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In "Die Einsamen" entfaltet Paul Heyse ein eindringliches Porträt von Charakteren, die in ihrer inneren Isolation gefangen sind. Der literarische Stil ist geprägt von einer subtilen Psychologie und einer feinfühligen Sprache, die die emotionalen Nuancen der Einsamkeit tiefgehend erforscht. In einem gesellschaftlichen Kontext, der von industriellen Umwälzungen und wachsender Entfremdung gekennzeichnet ist, gelingt es Heyse, die universellen Themen von Liebe, Verlust und der unerfüllten Sehnsucht nach menschlicher Verbindung atmosphärisch und poetisch anzusprechen. Die außergewöhnliche Erzählkunst des Autors verleiht diesem Werk eine zeitlose Relevanz und lässt den Leser über die menschliche Condition reflektieren. Paul Heyse, Nobelpreisträger der Literatur, gehört zu den bedeutendsten Vertretern der deutschen Litteratur des 19. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk ist geprägt von einem tiefen Verständnis menschlicher Emotionen und gesellschaftlicher Zustände. Heyses eigene Erfahrungen mit Entfremdung, bedingt durch ein intellektuellen Milieu, prägten sein Schaffen. Die Eindrücke seiner Reisen sowie Begegnungen mit verschiedenen Kulturen fließen ebenfalls in seine Erzählung ein und verleihen ihr eine bemerkenswerte Tiefe. "Die Einsamen" ist ein unverzichtbares Werk für Leser, die ein Interesse an der menschlichen Psyche und den emotionalen Abgründen des Individuums haben. Es spricht jene an, die bereit sind, sich auf die Reise durch die Einsamkeit und das innere Ringen der Protagonisten einzulassen. Heyses meisterhafte Erzählweise und tiefgründige Themen machen das Buch zu einer Einladung, über die eigene Existenz und die Beziehungen zu anderen nachzudenken.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
(1857)
Mehrere Tage lang hatten heftige Südstürme das Meer erschüttert, auf dem hohen Felsenufer Sorrents mit Frühlingsungestüm den Saft in den Feigenbäumen aufgerüttelt und den Boden mit fruchtbaren Regenschauern gepflügt. Manche wollten ein gärendes Murren im Innern des Vesuv vernommen haben und weissagten einen nahen Ausbruch. Auch schienen öfters die Häuser bis in die Grundfesten zu wanken, und nachts hörte man ein drohendes Klirren der Geräte, die im Schrank nahe beieinander standen. Als aber am letzten April die Sonne endlich über den Aufruhr Herr wurde, standen die kleinen Städte auf der Ebene von Sorrent unversehrt zwischen ihren Wein- und Orangengärten, der Felsengrund hatte sich nicht aufgetan, sie zu verschlingen, und dem tosenden Meer war das Ufer dennoch zu hoch gewesen, um hinaufbrandend alles, was Menschen seit Jahrhunderten gepflanzt, in die Tiefe zu reißen.
Am Nachmittage dieses letzten April, der zugleich ein Sonntag war, verließ ein deutscher Poet—sein Name tut nichts zur Sache—das Haus, in dem er sehr wider seine Neigung durch den Sturm war gefangen gehalten worden. Tagelang hatte er vom Fenster aus über das Meer gestarrt, den Mantel um die Knie geschlagen, denn der Steinboden seines Zimmers hauchte eine empfindliche Kälte aus, den Hut auf dem Kopf, ein Glas Wein nach dem anderen hinabschlürfend, ohne ein Wärmegefühl in sich erwecken zu können. Der kleine Büchervorrat, der ihn auf der Reise begleitete, war in Neapel zurückgeblieben, und im Hause seines Wirts war außer dem Kalender und einem Meßbuch kein gedrucktes Blatt aufzutreiben. Wie oft hatte er sich vermessen, daß ihn in der Einsamkeit Langeweile nie anwandeln solle. Aber so viel und sehnsüchtig er die Muse zur Gesellschaft heranflehte, der Wind verschlang seinen Ruf, und die Kälte ließ endlich keinen anderen Gedanken in ihm aufkommen als den Wunsch, die Sonne wiederzusehen.
Sie war denn auch durchgebrochen, und er hatte die Hälfte dieses gesegneten Tages redlich damit verbracht, auf dem Altan sitzend sie sich auf die Haut scheinen zu lassen. Und als er vollends nach Tische den Bergweg hinaufstieg, wurden alle erstarrten Gefühle in ihm mit Macht wieder lebendig. So groß, so golden und gewaltig hatte er die siegreiche Frühlingssonne nie gesehen, so erfrischend war ihm der Hauch des Meeres nie ins Mark gedrungen. Diese Blätter da an den Feigenbäumen waren in einer Nacht fingerlang hervorgeschossen. Die Büsche dort hat die Sonne eines halben Tages in weiße Blüten gebracht. Und wo nur der Wanderer, vom Duft gelockt, den Boden näher untersucht, dunkeln ihm unabsehliche Veilchenbeete entgegen. Die Luft wimmelt von Schmetterlingen, die nicht älter sind als dieser Tag; alle Pfade ringsum sind von Menschen zu Fuß oder in sausenden kleinen Wagen belebt. Dazu die Glockenstimmen der Kirchen und Kapellen auf vier Stunden Wegs, das Jauchzen der Burschen, die bergan zogen, um ein Kirchenfest in Sant' Agata, einem Dorfe auf dem Grat des Berges, mitzufeiern, und die langgezogenen Ritornelle der Weiber, die Hand in Hand zur Vesper wandelten, oder auf den sonnigen Dächern stehend ins Meer hinausblickten.
Je weiter der Deutsche, einer mäßig ansteigenden Straße folgend, sich dem Feiertagsjubel entzog, desto mehr beklemmte es ihm das Herz, daß er dem Dank für die Fülle der Wunder, die auf ihn eindrang, mit nichts Luft zu machen vermochte. Am liebsten hätte er dort auf dem Felsen stehend in die weite Landschaft hinausgesungen, ein Lied ohne Worte, einen bloßen Widerhall aller Frühlingsstimmen um ihn her. Aber er hatte einigen Grund, seiner Stimme zu mißtrauen, daß sie eine würdige Heroldin seines Gefühls sein würde. Wie neidisch dachte er an jenen Tenor zurück, der in Rom ihn manchen Abend entzückt hatte! Mit dieser Stimme hier die Weite auszufüllen! Wie armselig, stumm wie ein Dieb, klanglos wie der Stock in seiner Hand kam er sich vor, als er durch alle singende und klingende Wonne der Natur hindurchschritt.
Was rühmen sie die Poesie als die höchste Kunst? rief er zornig aus. Kann sie eine Brust von der Übermacht eines solchen Eindrucks befreien? Ruft mir die Größten her, die jemals über melodische Worte zu gebieten hatten, ob sie nicht dem Unermeßlichen gegenüber verstummen gleich mir armem Nachgeborenen. Womit wollen sie Licht und Äther und Meer und die Düfte, die aus jenem Orangenhain heraufwehen, nur von ferne würdig verherrlichen? Sogar der letzte unter allen, die sich noch einer Muse rühmen, ein Tänzer selbst könnte es ihnen hier zuvortun. Kann er nicht das Streben in den Himmel hinauf, ins All hinein, wenigstens mit Zeichen und Gebärden andeuten, mit seiner ganzen Person und vom Wirbel bis zur Zehe seine Trunkenheit ausströmen? Und nun ein Maler vollends! Der unbedeutendste und einfältigste, wenn er nur gelernt hat, die Linie des Berges dort und das Kloster am äußersten Rande, dahinter den Wald, die Grenze des Meeres, im Vordergrunde den frisch vom Winde geknickten Baum auf ein Blatt zu bringen—wie glücklich muß es ihn machen! Und wenn er gar ein Meister ist und die zitternde Helle über der gelben Bergwand in Farben widerstrahlen kann, dort in der Tiefe die See, die noch immer wühlt und die Wellen wirft wie Fetzen eines silberdurchwirkten Gewandes, den Duft drüben am Vesuv, die weißen Glockentürme zwischen dem jungen Laub der Kastanien—ich könnte ihn geradezu umbringen vor Neid!
In dieser seltsam aufgeregten Verfassung setzte er sich auf einen Stein am Wege nieder und sah finster um sich her. Und er hatte es halb und halb verdient, daß ihm durch die Erkenntnis seiner Unzulänglichkeit die reine Stimmung zerstört wurde. Er war mit der festen trotzigen Überzeugung ausgegangen, draußen der langentbehrten Muse zu begegnen. Ein Heft Papier hatte er zu sich gesteckt, und hinter jedem Felsenvorsprung, jeder Wald- oder Gartenecke rechnete er gespannt darauf, ein lyrisches Motiv zu finden. Denn der sehr törichte und eitle Wunsch beseelte ihn, wo alles im Werden war, auch von seinem geringen Dasein irgend ein Zeugnis abzulegen. Und wohl jeder hat es schon einmal an sich selbst erfahren, daß ihn das große Werk der sich erneuenden Natur in eine Spannung versetzt, in der er die unerhörtesten Dinge wirken und wagen möchte, in eine ziellose Unruhe, irgend etwas zu gestalten und nicht der einzig Untätige und Erstorbene zu sein, während alles Blüten treibt? Schade nur, daß dieses Frühlingsfieber meist, anstatt irgend einer Tat, Erschöpfung und Verzicht zur Folge zu haben pflegt.