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Willkommen an der Duftakademie! Die Fantasy-Reihe von Bestseller-Autorin Anna Ruhe Ella Fredericks kann es kaum erwarten, in die Duftakademie zurückzukehren! Endlich wird sie mehr darüber erfahren, was es bedeutet, eine Sentifleur zu sein - und wie sie mit ihrem Talent umgehen soll. Doch gleich nach Ellas Ankunft überschlagen sich die Ereignisse. Raffael ist verschwunden und eine Schülerin der Akademie wird von Visionen geplagt - die scheinbar etwas über die furchtbaren Pläne des Patrons verraten. Doch was an diesen Visionen dran ist und in welcher Gefahr Raffael wirklich steckt, bleibt so lange ein Rätsel, bis Ella, Polly und Ben sich auf die Suche nach Antworten machen. Auf was die drei daraufhin treffen, stellt sie vor eine ungeahnte Herausforderung … Große Spannung, Magie und Abenteuer für alle Mädchen und Jungs ab 10 Jahren. Fantasievoll erzählt von Bestseller-Autorin Anna Ruhe und mit atmosphärischen Schwarz-weiß-Illustrationen von Claudia Carls ("Woodwalkers", "Alea Aquarius"). Alle Bände der Duftakademie sind einzeln und unabhängig von der Duftapotheke lesbar. "Die Duftakademie" im Arena Verlag: Die Entdeckung der Talente (Band 1) "Die Duftapotheke" im Arena Verlag: Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1) Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2) Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3) Das Turnier der tausend Talente (Band 4) Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5) Das Vermächtnis der Villa Evie (Band 6) Die Presse über "Die Duftapotheke": "Für ihre Geschichten lässt Anna Ruhe ihre Fantasie so richtig sprudeln!" - ZEITleo "Fantasievoll und sinnlich." - BÜCHER Magazin "Ein echt duftes Kinderbuch!" - empfohlen vom Literaturkurier auf FAZ.net
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Weitere Bücher von Anna Ruhe im Arena Verlag:
Die Duftakademie. Die Entdeckung der Talente (Band 1)
Die Duftapotheke. Ein Geheimnis liegt in der Luft (Band 1)
Die Duftapotheke. Das Rätsel der schwarzen Blume (Band 2)
Die Duftapotheke. Das falsche Spiel der Meisterin (Band 3)
Die Duftapotheke. Das Turnier der tausend Talente (Band 4)
Die Duftapotheke. Die Stadt der verlorenen Zeit (Band 5)
Die Duftapotheke. Das Vermächtnis der Villa Evie (Band 6)
Seeland. Per Anhalter zum Strudelschlund
Mount Caravan. Die fantastische Fahrt im Nimmerzeit-Express
Anna Ruhe wurde in Berlin geboren. Nach einem Abstecher an die englische Küste studierte sie Kommunikationsdesign und arbeitete danach als Grafikdesignerin, bis sie Schriftstellerin wurde. Im Jahr 2015 erschien ihr erster Kinderroman. Seitdem hat sie viele weitere Bücher veröffentlicht. Ihre Werke stehen regelmäßig auf der Spiegel-Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Berlin. Weitere Informationen zur Autorin unterwww.annaruhe.de
Claudia Carls erklärte in ihrer Kindheit abwechselnd, Schriftstellerin oder Künstlerin werden zu wollen, bis sich dieser Konflikt mit dem Beschluss, Buchillustration zu studieren, schließlich auflösen ließ. Als Diplom-Designerin lebt und arbeitet sie in Hamburg und gestaltet Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Sachbücher und Plakate.
Für Luk und Milo
Ein Verlag in der Westermann Gruppe
1. Auflage 2023
© 2023 Arena Verlag GmbH
Rottendorfer Straße 16, 97074 Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Text: Anna Ruhe
Cover und Innenillustrationen: Claudia Carls
Sensitivity-Reading: Regina Feldmann
Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann
E-Book ISBN: 978-3-401-81057-7
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www.arena-verlag.de
@arena_verlag
@arena_verlag_kids
Alles, was es brauchte, war verdammt viel Mut.
Mehr Mut, als ich standardmäßig im Angebot hatte.
Aber immerhin wusste ich jetzt, was den Kern eines
wirklich machtvollen Gedankensturms ausmachte.
Er war immer nur so stark, wie wir in der
Lage waren, uns angreifbar zu zeigen.
Ella Fredericks,
Schülerin der Duftakademie und Fleurdiall
Hinter der Autoscheibe fuhr die Welt an mir vorbei. Mum saß am Steuer und schwieg. Aus den Boxen dudelten die gleichen Songs, die wir auch das letzte Mal in Dauerschleife gehört hatten, als Mum diese Strecke mit mir gefahren war. Ich war mir nicht sicher, ob sie daraus ein Ritual machen wollte, sagte aber nichts dazu, weil die Musik tatsächlich mit voller Kraft meine Erinnerung an das zurückliegende Sommercamp hervorholte und mich einstimmte auf die Zeit, die vor mir lag. Die Playlist lief schon zum zweiten Mal durch seit den fast fünf Stunden, die wir bereits im Auto saßen. Ich ließ die Musik zum Hintergrundrauschen werden, um Platz für meine Gedanken zu schaffen. Zwar war ich randvoll mit kribbeliger Vorfreude – und trotzdem schoben sich immer wieder die alten Sorgen dazwischen, die ich schon seit Wochen mit mir herumtrug.
Einerseits dachte ich an die schöne Zeit, die ich im Sommer in der Duftakademie verbracht hatte. An Polly und Ben und all die anderen, die ich dort kennengelernt hatte. Doch gleichzeitig schob sich immer wieder die Erinnerung an den Test dazwischen, der meine Talentausrichtung als Sentifleur bestimmt hatte. Dabei gab es immer genau drei Möglichkeiten: Man konnte eine Fleurditekt sein und galt damit als übermäßig begabt. So begabt, dass man – zumindest theoretisch – teilweise in der Lage war, Gedanken zu lesen. Oder man wurde als Fleursionär eingestuft und war damit offiziell fähig, die Gefühle anderer nachzuempfinden, als wären es die eigenen. Doch die allermeisten bekamen das Ergebnis Fleurdiall, so wie ich.
Nur eine Fleurdiall. Eine, die allein das Basistalent besaß, ohne zusätzliche Fähigkeiten.
Die letzten Monate über hatte ich versucht, mich irgendwie mit meiner Talentausrichtung anzufreunden und auch mit dem Platz, den mir die Akademie damit zwangsläufig zugeteilt hatte. Aber wenn ich ganz ehrlich mit mir war, hatte ich immer noch Probleme damit.
Egal, wie sehr ich dagegen ankämpfte.
Ich seufzte und ließ meinen Kopf zurück ins Sitzpolster sinken, während die Welt hinter der Autoscheibe weiter an mir vorbeizog. So lange hatte ich gehofft, dass ich nur an die Duftakademie kommen musste, um endlich meinen Platz im Leben zu finden. Meinen eigenen, ganz speziellen Platz. Den, den nur ich besetzen konnte, weil er zu mir gehörte, und auf den ich stolz sein würde. Doch nun hatte der Platz, den ich nach dem Test bekommen hatte, rein gar nichts Besonderes und stolz fühlte ich mich auch nicht die Bohne. Im Gegenteil. Eine Fleurdiall zu sein, war die inoffizielle Bescheinigung für Durchschnittlichkeit.
Selbstverständlich betonten unsere Lehrerinnen und Lehrer immer wieder, dass jedes Ergebnis gleich gut war und wir uns nicht miteinander vergleichen sollten. Aber natürlich taten wir das trotzdem. Und es machte sehr wohl einen Unterschied, welchen Talentstatus man erhalten hatte – da konnte die Akademie behaupten, was sie wollte.
Doch es war noch etwas anderes, was an meiner offiziellen Talentausrichtung nicht stimmte. Obwohl ich mir wirklich Mühe gegeben hatte, mich damit abzufinden, fühlte es sich für mich falsch an, eine Fleurdiall zu sein. Das war einfach nicht mein Platz. Nicht der, der selbstverständlich zu mir gehörte. Irgendetwas fühlte sich daran beengt, eingeschränkt und eben nicht richtig an.
Nur, was sollte ich tun? Selbst wenn ich den Platz – der sich Fleurdiall nannte – nicht haben wollte. Es gab erst mal keinen anderen für mich. Ich hatte nur die Wahl, auf diesem zu sitzen oder auf gar keinem. Der Test galt als offiziell. Und wenn ich weiter an der Duftakademie bleiben wollte, musste ich ihn eben akzeptieren.
Mum bremste und das Auto hielt mit einem Ruck. Sofort war ich zurück im Hier und Jetzt.
»Wir sind da!«, sagte sie und lächelte mich an. »Aufgeregt?«
Ich lächelte zurück. »Ja, ein bisschen.« Dann öffnete ich die Autotür, schwang mich nach draußen und sog die Luft des Waldes in mich ein.
Es hatte die ganze Fahrt über immer wieder genieselt und meine Lungen füllten sich mit dem Duft der tropfenden Blätter und der feuchten Baumrinde, die durchnässt dampfte. Kurz schloss ich die Augen, um auch den Mischmasch aus Gerüchen noch besser wahrzunehmen, mit dem sich die Duftakademie bereits von Weitem ankündigte. Wie sehr hatte ich diesen Ort die letzten Monate vermisst.
Endlich … endlich war ich wieder hier!
Vor uns erstreckte sich das Waldgelände mit seinen knorrigen Bäumen, die weit über unseren Köpfen in den Himmel ragten. Wie Mauern umschlossen sie die Akademie und augenblicklich fühlte ich mich sicher und geborgen. Zwischen den Ästen und auf der Erde leuchtete es. Es leuchtete immer, und das tat es aus einem ganz bestimmten Grund, den nur diejenigen kannten, die eine Einladung in die Duftakademie erhalten hatten.
»Komm, mein Schatz!« Mum öffnete den Kofferraum und ich griff mir meinen Rucksack plus Reisetasche. Wir schlängelten uns vom Parkplatz durch die Autos in Richtung Anmeldung. Ich musste grinsen, als ich an die Aufregung dachte, die ich beim ersten Ankommen hier verspürt hatte. Damals war ich vor Nervosität ganz zappelig gewesen. Immer wieder sah ich mich um und entdeckte die ersten bekannten Gesichter.
»Ella!«, begrüßte mich Frau Haag an dem üblichen Holzverschlag, der als Anmeldung diente. »Wie schön, dich wiederzusehen.«
Ich strahlte unserer Vertrauenslehrerin entgegen. »Ich freue mich auch! Riesig freue ich mich, um genau zu sein.« Damit nahm ich Frau Haag die Mappe mit meinen neuen Unterlagen ab, die sie mir entgegenhielt.
»Das sind erst mal alle wichtigen Dinge für dieses Herbstcamp, vor allem ist der neue Lageplan für die Akademie dabei. Wie immer gilt: nicht verlieren, das gute Stück! Es könnte überlebenswichtig sein.« Frau Haag sah mich über ihre Brille hinweg an und verzog keine Miene. Das mit dem überlebenswichtig meinte sie vollkommen ernst.
Schnell nickte ich, um Frau Haag zu zeigen, dass ich ihren Hinweis natürlich verstanden hatte. Selbstverständlich würde ich den Lageplan auf keinen Fall verlieren. Er war das Einzige, das uns dabei half, sich im Labyrinth unterhalb der Akademie zurechtzufinden. Den alten Plan hatten wir nach dem Sommercamp nämlich abgeben müssen, weil sich die Tunnelgänge ohnehin bis zum Herbst immer wieder verändern würden. Ich war so gespannt, welche Wege und Räume sich in den letzten Monaten wohl verengt oder vergrößert hatten oder vielleicht sogar verschwunden waren. Die unterirdische Akademie war ein echtes Mysterium.
»Geh mal weiter, Ella!« Hinter mir drängelte Miriam und schob mich zur Seite, um auch endlich ihre Unterlagen zu bekommen.
Ich verabschiedete mich von Frau Haag und lief mit Mum in Richtung Aula, in der in einer halben Stunde die Begrüßungsfeier stattfinden sollte. Ich hatte Mum versprochen, ihr wenigstens einmal mein neues Zuhause für das Herbstcamp zu zeigen, bevor sie sich verabschieden musste. Schließlich war die Begrüßungsfeier in der Aula nur für die Eltern, deren Kinder zum ersten Mal hier waren. Mum würde also heute, so gern sie auch wollte, nicht mehr dabei sein können. Somit tat ich ihr den Gefallen, ihr zumindest mein Zimmer für die nächsten zwei Wochen zu zeigen, damit sie sich nicht zu viele Sorgen machen brauchte. Das Herbstcamp war leider deutlich kürzer als das Sommercamp – eben so lang, wie die Schulferien es zuließen.
»Ist das Gelände noch größer geworden seit dem letzten Mal?« Mum staunte, während wir an den Wohnwagen aus Holz, einem überdimensionierten Zelt und den vielen Baumhäusern entlangliefen. Während ich ihr alles erklärte, wuchs ich gefühlt ein paar Zentimeter vor Stolz. Ich gehörte hier jetzt dazu. Ich war eine Schülerin der Duftakademie. Endlich! Eine kleine Ewigkeit hatte ich mir genau das gewünscht. Ganze fünf Jahre hatte ich darauf gewartet und gehofft, dass es irgendwann Wirklichkeit wurde.
Jetzt war es das.
»Hey, Ella!«, rief mir Lin zu, die ebenfalls zu meinem Jahrgang gehörte. Ich winkte zurück und entdeckte auch Ben, der mir vom anderen Ende der Lichtung entgegenlachte. Reflexartig stürmte ich auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
Irgendwie hölzern drückte er mich zurück und räusperte sich dabei. »Äh. Schön, dich zu sehen«, murmelte er bloß.
Ich grinste und ließ ihn schnell wieder los, weil meine Überschwänglichkeit ihn offenbar verlegen machte. Was ziemlich absurd war, schließlich hatten Ben und ich in den letzten Monaten fast täglich getextet und uns immer auf dem Laufenden gehalten, wie es uns zu Hause gerade so ging. Wahrscheinlich hatte ich in der letzten Zeit mehr über Ben erfahren, als ich es hier jemals getan hätte. Trotzdem tat ich ihm den Gefallen, trat einen Schritt zurück und boxte ihn freundschaftlich auf den Oberarm. »Das ist übrigens meine Mum.«
Mum hob die Hand und Ben antwortete mit einem »Hallo, Frau Fredericks«.
»Hast du Polly schon gesehen?«, fragte ich ihn.
»Nope, noch nicht.«
»Okay, dann sehen wir uns ja gleich unten in der Aula. Ich gebe vorher noch eine Schlossführung im Baumhaus Nummer fünf.« Ich winkte noch einmal zum Abschied, dann zog ich Mum hinter mir her. Wir steuerten auf das Baumhaus zu, in dem ich während des Sommercamps gewohnt hatte. Die Holztreppe schlängelte sich um den Stamm, immer weiter nach oben in Richtung Baumkrone. Vom Regen waren die Stufen noch rutschig und verströmten diesen intensiven Geruch von aufgeweichtem Holz und Wald. Tief sog ich die Düfte ein und fühlte mich augenblicklich zu Hause.
Der Schlüssel klemmte wie gewohnt, doch schließlich öffnete sich die Tür mit einem Knarzen. Im gleichen Moment hörte ich, wie Mum einen erstaunten Laut von sich gab. Innen war alles noch genau so, wie es im Sommer gewesen war. Nichts hatte sich hier seitdem verändert: das Doppelstockbett, das ich mir mit Polly teilte, der winzige Tisch mit den zwei Stühlen und die Tür, die in unser Minibad führte. Trotz der Enge war es nach wie vor das schönste Zimmer, in dem ich je gewohnt hatte. Aber das lag sicher auch ein bisschen daran, dass ich es mir mit Polly teilte.
»Wow!« Mum drehte sich einmal um sich selbst. »Das hätte mir in deinem Alter auch gefallen. Schön habt ihr es hier.«
»Gibt dir das ein besseres Gefühl? Jetzt, wo du siehst, wie toll es hier ist?«, fragte ich.
Mum kam einen Schritt näher und nahm mich in den Arm. »Etwas«, raunte sie, ließ mich aber gleich wieder los und strich mir stattdessen eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Verbieten kann ich dir dieses Camp ja leider nicht … oder vielleicht doch?« Mit gespieltem Hoffnungsschimmer hob sie ihre Augenbrauen.
Woraufhin ich erwartungsgemäß nur den Kopf schüttelte.
Auch wenn ich keinen einzigen Schritt von meinem Vorhaben abweichen würde, mich hier ausbilden zu lassen, verstand ich Mum. Im Sommercamp war mehr passiert, als ich ihr hatte zumuten wollen. Immerhin war ich – zusammen mit Polly und Ben – auf dem versteckten Waldgrundstück einer Art Verschwörungssekte gefangen gewesen und wir hatten uns nur gerade so aus dieser Lage befreien können. Mum kannte zum Glück nur die Eckpunkte des Ganzen. Das alles war bestimmt zu viel für Eltern, die ihren Job einigermaßen ernst nahmen. Trotzdem ließ Mum mich wieder herkommen, obwohl sie dabei sicher starb vor Sorgen. Und das rechnete ich ihr wirklich hoch an.
Mit mindestens hundert schweren Seufzern verabschiedete sie sich schließlich von mir und ich machte mich auf den Weg in die Aula.
Das Licht aus der Glaskuppel, die sich über die Eingangshalle der unterirdischen Akademie spannte, leuchtete über das Waldgelände. Es zog mich magisch an, wie eine Mücke bei Nacht. Die meisten Schülerinnen und Schüler waren noch mit Ankommen und Verabschieden beschäftigt, als ich die Steintreppe ansteuerte, die nahe der Glaskuppel in den Waldboden hinabführte. Diese Kuppel war der Grund, warum die oberirdische Akademie immer und in jeder Situation zu leuchten schien. Sie war eine Art gigantischer Lampenschirm mitten auf einer Lichtung im Nirgendwo.
»Da bist du ja!«, hörte ich meine Lieblingsstimme hinter mir rufen und stolperte vor Freude über meine eigenen Füße.
»Polly!«, quiekte es aus mir heraus. Ich wartete, bis sie mich eingeholt hatte, um sie noch fester zu drücken, als ich Ben gerade umarmt hatte. Zum Glück drückte Polly mich, im Gegensatz zu Ben, genauso fest zurück.
»Bist du gerade erst angekommen?«, fragte ich und schaute zum Reiserucksack, den Polly noch auf dem Rücken trug.
»Yep! Wir standen im Stau und sind außerdem spät losgekommen, weil Farris immer ewig beim Packen braucht. Aber Dad hat es immerhin noch fast pünktlich hergeschafft.«
Ich grinste. Polly liebte ihre großen Brüder über alles, aber ich wusste auch, dass sie trotzdem froh war, mal ein bisschen Pause von ihnen zu haben.
Hinter uns füllte sich die Treppe, also liefen wir weiter – nicht, dass jemand uns für diesen Stau die Schuld gab. Unten angekommen, empfing uns der Mischmasch aus viel zu vielen Düften, die gleichzeitig um Aufmerksamkeit drängelten. So ein Geruchswirrwarr, wie es sich einem beim Eintreten in die Aula eröffnete, kannte ich nur von hier – der Duftakademie.
Die Aula war ein Raum, so groß wie ein paar Wohnzimmer hintereinandergereiht. Ein Duft aus Zirbelkiefern und Walnussöl gemischt mit einem Hauch Lilien, Pfefferminzkaugummi, Veilchenwurzel, Mandel und Nelke empfing mich mit einem Paukenschlag. Ich drehte mich zu Polly, die mir zuzwinkerte. Ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen leuchteten, ihr ganzes Gesicht glänzte wie eine Weihnachtskugel. Auch mein Lächeln musste mir von einem Ohr zum anderen reichen. Mit jedem weiteren Schritt, den ich in die Aula hineinlief, sog ich neue Gerüche in mich auf.
Auf den Stühlen, die zwischen den Blümchentapeten und goldenen Bilderrahmen aufgereiht standen, saßen schon die anderen aus meiner Klasse. Polly entdeckte Ben und zog mich durch die Reihen unter der Glaskuppel zu ihm.
»Hey, Ben!«, rief sie ihm entgegen und umarmte ihn, genau wie ich es vorhin auch getan hatte.
»Da seid ihr ja endlich«, gab er eine unterdrückte Antwort in Pollys Umklammerungsgriff von sich. Auch wenn ihm immer noch ein eigenartiger Rest Steifheit in den Gliedern steckte, sah ich Ben genau an, dass er sich nicht weniger freute, als wir es taten.
»Komm schon, entspann dich!« Polly lächelte und klopfte ihm auf die Schulter. »Du bist jetzt wieder hier, bei uns!«
Ben stöhnte. »Ja, zum Glück. Keinen weiteren Tag länger hätte ich es zu Hause noch ausgehalten.«
Ich schluckte bei seiner Antwort, schließlich wusste ich genau, dass Ben mit seinem Vater haufenweise Probleme hatte. Auch wenn er es, so gut es ging, vermied, darüber zu reden. Doch als Polly ihm in die Seite stupste, lächelte er immerhin etwas.
Langsam füllte sich die Aula und vorne am Rednerpult entdeckte ich unsere Schulleiterin: Luzie Alvenstein. Luzie stand neben Frau Yilmaz, ihrer Stellvertreterin, und Herrn Mulder, unserem Lehrer für Duftanalyse. Auch Frau Eriksson, unsere Lehrerin für das Fach Duftherstellung, war da. Sie redete gerade mit einem Mann, der letztes Semester allerdings noch nicht an der Akademie unterrichtet hatte.
Ich ließ meinen Blick weiter durch den Raum schweifen und nickte den vielen bekannten Gesichtern um mich herum zu. Endlich war jeder Stuhl in der Aula besetzt und die Begrüßungsfeier startete.
»Herzlich willkommen!«, hörte ich Luzies Stimme durch die Aula klingen.
Augenblicklich wurde es still im Saal und nicht nur mein Blick suchte unsere Schulleiterin. Luzie sah noch genauso aus wie bei unserer letzten Begegnung. Mit ihren kinnlangen braunen Haaren, dem schicken Hosenanzug und den hohen Schuhen wirkte sie so erwachsen, obwohl sie gerade mal ein paar Jahre älter war als ich. In meinem Kopf existierte immer noch die Luzie von damals. Die, die Turnschuhe und Kapuzenpulli trug und die ich mir oft klammheimlich als meine große Schwester vorgestellt hatte. Aber das Mädchen von damals war Luzie schon lange nicht mehr. Mittlerweile leitete sie die Duftakademie und ich musste sie mit all den anderen hier teilen.
»Ich freue mich sehr, euch alle endlich wiederzusehen und zum Herbstcamp und zweiten Unterrichtsblock des Schuljahres begrüßen zu dürfen«, sprach Luzie längst weiter. »Neue Sentifleurs heißen wir erst wieder im Sommer willkommen, aber dafür haben wir einen neuen Lehrer und auch eine neue Campleiterin. Doch zuallererst die unspektakulärste Nachricht: Für die Zweitsemester gibt es ein paar neue Unterrichtsfächer. Eins davon findet ausnahmsweise bei mir statt. Immer im Herbstcamp unterrichte ich Sinnestraining. Ich freue mich schon so darauf, mit euch die Tücken und Herausforderungen dieses Fachgebiets ergründen zu können.«
Luzie drehte sich um und winkte eine hochgewachsene Frau im Blaumann nach vorn. »Und jetzt zu unserer neuen Campleiterin. Herzlich willkommen, Alby Iversen! Alby und ich haben uns auf einer meiner Reisen kennengelernt und somit freue ich mich umso mehr, dass wir unser Schulgelände von nun an vertrauensvoll in ihre Hände legen dürfen. Hardy Hellweg hat uns im Sommer schließlich das Fürchten gelehrt und …«
Ein paar unterdrückte Lacher drangen durch die Aula und selbst unsere neue Campleiterin, Frau Iversen, lächelte mit. Sie stand breitbeinig in ihrem blauen Arbeitsanzug neben Luzie, trug ihr dunkles Haar kurz geschnitten und strahlte aus jeder Pore Selbstsicherheit aus. Ich mochte Frau Iversen auf den ersten Blick und hoffte, dass sie meinem Sympathievorschuss standhalten würde.
»Ich kann euch hiermit versprechen, dass mit Frau Iversen eine bessere Zeit im Camp beginnt«, redete Luzie weiter. »Wir alle haben im Sommer eine Menge dazugelernt, denke ich.«
Ein Klatschen füllte die Aula, bis Luzie mit einem Schmunzeln auf den Lippen einen blonden Mann nach vorn bat. »Und nun heißen wir auch Herrn Jansen herzlich willkommen!«
Ein erneutes Klatschen brandete auf und augenblicklich erkannte ich ihn wieder. Das war doch Leon! Der große Bruder von Mats, Luzies Freund. Leon hatte mich damals – vor genau fünf Jahren – zusammen mit Luzie und den anderen aus meiner Gefangenschaft bei Edgar de Richemont befreit und mich sicher nach Hause gebracht. All das war nach dem Turnier der Tausend Talente geschehen und es war das Schlimmste gewesen, das mir in meinem ganzen Leben passiert war. Auch wenn es schon lange zurücklag, würde ich Leon dafür auf ewig dankbar sein und ich freute mich, ihn hier wiederzusehen. Kurz musste ich in mich hineingrinsen. Leon war zwar älter geworden, aber er wirkte trotzdem immer noch wie der Junge von damals. Seine blonden Haare waren mit Mühe zurechtgestylt, keine Falte war auf seinen Klamotten zu sehen und vom Shirt bis zu den Schuhen passte alles farblich super zusammen. Es war mehr als offensichtlich, dass ihm sein gutes Aussehen immer noch ziemlich wichtig war.
»Herr Jansen und ich kennen uns schon eine ganze Weile«, fuhr Luzie fort. »Zuvor hat er unsere französische Partnerschule in Paris, die Académie des Senteurs mit aufgebaut. Da er sich aber dazu entschlossen hat, Frankreich hinter sich zu lassen, freue ich mich, dass wir ihn stattdessen als neuen Lehrer für das Unterrichtsfach Geschichte der Duftmagie gewinnen konnten!«
Polly stieß mich mit einem fassungslosen Blick in die Seite. »Geschichtsunterricht? Hier? Echt jetzt?«
Ich hob nur die Schultern und war mir auch nicht ganz sicher, warum das für unsere Sentifleurausbildung wichtig sein sollte. So lange gab es die magischen Düfte auch wieder nicht, oder doch?
Um ehrlich zu sein, hatte ich gar keine Lust, mich mit den früheren Ewigen, Bessergeborenen oder der fiesen Familiendynastie der de Richemonts auseinandersetzen zu müssen. Die hatten nämlich tatsächlich für viel Schreckliches gesorgt. Auch wenn es bestimmt für alle hier wichtig war zu lernen, wozu diese Leute fähig gewesen waren. Immerhin sollte man über die Schrecken der Vergangenheit immer Bescheid wissen, damit sie sich in der Gegenwart nicht wiederholten. Aber speziell ich hatte mich unfreiwillig schon ausgiebig genug mit diesen Leuten beschäftigen müssen. Einen Moment überlegte ich, ob ich eine Freistellung für den Geschichtsunterricht bekommen könnte. Doch ich verwarf den Gedanken wieder. Ich war ja nicht extra hier, um mich vom Unterricht befreien zu lassen.
Oje, das fing ja gut an …
Der Ausklang der Begrüßungsfeier fand im Gemeinschaftsraum und der Cafeteria neben der Aula statt. Draußen war es zu dieser Jahreszeit einfach schon zu kalt. Ein bisschen fehlte mir die Lagerfeuerstimmung vom Sommer, aber die Freude über das Wiedersehen überwog. Alle, die am Sommercamp teilgenommen hatten, waren auch jetzt wieder hier. Nur einer fehlte bislang. Raffael. Ich hatte immer wieder verstohlen nach ihm Ausschau gehalten, ihn aber nirgends entdeckt.
Bis zur Begrüßungsfeier hatte ich vermutet, er hätte sich nur in seinen schicken Wohnwagen zurückgezogen. Der stand nämlich dort, wo er auch im Sommer gestanden hatte. Doch scheinbar war Raffael noch gar nicht angereist. Seltsam!
Ein bisschen irritiert war ich schon gewesen, dass ich den ganzen Sommer über nichts von Raffael gehört hatte. Immerhin verband uns unsere gemeinsame Vergangenheit auf eine besondere Art und Weise … und trotzdem war unser Wiedersehen hier in der Duftakademie anfangs mehr als unterkühlt ausgefallen. Erst hatte er so getan, als würde er mich nicht kennen. Als wären wir damals nicht zusammen entführt worden, um allein für Edgar de Richemont magische Düfte zu brauen, die ihn mächtiger machen sollten, als es für alle gut war. Und als Raffael endlich doch mit mir gesprochen hatte, wollte er nur, dass ich mich von ihm fernhielt.
Ehrlich gesagt, verstand ich den eigentlichen Grund dafür erst nach einer Weile. Schließlich hatte sich Raffaels Familie dem Patron angeschlossen, dem Anführer dieser Verschwörungssekte namens Die Gruppe. Warum Raffaels Eltern den Patron unterstützten, war mir allerdings immer noch ein Rätsel. Irgendwie schienen sie etwas Grundlegendes nicht verstanden zu haben. Oder ich tat es nicht, in jedem Fall war es unverständlich.
Raffael hatte mit seiner distanzierten Art mir gegenüber versucht zu verhindern, dass ich in die Sache hineingeriet. Na ja, so richtig erfolgreich war er damit nicht gewesen, aber immerhin hatten Polly, Ben und ich aus dem Lager des Patrons entkommen können. Das Letzte, was ich über Raffael gehört hatte, war, dass er sich selbst noch immer dort aufhielt … und versuchte, als eine Art Spion mehr über den Patron herauszufinden.
Luzie hatte mir am Ende des Sommercamps versprochen, dass sich Herr Lynch um Raffael kümmern und ihn vom Gelände des Patrons holen würde. Doch auch Herrn Lynch, unseren Lehrer für das Sentifleurtraining, entdeckte ich nirgends. Was war da bloß los? Hoffentlich hatte sich Raffael nicht dazu entschieden, noch länger bei der Gruppe den Spitzel zu spielen. Dass dieser Patron mit seinen Verschwörungstheorien gefährlich war, hatten wir im Sommer ja deutlich zu spüren bekommen. Mit dem Mann war nicht zu spaßen, so viel stand fest, und ich hoffte, Raffael würde ihn ebenfalls nicht unterschätzen.
Ich beschloss, Luzie und Frau Haag bei der nächsten Gelegenheit nach Raffael zu fragen. Bestimmt würden sie mir dann sagen, dass alles in Ordnung war. Raffael selbst hatte mir schließlich versprochen, dass er bei der Gruppe sicher war und der Patron ihn wie einen Sohn behandelte. Raffael war felsenfest davon überzeugt, dort nicht in Gefahr zu sein. Also versuchte ich ebenfalls, daran zu glauben, doch so richtig gelang es mir nicht. Der Patron war immerhin der Kopf einer Vereinigung von Leuten, die nicht nur jede Menge Unwahrheiten über uns Sentifleurs verbreiteten, der Patron hielt uns sogar für eine Gefahr, vor der er die Welt – angeblich – beschützen musste.
Wie sollte Raffael dort jemals sicher sein?
»Hey, da bist du ja!«, hörte ich ein Mädchen hinter mir rufen und drehte mich zusammen mit Polly um. Es war Theresa, eine unserer Mitschülerinnen. Sie kam auf uns zu und strahlte Polly mit roten Wangen an.
»Hi«, sagte Polly und ihre Stimme klang plötzlich irgendwie krächzig. »Lange nichts mehr voneinander gehört.«
Statt einer Antwort grinste Theresa nur noch breiter und ich wunderte mich über die plötzliche Vertrautheit zwischen den beiden. Polly grinste nicht weniger breit zurück, wenn auch etwas verstohlen. Mit Fragezeichen in den Augen sah ich zwischen ihnen hin und her, doch Theresa winkte schon wieder ab.
»Wir sehen uns später … oder schreiben uns.« Sie zwinkerte und lief in Richtung ihrer beiden Freundinnen, Miriam und Lin, davon.
Ich räusperte mich, weil Polly immer noch grinste und ihr Blick Theresa folgte. »Hab ich irgendwas nicht mitbekommen?« Meine Stimme klang gereizter als beabsichtigt.
»Nö, wieso?« Polly zuckte die Schultern. »Wir haben nur nach dem Sommercamp ein bisschen getextet und uns auf dem Laufenden gehalten.«
»Ah«, brummte ich und schaute ebenfalls zu Miriam, Lin und Theresa hinüber, die sich ganz offensichtlich genauso darüber freuten, sich wiederzusehen.
Noch im Sommer hatte Polly die drei immer Die Tetrapacks genannt, weil sie ständig zu dritt zusammengluckten, als wären sie zusammengeschweißte Saftpäckchen im Supermarkt. Aber plötzlich texteten Polly und Theresa miteinander? Wieso hatte sie mir davon denn gar nichts erzählt? Doch bevor ich eine Antwort auf die Frage finden konnte, kam Ben mit einem neu beladenen Teller vom Buffet zu uns zurück.
Er hielt Polly und mir jeweils eine Handvoll Grissini-Stangen hin.
»In genau dieser Sekunde startet das große Wettessen der Knabberstangen! Uuund los!« Sofort stopfte sich Ben gleich alle seine Stangen zwischen die Zähne. Dabei legte er ein Tempo vor, dass ich das Gefühl hatte, ich selbst müsste mich schon beim Zuschauen an den Krümeln verschlucken. Trotzdem biss auch ich in ein paar Stangen gleichzeitig und fing an, sie wegzuknuspern.
»Ben, du schummelst!«, rief Polly mit vollen Backen. »Die Hälfte fällt dir aus dem Mund.«
Ich kicherte, während Ben uns einen empörten Blick zuwarf.
»Niemals! Betrügen? Ich? Wie kannst du nur so was von mir denken!« Ben stopfte sich zwei herausgefallene Grissini-Reste zurück in den Mund und unterdrückte ein Husten.
Die Dinger waren einfach zu trocken, um sie so schnell zu essen, also gab ich auf. Auch Polly legte drei Stangen zurück, strich sich die Krümel von ihrem T-Shirt und lachte.
Ben riss die Arme in die Höhe. »Gewonnen!«, rief er, obwohl er noch kaute.
Ich schüttelte nur den Kopf und gratulierte Ben zu seinem Erfolg.
Mittlerweile war es Abend, die Begrüßungsfeier vorbei und Polly stand in unserem winzigen Baumhaus-Bad und putzte sich die Zähne, während ich es mir schon auf der obersten Etage in unserem Doppelstockbett gemütlich machte.
»Bist du auch schon so gespannt auf den Unterricht bei Luzie?«, fragte ich zu Polly hinunter.
»Hm«, brummte Polly nur mit ihrer Zahnbürste im Mund.
»Deine Brüder hatten das Fach Sinnestraining doch schon, oder?«, redete ich einfach weiter. »Was haben die dir denn darüber erzählt? Wie ist es so?«
Polly zuckte nur die Schultern und spuckte die Zahnpasta ins Waschbecken. »Weiß nicht, so viel haben sie auch wieder nicht erzählt. Wahrscheinlich war es gut, sonst hätten sie sich bestimmt beklagt.« Polly schloss die Badtür hinter sich und schlüpfte unter ihre Decke ins Bett unter mir.
Draußen trommelten Regentropfen aufs Dach. Ich kuschelte mich erst noch tiefer ein, überlegte es mir dann aber anders und beugte mich zu Polly nach unten. »Wusstest du, dass Leon Jansen, unser neuer Geschichtslehrer, mit Elodie de Richemont zusammen war?«
»Und … wer genau ist das?«, fragte Polly und lugte mit einem Stirnrunzeln zu mir nach oben.
»Das ist die Schulleiterin der französischen Académie des Senteurs. Elodie hat damals auch das Turnier der Tausend Talente geleitet, da habe ich sie das erste Mal gesehen. Ihr Vater war mal eine große Nummer bei den sogenannten ›Ewigen‹, wie die sich selbst genannt haben. Das waren ein paar Adlige, die sich so einem Geheimclub angeschlossen hatten, der sich als die ›Bessergeborenen‹ bezeichnete. Der Unterschied zwischen den Bessergeborenen und den Ewigen war nur, dass die Ewigen ihr Leben mithilfe eines mittlerweile verbotenen Duftapotheken-Duftes künstlich verlängert haben. Elodie hat sich zwar von ihrer Familie losgesagt, aber ich hatte immer ein bisschen Respekt vor ihr, weil sie aus so einer krassen Familie kommt.«
»Die de Richemonts? Sind das nicht dieselben wie Raffaels Familie?« Die Falten auf Pollys Stirn gruben sich noch ein Stück tiefer. »Und was genau meinst du mit ›krass‹?«
»Na ja.« Ich blies die Backen auf. »Die de Richemonts sind eine alte Familiendynastie und sie waren schon immer eng mit den Ewigen verbandelt und glaubten, alle Düfte aus der Duftapotheke gehören ausschließlich Menschen, die einer Adelsfamilie abstammen. Sie meinten, man könnte nur ein Sentifleur sein, wenn man eine dieser Blutlinien in sich trägt. Völliger Quatsch natürlich. Dass sich in der Vergangenheit nur Sentifleurs in den ›Bessergeborenen-Familien‹ fanden, lag daran, dass nur diese Familien von den magischen Düften wussten. So einfach.«
Polly hatte sich inzwischen ihre Decke bis unters Kinn gezogen. »Mein Bruder Jared hat mir mal von den Bessergeborenen erzählt. Echt fies, diese Leute. Nur … was hat das genau mit unserem neuen Lehrer für Geschichte zu tun?«
»Ich glaube, dass Leon Jansen jetzt in der Duftakademie unterrichtet, weil er nicht mehr mit Elodie de Richemont zusammen ist.« Ich hob verschwörerisch die Augenbrauen. »Sonst wäre er doch bestimmt in Paris an der Académie des Senteurs geblieben, oder?«
Polly blickte wieder zu mir herauf. »Soso … und unseren Herrn Jansen kennst du jetzt auch noch von früher?«
Ich nickte selbstzufrieden. »Yep! Der ist der große Bruder von Luzies Freund Mats Jansen. Die beiden waren auch auf dem Turnier damals.«
Polly lachte. »Dann bist du wohl unsere Miss Populär.«
Ich ließ mich zurück auf mein Bett fallen und grinste. »Nee, das bin ich kein bisschen. Aber Miss Allwissend würde ich in Zukunft als angemessene Ansprache akzeptieren.«
Ich hörte Polly von unten kichern. »Also gut, dann halt mich bitte weiter auf dem Laufenden, Miss Allwissend. Auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob mich das Liebesleben unseres Lehrers so brennend interessiert. Möglicherweise komme ich auch ohne diese Informationen ganz gut zurecht.«
Nach einem Frühstück aus Kakao und Pancakes begann unser erster Schultag tatsächlich mit Sinnestraining bei Luzie Alvenstein. Die Doppelstunde sollte in einem der Klassenräume des Labyrinthes stattfinden, in dem wir noch nie gewesen waren. Das war allerdings nichts Ungewöhnliches bei den Ausmaßen, die der unterirdische Bereich der Duftakademie besaß. Ich hatte sogar das Gefühl, dass nicht mal unsere Schulleiterin das gesamte Labyrinth unter dem Waldgelände überblickte.
Ben, Polly und ich verließen zusammen mit dem Rest unserer Klasse die Aula und liefen durch das Eisentor, das in die eigentliche Duftakademie führte. Außerhalb der Unterrichtszeiten verschloss das Gitter den Zugang zum Labyrinth, damit sich niemand darin verirren konnte.
Mein Herz schlug schneller, während Luzie uns durch die endlosen Gänge zu ihrem Unterrichtsraum führte. Gleichzeitig versuchten wir, uns den Weg auf dem neuen Lageplan einzuprägen. Was nicht ganz einfach war. Wir hatten schon drei verschiedene Flure durchquert, waren um mehrere Ecken gebogen, hatten nicht nur das Destillationslabor, sondern auch das Rohstofflager von Frau Haag hinter uns gelassen, waren ein paar Stufen tiefer hinabgestiegen und um noch mehr Ecken gegangen. Im Grunde war es ein Studium für sich, das Labyrinth zu verstehen.
Doch schließlich blieb Luzie vor einer Doppeltür stehen und öffnete sie. »Hier ist er: unser Unterrichtsraum fürs Sinnestraining. So tief in der Akademie wart ihr sicher noch nie. Und bis hierher solltet ihr als Zweitsemester auch noch gar nicht selbst gehen.«
Mit einer Handgeste winkte sie uns durch die Tür. Der Raum wirkte weitläufig und statt Bänken und Tischen war er mit gemütlichen Sesseln eingerichtet, die im Kreis standen.
»Sucht euch selbst einen Platz aus«, sagte Luzie, während uns eine Wolke aus Bienenwachs und Mandelöl, getrocknetem Eichenmoos und einem Hauch Amber empfing. Ob das die Duftreste des letzten Unterrichts waren, die sich hier eingenistet hatten?
Ich suchte mir einen abgeschabten Samtsessel neben Ben und Polly und ließ mich hineinsinken. Luzie setzte sich ebenfalls in einen der Sessel. Dadurch, dass sie im Kreis angeordnet waren, konnten wir uns alle ins Gesicht sehen. Was mich ein bisschen verunsicherte, weil wir anscheinend etwas trainieren würden, bei dem es wichtig zu sein schien, dass wir uns gegenseitig dabei beobachten konnten. Hilfe!
Luzie saß zurückgelehnt und hatte die Beine übereinandergeschlagen. »Okay. Beginnen wir mit der Frage, die in meinem Unterricht immer etwas mitschwingt: Bestimmt fragt ihr euch, worin genau sich eigentlich Sinnestraining und Sentifleurtraining, das ihr bei Herrn Lynch habt, unterscheiden? Erst mal klingen beide Fächer nicht sonderlich verschieden, richtig? Also Folgendes: Bei Herrn Lynch lernt ihr, wie ihr euer Talent anwendet und wie ihr damit, ganz praktisch gesehen, arbeiten könnt. Das Fach Sinnestraining hingegen beginnt einen Schritt davor. Nämlich genau in den Momenten, in denen ihr euch dazu entscheidet, euer Sentifleurtalent aktiv zu nutzen. Um das in dem Augenblick zu können, in dem es drauf ankommt, braucht ihr erst einmal eine herausragend trainierte Wahrnehmung eurer Sinneseindrücke.«
Luzie stand auf und ging in unserer Mitte ein paar Schritte umher. »In meinem Unterricht werde ich euch zeigen, wie ihr eure Sinne ausbildet und aus den unterbewussten Wahrnehmungen, die euch bislang geleitet haben, bewusste Wahrnehmungen werden lasst. Erst diese werden euch die Möglichkeit geben, eure Sinne geplant zu steuern. Dadurch lernt ihr, euer Sentifleurtalent in jeder Situation kontrolliert anzuwenden und mit Bedacht zu reagieren.« Luzie sah uns der Reihe nach an. »Es ist wichtig, eure Empfindungen genau zu spüren, damit ihr euer Talent nicht im Affekt einsetzt. Das ist nämlich gar nicht zu empfehlen. Gerüche sind unsichtbar und lautlos und sie wirken bereits in uns, bevor wir sie auf uns zukommen sehen, hören oder fühlen. Das gibt ihnen eine so enorme Macht. Düfte arbeiten mit einer Art Überrumplungstechnik. Sie entfalten längst ihre Wirkung, bevor wir überhaupt die Chance haben, uns vor ihnen zu schützen. Eine gut ausgebildete Sinneswahrnehmung ist deshalb umso wichtiger, damit ihr eurem Sentifleurtalent nicht hilflos ausgeliefert seid.«
Ich rutschte bei den Worten unbehaglich auf meinem Sessel herum. So hatte ich das noch gar nicht gesehen, aber klar. Wenn man ohne Vorwarnung fremde Gefühle nachempfand, dann bestand die Gefahr, dass man diese mit den eigenen verwechselte und sich davon einfach lenken ließ. Als Sentifleur war man somit im Grunde leicht beeinflussbar.
Luzie sah uns eindringlich an. »Als Sentifleurs könnt ihr die Gefühle und Gedanken der Leute um euch herum um Welten besser nachempfinden als die meisten Menschen. Das macht euch einerseits angreifbar, andererseits ist es eine enorme Macht, die ihr besitzt. Vergesst das niemals! Ihr müsst euch im Klaren sein, dass ihr diese Macht nicht unbedacht anwenden könnt. Niemals dürft ihr anderen – oder euch selbst – damit schaden. Und genau aus diesem Grund werde ich euch beibringen, wie ihr euer Sentifleurtalent kontrollieren und halbwegs abschalten könnt, wenn es nötig ist.«
Ein Raunen drang aus einigen Sesseln und auch ich musste kurz darüber nachdenken, ob ich mich verhört hatte. Man konnte das Sentifleurtalent … abschalten? Wie bei einem Fernseher?
»Entschuldigung? Aber warum sollten wir unser Sentifleurtalent überhaupt unterdrücken wollen?«, meldete sich Lin zu Wort.