Die Dramatisierung der Welt - Lorenz Engi - E-Book

Die Dramatisierung der Welt E-Book

Lorenz Engi

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Beschreibung

1989, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten im Osten Europas, sah es zunächst nach einem Siegeszug der liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts aus. Doch die Hoffnungen wurden enttäuscht: Russland und Belarus etwa entwickelten sich zu Diktaturen, ein EU-Staat wie Ungarn wird zunehmend autoritär regiert. „Illiberale Demokratie“ ist der Begriff, den der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán dafür geprägt hat. Auch anderswo scheint der „Illiberalismus“ immer stärker zu werden: In fast allen westlichen Staaten verzeichnen populistische Strömungen deutliche Zuwächse. Auf kluge und originelle Weise spürt Lorenz Engi in seinem Essay dem Phänomen nach: Woran liegt es, dass linke und rechte Populisten auf viele Menschen eine solche Anziehungskraft ausüben? Welche gesellschaftlichen Veränderungen haben zum Erfolg des „Illiberalismus“ beigetragen? Engi versucht Antworten auf diese Fragen und ermuntert seine Leserinnen und Leser zum Weiterdenken.

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Lorenz Engi

Die Dramatisierung der Welt

Über Illiberalismus

Dr. Lorenz Engi lehrt als Privatdozent Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen. Er studierte Philosophie und Rechtswissenschaft in Zürich und Konstanz.

INHALT

Einleitung

Das erwachte Ungeheuer

1. Teil

Vermisste Seele

Kapitel 1

Die „Seele“ der Dinge

 

München, 2012

Kapitel 2

Drei Kräfte

 

Davos, 1924

Kapitel 3

Erodierende Bürgerlichkeit

 

und ein Besuch bei Don Quichote

Kapitel 4

Politisch-philosophische Energien

 

Wien, um 1914

2. Teil

Politik der Größe

Kapitel 5

In den Wäldern

 

mit Jean-Jacques Rousseau, Peter Handke und Thomas Bernhard

Kapitel 6

„In unserer entfesselten Zeit“

 

zurück in Wien, via Barcelona

Kapitel 7

Pathos

 

Rückkehr nach Davos, 1936

Kapitel 8

Moderne und Irrationalität

 

Zwischenbetrachtung

3. Teil

Gegenwart

Kapitel 9

„Populismus“

 

Inhalte des Illiberalismus I

Kapitel 10

Der Staat als Gemeinschaft

 

Inhalte des Illiberalismus II

Kapitel 11

Das Machtproblem

 

Strukturen des Illiberalismus I

Kapitel 12

Die Person als Institution

 

Strukturen des Illiberalismus II

Schluss

Nüchternheit und Rausch

Nachwort

Literatur

Anmerkungen

Impressum

Einleitung Das erwachte Ungeheuer

Lange Zeit schien der Liberalismus unangefochten. Seine Rivalen waren scheinbar erledigt. Er stand quasi allein auf dem Feld der politischen Theorien. Alle Staaten, insbesondere auch Russland, würden sich über kurz oder lang auf eine demokratisch-liberale Ordnung zubewegen – so die allgemeine Überzeugung. Mühsam, gewiss, langsam und mit Rückschlägen, aber doch unaufhaltsam.

Diese Vorstellungen prägten die 1990er-Jahre und auch die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts. Der islamistische Terrorismus, der 2001 drastisch hereingebrochen war, stellte eine Gefahr dar, ohne Zweifel. Aber er war keine Bedrohung in einer Größenordnung, die unsere Lebensweise als solche hätte in Bedrängnis bringen können. Und in der Tat gelang es, ihn zumindest teilweise einzudämmen und ein gewisses Sicherheitsgefühl wiederherzustellen.

Ungeachtet mancher Krisen und Probleme (Finanzkrise 2008 usw.) war das Leben in diesen Jahren doch von einem Gefühl grundlegender Gefahrlosigkeit begleitet. Diese Stimmung wurde durch zwei Ereignisse jäh beendet: durch den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 und durch den Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022.

In den USA war eine Bewegung entstanden, die schon vorher Anlass zu Besorgnis gab, von der sich jetzt aber zeigte, dass sie das Ergebnis demokratischer Wahlen nicht akzeptiert und damit die Fundamente der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung infrage stellt. Und Russland, über das man sich lange noch im Unklaren war, zeigte die Fratze einer imperialistischen und aggressiven Macht.

Das illiberale Denken ist nicht tot gewesen, so wurde schmerzlich bewusst, es hat nur geschlummert. Und jetzt ist das Ungeheuer wieder aufgewacht. Das Erschrecken darüber ist deshalb so groß, weil wir darauf in keiner Weise vorbereitet waren. Dass solche Dinge passieren konnten, dass es zum Beispiel in den USA zu einem Staatsstreich kommen und die demokratische Ordnung untergehen könnte, war schlichtweg außerhalb der Vorstellungskraft. Und entsprechend fällt es auch schwer, diese Phänomene gedanklich zu fassen.

Was kennzeichnet eigentlich das antiliberale Denken? Und warum erweist es sich als so langlebig, warum ist es entgegen mancher Fortschrittsprognosen nicht untergegangen? Diesen Fragen geht dieser Essay nach. Er untersucht – vor allem im dritten Teil – illiberale Strömungen der Gegenwart und versucht herauszufinden, was sie charakterisiert. Die illiberale Politikvorstellung hat, so wird sich zeigen, inhaltliche und strukturell-organisatorische Komponenten. Inhaltlich bezieht das illiberale Denken bestimmte Bedürfnisse und Wünsche auf die Politik, für die der Liberalismus andere Bereiche kennt. Strukturell verstehen die nichtliberalen Bewegungen das Fundament des Staates anders als die liberalen.

Bevor ich mich diesen Themen zuwende, möchte ich aber versuchen, das antiliberale Denken in einen etwas größeren Rahmen einzubetten. Es steht im Zusammenhang mit Eigenheiten der modernen Welt, die es quasi wie ein dunkler Schatten begleitet. Die Moderne ist gekennzeichnet durch das, was Max Weber auf den Begriff der Entzauberung gebracht hat. Sie rationalisiert, sie zersetzt Mythologien und klärt das Geheimnisvolle. Mit dem Leben in dieser Welt geht eine gewisse Banalitätserfahrung einher, unter der Menschen leiden können. Diese Hintergrundbedingungen aktueller Entwicklungen sind Thema des ersten Teils des Buches.

Es gibt verschiedene mögliche Auswege aus der technisch-rationalisierten Realität. Einige davon sind eher unpolitisch, zum Beispiel die Pfade in Richtung Romantik. Es gibt aber auch einen antimodernen Affekt, der sich ins Politische wendet. Und damit sind wir relativ nahe bei den nichtliberalen Denkrichtungen. Mit diesem Zusammenhang befasst sich der zweite Teil.

Der dritte Teil nimmt dann die Inhalte und Strukturen illiberaler Bewegungen genauer in den Blick.

Zunächst aber gehen wir nach München, an eine Filmpremiere. An dieser fiel vor einiger Zeit ein Satz, der die Gegenwart betraf und der ein rätselhaftes Wort enthielt.

1. Teil

Vermisste Seele

Kapitel 1 Die „Seele“ der Dinge München, 2012

2012 brachte Helmut Dietl Zettl heraus, einen Film über den Chauffeur Max Zettl, der Chefredakteur eines Online-Magazins wird. Dietl knüpfte mit Zettl an Kir Royal an, seine Serie aus den 1980er-Jahren, in deren Mittelpunkt der Klatschreporter Baby Schimmerlos gestanden hatte. Der neue Film spielte nicht mehr in München, wie die Serie damals und die meisten von Dietls Produktionen, sondern in Berlin, und drehte sich um die dortige Politik- und Medienszene.

Zettl war der letzte Film, den Helmut Dietl produzierte, bevor er 2015 starb. Am 31. Januar 2012 fand im Münchner Mathäser-Kino die Premiere statt. In einem Artikel über die Feier zitierte eine Zeitung einen prominenten Gast, der den Film lobte und meinte, dieser treffe die aktuelle Situation sehr gut, denn: „Die Dinge haben längst ihre Seele verloren.“

Der Satz blieb haften, als ich ihn las, denn er traf sich mit einem Eindruck, den ich selbst hatte. Die Dinge scheinen auf eine rätselhafte Weise flacher und banaler geworden zu sein. Man könnte es auch mit dem Begriff der Würde zu beschreiben versuchen. Die Ereignisse, die würdig oder würdevoll anmuten, werden weniger, so scheint es. Eine gewisse „Entwürdigung“ prägt die Alltagserfahrung.

Der (rätselhafte) Begriff der Seele schien dieses Empfinden gut zu erfassen. Und in der Tat hat gerade der Seele-Begriff denn auch seit einigen Jahren eine merkwürdige Konjunktur. Man begegnet ihm allenthalben, auf Buchcovern, in Zeitschriftentiteln, Veranstaltungskalendern und so weiter. Offenbar gibt es einen Verlust, ein empfundenes Manko, das mithilfe dieses Begriffs zum Ausdruck gebracht werden soll.

Es gibt viele Diagnosen, die in die Richtung zielen, dass die Dinge „ihre Seele verloren“ hätten. Eine gewisse Verflachung wird vielfach beklagt; zahlreich sind die Feststellungen über eine gegenwärtige Fadheit, die teilweise sicherlich handelsüblicher Nostalgie und Verklärung zuzurechnen sind, aber möglicherweise doch tiefer gehen. Die Bereiche, in denen sich solche Gefühlslagen manifestieren, sind vielfältig. Einer ist die Schriftstellerei.

Lange hatten Schriftsteller einen besonderen gesellschaftlichen Status. Man hörte auf sie in politischen Fragen, erwartete von ihnen Einsichten und Aufschluss hinsichtlich der gesellschaftlichen Situation. Der Schriftsteller war als solcher eine leicht mystische Figur, eine jedenfalls, die Respekt genoss. Das ist nicht ganz verschwunden, aber doch weitgehend. „Botho Strauß und Peter Handke“, schrieb ein Autor vor einigen Jahren, „sind die letzten approbierten Denker, sie hüten ihre Aura und verweigern sich dem Betrieb. Sie sind, gewissermaßen, Auslaufmodelle.“1 Eine bestimmte Betriebsamkeit hat auch die Schriftstellerei erfasst, Rankings, Buchpreise und dergleichen bestimmen zunehmend das literarische Feld. Ein Schriftsteller-Typus, wie ihn etwa Thomas Mann repräsentierte, ist heute kaum mehr vorstellbar.

2018 starb Philip Roth. Der amerikanische Autor, hieß es in einem Nachruf, sei der Held einer bestimmten Ära gewesen, „des vorerst letzten heroischen Zeitalters der Kulturgeschichte, in dem Filmschauspielerinnen zu Göttinnen erhoben, Popsänger zu Königen und ein Literaturkritiker sozusagen zum Papst“2 wurden. Gerade bei Popstars kam dieser Gestus ausgeprägt zum Tragen. Michael Jackson ließ in den frühen 1990er-Jahren überlebensgroße Statuen von sich aufstellen – eine heute kaum mehr vorstellbare Aktion. „Es bricht eine neue Epoche an in der Kulturgeschichte“, so der erwähnte Nachruf, „in der die große Geste außer Mode geraten ist.“

Vergleichbare Veränderungen lassen sich im Bereich des Journalismus feststellen. Wo früher stolze Pressehäuser waren, ist heute eher ein Newsroom zu entdecken. Wenn alte Journalisten, welche die glamourösen früheren Zeiten erlebt hatten, in einen solchen geraten, packt sie oft das nackte Grauen. Betrübt berichten sie von Großraumbüros, in denen „Content“ produziert werde wie in einer Fabrik. Tischbatterien zögen sich durch diese Hallen, erzählen die Veteranen erschüttert, die Leute arbeiteten gewissermaßen an computerisierten Legebänken – das Ganze gleiche einer Flaschenabfüllung!

Auch die akademische Publizistik, um ein weiteres Beispiel zu nennen, ist im Wandel. Die Wissenschaften publizieren immer mehr Texte, doch deren Effekt schwindet. Nachdenklich stellt ein Betroffener fest:

„[…] eine Verfasserin oder einen Verfasser philosophischer Texte plagt heute zwangsläufig die Ungewissheit, ob das Geschriebene über Lektoren oder Gutachter hinaus Leser findet, für die die geistige Lage anderer Menschen von Bedeutung sein kann, und nicht lediglich zweckentfremdet der Verlängerung von Publikationslisten oder dem Durchbringen von Anträgen dient, die, wenn sie Erfolg haben, in Kreisen akademischer Reklameverantwortlicher die ‚Sichtbarkeit‘ von Personen und Institutionen erhöhen.“3

Viele weitere Phänomene ließen sich nennen. Die Entwicklungen bündeln sich in einem Gefühl zunehmender Banalisierung. Das Aufregende verliert sich, so will es scheinen, in einer universellen Funktionalität. Ein Journalist, Tobias Haberl, hat zu diesen Vorgängen ein ganzes Buch geschrieben (mit dem Titel Die große Entzauberung). Darin tönt es etwa so:

„Wir schaffen es nicht mehr, die Zurichtungen des Alltags wenigstens für einen Moment zu unterbrechen, um, wenn schon nicht das Heilige, so doch wenigstens das Erhabene oder Rätselhafte in unser Leben zu lassen, eine Ahnung von Transzendenz und Poesie.“4

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, so der Autor, habe die entzauberte Wirklichkeit endgültig übernommen und mit ihr „die Kontrolliertheit unserer Affekte, die Trostlosigkeit des öffentlichen Raums, die Offensichtlichkeit der aufgemotzten Lebensläufe, die Körperlosigkeit der Datenströme, die Heimatlosigkeit der Dinge, die Ödnis der durchökonomisierten Welt“5. Die „Seele“ spielt auch in dieser Diagnostik eine entscheidende Rolle. „[…] unsere Seelen trocknen aus“, stellt ihr Verfasser fest.6 – Doch was, um Himmels willen, ist die „Seele“?

Haben Dinge eine Seele?

Der Befund, dass die Dinge „ihre Seele verloren“ hätten, irritiert bei genauerem Nachdenken erheblich. Denn wie und weshalb sollten Dinge eine Seele haben? Bei Menschen, vielleicht auch bei anderen Lebewesen ist dieser Begriff passend. Bei unbelebten Gegenständen jedoch ist er offensichtlich fragwürdig. Dennoch begegnet man dieser Begriffsverwendung nicht selten. Eine Seele wird etwa Fußballvereinen zugesprochen7, dem Radsport8, Parteien9, Häusern10 oder Zeitungen11.

Nehmen wir einmal an, dass diese Sprechweise nicht ganz sinnlos ist, und versuchen wir, uns darüber ein bisschen Klarheit zu verschaffen. Dabei kann ein altes Werk behilflich sein: Aristoteles’ Schrift Über die Seele – bis heute wahrscheinlich der wichtigste Beitrag zum Thema. Aristoteles nennt darin ein Beispiel, um den Begriff zu erklären: Wäre das Auge ein Lebewesen, schreibt er, wäre die Sehkraft seine Seele.12 Die Sehkraft ist das, was das Auge ausmacht. Es ist das Wichtigste, das Wesentliche beim Auge. Der Seelenbegriff betrifft mithin das Zentrale bei den Dingen. Der Begriff zielt auf den innersten Kern, auf das, was eine Sache zu der Sache macht, die sie ist.

In diesem Sinn lässt sich der Begriff der Seele auch auf Unbelebtes beziehen. Eine Seele in einem strengen Sinn haben nur Lebewesen (und vielleicht nur Menschen). In einem übertragenen, metaphorischen Sinn jedoch lässt sich auch bei unbelebten Dingen von der Seele sprechen. Man meint dann ebenfalls den innersten Kern, das Wesentlichste der betreffenden Sache. In diesem Sinn spricht man zum Beispiel von der „Seele“ einer Partei, einer Zeitung oder eines Vereins. Man meint damit das, was diese Dinge ausmacht und sie von anderen unterscheidet.

Bei den unbelebten Dingen ist es jedoch nicht so, dass die bestimmende Eigenart aus sich selbst heraus entstanden wäre. Eine Zeitung beispielsweise lebt nicht von sich aus, sondern nur durch die Menschen, die sie produzieren. Hier endet die Analogie zum Lebewesen, und hier liegt der Grund, warum wir in Bezug auf Sachen nur in einem übertragenen Sinn von „Seele“ sprechen können (weshalb der Begriff, wenn er in dieser Weise verwendet wird, in diesem Text in Anführungszeichen gesetzt wird). Die Lebewesen existieren von sich aus und haben daher in sich eine eigenständige Charakteristik. Die unbelebten Dinge – Zeitungen, Parteien, Fußballvereine – haben das nicht und besitzen daher lediglich eine abgeleitete „Seele“. Sie erhalten ihre Eigenart von Menschen, die diese Dinge herstellen und betreiben. Diese geben ihnen ihre „Seele“. Dabei spielen Gründerfiguren eine besondere Rolle. Sie geben dem Produkt ein Gepräge, das es in der Regel nie mehr ganz verliert.

Die „Seele“ von Sachen kommt also von den Menschen. Die „Seele“ von Dingen ist eine abgeleitete, derivative, sie hängt an der Persönlichkeit der schaffenden Individuen. Diese geben ihre eigene Seele, ihr Innerstes in die jeweilige Sache hinein und verleihen dem Gegenstand damit eine Seele im metaphorischen Sinn. Menschen haben die Fähigkeit, Dinge sozusagen beseelen zu können, ihnen quasi ein Leben zu geben. Die Dinge lösen sich dann von ihnen ab, bekommen ihre eigene Natur, aber im Kern sind es die Gedanken, Gefühle und Ziele von Menschen, die sich darin verkörpern.

So betrachtet, müsste der diagnostizierte Seelenverlust damit zusammenhängen, dass bei den Seelen der Menschen etwas nicht stimmt. Wenn die Dinge ihre „Seele“ verloren haben, wie manche meinen, diese „Seele“ aber nur von Menschen kommen kann, dann führt das Problem auf die Menschen selbst zurück.

Eine Art von Investition

„Dem Wahren, Schönen, Guten“ steht an der Fassade der alten Frankfurter Oper. „Die Wahrheit wird euch frei machen“, liest man über dem Eingang der Universität Freiburg im Breisgau. Es gibt viele ähnliche Inschriften an alten Gebäuden. Wir sind gewohnt, diese Sätze etwas ironisch zu lesen. Doch denjenigen, die diese Inschriften damals anbrachten, war es nicht ums Scherzen zu tun. Sie waren einer emphatischen Idee der Bildung oder der Kunst verpflichtet und wollten dieser Ausdruck geben.

Heute schreibt niemand mehr solche Zeilen an öffentliche Gebäude. Zeitlich sind wir nur gut hundert Jahre von jener Stimmungslage entfernt, aber innerlich gibt es eine Kluft zwischen heute und damals. Die Legitimation der Kultur- und Bildungsinstitutionen beispielsweise hat sich so verändert, dass ein emphatischer Bezug zum Wahren und Guten nun eher seltsam anmuten würde. Immer stärker wird mit einer bestimmten Nützlichkeit argumentiert. Die Verantwortlichen streichen, um Akzeptanz zu sichern und zu erreichen, besonders den Beitrag zum ökonomischen Erfolg heraus, die Bedeutung der Institution für den jeweiligen Standort, deren Erfolg in internationalen Wettbewerben und dergleichen mehr.

Damit Dinge eine „Seele“ bekommen, bedarf es einer bestimmten Art von Investition. Die Menschen, die die jeweilige Sache schaffen und betreiben, müssen sich selbst investieren. Es genügt nicht, dass sie nur einen Auftrag erledigen oder eine Arbeit verrichten. Es gibt viele Worte, um diese „Investition“ näher zu umschreiben – auf einen einfachen Nenner lässt sie sich nicht bringen. Es können Dinge wie Liebe, Glaube (in einem religiösen oder säkularen Sinn), Sorgfalt oder Leidenschaft sein, welche die Betreffenden antreiben. Es braucht in jedem Fall einen bestimmten „Überschuss“, etwas, das über reine Nützlichkeitsüberlegungen und bloßen Pragmatismus hinausgeht. Denn es ist dieser Überschuss, in dem der jeweilige Mensch erst zur Geltung kommt. Solange jemand rein zweckrational agiert, ist er selbst mit seinem Innersten nicht involviert. Erst wenn eine Person sich selbst einbringt, tritt sie uns auch in ihren Hervorbringungen entgegen. Und damit ist auch klar, warum in diesem Zusammenhang pathetische Worte wie Liebe oder Glaube ins Spiel kommen und nicht ganz zu vermeiden sind: Diese Begriffe führen ins Innerste der schaffenden Person selbst. Diese ist konstituiert durch ihre innersten Überzeugungen und Bindungen. Erst wo diese in irgendeiner Form zum Ausdruck kommen, bekommen Dinge eine „Seele“.

Nun wäre es aber sicherlich zu einfach und wahrscheinlich auch nicht ganz gerecht, im Hinblick auf den Verlust an „Seele“ anzunehmen, dass die Menschen heute weniger von diesen Überzeugungen hätten als früher. Es ist nicht unbedingt plausibel anzunehmen, dass sie heute pauschal über weniger Hingabe und Leidenschaften verfügten als in anderen Zeiten. Wir wollen in den nächsten Kapiteln darüber nachdenken, wo die Gründe für die beschriebenen Entwicklungen liegen. Vorher jedoch kehren wir nochmals zu Helmut Dietl und seinem Film aus dem Jahr 2012 zurück.

Liebender Zugang

Die Reaktionen auf Zettl waren vernichtend. Es gab in neuerer Zeit wahrscheinlich nicht viele Filme, die von der Kritik so einhellig abgelehnt wurden wie dieser. Es handle sich um eine „seelenlose Satire“, fand Die Zeit, „ein Desaster“ sah der Spiegel, als „müder Klamauk“ bezeichnete der Stern den Film. In der Süddeutschen Zeitung war zu lesen: „Kein Tempo, keine Pointen, witzlos: Helmut Dietl hat mit seinem lange erwarteten Film Zettl einen Schmarrn fabriziert, der grotesker kaum sein könnte.“ Die Kritiker, die den Film bei einer Vorführung gesehen hätten, habe ein „sprachloses, aber immerhin gemeinschaftsstiftendes Entsetzen“ befallen.

Die meisten der Betrachter waren sich einig, warum das Ergebnis derart schlecht ausgefallen war: Es lag am mangelnden Interesse Dietls für Berlin. „Dietl liebt München, Berlin ist ihm bestenfalls egal“, schrieb die Berliner Morgenpost. Vermutlich verachte er die Hauptstadt sogar, die eben doch nur Preußen sei und bisweilen nicht mal das. „Er wusste nichts von Berlin, es interessierte ihn auch nicht“, meinte die Süddeutsche Zeitung. Und Die Zeit stellte fest: „Man hat das Gefühl, als habe Dietl möglichst viel München an die Spree verlegt, um in der neuen Hauptstadt nicht gar zu sehr zu fremdeln. Denn offenkundig wird Dietl mit Berlin nicht warm.“ Sein Verhältnis zu Berlin scheine das von kalter Verachtung zu sein.13

Helmut Dietl wies diese Vermutungen zurück. Er möge Berlin sehr, er möge auch den Bezirk Berlin-Mitte, in dem der Film spielt, betonte er in Interviews. Allerdings lassen andere Aussagen von ihm an dieser Zuneigung doch zweifeln. „Ungeheure Provinzialität“ machte Dietl in Berlin nämlich aus, „Brutalität und Gedankenlosigkeit“ auch, und Berlin-Mitte war ihm eine „sehr provinzielle preußische Quadratmeile“. Freundschaft, Vertrauen und Ehrlichkeit suche er vergeblich in der Stadt, vertraute er einem Reporter an. Und besonders die kulinarische Situation überzeugte ihn ganz und gar nicht. Nach eigenen Angaben verlor er mit jeder in Berlin verbrachten Woche 500 Gramm an Gewicht.14

Einige Figuren aus Kir Royal treten in Zettl wieder auf. Unter ihnen Senta Berger als Mona Mödlinger, die Geliebte von Baby Schimmerlos, und Dieter Hildebrandt als Paparazzo Herbie Fried. Der Klatschreporter Schimmerlos selbst fehlt, weil der Darsteller, Franz-Xaver Kroetz, sich nicht beteiligen wollte. Dietl lässt Baby Schimmerlos in Zettl daher ganz am Anfang sterben. Irgendwann im Verlauf des Films fliegt Senta Berger mit der Asche des Toten nach München. Sie verabschiedet sich von Berlin, wo die Handlung weitergeht, und ein bisschen entfernt sich damit auch Helmut Dietl aus seinem Film. „Nach der Hälfte verabschiedet er sich innerlich“, so Die Zeit, „und die Seele fliegt zurück nach München, weil sie ahnt, dass jetzt eine andere Generation am Drücker ist, zu der sie keinen liebenden Zugang mehr hat.“15

Auch Helmut Dietl ging nach Zettl zurück nach München. Zuvor hatte er einige Jahre in Berlin gelebt, um gemeinsam mit Benjamin von Stuckrad-Barre das Drehbuch für den Film zu schreiben. Insgesamt hatte er sieben Jahre daran gearbeitet. Die Finanzierung war schwierig gewesen, das Budget betrug über zehn Millionen Euro. Der Flop von Zettl traf ihn schwer. „Helmut hat aufs Schmerzlichste unter dieser Häme gelitten – als Mensch und auch als Künstler“, schrieb später seine Witwe. Nach dem Misserfolg des Films sei er in eine schwere Depression und eine große Schreibblockade gefallen. Erst die Idee, seine Memoiren zu schreiben, habe die Blockade gelöst.16 Er konnte sie nicht vollenden. Ein Teil der Erinnerungen ist 2016 erschienen.

Wahrscheinlich hatten die Kritiker recht. Zettl litt an einer mangelnden Zuneigung Dietls zu Berlin. Er liebte München, und man spürt die Nähe und Sympathie zu dieser Stadt in allen seinen Münchner Produktionen. Dietl war ja Teil dieser Welt, viele Figuren sind ihm unverkennbar nahe. Dieser „liebende Zugang“ (Die Zeit) fehlte bei Berlin und Zettl. Berlin war Dietl fremd, und deshalb blieb er bei diesem Film gewissermaßen ein Außenstehender. München, das war er selbst, und das gab seinen Filmen über diese Stadt eine „Seele“ – seine Seele.

Vielleicht ist Zettl dennoch besser, als die Kritiker meinten. Vielleicht musste er in etwa so werden, wie er geworden ist. Helmut Dietl war der neuen Zeit auf der Spur, den Veränderungen, er wollte mit Zettl, wie er betonte, keine Kopie von Kir Royal drehen. Er wollte sich mit der Gegenwart beschäftigen, und vielleicht musste ein Film, der das ernsthaft tat, etwas seelenlos werden. So gesehen, wäre das Scheitern von Zettl sein Gelingen.

Kapitel 2 Drei Kräfte Davos, 1924

Am Anfang des Romans Der Zauberberg, der 1924 erschien, beschreibt Thomas Mann, wie Hans Castorp nach Davos reist, um seinen Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen:

„Es war gegen acht Uhr, noch hielt sich der Tag. Ein See erschien in landschaftlicher Ferne, seine Flut war grau, und schwarz stiegen die Fichtenwälder neben seinen Ufern an den umgebenden Höhen hinan, wurden dünn weiter oben, verloren sich und ließen neblig-kaltes Gestein zurück. Man hielt an einer kleinen Station, es war Davos-Dorf, wie Hans Castorp draußen ausrufen hörte, er würde nun binnen kurzem am Ziele sein. Und plötzlich vernahm er neben sich Joachim Ziemßens Stimme, seines Vetters gemächliche Hamburger Stimme, die sagte: ‚Tag, du, nun steige nur aus‘; und wie er hinaussah, stand unter seinem Fenster Joachim selbst auf dem Perron, in braunem Ulster, ganz ohne Kopfbedeckung und so gesund aussehend wie in seinem Leben noch nicht.“17

Man könnte diese Szene heute so nicht mehr schreiben. Denn im Zug, in dem Hans Castorp heute säße, sähe es gründlich anders aus: Es gäbe elektronische Anzeigetafeln, sich automatisch öffnende Türen, und niemand mehr würde „draußen ausrufen“, wo man sich befindet, sondern es gäbe eine elektronische Durchsage, die darüber informierte. Vetter Ziemßen hätte möglicherweise auch nicht gewartet, bis er Hans Castorp persönlich mitteilen konnte, dass dieser bereits am Ziel sei, sondern eine elektronische Nachricht geschickt. Castorp seinerseits würde wahrscheinlich auf sein Handy schauen statt in die Fichtenwälder, und im Innern des Waggons würden die meisten Passagiere es ihm gleichtun.

Was die Dinge so tief verändert hat, sind nicht politische Beschlüsse oder ethische Appelle, sondern in erster Linie die Technik. Die Technik, es ist eine Banalität, verändert die Wirklichkeit mehr als alles andere. In der Ausbreitung der Technik liegt ein Hauptgrund dafür, dass das Würdige und Erhabene schwindet. Die Poesie der Szene aus dem Zauberberg ist nicht mehr herstellbar, wenn Handys oder elektronische Anzeigetafeln darin auftauchen. Die technische Apparatur, die nunmehr alles umgibt, raubt der ganzen Szenerie etwas von ihrem Glanz und ihrer Schönheit. Unsere Welt ist in gewisser Weise nicht mehr romanfähig.

Man könnte das damit zu erklären versuchen, dass die Technik instrumenteller Art sei. Technik ist ihrer Natur nach Instrument, ein Hilfsmittel zu bestimmten Zwecken. Dagegen ist das Erhabene und Würdige Zweck in sich selbst. Das Funktionelle ist im Grunde nie würdig. Je mehr Technik vorhanden ist, ließe sich schlussfolgern, umso unwürdiger erscheint die Welt. Allerdings ist zu bezweifeln, ob dieser Erklärungsansatz wirklich trägt. Denn die Technik hat teilweise auch Züge des Zweckfreien. Gerade das Internet mutet mitunter wie ein großes Spiel an, eine Installation gewissermaßen. So gesehen, wäre es wiederum Zweck in sich selbst.

Heidegger hat sich in seiner Spätphilosophie bekanntlich intensiv mit der Technik befasst. Er sah in ihr eine verhängnisvolle Macht, das „Ge-stell“, dem der Mensch nicht zu entkommen vermag. Es gibt in dieser Philosophie jedoch einen etwas überraschenden Umschlag, an dem Heidegger eine Nähe von Technik und Kunst benennt:

„Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muss die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.“18