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Wenn die Vergangenheit nicht tot ist – sondern ein Schatten, der dich verfolgt. Elin Randall erbt das idyllische Anwesen ihrer Familie in den malerischen österreichischen Alpen. Doch was wie ein romantisches Abenteuer beginnt, entpuppt sich als düstere Reise in die geheimnisvolle Vergangenheit ihrer Vorfahren. Bald wird die Liebe auf eine harte Probe gestellt, und Elin findet sich in einem Netz aus Intrigen, Hass und unerfüllter Liebe wieder. Nur mit Hilfe eines alten Tagebuches kann sie die Wahrheit ans Licht bringen, doch der Albtraum hat gerade erst begonnen. Wird sie das Geheimnis ihrer Ahnen lösen – oder muss sie dafür mit ihrem eigenen Leben bezahlen?
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Seitenzahl: 354
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Zum Inhalt:
Elin Randall erbt das traumhafte Anwesen ihrer Vorfahren, malerisch und einsam gelegen, inmitten der österreichischen Alpen. Auf der Stelle verliebt sich die junge Frau aus der Großstadt in das romantische Fleckchen Erde. Begeistert macht sie sich mit ihrem Ehemann Ben, ihrer Freundin Victoria und deren Freund Jerome daran, das geheimnisumwitterte Leben ihrer Ahnen zu erforschen, und träumt sich dabei zurück in die romantische Zeit des späten 19. Jahrhunderts in Waldern am See.
Doch warum hat Emily Wagner sie in ihrem Testament eindringlich darum gebeten, alleine nach Waldern zu reisen? Elin, die dem letzten Willen ihrer Großmutter nicht nachkommt und ihre Freunde mit auf den Urlaubstrip in das kleine Bergdorf nimmt, muss bald feststellen, dass sie einen verhängnisvollen Fehler begangen hat. Die anfänglich romantische Stimmung droht urplötzlich zu kippen und unerklärliche Vorgänge in den alten Mauern von Haus Bromberg machen den jungen Leuten das Leben schwer. Was anfangs noch spielerisch und unbekümmert als Reise in die Vergangenheit begann, scheint zur Zerreißprobe von Freundschaft und Ehe zu werden. Vor allem Elin scheint keinen Ausweg aus ihrem Gefühlschaos zu finden. Immer tiefer verstrickt sie sich in die leidvolle Familiengeschichte ihrer Ahnen, aus Intrigen, Hass und unerfüllter Liebe und merkt dabei nicht, dass sie längst selbst in Gefahr schwebt.
Als Elins Mann Ben seine Frau um eine Eheauszeit bittet, bleibt sie allein auf Haus Bromberg zurück. Verzweifelt begibt sie sich in einen Pakt mit den Mächten der Vergangenheit und versucht, mit Hilfe eines alten Tagebuches, das bittere Geheimnis ihrer Ahnen ans Tageslicht zu holen. Aber es scheint bereits zu spät. Ein geheimnisvoller Schatten aus vergangenen Jahrhunderten zieht Elin immer weiter in seinen Bann und vereitelt jeden ihrer Versuche, sich zu befreien. Die ruhelosen Seelen sind noch lange nicht am Ende ihrer Forderungen, im Gegenteil, der Albtraum hat gerade erst begonnen. Elin Randall ist den Verletzungen ihrer Ahnen machtlos ausgeliefert und der Kampf um Vergeltung, Schuld und Buße ist eröffnet. Eine ungleiche Schlacht beginnt, die Elin nur mit Hilfe des Jenseits für sich entscheiden kann. Muss sie am Ende selbst sterben, um den letzten Wunsch ihrer Ahnen zu erfüllen?
Für die Kraft der Liebenden, die fähig ist, alle Schatten in uns zu durchlichten.
Prolog
Kapitel 1
Elin - London, August 2022
Ben – am Nachmittag desselben Tages
Elin
Elin – am Abend desselben Tages
Elin – am Morgen des nächsten Tages
Kapitel 2
Elin
Ben – am Abend desselben Tages
Elin – am Morgen des nächsten Tages
Kapitel 3
Hubert Gruner
Elin
Marietta Gruner
Ben - am Abend desselben Tages
Elin – am nächsten Morgen
Der Schatten
Ben – am Abend desselben Tages
Kapitel 4
Ben – 4 Tage später
Elin – am Morgen desselben Tages
Der Schatten
Barbara Wagner – am Nachmittag desselben Tages
Elin
Kapitel 5
Aaron de Breyé – am Morgen des nächsten Tages
Kapitel 6
Elin - am nächsten Morgen
Aaron
Elin - am selben Tag
Aaron
Elin
Aaron
Kapitel 7
Elin – am Abend desselben Tages…
Ben
Elin – am gleichen Morgen
Kapitel 8
Ben
Aaron – am Abend desselben Tages
Elin
Barbara Wagner - London – am selben Abend
Marietta Gruner - Waldern am See
Elin
Kapitel 9
Aaron
Elin
Aaron
Aaron
Epilog
Elin – Haus Bromberg, Waldern am See
Frankreich, 05. März 1850
„Nie werde ich dir das vergessen Vater, niemals, solange ich lebe! Du kannst deine anderen Söhne schicken, um mir all das zu nehmen, was mir lieb und teuer ist. Es kümmert mich nicht, am Ende werde ich euch alle vernichten! Ich verfluche euch und all diejenigen, die jemals euren Namen tragen!“
Die Nacht war kalt. Grauer Nebel stieg aus den Weiten der Felder empor und verhüllte Hügel und Sträucher mit seinem blassen Mantel der Einsamkeit. Es würde nicht mehr lange dauern, dann konnte er seine eigene Hand nicht mehr vor Augen sehen. Plötzlich begann er zu frösteln. Er zog seinen tiefschwarzen Mantel mit dem pelzbesetzten Kragen noch ein wenig fester zu, dann schritt er rasch weiter. Wie ein Tagelöhner stahl er sich davon und schon bald war seine Silhouette im Schutz der dichten Bäume verschwunden. Rache war der einzige Antrieb, der ihm geblieben war und sein düsterer, schemenhafter Schatten, das letzte Zeichen seiner Anwesenheit. Doch auch der wurde schwächer, bis ihn die Finsternis schließlich vollkommen verschlang.Verschwunden, verschwunden für immer. Plötzlich war es,als hätte es ihn nie gegeben.
Im Hintergrund lag Schloss de Breyé, lauernd, im Dunkeln der Nacht. Es war einmal sein Zuhause gewesen. Ein Ort, an dem er sich wohlgefühlt hatte. Doch all das war lange her. Manchmal schien es, als sei es in einem anderen Leben gewesen. Wann war die Liebe in ihm erloschen? An jenem Abend, als ihn sein Vater dafür bestrafte, dass er seine Mutter beschützen wollte? Oder hatte sich die Liebe schon viel früher aus seinem Leben verabschiedet, vielleicht war sie auch niemals da gewesen? Für ihn spielte all das keine Rolle mehr. Er würde niemals wieder lieben, nicht in diesem Leben und auch in keinem anderen. Dieser Entschluss verlieh ihm mit einem Mal ungeheure Kraft und er ging noch ein wenig schneller.
Die Uhr des Kirchturms schlug gerade Mitternacht und nur noch eine Handvoll Fenster im Schloss waren erleuchtet. Ihr fahles Licht schaffte es kaum, den zähen Nebelschleier, der über Wald und Wiesen lag, zu durchdringen. Selbst der Mond, der gerade noch einen Blick hinter dem Ostturm hervorgewagt hatte, war bereits wieder hinter einer dicken Wolke verschwunden. Auf einmal erloschen die Lichter im Schloss, und hinter einer Fensterscheibe erschien das Gesicht eines kleinen blonden Mädchens. Es war nur ganz kurz zu sehen, dann war es auch schon wieder verschwunden. Der junge Mann, der mit hochgezogenen Schultern landeinwärts schritt, sah es nicht und bemerkte auch keine der Tränen, die in den blauen Augen des Mädchens schwammen. Er blickte nichtzurück, nicht ein einziges Mal. Nie wieder im Leben würde er einen Blick zurückwerfen. Dies und nichts anderes hatte er sich geschworen, geschworen bei allen dunklen Mächten dieser Welt. Dieser verlogenen, seelenlosen Welt…
Elin - London, August 2022
Elin Randall legte das Handy auf den Küchentisch zurück. Die Nachricht auf der Mailbox war von ihrer Mutter. Sie erinnerte Elin daran, dass der Termin in der Erbsache Emily Wagner kurzfristig auf 14.30 Uhr vorgezogen worden war.
Elin atmete tief durch und ging zum Fenster. Sie hatte es nicht vergessen und es sollte ihr recht sein. Umso schneller würde sie es hinter sich haben. Die junge Frau blickte auf ihre Armbanduhr. Kurz nach halb eins. Die Beerdigung ihrer Großmutter war gerade einmal 24 Stunden her und schon ging es darum, den Nachlass unter den Hinterbliebenen aufzuteilen. Konnte man ihr denn nicht wenigstens ein bisschen Zeit geben, um zu trauern? Zitternd griff sie nach der Zigarettenschachtel auf der Fensterbank, legte sie aber im selben Augenblick wieder zurück. Nein! Es waren Bens Zigaretten. Sie hatte sich das Rauchen bereits vor Monaten abgewöhnt und dabei würde sie es auch belassen. Stattdessen schnappte sie sich ihren Kaffeebecher und trat auf die Dachterrasse der hellen Dreizimmerwohnung, die sie zusammen mit ihrem Mann, Benjamin Randall bewohnte, hinaus. Die Luft warangenehm frisch und sofort ging es ihr ein wenig besser. Der Dachgarten über den Dächern Londons war ihr ganzer Stolz, ihre Oase der Ruhe in der sonst oft so hektischen Betriebsamkeit der Stadt. Elin liebte den wunderbaren Duft nach Lavendel und Salbei, der die Luft im Sommer erfüllte. Geschickt arrangierte Kübelpflanzen und Blumen brachten eine unglaubliche Farbenpracht hervor und in der Ecke plätscherte ein kleiner Terrassenbrunnen entspannt vor sich hin. Alles in Schuss zu halten, war mit viel Arbeit verbunden, doch Elin befand, das Ergebnis war die Mühe wert. Hier draußen hatte sie ein kleines Paradies für sich und Ben geschaffen.
Lächelnd dachte sie an die unzähligen lauen Sommerabende, an denen sie zusammen draußen gesessen und sich eine Flasche edelsten Rotwein gegönnt hatten. Manchmal zu zweit, manchmal mit guten Freunden. An manchen Abenden hatten sie sich auf dem harten Fliesenboden der Terrasse geliebt, leise kichernd, wie zwei verliebte Teenager, um danach engumschlungen über die Dächer der Stadt zu blicken. Ihre gemeinsame Zeit mit Ben war stets fröhlich und unbeschwert gewesen, doch nun war plötzlich alles anders. Elin konnte sich nicht daran erinnern, in ihrem Leben schon einmal eine derart tiefe Traurigkeit empfunden zu haben. Noch nie zuvor war sie mit dem Tod konfrontiert worden. Diese Endgültigkeit einen liebgewonnenen Menschen nie wieder Lachen zu sehen, nie wieder berühren zu können, entfachte einen Schmerz in ihr, den sie kaum auszuhalten vermochte. Trotz der wärmenden Sonnenstrahlen begann sie plötzlich zu frösteln.
Sie versuchte, die trüben Gedanken zu verscheuchen. Ben erschien vor ihrem inneren Auge und plötzlich musste sie lächeln. Vor fünf Jahren war er ihr zum ersten Mal begegnet. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen und Bens anfängliche Angst vor Nähe, war sehr bald einer liebevollen Zuneigung und Vertrautheit ihr gegenüber gewichen. Bis heute wusste sie nicht, wo die Wurzel seiner Angst lag, sich auf diese einzigartigtiefgehende Art und Weise von dem Menschen berühren zu lassen, den man liebte. Diese eine Art, auf die einen nur die allerwenigsten Menschen im Leben berühren werden. Sie war sich sicher, irgendwann einmal musste ihn ein Mensch sehr verletzt haben, so sehr, dass es ihm heute noch Schwierigkeiten bereitete, sich wahrhaftig zu öffnen.
Sie würde ihm die Zeit lassen, die er brauchte. Ihre Hochzeit letztes Jahr im Herbst war für sie der schönste Tag ihres bisherigen Lebens gewesen. Auch wenn sie die Mauer um ihn, noch nicht vollständig zum Einsturz hatte bringen können, so standen sie sich inzwischen doch sehr nahe. Sowie auch in diesen Tagen und Stunden der tiefen Trauer. Sie liebte Ben aus vollem Herzen und war dem Schicksal dankbar, dass es ihr diesen wunderbaren Mann an ihre Seite geschickt hatte.
Das Läuten der Kirchturmuhr, riss Elin aus ihren Gedanken. Wenn sie nicht zu spät beim Notar erscheinenwollte, musste sie sich beeilen. Sie schloss die Terrassentür und stellte ihren Becher in die Spüle. Im Schlafzimmer tauschte sie rasch ihre Shorts gegen eine dunkelblaue Jeans und schlüpfte in eine weiße Bluse. Dann warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel des Garderobenschrankes. Ihr blondes Haar fiel ihr in weichen Locken über die Schultern. Von der Sommersonne gebleicht, wirkte es noch heller als sonst. Aus ihren blauen Augen blickte ihr die Trauer über den Verlust ihrer geliebten Granny entgegen und Elin wandte sich rasch ab. Auch wenn sie den Termin am liebsten abgesagt und sich in ihr Bett verkrochen hätte, riss sie sich zusammen. Schließlich erwartete sie der Rest der Familie bereits. Wenn sie nicht käme, würde ein neuer Termin angesetzt werden. Das wiederum wäre ein Mehraufwand für alle Beteiligen und änderte nichts an der Tatsache, dass sie sich dieser Situation würde stellen müssen. Seufzend griff sie nach ihrer Handtasche und schloss die Tür.
Die Luft im Zimmer des Notariats roch abgestanden. Elin musste gegen den Drang ankämpfen, quer durch den Raum zu laufen und eines der Fenster aus der langen Glasfront demonstrativ aufzureißen. Dr. Kraemer saß bereits an seinem Schreibtisch. Als Elin eintrat, warf er betont auffällig, einen Blick auf seine Armbanduhr. Eilig huschte sie auf den freien Platz neben ihrer Mutter.
„Frau Elin Randall?“
Elin nickte, als der Blick des Notars auf sie fiel.
„An ihren Ausweis haben Sie gedacht?“
Elin bejahte seine Frage und kramte hastig in ihrer Tasche nach dem gewünschten Dokument. Dann erhob sie sich, um es auf den Schreibtisch vor ihm zu legen.
„Schön,“ der hochgewachsene Mann mit den grauen, exakt gescheitelten Haaren erhob sich. „Dann werde ich mir jetzt noch schnell die Kopien der Ausweise anfertigen lassen und wir können auch schon loslegen.“ Er öffnete die Tür und trat eilig hinaus.
Außer Elin waren noch ihre Mutter Barbara und ihr Bruder Paul geladen worden. Paul, der links von seiner Schwester saß, drückte ihre Hand und lächelte ihr aufmunternd zu. Elin wollte ihren Bruder gerade fragen, wie er sich heute fühlte, als sich die Tür erneut öffnete und Dr. Kraemer schwungvoll an seinen Platz zurückkehrte. Langsam begann er die Personalien, der anwesenden Familienmitgliedern vorzulesen.
Ein paar Straßen weiter schloss Benjamin Randall die Eingangstür seiner Wohnung auf. Es war bereits die dritte Woche in Folge, in der das Thermometer über die 30 °C Marke geklettert war, und er freute sich auf eine erfrischende Dusche. Ben hoffte, Elin würde bereits zu Hause sein. Im Moment wusste er seine Frau lieber in seiner Nähe. Er legte die Schlüssel in die kleine Glasschale auf der Kommode im Flur und rief ihren Namen. Doch inder Wohnung blieb es still. Ben ging ins Bad und begann sich auszuziehen. Wenigstens konnte er sich Zeit lassen, da sie erst um 19.00 Uhr mit Victoria und Jerome im Melone’s, ihrer Lieblingskneipe, verabredet waren. Das Treffen mit ihren Freunden war seine Idee gewesen, um Elin auf andere Gedanken zubringen. Sie ging kaum noch aus dem Haus, zudem hatte sie in den letzten Tagen viel zu viel geweint. Die Trauer um einen geliebten Menschen war notwendig, aber Elin steigerte sich in seinen Augen zu sehr in den Verlust ihrer Großmutter hinein. Im Herbst hätte Emily Wagner ihren 98. Geburtstag gefeiert, eine Frau reich an Lebensjahren und dazu ihr schwaches Herz. Ben hatte sich schon lange damit abgefunden, dass es eher früher als später mit ihr zu Ende gehen würde. Doch Elin weigerte sich, den Verlust zu akzeptieren.
Die Mailbox des Anrufbeantworters blinkte und im Vorbeigehen ließ Ben das Band abspielen. Victoria war zweimal zu hören. Sie klang überdreht, wie immer, und klagte, dass sie bereits mehrfach versucht hatte, Elin auf dem Handy zu erreichen. Ben zuckte mit den Achseln, dann stieg er unter die Dusche. Victoria war Elins beste Freundin und daher versuchte er, mit ihr zurechtzukommen. Dennoch agierte sie, für sein Empfinden oftmals eine Spur zu theatralisch. Ben schloss die Augen, als das warme Wasser begann, seinen Körper zu umspülen. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er an heute Abend dachte.
Jerome würde ihnen Bescheid geben, ob das Haus seiner Eltern in der Toskana für ihren zweiwöchigen Urlaub im September nun frei war. Er hoffte inständig, dass es klappte. Ein gemeinsamer Urlaub war seiner Meinung nach im Moment das Beste für Elin. Sie würde auf andere Gedanken kommen und auch er konnte eine kleine Auszeit gebrauchen. Im Moment feilte er an seiner Doktorarbeit und wenn alles glatt lief, würde er sich bereits Ende des Jahres Doktor der Biologie nennen dürfen. Gut gelaunt schlang er sein Handtuch um die Hüften und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Er hatte noch zwei geschäftliche Anrufe zu erledigen, danach würde auch Elin mit Sicherheit zurück sein. Es war bereits nach halb fünf. Ben griff nach dem Telefon und wählte die erste Nummer auf seiner Liste.
„Und warum hast du uns nie etwas davon erzählt?“ Elin nippte an ihrem Latte macchiato und sah ihre Mutter anklagend an.
„Ein Haus in der Nähe von Salzburg!“
Immer noch ungläubig schüttelte sie mit dem Kopf. Seit ungefähr einer Stunde war Elin Randall Alleinerbin von Haus Bromberg in Waldern am See und im Moment saßen sie in einem kleinen Café, in der Nähe des Notariats. Es war Pauls Idee gewesen, auf das Erbe anzustoßen. Selbst Elin war derartig überrascht gewesen, dass sie keinen Widerspruch eingelegt hatte.
„Weil ich nicht wusste, dass sie es immer noch besitzt!“ Unter Barbaras Augen lagen dunkle Ringe. Ein untrügliches Zeichen, dass auch sie eine schlaflose Nacht hinter sich hatte.
„Ich war der Meinung, sie hätte es längst verkauft!“ Ein wenig zu heftig rührte Barbara in ihrem Cappuccino und etwas von der heißen Flüssigkeit ergoss sich über ihre Hand. Sie fluchte leise.
„Waldern war der Geburtsort von Großmutter. Nach dem Krieg ist sie mit Großvater nach London gegangen.“ „Vielleicht steht Näheres in dem Brief, den der Notar dir mitgegeben hat“, meldete sich Paul plötzlich zu Wort. Im Moment war er sehr zufrieden mit sich und der Welt. Er selbst hatte einen großzügigen Geldbetrag erhalten und es schien, als könne er die ganze Aufregung um ein Haus nicht nachvollziehen. „Wenn du meine Meinung dazu hören willst liebe Schwester, verkaufe den ganzen Kram! Sicherlich stehen auch noch einige Antiquitäten dort. Was Besseres kann dir doch gar nicht passieren. Mach es wie Mom, sie verkauft Großmutters Wohnung hier in London doch auch. Oder willst du dir am Ende noch den Stress des Vermietens antun?“
Barbara, die sich gerade den Cappuccino von Händen und Hose wischte, blickte genervt auf.
„Ich weiß es nicht, Paul. Bitte sei mir nicht böse, ich werde später darüber nachdenken.“
Paul zuckte abermals mit den Schultern, dann nahm ereinen Schluck aus seiner Espressotasse.
„Solltest du Hilfe brauchen, gebe mir einfach Bescheid, in Ordnung?“
Statt auf sein Angebot einzugehen, blickte Barbara ihren Sohn betont nachsichtig an. Dann erhob sie sich.
„Ihr entschuldigt mich bitte meine Lieben, aber ich muss los. Um 17.00 Uhr kommt eine wichtige Kundin zur Behandlung. Ich konnte ihren Termin leider nicht verschieben. Wir reden Morgen weiter.“
Barbara drückte Elin und Paul einen Kuss auf die Wange und legte einen Geldschein auf den Tisch. Dann überquerte sie die Straße. Auf der anderen Seite verharrte sie für einen kurzen Moment, um den beiden noch einmal zu winken, bevor sie vom Strom der Menschen, die aus ihren Büros nach Hause strebten, verschluckt wurde.
„Was hat sie denn?“
„Wer?“
Paul, der das dunkle Haar und die braunen Augen seines Vaters geerbt hatte, blickte sich fragend um. Aufgrund ihres gegensätzlichen Aussehens wurde die beiden selten als Geschwister erkannt. In früheren Beziehungen hatte sich Elin daher oftmals erklären müssen, wenn sie irgendwo in vertrauter Zweisamkeit mit Paul gesichtet worden war. Elin verdrehte die Augen.
„Mom! Wer denn sonst?“
Nicht zum ersten Mal beschlich Elin das Gefühl, dass ihr Bruder neben sich selbst und seinem eigenen Wohlbefinden nicht viel wahrnahm.
„Hat sie was? Also mir ist nichts aufgefallen. Sie muss zu einem Termin, wahrscheinlich ist sie einfach in Eile!“ Elin starrte nachdenklich vor sich hin.
„Seit der Testamentseröffnung hat sie kaum ein Wort gesprochen, und als der Notar das Haus in Waldern erwähnt hat, ist sie regelrecht zusammengezuckt.“
„Blödsinn. Was du nur immer hast.“ Paul schüttelte verständnislos den Kopf. „Ständig interpretierst du irgendetwas in deine Mitmenschen hinein. Nimm die Dinge doch einfach wie sie sind und denke nicht immer so viel nach.“
„Das mache ich doch gar nicht!“, wehrte sich Elin, „aber du musst doch selbst zugeben, dass es seltsam ist! Nie hat auch nur irgendjemand Haus Bromberg in Salzburg erwähnt, all die ganzen Jahre über. Warum sind wir nicht einmal zusammen mit Großmutter hingefahren?“ Paul zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung! Aber nun, da du es weißt, kannst du diese Reise ja nachholen.“ Paul grinste und trank seinen Espresso aus. Dann griff er sich den Geldschein und winkte den Kellner zu sich.
„Mom sagt, sie dachte Emiliy hätte das Haus längst verkauft.“
Elin griff das Thema erneut auf, als der Kellner ihren Tisch wieder verlassen hatte.
„Glaubst du ihr das?“
In diesem Augenblick nahm eine junge Frau mit zwei Kindern und einem großen Schäferhund umständlich amNebentisch Platz und Paul rückte einen Stuhl zur Seite, damit sie ihren Kinderwagen abstellen konnte.
„Ob ich ihr glaube? Natürlich! Seit wann zweifelst du an Moms Worten?“
Elin blickte betreten drein und zuckte mit den Schultern.
„Es ist nur so ein Gefühl“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, doch sie spürte selbst, wie lahm ihre Worte klangen.
Paul schüttelte verständnislos mit dem Kopf.
„Weißt du was? Am besten fährst du erst einmal nach Hause und ruhst dich ein wenig aus.“ Er erhob sich und drückte seiner Schwester einen Kuss auf die Wange.
„Leg dich hin oder nimm ein Schaumbad. Danach wirst du dich besser fühlen!“
Elin drückte ihren Bruder für einen kurzen Moment an sich. „Vielleicht hast du recht. In den Akten des Hauses, war ein persönlicher Brief von Großmutter enthalten.Vielleicht wissen wir mehr, sobald ich ihn gelesen habe.“
„Du kannst mich immer anrufen Elin, hörst du? Aber bitte, tu mir den Gefallen und steigere dich nicht so sehr in die ganze Sache hinein, das ist es nicht wert.“
Elin spürte, wie schon so oft in den letzten Tagen, Tränen aufsteigen. Einmal mehr wünschte sie sich, wie Paul zu sein. Sich weniger um andere zu kümmern und vorrangig die eigenen Interessen verfolgen, war seine Devise schon immer gewesen.
„Ich werde mir Mühe geben. Du hast Recht.“
Elin umarmte ihren Bruder noch einmal, dann ging sie langsam in Richtung Metrostation. Als sie sich noch einmal umblickte, war Paul bereits verschwunden.
Die Luft im Melone’s roch nach Tabak und Bier. Der Pub am Ende der Straße war das Stammlokal der Freunde und normalerweise genoss Elin die Zeit, die sie nach Feierabend oder am Wochenende hier zusammen verbrachten. Heute jedoch war die Eckkneipe restlos überfüllt. Um sich auch nur halbwegs verständlich zu machen, waren die Besucher gezwungen, zu schreien.
„Elin! Nun sag doch auch mal was!“ Victoria stupste gegen den Ellenbogen der Freundin. „Unentwegt starrst du auf dein Glas! Was gibt es denn dort nur so Interessantes zu sehen?“
„Elin hat heute ein Haus geerbt!“, platzte Ben unvermittelt heraus.
„Ein Haus? Du machst Witze!“ Jeromes entgeisterter Blick wanderte zwischen Elin und Ben hin und her.
„Hör auf damit, Ben!“
„Wieso? Was ist denn schon dabei! Früher oder später hätten es die beide doch ohnehin erfahren.“ Ben warf Elin einen gekränkten Blick zu.
Jerome, ein großgewachsener sportlicher junger Mann Ende zwanzig, mit rotblondem Haar und unzähligenSommersprossen im Gesicht, nahm einen großen Schluck aus seinem Guinness.
„Das würde mich jetzt aber auch interessieren Elin. Wieso willst du das für dich behalten?“ Jerome mimte den Beleidigten.
„Das will ich doch gar nicht!“ Elins Stimme klang trotzig.
„Ich brauche lediglich ein bisschen mehr Zeit. Es kommt alles so plötzlich.“ Elin verstummte, doch die Blicke der anderen ruhten erwartungsvoll auf ihr.
„Also wirklich Elin, erzähl doch einfach. Gibt es Bilder oder wenigstens eine Beschreibung des Hauses?“ In Victorias Miene spiegelte sich Unverständnis, welches nahe daran war, in Unmut überzugehen.
„Also gut, also gut! Ich habe ein altes Herrenhaus gererbt. Es liegt in der Nähe von Salzburg. Außerdem spiele ich mit dem Gedanken hinzufahren und es mir anzusehen. Was genau ich damit machen möchte, weiß ich noch nicht.“
Jerome starrte mit offenem Mund von Elin zu Ben und wieder zurück. Victoria war die Erste, die ihre Sprache wiederfand.
„Du Glückliche! Weißt du was? Ich habe eine Idee.
Warum verlegen wir unseren geplanten Toskana Urlaub nicht einfach nach Österreich? Jerome hat gestern noch einmal mit seinem Vater telefoniert. Es gibt tatsächlich Probleme mit der Vermietung des Hauses. Ein Mitarbeiter des Reisebüros hat zwei Buchungen falsch eingetragen und wir könnten erst im Oktober für zwei Wochen hin.
Das ist mir definitiv zu spät. Wir wollten heute Abend ohnehin mit euch beiden über einen Plan B sprechen.“
„Ich weiß nicht Victoria. Nach dem Haus zu sehen wird kein Urlaub werden. Es ist nicht wirklich in Schuss und Ben und ich wollten erst einmal nach dem Rechten sehen.“
„Ach was,“ Jerome fiel Elin ins Wort. „Lass uns dass gemeinsam machen! Ist doch spannend die Hütte wieder auf Vordermann zu bringen! Was meinst du Ben?“ Ben winkte gerade nach der Kellnerin und deutete ihr an, noch vier Guinness an den Tisch zu bringen.
„Die Idee ist gut, aber letztendlich muss Elin das entscheiden. Ich will ihr da nicht vorgreifen.“
Elin zögerte. „Bitte versteht mich nicht falsch, ich weiß nicht ob ich viel Spaß dabei hätte. Es macht mich traurig: Emily hat uns für immer verlassen und in allererster Linie geht es darum ihren Besitz aufzuteilen.“
Jeromes breites Lächeln wurde dünner und plötzlich blickte er betreten in die Runde. Ben zog eine Augenbraue in die Höhe. Für Elin ein untrügliches Zeichen, dass er ungeduldig wurde.
„Findest du nicht, dass du es langsam übertreibst? Die Verteilung der Erbmasse gehört bei einem Todesfall eben dazu. Ich will deine Traurigkeit nicht verurteilen Liebes. Bitte verstehe mich nicht falsch. Aber deine Großmutter hatte ein erfülltes Leben. Sie war alt, so spielt das Leben eben. Warum fragst du dich denn nicht stattdessen, warum sie gerade dir das Haus vermacht hat? Vielleicht weil sie gewusst hat, dass du es nicht gleich verkaufen würdest. Ich bin sicher, sie würde sich freuen, wenn wir ihr Geburtshaus mit neuem Leben füllen und wenn es nur für ein paar Wochen ist. Danach kannst du immer noch darüber nachdenken, was du damit machen möchtest. Deine Trauer in allen Ehren Elin, du bist achtundzwanzig Jahre alt, dir stehen alle Möglichkeiten offen! Lass uns hinfahren und eine schöne Zeit verbringen, Emily hätte es so gewollt, dass weiß ich. Sie liebte es, dich Lachen zu sehen. Erinnerst du dich wie sie immer sagte, das Leben rauscht so schnell an dir vorbei und eines Tages wachst du auf und du bist alt?“
Elin spürte, dass Ben bemüht war ihre Trauer zu respektieren, auch wenn er kein Verständnis dafür aufbringen konnte, dass sie nicht wenigstens versuchte, die positiven Seiten an ihrer Situation zu sehen. Victoria, die bisher geschwiegen hatte, sprang Ben zur Seite.
„Denk drüber nach Elin, lehne meinen Vorschlag nicht gleich ab, ok?“ Victoria legte der Freundin eine Hand auf den Arm und blickte sie erwartungsvoll an.
„Das mache ich, versprochen. Aber jetzt möchte ich gerne nach Hause. Habt ihr beiden etwas dagegen, wenn Ben und ich aufbrechen?“
Jerome schüttelte den Kopf.
„Nein, wir schließen uns an, Victoria und ich müssen morgen früh um 08.30 Uhr in der Kirche sein. Meine Nichte wird getauft und wir sind die Paten. Da möchte ich natürlich einen tadellosen und vor allem ausgeschlafenen Eindruck hinterlassen“, dabei zupfte er sich demonstrativ sein Hemd zurecht, was ihm ein anerkennendes Schulterklopfen von Ben einbrachte.
Nachdem sie sich von Victoria und Jerome verabschiedet hatten, schlenderte Elin mit Ben schweigend die Themse entlang. Plötzlich blieb sie so abrupt stehen, dass Ben, der seinen Arm um ihre Schultern gelegt hatte, beinahe gestolpert wäre.
„Hey, was hast du vor, willst du mich flachlegen?“
„Das Haus Ben! Ich will es nicht! Allein der Gedanke, dass es nun mir gehört, gibt mir das Gefühl zu ersticken!“ Ben starrte Elin entgeistert an.
„Hab ich dich gerade richtig verstanden? Du willst ein Haus ablehen, das mehr als 250 Tausend Pfund wert ist?“ Ben schien mit seiner Geduld allmählich am Ende zu sein. Elin schluckte. Sie war sich bewusst, dass es ihnen finanziell zwar gut ging, jedoch wusste vor allem Ben, wie sich auch die andere Seite anfühlen konnte. Lange hatte er um die Stelle als stellvertretender Leiter in einem renommierten Pharmakonzern kämpfen müssen. Zuvor war er über ein halbes Jahr arbeitslos gewesen, hatte Gelegenheitsjobs angenommen, da er sich weigerte, von dem Geld seiner Frau zu leben. Ihr eigenes Elternhaus war wohlhabend, und Elin wusste, dass er ihr manchmal vorwarf, nicht zu schätzen wie gut es ihr ging.
Im Moment suchte sie nach den richtigen Worten, Bens zunehmend gereizter Tonfall war ihr nicht entgangen.
„Ich kann mir vorstellen, dass du Schwierigkeiten hast, mich zu verstehen. Aber ich habe das Gefühl, eine Bürde übernommen zu haben, etwas, das niemand möchte und das nun bei mir gelandet ist.“
„Das verstehe ich in der Tat nicht und ich sehe auch keinen Sinn, jetzt darüber zu diskutieren. Etwas, das niemand möchte? Weißt du überhaupt, was du da gerade sagst?“
Inzwischen waren sie vor ihrer Wohnungstür angekommen und Ben kramte in seiner Hosentasche nach dem Hausschlüssel.
„Weißt du was ich glaube? Dein größtes Problem ist, dass du hinter allem ein Wenn und Aber suchst! Was hält dich eigentlich davon ab, dich einfach einmal nur zu freuen? Manchmal habe ich den Eindruck, deine Eltern haben dich einfach zu sehr verwöhnt. Es tut mir leid, dass ich das jetzt so direkt sage, aber wenn du mich fragst, ist deine Reaktion alles andere als normal. Wenn man etwas bekommt, das zugleich von solch großem Wert ist, dann sollte man es einfach schätzen, ja, man sollte dankbar sein, nicht mehr und nicht weniger!“
Elin starrte Ben entgeistert an. Dass ihr eigener Ehemann in dieser Art und Weise mit ihr redete, erschreckte sie, ja mehr noch, es verletzte sie. Ihre Stimme zitterte verräterisch, als sie ihm antwortete.
„Dann bin ich in deinen Augen also eine verwöhnte undankbare Frau?“
Ben seufzte. Elin sah ihm an, dass er sich fragte, warum er sich zu diesem verbalen Gefühlsausbruch hatte hinreißen lassen. In Anbetracht dessen, was folgte, wusste sie, dass er sich wünschte, einfach nur den Mund gehalten zu haben.
„Du weißt genau, wie ich es gemeint habe!“
„Wenn du es nicht so meinst, warum sagst du es dann?“
„Ich meine doch nicht, dass du grundsätzlich undankbar bist, gewisse Dinge eben, die ein anderer Mensch vielleicht niemals erreichen wird oder für die er zumindest hart arbeiten muss, nimmst du nicht nur für selbstverständlich hin, nein, du beschwerst dich auch noch darüber.“ Ben hob kapitulierend die Hände. „Lass uns bitte morgen weiter reden, ok? Ich bin müde und gleichzeitig habe ich das Gefühl wir drehen uns im Kreis.“
„Das sehe ich überhaupt nicht so!“ Elin wurde plötzlich wütend. „Ich habe lediglich wiederholt, was du zu mir gesagt hast. Auf einmal tust du, als würde ich die Worte verdrehen. Um ehrlich zu sein Ben, deine Worte haben mich eben sehr verletzt!“
Ben zog die Stirn in Falten und blickte flehend an die Decke.
„Ja, es wäre in der Tat besser gewesen, den Mund zu halten! Ich hasse Diskussionen dieser Art, vor allem wenn sie um diese Uhrzeit stattfanden! Elin, bitte, wenn ich dich verletzt habe, dann tut es mir leid. Ich liebe dich und möchte, dass du dich wieder besser fühlst. Daher habe ich angeregt, deine Herangehensweise an manche Dinge zu überdenken! Und nun gute Nacht, ich werde mich jetzt hinlegen. Es ist ein Uhr nachts und ich bin hundemüde. Falls noch Gesprächsbedarf besteht, werden wir uns morgen unterhalten.“
Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus und Elin hörte, wieer damit begann, sich die Zähne zu putzen. Kurze Zeit später fiel die Tür des Schlafzimmers ins Schloss und in der Wohnung wurde es still.
Nachdenklich starrte Elin aus dem Fenster. Für einen kurzen Augenblick überlegte sie, ob sie Ben ins Schlafzimmer folgen sollte. Doch sie entschied sich dagegen. Wenn sie jetzt darauf bestand, das Thema auszudiskutieren, würde es in einem Streit enden. Ihr Mann war geduldig und versuchte, oftmals Verständnis für ihre Belange aufzubringen, doch sie spürte genau, wann die Grenze seiner Geduld erreicht war. Am Ende hatte er mit seiner Aussage vielleicht sogar den Nagel auf den Kopf getroffen und genau deshalb war sie gekränkt? Auch wenn es sie schmerzte, wahrscheinlich lohnte es sich in der Tat, über seine Worte nachzudenken.
Obwohl sie gerade noch vorgehabt hatte, ebenfalls ins Badezimmer zu gehen, um sich für die Nacht fertig zu machen, entschied sie sich plötzlich anders. Sie würde ohnehin kein Auge zu tun. Dafür war sie viel zu aufgewühlt.
Elin entschloss sich, endlich den Brief zu öffnen, der immer noch auf dem Schreibtisch des Arbeitszimmers bei den anderen Unterlagen der Erbschaft lag. Am Nachmittag war keine Zeit mehr dafür gewesen ihn zu lesen und wenn sie ehrlich war, hatte sie auch nicht den Mut dazu aufbringen können. Daher hatte sie die gesamten Unterlagen kurzerhand ins Arbeitszimmer verfrachtet. Doch plötzlich brannte sie darauf, Emilys letzte Worte anihre Enkelin zu lesen. Rasch stand sie auf und schlich ins Arbeitszimmer. Elin schaltete die Schreibtischlampe ein und blinzelte, als das Licht plötzlich aufflammte.
Entschlossen zog sie die Mappe zu sich heran, die ihr der Notar am Nachmittag überreicht hatte, und begann nach einem großen braunen Umschlag zu suchen, den Dr. Kraemer erwähnt hatte. Als sie ihn entdeckte, zog sie ihn mit klopfendem Herzen zu sich heran. Er war schwerer, als sie erwartet hatte. Mit zitternden Fingern zog sie ein kleines, in weinrotes Leder eingebundenes Büchlein zu Tage. Der Einband wirkte bereits sehr abgegriffen.
Außerdem befanden sich noch zwei Briefbögen mit Emily Wagners wackeliger Handschrift darin. Elin entschloss sich dazu, zunächst Emilys Zeilen zu lesen, danach würde sie sich dem roten Lederbüchlein widmen.
Meine geliebte Elin!
Weißt du, was ich denke? Die Vergangenheit ist der Motor für ein Ziel, zu dem es uns zieht. Wenn wir uns auf den Weg machen, es zu erreichen, müssen wir mit dem Vergangenen im Reinen sein. Ansonsten werden all unsere Bemühungen vorwärtszukommen, vergeblich sein. Längst vergessen Geglaubtes, liegt wie eine unsichtbare Last auf unseren Schultern und hält uns davon ab, weiterzugehen. Wäre auch mein Leben anders verlaufen, wenn ich nicht all dieJahre geschwiegen hätte?
Aus heutiger Sicht kann ich diese Frage eindeutig mit ja beantworten. Doch nun ist es zu spät. Ich bin eine alte kranke Frau und werde den Umstand nicht mehr lange hier zu sein, akzeptieren müssen. Vorher jedoch möchte ich mit dir, liebe Elin, eine für mich so wichtige Erkenntnis aus meinem Leben teilen. Du bist meine Enkelin, eine Nachfahrin unseres Ahnensystems in direkter Line. Dir soll es einmal anderes ergehen. Ich werde den Staffelstab nicht weitergeben, wie so viele Frauen und Männer vor uns! Ja, ich werde der Unterschied sein und all die Verletzungen, die mir angetan wurden, nicht weitergeben. Das habe ich mir nach all dem Schmerz, der mir selbst widerfahren ist geschworen und ich habe mein Versprechen gehalten.
Vielleicht kennst du das alte deutsche Sprichwort von dem Haus, welches auf Sand gebaut ist? Dieses Beispiel klingt sehr abgedroschen, ich weiß, aber es gefällt mir, trifft es doch den Kern der Sache. Wie kann jemals etwas Neues, etwas Stabiles entstehen, wenn das Fundament nicht in Ordnung ist?
Elin ließ den Brief sinken und blinzelte heftig, um die aufsteigenden Tränen zu vertreiben. Auf einmal war ihr die geliebte Großmutter ganz nahe. Das Gefühl an dem Schmerz, den der Verlust von Emily ausgelöst hatte zu ersticken, drohte Elin erneut zu überwältigen. Sie versuchte, sich zusammenzureißen. Entschlossen nahm sie den Brief wieder auf.
Inzwischen weißt du, dass du mein Geburtshaus in Waldern am See geerbt hast, und ich hoffe, du freust dich darüber! Deine Mutter wusste nicht, dass es sich noch im Besitz der Familie befindet, es hätte sie nur unnötig aufgeregt und daher habe ich sie in dem Glauben gelassen, es sei bereits verkauft. Ich hoffe, sie verzeiht mir meine kleine Schwindelei! Ich hätte es nicht ertragen, wäre es in fremde Hände gekommen.
Auf der einen Seite tut es mir leid Elin, dass die Bürde nun bei dir liegt, aber deine Mutter war stets zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Es hätte keinen Sinn gehabt, sie um das zu bitten, was ich nun an dich herangetragen haben. Doch du darfst beruhigt sein. Es wird nicht alles auf dir lasten. Es gibt ein Verwalterehepaar: Marietta und Hubert Gruner. Sie haben sich all die Jahre rührend um die notwendigsten Dinge gekümmert, doch sie werden langsam alt und die Arbeit wird ihnen bald zu viel werden.Noch eine Bitte an dich Elin! Reise, wenn die Zeit gekommen ist, allein. Ich bitte dich nämlich darum, Lydias Tagebuch mit nach Waldern zu nehmen, um dich dort ihrer Geschichte zu widmen. Der Geschichte unsere Familie.Deine Urgroßmutter Lydia war eine starke und ganz besondere Frau. Am Ende ihres Lebens war ihr größtes Anliegen, ihren Erfahrungsschatz weiterzugeben, damit alle die nach ihr kommen, nicht von vorne anfangen müssen.
Mein Anwalt, Dr. Brenner wird dir die Schlüssel zu ihrem,entschuldige bitte, zu deinem Haus überreichen und auch sonst steht er dir mit Rat und Tat zur Seite. Seine Adresse findest du auf der Rückseite des Briefes! Das Geld für die Erbschaftssteuer ist hinterlegt. Darüber hinaus habe ich dir ein wenig Bargeld hinterlassen, es reicht, um das Anwesen die ersten Jahre zu unterhalten. Bitte verwende es dafür, ich habe es extra für diesen Anlass gespart.Ich küsse Dich, Deine Granny
Elin legte den Brief zur Seite und starrte aus dem Fenster. Über den Dächern Londons lag bereits tiefschwarze Nacht. Österreich! Ihre Vorfahren mütterlicherseits kamen aus Salzburg! Ihr Herz machte einen Sprung. Sie liebte dieses malerische Land, eingebettet in die majestätischen Gipfel der Alpen, durchzogen von blauschimmernden Flüssen und glasklaren Seen. Warum nur, hatte ihr nie jemand gesagt, dass ihre Großmutter dort geboren worden war? Noch nicht ein Mal war sie dort gewesen. Emily hatte ihr, so lange sie lebte nie von Waldern am See erzählt oder von dem ganz besonderen Haus, in dem sie einst das Licht des Lebens erblickt hatte.
Ein Schauer huschte über ihren Rücken. Für einen kurzen Augenblick fühlte es sich an, als wäre Emily wieder hier. Dennoch, es hatte Elin Schwierigkeiten bereitet, den Worten ihrer Großmutter zu folgen. Sie fragte sich zudem, warum es Emily wichtig gewesen war, dass sie alleine reiste? Der Brief war vor sieben Jahren geschrieben worden. Damals waren Elin und Ben noch kein Paargewesen. Später dann, hatte Emily Ben wie einen Enkel geliebt. Hätte sie Elin auch gebeten, alleine zu reisen, wenn sie Ben an ihrer Seite gewusst hätte? Immerhin eine Möglichkeit. Doch warum hatte sie den Brief dann nicht abgeändert?
Ein weiterer Punkt, über den Elin grübelte, war die zweite Bitte ihrer Großmutter. Warum sollte es wichtig sein, dass sie Lydias Tagebuch in Waldern am See las und nicht hier in London? In ihren Augen gaben all diese Bitten überhaupt keinen Sinn. Waren es die Worte einer alten Frau, die ihre Sinne nicht mehr beisammen gehabt hatte oder hatte sich Emily tatsächlich etwas dabei gedacht, als sie die Zeilen an ihre Enkelin verfasste?
Eine Sache zumindest machte Elin stutzig. Erst vorhin, als sie mit Ben an der Themse entlang nach Hause geschlendert war, hatte sie versucht, ihm ihre Gefühle zu erklären und dabei ein ganz besonderes Wort benutzt. Sie hatte es nie zuvor verwendet. Es war ihr aus dem Nichts erschienen, als sie versucht hatte, Ben ihre Gefühle zu erklären. Hastig suchte Elin nach dem Abschnitt, der ihr in Erinnerung geblieben war. „…es tut mir leid Elin, dass die Bürde nun bei dir liegt!“ Elin schluckte. Emily gebrauchte genau dasselbe Wort. Ein Wort, das alles ausdrückte, was sie in dem Augenblick, als der Notar ihr die Unterlagen überreichte, empfunden hatte.
Was sollte sie nur tun? Sie hatte ihre Großmutter geliebt und würde ihr ihren letzten Wunsch so gerne erfüllen. Auf der anderen Seite hatten Victoria und auch Jerome bereitssignalisiert, sich auf eine gemeinsame Reise nach Waldern zu freuen. Auch Ben hielt das Ganze für eine gute Idee. In seinen Augen verhielt sie sich bereits jetzt unmöglich, wenn sie ihn jetzt auch noch darum bitten würde, allein zu verreisen, würde er sie als völlig übergeschnappt betiteln. Sie würde seinen Vorwurf, sie hielte sich für etwas Besseres zusätzlich befeuern und das wollte sie auf keinen Fall. Elins Magen zog sich schmerzlich zusammen. Sie hasste Situationen dieser Art. Wie auch immer sie sich entscheiden würde, ein ungutes Gefühl es nicht richtig gemacht zu haben, würde zurückbleiben.
Elin stand auf und ging zum Fenster. Ein schwarzer Spiegel der Nacht, aus dem ihr das eigene Gesicht traurig entgegen starrte. Plötzlich kam ihr ein Gedanke: Sie würde nach Waldern fahren, aber mit Ben und wenn sie sich von ihrem Vorhaben mitzukommen, nicht abhalten ließen, auch mit Victoria und Jerome. Doch sie würde den anderen nichts von Lydias Tagebuch erzählen und wenn sie darin lesen wollte, dann würde sie sich einfach zurückziehen. Das Haus schien schließlich groß genug, dafür zu sein. Elin hielt ihre Entscheidung für einen fairen Kompromiss. Sie würde zwar nicht alle Vorgaben ihrer Großmutter erfüllen, zumindest aber einen großen Teil. Emily wäre sicher damit einverstanden. Zufrieden zog Elin das weinrote Büchlein zu sich heran. Zumindest einen kurzen Blick würde sie bereits jetzt auf das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Lydia Wagner werfen:
An alle, die nach mir kommen werden..
Bevor Ihr Euch ein Urteil erlaubt, ich weiß, dass mein Verhalten im Auge der Kirche eine Sünde war: Ich habe mein eigenes Leben aufgegeben, um das Leben eines anderen Menschen zu leben und zu lenken. Gott schenkt allen Menschen die Gabe, ihre ureigenen Fähigkeiten zu entwickeln, um der Erde in Liebe zu dienen und die Welt zu einem lichtvollen Ort zu machen. Diese Erkenntnis erreichte mich leider sehr spät in meinem Leben. Lange Zeit zahlten meine Handlungen darauf ein, niederen Empfindungen nachzugeben. Gefühlen, deren Ursprünge lange zurücklagen und die durch unser Familiensystem geisterten wie unsichtbare Schatten.
Die Zeit zurückdrehen zu können, um Dinge ungeschehen zu machen, ist jedoch nichts als ein lächerlicher Wunschtraum und ständig daran zu denken wäre eine neuerliche Flucht. Die Jahre vergehen rasch und wer die richtige Abzweigung an den Gabelungen des Weges, die vor uns auftauchen verpasst, hat irgendwann seine Chancen verwirkt. Seid euch bewusst, es wird keinen Weg zurückgeben. Das Leben kann niemandem die Stunden, Tage und Jahre zurückgeben, die er verschwendet hat.
Auch mir nicht. Ich habe meine besten Jahre damit verbracht, einen Menschen zu hassen, einen Menschen, den ich einmal mehr liebte als mein eigenes Leben. Ist das nicht absurd? Nein, ich weiß die Antwort selbst, es ist mehr als das. Es hat dem Leid in unserer Familie neue Nahrung gegeben, es am Leben gehalten. VerletzteMenschen, verletzen Menschen, weil sie es nicht anders kennen, ja weil sie es nicht besser wissen. Solange bis einer dieser Menschen eine Entscheidung trifft, und genau das habe ich getan. Ich erinnere mich noch wie heute an den Tag, an dem ich in den Spiegel geblickt habe und zu mir sagte: Ich werde diesen unsäglichen Mustern der Wut und der Zerstörung nie wieder neue Nahrung geben.
Die Geralds, Gabriels und Ronalds der Familie haben uns alle schleichend vergiftet und ich hatte mich anstecken lassen. Aber ich entschied mich dafür, zu heilen. Egal wie viel Schmerz bereits durch meine Adern geflossen war, egal wie sehr ich gelitten habe. Dennoch weiß ich nicht, ob er zurückkommen wird. Ich nenne ihn den Schattenmann. Er will nicht, dass wir vergeben. Dann, wenn die Nächte am dunkelsten sind, flüstert er es mir zu, immer und immer wieder. Tief im Inneren kann ich fühlen, dass er es ernst meint. Inzwischen ist mir klar, dass er wiederkommen wird. Es ist eine Frage der Zeit. Ich kann es fühlen. Seine Kräfte sind mächtig. Sie sind in der Lage, Jahrzehnte, ja sogar Jahrhunderte mühelos zu durchdringen als wären es Stunden. Doch diesmal bin ich vorbereitet. Ich fühle die gleiche Kraft in mir. Dieser Gedanke lässt mich wieder ruhiger schlafen. Dennoch habe ich eine Bitte an die göttlichen Kräfte:Ich bitte um Zeit. Zeit, in der ich die Möglichkeit habe alles zu heilen, was in diesem meinem Leben Heilung benötigt.
Hilft es mir, wenn ich hier beteuere, dass all das nicht