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Willkommen an der Duftakademie! Der Auftakt der neuen Reihe von Bestseller-Autorin Anna Ruhe Auf diesen Tag hat Ella Fredericks lange gewartet: Endlich wird sie eine Schülerin an der Duftakademie! Endlich kann sie in die Fußstapfen von Luzie Alvenstein treten und zeigen, wie talentiert sie im Umgang mit den magischen Düften ist. Doch tief in den verborgenen Wäldern der Schule lauern Gefahren. Denn ein mysteriöser Orden, der sich "Die Gruppe" nennt, will die Ausbildung zukünftiger Duftapotheker um jeden Preis verhindern. Und Ella und ihre Freunde Polly und Ben sind die einzigen, die ihm im Weg stehen … Große Spannung, Magie und Abenteuer für alle Mädchen und Jungs ab 10 Jahren. Fantasievoll erzählt von Bestseller-Autorin Anna Ruhe und mit atmosphärischen Schwarz-weiß-Illustrationen von Claudia Carls ("Woodwalkers", "Alea Aquarius"). Alle Bände der Duftakademie sind einzeln und unabhängig von der Duftapotheke lesbar."Die Duftapotheke" im Arena Verlag: Band 1: Ein Geheimnis liegt in der Luft Band 2: Das Rätsel der schwarzen Blume Band 3: Das falsche Spiel der Meisterin Band 4: Das Turnier der tausend Talente Band 5: Die Stadt der verlorenen Zeit Band 6: Das Vermächtnis der Villa Evie Die Presse über "Die Duftapotheke": "Für ihre Geschichten lässt Anna Ruhe ihre Fantasie so richtig sprudeln!" - ZEITleo "Fantasievoll und sinnlich." - BÜCHER Magazin "Ein echt duftes Kinderbuch!" - empfohlen vom Literaturkurier auf FAZ.net
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Weitere Bücher von Anna Ruhe im Arena Verlag:
Die Duftapotheke. Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1)
Die Duftapotheke. Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2)
Die Duftapotheke. Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3)
Die Duftapotheke. Das Turnier der tausend Talente (Band 4)
Die Duftapotheke. Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5)
Die Duftapotheke. Das Vermächtnis der Villa Evie (Band 6)
Seeland. Per Anhalter zum StrudelschlundMount Caravan. Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express
Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und arbeitete danach als Grafikdesignerin, bis sie Schriftstellerin wurde. Im Jahr 2015 erschien ihr erster Kinderroman. Seitdem hat sie viele weitere Bücher veröffentlicht. Ihre Werke stehen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Berlin.Weitere Informationen zur Autorin unterwww.annaruhe.de
Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.
Für Luk und Milo
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2022
© 2022 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Text: Anna Ruhe
Cover und Innenillustration: Claudia Carls
Lektorat: Anna Wörner
Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann
eISBN 978-3-401-81015-7
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Dass es magische Düfte gibt, weiß ich schon beinahe mein ganzes Leben lang. Es gibt Düfte, die das Wetter ändern, durch die man sich glücklich fühlt oder die eine Pflanze in Sekunden zum Wachsen bringen.
Es waren nicht meine Eltern und auch nicht die Schule, die mir die Kraft der magischen Düfte gezeigt haben. Eigentlich war es mehr ein Zufall, als ich herausgefunden habe, dass ich ein besonderes Talent besitze, um mit dieser Kraft umzugehen. Dass ich eine Sentifleur bin. Was so viel bedeutet, dass ich mithilfe von Düften Gefühle in manchen Menschen erkennen kann.
Erst dachte ich, ich würde mir das alles nur einbilden. Doch dann bin ich anderen begegnet, die dieselbe Fähigkeit hatten wie ich. Anderen Sentifleurs. Und das hat mein Leben komplett verändert.
Seitdem ist viel Zeit vergangen, in der ich nicht einen einzigen magischen Duft geöffnet habe. Zeit, in der ich gehofft habe, endlich an den Ort gehen zu dürfen, an dem einem alles über mein Talent beigebracht wird: die Duftakademie.
Und heute, nur wenige Wochen nach meinem dreizehnten Geburtstag, ist es endlich so weit …
Das Paket in meiner Hand kam ein Jahr zu spät. Nicht, weil es verloren gegangen oder vergessen worden war. Nein, das war nicht der Grund. Es lag daran, dass es mit Absicht erst jetzt an mich gesendet wurde. Genau genommen, kam das Paket sogar fünf Jahre zu spät, aber das ist eine lange Geschichte.
Meine Finger zitterten ein bisschen. Schließlich hatte ich gewartet und gewartet. Eine schrecklich lange Zeit, in der ich mir selbst dafür die Schuld gegeben hatte, dass ich kein Päckchen, keinen Anruf, nicht mal eine E-Mail bekam. Immer wieder war die Frage in meinem Kopf herumgerollt, was ich falsch gemacht hatte, dass ich nicht dazugehören durfte.
Im letzten Jahr hatte ich so gut wie aufgegeben und mir vorgenommen, meinen heimlichen Wunsch einfach an den Nagel zu hängen und mir stattdessen ein anderes Ziel zu suchen. Leider ließ jede Alternative, die ich ausprobierte, meine Sehnsucht nur noch größer werden. An manchen Tagen wuchs sie so riesig in mir an, dass ich dachte, ich würde daran zerplatzen.
Aber hier war es nun. Ein stinknormales Paket, das aussah wie jedes andere auch. Mehrere Zettel steckten darin, außerdem ein in Folie eingewickeltes Glasröhrchen, befüllt mit einer Flüssigkeit. Ein paar Luftblasen blubberten darin auf und ab. Auf dem Glas klebte ein Etikett mit der Aufschrift: Ein Hauch ungesagter Worte.
Meine Finger zitterten immer noch und das würde wahrscheinlich auch nicht so schnell aufhören. Ich ließ mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und strich mit der Hand über den Absender. Luzie Alvenstein, stand darauf. Und: Lavendelweg 33, Villa Evie.
Mir war klar, was das bedeutete. Also holte ich tief Luft, spürte die Vorfreude in mir größer werden und faltete die Papierbögen auseinander.
Wie seltsam. Sie waren unbeschrieben.
Was sollte das denn?
Mein Blick fiel zurück auf das Glasröhrchen. Natürlich! Schnell scannte ich mein Zimmer. Meine Tür war geschlossen und das Fenster auch. Perfekt. Ich strich den obersten Briefbogen glatt und öffnete den Verschluss des Röhrchens.
Der Duft mit dem Namen »Ein Hauch ungesagter Worte« hatte es eilig, aus dem Glas zu kommen, und nebelte mich in Sekundenschnelle ein. Bevor sich der Inhalt geleert hatte, ließ ich zusätzlich ein paar der Tropfen auf das Papier fallen und verschloss das Röhrchen wieder. Dann wartete ich.
Erst passierte gar nichts und ich blickte nur in die gelben Duftschwaden, die aus dem Papier Richtung Zimmerdecke aufstiegen. Dort bewegten sie sich durch den Raum und formten sich zu Wirbeln und Luftstrudeln. Ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen. Ein bisschen sahen diese Strudel aus wie Wolken am Himmel, die schnell weiterziehen wollten. Die Luft roch nach Mandarine und Fichtenholz. Mein Blick klebte auf dem Papier, doch nichts erschien darauf, kein einziger Buchstabe. Einen Moment überlegte ich, ob es vielleicht an mir lag. Ob es einfach zu lange her war, dass ich einen dieser magischen Düfte benutzt hatte. Erinnerte ich mich etwa nicht mehr, wie sie richtig funktionierten? Ich wollte schon aufgeben, als sich auf einmal aus den Strudeln ein Buchstabe formte und vor mir in der Luft schwebte.
Vor Aufregung vergaß ich weiterzuatmen. Ein Strom aus gelb leuchtenden Buchstaben stieg aus dem Papier zur Zimmerdecke auf. Es waren nicht mehr nur Buchstaben, sondern ganze Sätze. Ein kompletter Brief war das, der vor meinen Augen in der Luft waberte.
Liebe Ella Fredericks,
ich freue mich, dir mitteilen zu können, dass wir einen Platz im kommenden Sommercamp der Duftakademie für dich bereithalten. Alles Organisatorische findest du auf den beiliegenden Zetteln und dem Anmeldebogen, den du uns im Falle deiner Teilnahme in den nächsten vier Wochen zurücksenden solltest.
Mit der beiliegenden Duftprobe kannst du gern etwas herumexperimentieren, bis es losgeht. Ich bin sehr gespannt, welche Beobachtungen du machen wirst, und freue mich, dich schon ganz bald in unserer Akademie begrüßen zu können.
Deine Luzie Alvenstein
Schulleiterin der Duftakademie
Luzie Alvenstein. Mein Herz zog sich bei dem Namen ein Stück zusammen. Seit ich acht Jahre alt war, wartete ich darauf, von ihr zu hören. Fünf Jahre war unsere letzte Begegnung bereits her. Anfangs hatte ich mir immer gewünscht, einfach mal wieder mit ihr zu reden. Schließlich war sie schon so lange mein Vorbild. Sie war eine Sentifleur, genau wie ich, und alles, was sie sagte, sog ich in mich auf. Mittlerweile sehnte ich nur noch den Moment herbei, an dem sie mich endlich einlud in ihre Duftakademie. Es gab so vieles, das ich von ihr lernen wollte. Von ihr, der großen Luzie Alvenstein, die unter Eingeweihten auf der ganzen Welt für ihre magischen Düfte bekannt war und die mittlerweile eine Schule gegründet hatte … für Sentifleurtalente.
Also eine Schule für solche wie mich.
Ich lehnte mich zurück und stieß die Luft aus. Dann griff ich mir einen Kugelschreiber und füllte den Anmeldebogen aus, auf dem die Schrift in der Zwischenzeit sichtbar geworden war. Mein Herz pochte immer noch. Ja, ich war enttäuscht, dass ich – nach allem, was passiert war – so lange auf eine Nachricht von ihr hatte warten müssen und eine Einladung erst jetzt kam. Ich war enttäuscht, nicht beim Aufbau der Duftakademie hatte mithelfen oder wenigstens eine der allerersten Schülerinnen dort sein zu dürfen. Aber Luzie hatte festgelegt, dass man erst mit dreizehn Jahren aufgenommen wurde. Ganz egal was man für Vorkenntnisse mitbrachte. Das hatte sie mir damals ausführlich erklärt. Und da machte sie auch bei mir keine Ausnahme.
Doch jetzt, endlich, war es so weit! Ich würde lernen, das Talent, das ich besaß, richtig zu nutzen. Ich würde nicht nur magische Düfte herstellen, sondern auch üben, Gefühle und Gedanken aus den Düften herauszulesen. Und vielleicht hatte ich nun doch noch eine Chance, eines Tages zu den besten Sentifleurs dieser Welt zu zählen.
Mit dem zusammengefalteten Papier verließ ich mein Zimmer. »Hast du eine Briefmarke für mich?«, rief ich Mum quer durch die Wohnung zu.
Sie saß am Tisch in der Küche, vor ihr jede Menge Papierstapel. Ihre blonden Haare waren noch nass vom Duschen und sie hatte sie glatt nach hinten gekämmt. »Wie, du bist noch hier?«, fragte sie. »Was ist mit der Schule, fängt die nicht gleich an?«
Ich verdrehte die Augen. Mum schickte mich immer viel zu früh los. Wenn es nach ihr ginge, würde ich täglich schon vor der Schule stehen, bevor sie überhaupt öffnete.
Wahrscheinlich lag es daran, dass sie es selbst hasste, wenn man sie warten ließ. Mum meinte immer, jemanden warten zu lassen, sei, als würde man ohne Worte sagen, dass man die Zeit mit diesem Jemand nicht gern verbrachte. Und es wäre sehr hässlich, so etwas zu sagen. Mit oder ohne Worte. Ich fand, sie übertrieb damit. Obwohl … ehrlicherweise musste ich zugeben, dass ich jedes Mal absolut ihrer Meinung war, wenn man mich warten ließ. Aber egal. Möglicherweise lag es auch daran, dass Mum gern alles durchplante, was sie tat. Nur deshalb funktioniere es bei uns so gut, meinte sie. Trotz unserer Situation.
Unsere Situation.
Das bedeutete, dass Mum seit letztem Jahr zwei Jobs hatte. Einen bei Lübecks feine Köstlichkeiten, dem Feinschmeckerladen bei uns im Viertel. Dort kosteten zwar alle Lebensmittel unfassbar viel Geld, aber leider war Mums Gehalt nicht ebenso hoch. Deshalb arbeitete sie seit letztem Jahr zusätzlich noch als Putzfrau. So unter der Hand für Bekannte von Bekannten, die so viel zu tun hatten, dass sie ihre eigenen Wohnungen nicht mehr selbst putzen konnten.
Eigentlich war Mum Chemikerin. Eine ziemlich Gute, das wusste ich, ich war schließlich ihre Tochter. Trotzdem arbeitete sie nicht in dem Beruf. Wenn jemand sie nach dem Grund dafür fragte, antwortete sie, es gäbe viele. Allerdings wusste ich inzwischen: Ich war der Grund, weil Mum noch jung gewesen war und gerade erst mit dem Studium fertig, als ich auf die Welt gekommen war. Aber das würde Mum niemals so sagen.
»Ich hab doch noch Zeit!«, sagte ich im Gehen, während ich mich an Mum und dem Küchentisch vorbeizwängte.
»Kleinen Moment noch, ich bin sofort fertig«, nuschelte sie, ohne mich anzusehen. Was so viel heißen sollte wie: Stör mich jetzt nicht, das hier dauert.
»Entspann dich, Mum. Hast du irgendwo Briefmarken?«
»In der mittleren Schreibtischschublade sind noch welche, die unter der mit dem Besteck. Wieso?« Endlich hob sie den Kopf und sah mich fragend an.
Ich wedelte bedeutsam mit den Papierbögen in meiner Hand. Doch Mum sah mich nur weiter mit halb offenem Mund an. »Was ist das?«
Zwei Sekunden gab ich ihr noch. Vielleicht kam sie ja doch selbst darauf.
Kam sie aber nicht.
»Das ist Post von Luzie Alvenstein. Ich darf ins Sommercamp der Duftakademie!« Meine Stimme quiekte vor lauter Begeisterung und ich hopste in die Höhe.
Mums Mund klappte komplett nach unten. Sie wirkte für einen Moment fassungslos, aber schließlich legte sich doch ein Lächeln auf ihre Lippen. »Gratuliere, Schätzchen!« Sie umarmte mich und hob mich dabei das kleine Stückchen in die Luft, das sie mich noch hochheben konnte. »Na, das wurde auch wirklich langsam Zeit!« In ihrer Stimme klang immer noch ein letzter Rest Sorge mit. »Das feiern wir heute Abend! Und schick den Bogen auf keinen Fall ab, bevor ich noch mal alles ausgiebig gelesen habe. Schließlich bin ich deine Mama und ich muss erst mal prüfen, wozu du dich da anmeldest, richtig?«
Mein Grinsen war so breit, dass es schon wehtat. »Richtig.«
Ich wusste, dass Mum diese Sache mit der Duftakademie eigentlich gar nicht recht war. Noch vor einiger Zeit hätte sie einer Ausbildung dort niemals zugestimmt. Es gab aus ihrer Sicht zu viel, was dagegensprach. Bei meiner ersten Begegnung mit den magischen Düften vor fünf Jahren war so viel falsch gelaufen … und diese Ereignisse hatten bei Mum nichts als Sorgen hinterlassen. Sorgen darüber, wie gefährlich die Düfte manchmal werden konnten und wie sehr ich dadurch erneut in eine Situation geraten könnte, vor der sie mich beschützen wollte.
Wir hatten gefühlt Hunderte Male darüber diskutiert und jedes Mal hatte ich ihr versichert, dass ich mir nichts mehr wünschte, als an dieser Schule ausgebildet zu werden. Außerdem war so vieles auf dieser Welt gefährlich. Mum konnte eigentlich froh sein, dass ich mich nur für die Duftakademie interessierte und nicht fürs Fallschirmspringen.
Womit ich sie schließlich genau überzeugt hatte, wusste ich nicht. Vermutlich war es meine nicht enden wollende Begeisterung. Mum verstand einfach über die Zeit hinweg, wie wichtig mir das alles war, und sie spürte, dass es auch keine Phase war, die vorübergehen würde. Insgeheim wünschte sie sich zwar bestimmt, ich würde mich lieber für etwas Normaleres interessieren, trotzdem ließ sie mich machen. Da war Mum Mama genug, um sich jetzt einfach mit mir mitzufreuen.
Sie schob ihren Papierstapel zusammen und legte ihn beiseite. »Fürs Erste musst du dich aber auf den Weg in deine richtige Schule machen. Los, los!«
Am Abend führte Mum mich tatsächlich in ein Restaurant aus. Sie hatte sich richtig schick gemacht und bei unserem Lieblingsitaliener wie eine Löwin um den Fensterplatz gekämpft, obwohl der längst reserviert gewesen war. Ich freute mich unendlich darüber, nur eine einzige Sache störte mich: Papa fehlte. Wie eigentlich immer seit dem letzten Jahr.
Mittlerweile redeten Mum und ich nur noch selten über ihn. Mum wurde bei dem Thema jedes Mal unangenehm still und ich wusste ohnehin nicht, was ich dazu sagen sollte.
Warum Papa nicht mehr bei uns wohnte, hatten mir die beiden in ihren Erwachsenenworten erklärt. Zusammengefasst: Sie liebten sich nicht mehr so, wie sie es früher getan hatten. Deshalb war Papa ausgezogen und ich sah ihn nur noch alle paar Wochen. Doch das lag hauptsächlich an mir. Ich war lieber bei Mum. In Papas neuer Wohnung hatte ich zwar auch ein eigenes Zimmer, allerdings gab es da auch seine neue Freundin. Deshalb besuchte ich ihn nur, wenn er allein war. Und das war nicht so oft der Fall.
Über die flackernde Kerze hinweg sah ich Mum an. Sie lächelte zu mir herüber und kurz war ich mir sicher, dass wir in diesem Moment den gleichen Gedanken hatten. Den Gedanken an Papa. Und dass er trotz allem fehlte.
Doch bevor sich der Gedanke schwer machte, schlug Mum die Speisekarte auf. »Lass uns etwas essen, was wir noch nie probiert haben! Irgendwas, das wir niemals bestellen würden, weil es so seltsam klingt. Was meinst du? Das passt perfekt, um deine Aufnahme an einer Schule zu feiern, die ebenfalls mehr als seltsam ist.«
Ich musste lachen. Das war Mum, wie sie in ihren besten Momenten war. Ein kleines bisschen verrückt. Die Sorte gut verrückt. Zwar wusste ich, dass ihr die magischen Düfte immer noch nicht ganz geheuer waren, aber ich wusste auch, dass sie mich bei jedem Schritt unterstützen würde.
»Okay«, stimmte ich zu. »Aber das funktioniert nur, wenn ich etwas für dich aussuche und du für mich. Sonst schummelst du wieder und ich muss Schnecken in Knoblauchbutter essen und du isst lecker Pizza.«
Mum hob mit gespielter Empörung ihre Augenbrauen. »Niemals würde ich schummeln!«
»Natürlich nicht, deshalb suche ich ja auch was für dich aus, das du bestimmt noch nicht gegessen hast. Und du suchst mir auf keinen Fall etwas aus, das eklig ist, also Schnecken sind tabu.«
»Selbstverständlich!« Mum kicherte und vertiefte sich in die Karte.
Am Ende bekam ich einen Mischmasch aus Auberginen mit Tomaten, Rosinen, Sellerie, Mandeln und Pinienkernen, der sich Caponata nannte und tatsächlich sehr viel besser schmeckte, als es klang. Mum durfte Pizza mit Kapern essen. Der Abend war toll. So wie man es sich nur wünschen konnte. Aber mit Mum war es meistens toll, und das, obwohl das letzte Jahr alles andere als einfach gewesen war. Nicht nur weil Papa fehlte, sondern auch, weil ich mir wegen der ausbleibenden Einladung in die Duftakademie immer erbärmlicher vorgekommen war. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, hatte ich oft an Mum ausgelassen, was mir im Nachhinein wirklich leidtat. Aber jetzt würde alles anders werden, das versprach ich mir.
Endlich war es so weit und ich hievte mein Gepäck in den Kofferraum. Mum lief ständig hin und her, zum Auto, dann wieder rauf in die Wohnung, weil sie irgendetwas ganz Wichtiges vergessen hatte. Zum Beispiel eine Packung Taschentücher. Oder einen Kugelschreiber. Ich setzte mich schon mal auf den Beifahrersitz und wartete, bis sie zurückkam. Im Seitenspiegel überprüfte ich meine Frisur. An mein neues Aussehen hatte ich mich noch nicht so richtig gewöhnt, aber es gefiel mir. Der Pony und die bis zur Schulter geschnittenen Haare passten mittlerweile besser zu mir als meine ellenlangen braunen Haare. Sie hatten mich nur noch jünger aussehen lassen, als es eh schon alle vermuteten. Wegen meiner überschaubaren Körpergröße wurde ich meistens zwei Jahre jünger geschätzt und darauf hatte ich wirklich keine Lust mehr. Im letzten Jahr war ich erwachsener geworden. Und ich wollte, dass man mir das auch ansah. Das kleine Mädchen, für das mich alle hielten, war ich schon lange nicht mehr. Dafür war einfach zu viel passiert.
Und das nicht nur im letzten Jahr.
Endlich öffnete Mum die Autotür und ließ sich in den Sitz fallen. »Bereit?« Ihre hellgrünen Augen blickten mich voll Erwartung an. Die hatte sie mir vererbt, worüber ich ziemlich froh war. Leider hatte ich außer ihrer Körpergröße sonst nämlich nichts von ihrem Äußeren abbekommen. Stattdessen kam ich mehr nach meinem Dad. Für einen Mann sah er schon ganz okay aus, aber mal ehrlich: Welches Mädchen wollte schon aussehen wie ihr Vater? Ich jedenfalls nicht.
Mit einem Nicken beantwortete ich Mums fragenden Blick. »Lass uns endlich losfahren, ich bin so was von bereit!«
Mum lächelte mich an und legte ihre Lieblings-CD ein, die sie seit einer Woche rauf und runter hörte. Wir hatten knapp vier Stunden Autofahrt vor uns, von Lübeck bis zur Duftakademie, die irgendwo in der Mitte von Nirgendwo lag, kurz vor der holländischen Grenze. Endlich jaulte der Motor auf und wir fuhren los. In mir machte sich Vorfreude breit und gleichzeitig war ich schrecklich nervös. Ich hatte mir so oft vorgestellt, was wohl in der Duftakademie auf mich zukommen würde. Alle möglichen Situationen hatte ich im Kopf durchgespielt und versucht, mich darauf vorzubereiten. Wie es sein würde, dort niemanden zu kennen. Wie der Unterricht wohl ablaufen würde und welchen magischen Duft ich zuerst ausprobieren durfte. Aber … würden meine Vorstellungen auch Wirklichkeit werden?
Um mich ein bisschen abzulenken, lehnte ich meinen Kopf an die Fensterscheibe und sah dem Stadtverkehr zu, der sich Stück für Stück in vorbeiziehende Felder verwandelte. Irgendwann schloss ich die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber das war wirklich zu viel verlangt bei meiner Aufregung.
Nachdem wir schon seit einer Weile nur noch geradeaus gefahren waren, drehte Mum die Musik leiser und räusperte sich. »Worauf freust du dich eigentlich am meisten?«
Wo soll ich nur anfangen?, dachte ich im Stillen. Darauf, endlich mit anderen zusammen sein zu können, die genau wie ich von den magischen Düften wissen? Darauf, dass ich für ein paar Wochen kein Geheimnis mehr für mich behalten muss?
In der Schule hatte ich zwar zwei beste Freundinnen, Hannah und Meli, aber ich konnte ihnen natürlich nichts von den magischen Düften oder meinem Sentifleurtalent erzählen. Es war ein Geheimnis, das wir alle bewahren mussten. Was dazu führte, dass ich mich oft ziemlich einsam fühlte.
»Ich freue mich auf das Arbeiten mit den Düften und alles darüber zu lernen, was ich noch nicht weiß«, sagte ich leise, doch als Mum mir einen Seitenblick zuwarf und eine ihrer Augenbrauen hob, seufzte ich und fügte hinzu: »Es wird super sein, endlich offiziell als Sentifleur ausgebildet zu werden und Teil von alldem sein zu können. Sechs Wochen ohne die ganze Geheimniskrämerei! Darüber freue ich mich am meisten.«
Mum nickte kaum sichtbar und sah weiter auf die Straße vor uns. Ich wusste genau, wie wenig sie mich in dieser Sache verstand, auch wenn sie es wirklich versuchte. Die magischen Düfte konnten verdammt gefährlich sein. Das wusste Mum genau, weil wir es selbst vor fünf Jahren zu spüren bekommen hatten. Sie würde das nie ganz vergessen, egal, wie sehr ich auch versuchte, sie zu überzeugen. Schließlich wollte Mum mich vor allem beschützen, so gut es eben ging. Und wenn es nach ihr ginge, wäre ich mit alldem sicher nie wieder in Berührung gekommen. Aber ihr war eben auch klar, wie wichtig mir das alles war und dass ihre Verbote uns nur auseinandertreiben würden, weil sie nichts an meinem Wunsch änderten. Und das wollte sie genauso wenig, wie sie mir etwas wegnehmen wollte, das mir alles auf der Welt bedeutete. Und dafür liebte ich sie doppelt.
Ohne ein Wort zu sagen, blickte ich eine Weile zu ihr. Dann legte ich eine Hand auf ihren Arm. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wirklich. Ich schaffe das schon.«
Als Antwort kniff Mum nur die Lippen aufeinander und nickte ein zweites Mal, während ich die Musik wieder lauter drehte und mich zurücklehnte.
Selbst auf der Raststätte, auf der Mum uns Pommes zum Mittagessen gönnte, schwieg ich mehr, als zu reden. Das war meine Art, mich innerlich auf etwas vorzubereiten, von dem ich nicht wusste, wie es werden würde.
Mum fuhr von der Autobahn ab und bog auf eine Landstraße ein, die uns durch einen Wald führte. Die Bäume schienen gar nicht mehr aufzuhören, als würden sie uns früher oder später verschlucken. Doch nach einem Blick auf das Navigationssystem meinte Mum, dass es jetzt wirklich nicht mehr weit war, und mein Herz fing wieder an, schneller zu pumpen.
Wir hielten schließlich an einem Eisentor, das doppelt so hoch war wie wir selbst. Es stand offen, trotzdem parkte Mum das Auto am Straßenrand und streckte den Kopf aus dem Fenster. Ich folgte ihrem Blick. Die Waldstraße führte hinter dem Tor weiter durch den Wald, wie sie es schon den ganzen Weg hierher getan hatte. Sommercamp, stand ohne weitere Erklärung auf einem Schild. Und: Parkplatz in 100 m.
»Ah!« Mum lächelte mich an. »Dann mal los!«
Der Parkplatz war nicht zu übersehen und vollgestellt mit allen möglichen Autos der unterschiedlichsten Preisklassen. Mum zwinkerte mir zu, als sie zwischen einem angerosteten VW Bus und einer schwarzen Limousine mit getönten Scheiben parkte. »An Abwechslung scheint es schon mal nicht zu mangeln.«
Ich griff nach meinem Rucksack und Mum nach meinem Koffer, den ich ihr aber gleich wieder abnahm. »Nicht!«, schimpfte ich. »Das muss ich schon selbst machen.«
Auf keinen Fall würde ich auf das Akademiegelände laufen, während meine Mutter all meine Sachen trug.
Mum lachte nur und ging zwischen den Autos hindurch voraus.
Die Luft roch warm und nach Waldboden, während die Blätter der Bäume nur die Hälfte der Sonnenstrahlen zu uns durchließen. Meine Schuhsohlen sanken bei jedem Schritt in der Erde ein. Der Wald strahlte etwas aus, das mich beruhigte, obwohl mir die Aufregung auf das, was uns gleich erwarten würde, ein Kribbeln durch den Körper schickte.
Mum und ich liefen immer weiter in den Wald hinein, bis sich der Duft des Waldes veränderte und sich Stimmen zum Vogelgezwitscher mischten. Doch nicht die Leute, zu denen die Stimmen gehören mussten, waren der Grund für die neuen Gerüche. Eigentlich waren die sich verändernden Düfte kaum wahrnehmbar. Ich wettete, Mum bemerkte sie nicht mal. Aber mir entging es nicht, ich hatte sogar schon darauf gewartet.
Düfte von Baumrinde, Blättern und Moos wichen einem Hauch von Fichte und Kiefer, obwohl weit und breit keine Nadelbäume wuchsen. Eukalyptus zog an mir vorbei, gefolgt von Zedernholz und Rosenblättern. In mir wirbelten die neuen Duftnoten meine Erinnerungen durcheinander und ich platzte fast vor Spannung auf das, was ich gleich sehen würde.
Mein Koffer rumpelte hinter mir her und ich musste ihn immer wieder gerade stellen, damit er nicht ständig auf die Seite kippte. Ich war so damit beschäftigt, dass ich fast in Mum hineinlief. Sie war stehen geblieben, ihren Blick starr nach vorn gerichtet. Und auch mir klappte der Mund auf.
Vor uns tat sich eine Lichtung auf, die auf eine ganz eigene Art von innen heraus zu leuchten schien. Der Ort, der uns begrüßte, wirkte weit und groß. Überall entdeckte ich Wohnwagen, die an Minihäuser auf Rädern erinnerten, Riesenzelte und Waldhütten, die um oder sogar in die Bäume gebaut worden waren. Und inmitten all dieser Unterkünfte schien ein warmes Licht aus dem Boden alles zu überstrahlen.
Ich hatte so … so lange darauf gewartet, hier zu sein. In der Duftakademie. Doch nun kam es mir wie ein einziger Traum vor.
»Meine Güte!«, hauchte Mum. »Das ist … unglaublich.«
Ich nickte. Zwar hatte ich mir vieles ausgemalt. Aber nicht das. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass sich die Duftakademie in der Villa Evie befinden würde. Dem Ort, an dem sich angeblich die geheime Duftapotheke befand, mit der alles rund um die magischen Düfte angefangen hatte. Aber das war definitiv nicht der Fall. Die Duftakademie lag mitten in einem Wald!
Mum zeigte auf einen überdachten Verschlag, an dem ein Zettel mit dem Wort Anmeldung klebte. Eine Frau mit kurzen weißen Haaren saß dort und trug scheinbar alle Neuankömmlinge in eine Liste ein. Mum zog mich zu ihr herüber und wir stellten uns hinter einen Jungen. Neben ihm stand eine Frau, die zu jung wirkte, um seine Mutter zu sein, allerdings auch zu alt, um noch selbst zur Schule zu gehen. Beide waren auffallend schick angezogen. Sie trugen diese Art von Kleidung, die aus Kaschmir und Seide oder sonstigen überteuerten Stoffen bestand. Auf jeden Fall sah alles an ihnen nach Wohlstand aus und danach, genau das auch ausdrücken zu wollen.
Ich blickte an mir herunter, und obwohl ich es nicht wollte, verglich ich mich sofort mit ihnen. Ich trug einen Kapuzenpullover, Jeans und Turnschuhe, wovon alles nicht gerade neu war. Ein unangenehmes Gefühl stieg in mir auf, doch gerade als ich den Blick abwenden wollte, drehte sich die Frau vor uns plötzlich um.
Sie war auffallend gut aussehend und lächelte mich an. Gleichzeitig begriff ich, dass ich den Jungen neben ihr kannte. Von früher. Aus der Zeit, als ich auch Luzie Alvenstein kennengelernt hatte und das erste Mal mit den magischen Düften in Berührung gekommen war.
Es war Raffael de Richemont.
Er hatte sich verändert und war unübersehbar älter geworden. Nichts erinnerte mehr an den achtjährigen Jungen von damals. Stattdessen war er kräftiger und auch größer. Um einiges größer, als ich es erwartet hätte. Doch obwohl er so anders aussah, würde ich dieses Gesicht wahrscheinlich in jeder Situation wiedererkennen.
Er musste inzwischen fast vierzehn sein, wenn ich mich richtig erinnerte.
Raffael erwiderte meinen Blick. In seinen hellbraunen Augen lag der gleiche Schreck, wie er wahrscheinlich auch in meinem lag. Weder er noch ich bekamen einen Ton heraus. Kein Hallo oder Ach, du auch hier?.
Nichts.
Mein Magen fühlte sich flau an, weil die Erinnerung an die Zeit, die jetzt fünf Jahre zurücklag, mit einem Mal in mir einschlug wie eine Bombe. Es waren Momente, die ich seitdem versuchte zu verdrängen. Ich sprach nie darüber, nicht einmal mit Hannah und Meli. Raffael war der Einzige, der wusste, was damals geschehen war.
Ich hatte seitdem oft an ihn gedacht und mich gefragt, wie es ihm wohl ging. Es gab so vieles, worüber ich mit ihm hatte sprechen wollen. Nach dem, was uns beiden passiert war, hatten wir uns nie wiedergesehen und ich hatte mich auch nicht getraut, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Doch jetzt stand er vor mir und ich spürte, wie sehr ich mich darüber freute.
Hallo, wollte ich gerade sagen, aber da strich sich Raffael durch seine dunkelblonden kurzen Haare und drehte sich auf einmal von mir weg. Ich war so verdattert, dass ich kein Wort mehr herausbekam.
Doch bevor die Situation unangenehm werden konnte, winkte die Frau an der Anmeldung Raffael zu sich, damit er sich in die Liste eintragen konnte. Verstohlen beobachtete ich ihn. Obwohl ich nur seinen Rücken sah, glaubte ich zu spüren, wie angespannt er war. Eine Sache war wohl ziemlich klar: Keiner von uns war darauf vorbereitet gewesen, dass wir hier aufeinandertreffen würden. Komisch eigentlich, schließlich hätten wir uns denken können, dass wir, wenn überhaupt, beide gleichzeitig eine Einladung fürs Sommercamp bekamen.
Als Raffael fertig war, wollte ich noch einmal ansetzen, ihn zu begrüßen, aber er ließ mich einfach stehen und ging mit der Frau an seiner Seite davon.
Enttäuschung schwappte in mir über. Nach allem, was wir zusammen erlebt hatten, hatte er nicht mal ein Hallo für mich übrig?
»Herzlich willkommen, Liebes«, begrüßte mich stattdessen die Frau an der Anmeldung und winkte Mum und mich nach vorne. »Ich bin Melissa Haag.«
Die Frau trug einen selbst gestrickten Pullover, der kratzig aussah. Sie blickte mich durch ihre randlose Brille an, während sie mir ihre Hand entgegenstreckte, damit ich ihr meine Anmeldepapiere reichen konnte. »Ach, du bist auch zum ersten Mal hier«, stellte sie mehr fest, als zu fragen, während sie meine Zettel überflog. »Sehr schön! In der Aula findet gleich die Begrüßungsfeier statt.« Um Frau Haags Augen bildeten sich Lachfältchen, während sie Mum einen Blick zuwarf. »Daran dürfen auch Sie noch teilnehmen, wenn Sie möchten.« Mum nickte und die Frau schaute wieder zu mir. »Danach bekommen alle Neuankömmlinge ihre Zimmer zugeteilt und ihr könnt erst mal ankommen und euch im Camp umsehen.« Sie reichte mir eine Mappe, in der ein paar neue Zettel lagen. »Wenn du in der nächsten Zeit zu irgendetwas Fragen oder Sorgen hast, kannst du dich immer an mich wenden. In der Akademie unterrichte ich Pflanzenkunde, ich bin aber ebenfalls eure Vertrauenslehrerin. Wenn du also mit jemandem reden möchtest, sprich mich einfach an.« Sie lächelte und zeigte hinter sich aufs Gelände. Alles an Frau Haag war rund und weich. Ich mochte sie auf Anhieb. »Geht am besten schon mal nach unten, dann bekommt ihr vielleicht noch einen Sitzplatz. Willkommen und einen guten Start!«
Mum erkundigte sich noch rasch nach den Toiletten und ich verabschiedete mich von Frau Haag, bevor ich ein paar Schritte über das Gelände spazierte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich hinmusste oder was nach unten gehen bedeuten sollte, also wartete ich einfach weiter auf Mum. Die würde sich die Begrüßungsfeier natürlich unter keinen Umständen entgehen lassen.
Das Camp lag auf einer Lichtung, die von den Bäumen des Waldes ringsherum wie Mauern umschlossen zu sein schien. Mittig auf dem Gelände befand sich immer noch dieses seltsame Leuchten. Doch erst jetzt erkannte ich, dass es aus einer Glaskuppel im Boden kam. Ich ging weiter darauf zu. Die Kuppel war hüfthoch und sah aus wie eine bestimmt fünf Meter große halbierte Seifenblase. Sie schien mit jedem Schritt, den ich darauf zuging, größer zu werden. Unter dem Glas entdeckte ich einen Abgrund. Dort, wo die Kuppel im Boden versank, stellte ich mich an den Rand und blickte hinab.
Gelbes Licht schien mir entgegen. Ich beugte mich weiter vor und hielt die Luft an. Weit unter meinen Füßen war kein Erdloch. Nein, da unten befand sich ein Saal! Die Einrichtung erinnerte mich an eine altmodische Bibliothek. Dort würde also die Versammlung stattfinden? Nur, wie kam man da rein? Ich hob den Kopf und sah mich um. Die meisten Schülerinnen und Schüler, die hier umherliefen, wirkten älter als ich und verhielten sich so, als wüssten sie genau, was als Nächstes zu tun war. Und selbst die jüngeren schienen nicht ansatzweise so planlos zu sein wie ich. Hatte ich irgendwelche Unterlagen übersehen? Vielleicht einen Lageplan? Wieso wussten alle mehr, als ich es tat?
»Suchst du den Eingang in die Aula?«, hörte ich plötzlich jemanden neben mir sagen. Ich drehte mich um und entdeckte die Frau, die bei der Anmeldung gerade noch neben Raffael gestanden hatte. »Du findest ihn dort hinten.« Sie streckte einen Arm aus und zeigte auf eine Treppe. Sie ähnelte einer Kellertreppe, wie sie manchmal außen an Häusern zu finden war, um ins Untergeschoß zu gelangen. Nur mit dem Unterschied, dass es kein Haus an der Treppe gab. Dafür aber ein Metallgeländer, das in ein viereckig gemauertes Loch nach unten führte.
»Danke«, sagte ich erleichtert. »Das hab ich übersehen.«
»Kein Problem. Die machen es einem aber auch wirklich nicht leicht, sich zurechtzufinden, wenn man noch nie hier war.« Die Frau lächelte mich an, als hätte sie meine Gedanken lesen können.
Ihr auffallend gutes Aussehen schüchterte mich so ein, dass ich mich kaum traute, sie direkt anzublicken. Ihre Haare glänzten hell und dick und ließen mich an einen Seidenschal denken. In ihrem Gesicht hatte alles das perfekte Verhältnis: Ihre Augen waren groß, ihre Nase zart und ihr Mund weder zu schmal noch zu breit. Natürlich war sie schlank und ähnelte in ihrem eng anliegenden Kaschmirpullover einer Hollywoodschauspielerin.
»Ich bin Charlestra«, erklärte sie, »Raffaels große Schwester. Ihr beiden kennt euch, oder? Raffael sagte so etwas.«
Seine Schwester?
Ich hatte irgendwie immer gedacht, dass Raffael ein Einzelkind wäre. »Ja, das stimmt«, antwortete ich. »Ich bin Ella. Ella Fredericks.«
Charlestra warf mir einen freundlichen Blick zu. »Wie nett, dich mal kennenzulernen. Ist schön hier, oder? In so einem Sommercamp wäre ich auch gern gewesen, als ich so alt war wie du. Kommst du mit in die Aula?« Noch während ihrer letzten Worte drehte sie sich zum Gehen. Um ein Haar wäre ich ihr reflexartig hinterhergelaufen, blieb dann aber doch noch stehen.
»Ich warte noch auf meine Mum.«
Charlestra lächelte mich an. »Dann bis gleich! Raffael ist sicher längst in der Aula.« Und schon sah ich ihr nach, wie sie nach ein paar Schritten auf den Treppenstufen nach unten verschwand.
»Das war vielleicht kompliziert zu finden!« Mum atmete schwer, als sie auf mich zukam. »Dieses Sommercamp ist größer, als ich gedacht hätte. Weißt du, wo wir hinmüssen?« Mum blieb neben mir stehen und sah durch die Kuppel hinunter in die Aula. Ihre Stirn kräuselte sich. »Da rein?«
»Ganz genau.« Mit einem Grinsen zog ich Mum hinter mir her zur Treppe.
Von oben hatte ich schon beobachtet, wie sich in der Aula die Stühle mit Teenagern und Eltern gefüllt hatten, aber unten angekommen, sah alles noch viel beeindruckender aus. Der Raum besaß die Größe von bestimmt sechs durchschnittlichen Wohnzimmern zusammen.
Der Boden bestand aus lackierten Holzdielen, auf denen jede Menge Teppiche lagen. Eigentlich bestand die gesamte Einrichtung aus glänzendem Holz. An den Wänden hingen Fotografien in goldenen Rahmen. Und überall leuchtete Licht aus Lampen, die den Raum orange färbten. Gemurmel und Musik füllte die Halle, während ich nach zwei freien Plätzen für uns suchte. Es gab nur noch ganz hinten ein paar, auf die wir uns setzten. Mum und ich schwiegen, während wir beobachteten, was um uns herum passierte. Immerhin entdeckte ich nun doch ein bisschen Nervosität in den Gesichtern der anderen Neulinge. Ich selbst konnte kaum still sitzen, so hibbelig war ich.
Es duftete nach etwas, das mir im Einzelnen vertraut war, aber in dieser Kombination völlig fremd. Eigentlich waren es gleich mehrere Düfte, die hier unten genauso aufeinandertrafen wie wir Menschen. Doch es waren nicht die Parfüms der Anwesenden, sondern Düfte wie Zitrone, Kardamom, Anis oder Mokka. Es roch so ungewöhnlich gut, so vielfältig, kräftig und aufregend, dass ich es gar nicht erwarten konnte, dass meine Zeit an der Duftakademie endlich begann. Wahrscheinlich verliebte ich mich genau in diesem Augenblick in den Ort, der nach allem Möglichen roch und dafür sorgte, dass mir die Welt mit einem Schlag so viel weiter und interessanter erschien, als sie es noch vor ein paar Stunden getan hatte.
Im vorderen Teil des Raumes entdeckte ich ein Rednerpult, um das mehrere Erwachsene herumstanden und sich unterhielten. Höchstwahrscheinlich waren das die Lehrerinnen und Lehrer der Akademie, die genau wie wir darauf warteten, dass die Begrüßungsfeier beginnen würde.
Immer wieder stockte ich, weil ich dachte, Luzie Alvenstein irgendwo entdeckt zu haben. Das war ein vertrautes Gefühl. Bis vor ein oder zwei Jahren hatte ich immer wieder an den verschiedensten Orten gedacht, Luzie irgendwo zu erkennen. Auf der Straße, im Supermarkt, überall. Einfach weil ich es mir so sehr wünschte. Aber jedes Mal täuschte ich mich. Doch heute musste sie auftauchen. Immerhin war die Duftakademie ihre Schule und sie selbst die Schulleiterin. Ganz sicher würde sie die Begrüßungsfeier einleiten. Wie sie wohl mittlerweile aussah? In meinem Magen drehte sich die Aufregung im Kreis.
Doch als eine Person schließlich auf das Rednerpult zuging, war es nicht Luzie … sondern jemand anderes.
Die Musik wurde heruntergedreht und die Frau, die uns gerade noch am Eingang des Akademiegeländes in Empfang genommen hatte, trat hinter das Rednerpult. Es war Melissa Haag, die ältere Frau mit den weißen Haaren und dem selbst gestrickten Pullover. Im Raum wurde es plötzlich still und Frau Haag erhob ihre Stimme.
»Herzlich willkommen im Sommersemester der Duftakademie! Ich bin überglücklich, dass alle, die wir eingeladen haben, auch unserer Einladung gefolgt sind. Es ist wundervoll, dass ihr bei uns seid. Leider kann unsere Schulleiterin Luzie Alvenstein heute nicht selbst hier stehen und, wie eigentlich geplant, die Begrüßungsrede halten.«
Ein enttäuschtes Raunen breitete sich unter der Kuppel aus und mir fiel schlagartig wieder ein, dass Luzie nicht nur mein ganz persönliches Vorbild war, sie war es auch für viele andere hier. Ich verkrampfte beide Hände in meinem Schoß. Luzie war nicht hier? Was konnte denn so viel wichtiger sein als die Eröffnung des Sommercamps?