlich immer, wenn sie ihn in den vergangenen Jahren besucht hatte. Die Abstände waren jedes Mal größer geworden. Er hatte sich bemüht, den Kontakt aufrechtzuerhalten, genau wie sie, doch da war seine Arbeit gewesen, und dann gab es auch noch Christa, mit der er in zweiter Ehe verheiratet war. Helene wiederum hatte sich schon in jungen Jahren mit Jürgen zusammengetan. So hatte jeder sein Leben gehabt, ihr Vater und auch sie selbst.
Dessen ungeachtet hatte sie immer gewusst, dass er sie liebte. Dass er sie nie verlassen hatte, dass er an sie dachte. Und wenn sie bei ihren seltenen Besuchen vor ihm stand und ihn umarmte, war sie wieder zehn und die goldenen Erinnerungen an ihre Kindheit kehrten unvermittelt zurück.
Sie wäre jetzt am liebsten zu ihm rübergelaufen, so weit war es gar nicht von hier aus.
Der Gedanke ließ sie ihre Schritte beschleunigen, fast rennen. Der Weg, der vom Dorf nach Osten führte, endete schon vor der eigentlichen Zonengrenze in Gestrüpp und Geröll. Helene blieb in einiger Entfernung zu den Sperranlagen stehen und betrachtete aus dem Schutz einer kleinen Baumgruppe heraus mithilfe des Fernglases die Umgebung.
Das Land jenseits der Grenze erstreckte sich in schneebedeckter Weitläufigkeit bis zum Horizont, die thüringischen Höhenzüge lagen teils im Nebel verborgen. Hier waren alle Verbindungslinien zum Osten hin radikal durchschnitten. Die einstige Landstraße hatte sich in eine Sackgasse verwandelt.
In den ersten Jahren nach ihrer Entstehung war die Grenze zwischen West und Ost lediglich eine Demarkationslinie gewesen, die jeder für einen Plausch im Nachbarort oder eine gemeinsame Familienfeier noch ohne große Umstände hatte überschreiten können. Inzwischen war sie ein sechsfach gesichertes, scharf bewachtes Hindernis, bestehend aus Stacheldraht, Kontrollstreifen, Balkensperre, Wall, Graben und noch einmal Stacheldraht. Der innerhalb der Sperranlagen befindliche Kontrollstreifen war ein zehn Meter breiter Gürtel aus nackter Erde, sorgfältig geeggt und akribisch von allem Grün befreit. Jeder, der einen Fuß daraufsetzte, war weithin sichtbar.
Helene spähte durch das Fernglas über die Sperranlagen hinweg. Mit ihren Blicken suchte sie das verschneite Gebiet jenseits der Grenze ab, so weit ihre Sicht reichte. Der Nachbarort im Osten war gut zu erkennen. Einige Bereiche von Weisberg, darunter auch der Stadtteil, in dem sie aufgewachsen war, schienen fast zum Greifen nah. Die Silhouette des mittelalterlichen Städtchens mit seinen schneebedeckten Dächern und Kirchtürmen war schmerzlich vertraut.
Ihr einstiges Elternhaus konnte sie von hier aus nicht sehen, es war hinter anderen Gebäuden verborgen und lag in einer Senke. Wie beinahe der gesamte Ortsteil befand es sich im sogenannten Schutzstreifen, einem mit Schlagbäumen und Kontrollposten besonders gesicherten, fünfhundert Meter breiten Bereich entlang der Zonengrenze. Dieser Schutzstreifen war wiederum Teil des fünf Kilometer breiten Sperrgebiets, das die dort lebenden Menschen nur mit Passierscheinen verlassen durften, jeweils penibel registriert mit Ausweis und Stempel. Ähnlich rigiden Einschränkungen waren Reisende aus der übrigen DDR unterworfen, wenn sie Orte in der Sperrzone besuchen wollten.