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In "Ein Ring" entführt Paul Heyse den Leser in die komplexe Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen, die von Liebe, Ehre und dem schicksalhaften Spiel des Lebens geprägt sind. Durch seine meisterhafte Prosa und feinsinnige Charakterzeichnung gelingt es ihm, die inneren Konflikte der Protagonisten authentisch darzustellen. Die Erzählkunst Heyses, die oft Elemente des Realismus und des Psychologischen vereint, lässt den Leser tief in die emotionale Landschaft eintauchen, während das Werk gleichzeitig die gesellschaftlichen Konventionen des 19. Jahrhunderts reflektiert. Die subtile Symbolik des Rings als Zeichen der Bindung und des Schicksals durchzieht die Handlung und hebt die thematische Tiefe hervor. Paul Heyse, Träger des Literaturnobelpreises 1910, war ein zentraler Vertreter der deutschen Literatur seiner Zeit. Sein Eklektizismus in der Schreibweise und seine Fähigkeit, das Alltägliche mit dem Außergewöhnlichen zu verweben, zeugen von seinem tiefen Verständnis für die menschliche Natur. Heyses frühere Erlebnisse, einschließlich seiner Reisen und Begegnungen mit verschiedenen Kulturen, bereicherten sein literarisches Schaffen und führten zu der differenzierten Betrachtung von Themen, die auch in "Ein Ring" zentral sind. Für Leser, die sich für die Feinheiten der menschlichen Beziehungen sowie die Fragilität und Schönheit der Liebe interessieren, ist "Ein Ring" ein unverzichtbares Werk. Es fordert heraus, regt zur Reflexion an und bietet zudem einen faszinierenden Einblick in die gesellschaftlichen Normen des 19. Jahrhunderts. Dieses Buch ist sowohl für Liebhaber klassischer Literatur als auch für diejenigen geeignet, die sich mit der psychologischen Tiefe in Erzählungen auseinandersetzen möchten.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Novelle
(1904)
Wie bist du zu dem seltsamen Ringe gekommen, liebe Tante? Einen so massiven, mit großen schwarzen Buchstaben habe ich nie gesehen. Ist's ein Trauerring? Und was steht in der Inschrift?
Die kleine alte Frau, an die ich diese Fragen richtete, war eine ältere Schwester meiner Mutter, nur Tante Klärchen von uns genannt. Vor siebzehn Jahren hatte sie ihren Mann verloren, den Bankier Herz, dessen große, schwerfällige Figur mit dem feinen jüdischen Kopfe mir noch aus meiner frühesten Kinderzeit vor Augen steht, da meine Eltern, als ich zwei Jahre alt war, die Frankfurter Verwandten besucht hatten. Nun war diese Lieblingsschwester meiner Mutter nach einem glänzenden Leben an der Seite des wohlhabenden Gatten, dem sie schöne Töchter geboren, in eine unscheinbare Dunkelheit versunken, hatte aber ihre Wohnung an der "Schönen Aussicht" behalten und sie nur selten verlassen, teils weil ihre äußere Lage ihr den früheren Aufwand nicht mehr gestattete und zunehmende Kränklichkeit sie oft ans Bett fesselte, teils weil sie in diesem Hause die freundliche Pflege und Gesellschaft ihres ältesten Bruders genoß, meines Onkels Louis Saaling und seiner Frau, von denen ich in meinen "Jugenderinnerungen" ein mehreres erzählt habe.
Als ich nun in meinem neunzehnten Jahre als fahrender Schüler von Bonn aus den Rhein hinauf wallfahrtete und einige Tage von meinem Onkel beherbergt wurde, ehe ich in die Schweiz weiterzog, faßte ich eine lebhafte Neigung zu dieser Tante Klärchen, die auch mich, schon um meiner Mutter willen, mit einer rührenden Zärtlichkeit ins Herz schloß.
Sie lag damals schon fest auf dem Krankenbette, das sie nicht mehr verlassen sollte. Aber wer von ihren Schmerzen nichts wußte und das feine, edelgebildete Gesichtchen unter dem kostbaren Spitzentuch betrachtete, noch von schwarzen, glänzenden Locken trotz ihrer sechzig Jahre eingefaßt, die Augen von einer seltsamen Onyxfarbe in dem bläulichen Weiß unter den breiten Lidern, dazu das Grübchen in der glatten linken Wange, das bei jedem Lächeln sich vertiefte—konnte sich nicht vorstellen, daß die Tage dieser lieblichen alten Frau gezählt sein sollten.
Klärchen hat immer einen "Chain" gehabt, pflegte meine Mutter zu sagen—der jüdische Ausdruck für das, was wir mit den Franzosen Charme nennen. Diesem Zauber weiblicher Anmut, der aus dem ganzen Naturell der Tante hervorging und bis ins hohe Alter ihr treu blieb, konnte auch ich nicht widerstehen. Ich saß stundenlang an ihrem Bette und ließ mir von ihren Erlebnissen aus der Zeit, da sie mit meiner Mutter jung und lustig gewesen war, erzählen. Sie war nie witzig gewesen, wie "Julchen", aber ein dankbares Publikum für den Humor der Schwester, und hatte eine Menge der drolligen Einfälle meiner Mutter im Gedächtnis behalten. Dagegen mußte ich ihr von meinem Studentenleben berichten, meine kleinen romantischen Abenteuer und Herzensangelegenheiten beichten, und da es kein Geheimnis war, daß ich Verse machte, ihr auch ein und das andere dieser jugendlichen Exerzitien vorlesen. Sie sagte mir nichts darüber, hörte aber mit zugedrückten Augen und einer träumerischen Miene zu, und als ich aufhörte, zog sie meinen Kopf an ihr Gesicht heran, küßte mich auf die Augen und sagte ganz leise: Ich danke dir, lieb Kind. Du bist ein gebenschter (gesegneter) Mensch.
Gewöhnlich ruhten ihre beiden kleinen Hände regungslos auf der grünseidenen Decke, die mit kostbaren Spitzen eingefaßt war. Die ungemein zarte Haut war bleich wie alter, weißer Atlas, der etwas vergilbt ist und seinen Glanz verloren hat, wie auch über ihrem Gesicht kein Schimmer von Röte lag. An beiden Händen aber blitzten die kostbarsten Ringe, zwischen deren Juwelen der dicke Trauerring sich wie ein schlichter Fremdling ausnahm, der sich in eine vornehme Gesellschaft verirrt hatte.
Als ich sie nach ihm fragte, hob die Tante sacht die linke Hand, die ihn trug, und hielt sie nahe vor die Augen, deren Sehkraft schon ein wenig geschwächt war.
Es ist auch ein Trauerring, sagte sie mit ihrer weichen Stimme, nachdem sie ihn eine Weile still betrachtet hatte. Der, von dem ich ihn habe, ist lange schon nicht mehr auf der Erde. Neben den anderen nimmt er sich nicht glänzend aus, und doch ist er mir der liebste von allen. Daß er so dick ist, kommt davon her, weil er eine kleine Haarlocke einschließt, die man sieht, wenn man die innere Kapsel öffnet. Ich habe es seit vielen Jahren nicht mehr getan, will's auch jetzt nicht, es greift mich zu sehr an. Die Emailinschrift aber kannst du selbst lesen.
Sie hielt mir den Ring wieder hin, und ich buchstabierte: Lebe wohl! Dann sank die Hand wieder auf die seidene Decke.
Wir schwiegen eine Weile.