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Masterarbeit aus dem Jahr 2001 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: A1, Hacettepe Universität (Institut für Sozialwissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Die Absicht dieser Arbeit ist, die Entfremdung des Individuums in den Romanen von Franz Kafka festzustellen. Die Entfremdung des Individuums ist eine Tatsache, womit der Mensch zeitlebens vertraut war und sich weiter als eine Problematik unserer modernen Gesellschaft darlegen läßt. Deshalb ist dieses Thema auch heute aktuell und untersuchungswert und wird ihre Bedeutung nicht verlieren, solange die Ursachen der Entfremdung nicht analysiert und aufgehoben werden. Daher scheint es notwendig auf dieses Thema einzugehen und ihre Reflexionen auf dem Gebiet der Literatur zu untersuchen. Franz Kafka ist einer der bedeutendsten Literaten in der deutschen Literatur, der die Auswirkungen der Entfremdung auf die Gesellschaft und auf das Individuum in seinen Romanen niederlegt. Dieses kommt erstens daraus hervor, daß Kafka sein Leben lang unter der persönlichen Entfremdung litt, die er auf seine Werke reflektierte. Seine Autobiographie gibt die Hinweise dazu, daß er seine Werke auch unter diesem Einfluß geschrieben und mit diesem “Bewußtheit” die Welt beobachtet und niedergelegt hat. Die Erfahrung der Entfremdung machte Kafka aber nicht nur in seinem persönlichen Leben; der Ursprung der Entfremdung befindet sich schließlich in der Welt und in den erlebten Verhältnissen, die er mit jenen “Mikroskopaugen” wahrgenommen hat, und “durch genaues Hinsehen aus der Fremdheit und Unsicherheit der Beziehungen des Ichs, die Ungewißheit und Gefährdungen in den Beziehungen aller, die Schrecken eines ganzen - unseres - Jahrhunderts erblickte.” (Guntermann 1991, 266) Wenn man die Entfremdung als Entweichung von allen menschlichen Werten zusammenfassen sollte, beobachtet Kafka eine Welt, in der die Individuen, die Möglichkeiten als menschliches Dasein zu leben, verloren haben. Kafka schildert gerade diese Welt, in dem die Entfremdung auf allen Dimensionen des Lebens gedrungen ist. All die Abweichungen von den Werten und die daraus entstehenden Ergebnisse im Bezug auf das Individuum, finden gerade in der Literatur Kafkas Gestalt, in dem die Romanhelden mit dieser Tatsache konfrontiert sind Schließlich ist die Literatur eine Quelle, um den gesellschaftlichen Ursprung der entfremdeten Beziehungen durchblicken zu können, und die Abweichung von ethischen Werten bewerten zu können: “Denn die Kenntnis der Werte, findet ihre direkte Quelle in den erlebten menschlichen Verhältnissen, eine von ihren indirekten Quellen sind die Werke, die von ihnen erzählen.” (Kuçuradi 1999, S.22) [...]
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ZUR ENTFREMDUNG DES INDIVIDUUMS
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3.0 DIE ENTFREMDUNG DES INDIVIDUUMS IN DEM ROMAN “DER PROZESS” 3.1 ÜBER DEN ROMAN 3.2 MACHTLOSIGKEIT ALS FAKTUM DER ENTFREMDUNG
3.2.1 Die Macht und ihre Bewältigung des Individuums
3.2.2 Die Unterworfenen gegenüber der Macht / dem Gericht
3.3 DIE SOZIALE ISOLIERUNG UND EINSAMKEIT DES INDIVIDUUMS
IN DER GESELLSCHAFT
3.3.1 Isolierung von der Familie
3.3.2 Isolierung von der Gesellschaft
3.3.3 Isolierung von der Arbeit
3.3.4 K. als einsamer Ablehner der gesellschaftlichen Ordnung
3.3.5 Die Einsamkeit des Individuums in der Gesellschaft
3.3.6 Die endgültige Isolierung K.’s - Der Tod
3.4 DIE SELBSTENTFREMDUNG DES INDIVIDUUMS
3.4.1 Das Individuum als Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse
3.4.2 K.’s Selbstentfremdung
3.4.3 Die Selbstentfremdung der Beamten - der Wächter
3.4.4 Die entfremdeten Geschlechter
3.4.5 Die Entfremdete Kunst
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4.0 DIE ENTFREMDUNG DES INDIVIDUUMS IN DEM ROMAN “DAS SCHLOSS” 4.1 ÜBER DEN ROMAN 4.2 MACHTLOSIGKEIT ALS FAKTUM DER ENTFREMDUNG
4.2.1 Masse und Macht
4.2.2 Die Eigenschaften der Macht
4.2.3 Die Machtlosigkeit des Individuums und ihre Auswirkung auf die
Entfremdung
4.3 DIE SOZIALE ISOLIERUNG UND EINSAMKEIT DES INDIVIDUUMS
IN DER GESELLSCHAFT
4.3.1 K. als Fremder - Die Isolation K.’s von den Dörflern
4.3.2 K. als gefürchteter Retter
4.3.3 Die Isolation K.’s vom Schloß
4.3.4 Die Isolation der Individuen untereinander
4.3.5 Die Einsamkeit der Herrscher
4.4 DIE SELBSTENTFREMDUNG DES INDIVIDUUMS
4.4.1 Das Individuum als Opfer der Gesellschaft
4.4.2 Die Entfremdung K.’s
4.4.3 Die Entfremdung der Dorfleute und der Schloßanwesenden
4.4.4 Die entfremdeten Geschlechter
5.0 SCHLUßFOLGERUNG 6.0 BIBLIOGRAPHIE
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0.0 EINLEITUNG
Die Absicht dieser Arbeit ist, die Entfremdung des Individuums in den Romanen von Franz Kafka festzustellen. Die Entfremdung des Individuums ist eine Tatsache, womit der Mensch zeitlebens vertraut war und sich weiter als eine Problematik unserer modernen Gesellschaft darlegen läßt. Deshalb ist dieses Thema auch heute aktuell und untersuchungswert und wird ihre Bedeutung nicht verlieren, solange die Ursachen der Entfremdung nicht analysiert und aufgehoben werden. Daher scheint es notwendig auf dieses Thema einzugehen und ihre Reflexionen auf dem Gebiet der Literatur zu untersuchen.
Franz Kafka ist einer der bedeutendsten Literaten in der deutschen Literatur, der die Auswirkungen der Entfremdung auf die Gesellschaft und auf das Individuum in seinen Romanen niederlegt.
Dieses kommt erstens daraus hervor, daß Kafka sein Leben lang unter der persönlichen Entfremdung litt, die er auf seine Werke reflektierte. Seine Autobiographie gibt die Hinweise dazu, daß er seine Werke auch unter diesem Einfluß geschrieben und mit diesem “Bewußtheit” die Welt beobachtet und niedergelegt hat.
Die Erfahrung der Entfremdung machte Kafka aber nicht nur in seinem persönlichen Leben; der Ursprung der Entfremdung befindet sich schließlich in der Welt und in den erlebten Verhältnissen, die er mit jenen “Mikroskopaugen” wahrgenommen hat, und “durch genaues Hinsehen aus der Fremdheit und Unsicherheit der Beziehungen des Ichs, die Ungewißheit und Gefährdungen in den Beziehungen aller, die Schrecken eines ganzen - unseres - Jahrhunderts erblickte.” (Guntermann 1991, 266)
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Wenn man die Entfremdung als Entweichung von allen menschlichen Werten zusammenfassen sollte, beobachtet Kafka eine Welt, in der die Individuen, die Möglichkeiten als menschliches Dasein zu leben, verloren haben. Kafka schildert gerade diese Welt, in dem die Entfremdung auf allen Dimensionen des Lebens gedrungen ist. All die Abweichungen von den Werten und die daraus entstehenden Ergebnisse im Bezug auf das Individuum, finden gerade in der Literatur Kafkas Gestalt, in dem die Romanhelden mit dieser Tatsache konfrontiert sind Schließlich ist die Literatur eine Quelle, um den gesellschaftlichen Ursprung der entfremdeten Beziehungen durchblicken zu können, und die Abweichung von ethischen Werten bewerten zu können:
“Denn die Kenntnis der Werte, findet ihre direkte Quelle in den erlebten menschlichen Verhältnissen, eine von ihren indirekten Quellen sind die Werke, die von ihnen erzählen.” (Kuçuradi 1999, S.22) Eine andere Bedeutung der literarischen Werke sind, daß sie uns die vollständig nackte Realität zur Schau stellen, vor der wir uns in unserem Alltag entfremdet haben. Denn wer liest, “der erkennt mit Schrecken, daß die verborgenen Wahrheiten, die verborgene Bedeutung oder die verborgene Bedeutungslosigkeit seines Lebens zum Vorschein kommen”, meint Lukacs (1977, 240). So konfrontiert uns auch Kafka mit unseren eigenen Wahrheiten, von denen wir uns in der Ohnmacht, von dem Bestreben nach anderen materiellen Zielen nicht bewußt werden können. Denn die entfremdete Lebensform ist nicht etwas, was außer uns existiert, es ist keine erfundene Phantasie in den Romanen. Sie ist eine Tatsache unseres Lebens, deren Ursprung sich wieder in uns selbst befindet. Wir erleben die Entfremdung direkt in uns, so daß wir unsere eigene Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen können. Neue Werte und Ziele haben uns unserem eigenen Dasein entfremdet, so daß wir ständig nach Besitz und Macht streben und uns selber zum Objekt machen und verdinglichen.
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So läßt uns Kafka mit “Schrecken” unserer eigenen Lebenswirklichkeit ins Auge erblicken. Denn gerade das ist es, was als “kafkaesk” benannt wird, “die einsteht für alles Alptraumhafte, Labyrinthisch - Gespenstische und Absurde nicht nur menschlichen Denkens, Handelns und Träumen, sondern auch moderner Bürokratie, Maschinerie, Apparaturen und Versklavungen.” (Emrich 1975, S.13) Die Absicht der Arbeit ist daher, die menschlichen Verhältnisse in den Romanen von Kafka zu Untersuchen und in diesen Beziehungen die entfremdeten Lebensformen der Figuren aus dem Roman herauszunehmen, den Ursprung der Entfremdung aus den von Kafka beschriebenen Tatsachen herauszufinden und auf die daraus entstehenden Ergebnisse hinzuweisen. Dabei wird die Parallelität zu den erlebten Wirklichkeiten unseres Jahrhunderts mit der ‘fiktionalen’ Welt Kafkas zum Vorschein kommen.
Obwohl Kafka in all seinen Werken die lebensnahe Realität fiktionaler Weise darstellt, sind seine Romane dabei die wichtigsten Werke, die uns mit der Entfremdung konfrontieren. Deshalb sind für diese Arbeit die Romane von Kafka gewählt worden. Dabei waren die vielseitigen Interpretationen über die Erzählungen und anderen Werke ein weiterer Grund bei der Wahl der Romane. Die Erzählungen von Kafka sind von vielen Interpretern mit verschiedenen Blickwinkeln bereits schon analysiert worden, wobei man seinen Romanen bei den Interpretationen kein großes Interesse schenkte, wie z.B. dem Roman “Der Verschollene”, der mit dem von Max Brod veröffentlichten Titel “Amerika” den Lesern etwas bekannter ist, als mit seinem eigentlichen Titel.
Bei den Untersuchungen der drei Romane, “Der Verschollene”, “Der Proceß” und “Das Schloß” wird die Primärliteratur von den kritischen Ausgaben gewählt, weil es uns wichtig erschien der manuskriptgetreuen Textgestaltung zu folgen, da die editierten Werke von Max Brod großer Kritik unterworfen sind, die uns bei den Untersuchungen der Sekundärliteratur aufgefallen ist. Deshalb befinden sich in den Zitaten von diesen Romanen einige Fehler, die nicht korrigiert worden sind, wie z.B.
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in dem Roman “Der Verschollene” der Name New York, der in manchen Stellen “Newyork” (V.89), oder als “New-York” (V.89) geschrieben worden ist. Im folgenden, wird als erstes der Begriff “Entfremdung” anhand
verschiedenen Definitionen erklärt, um die Bedeutung und das Thema verständlicher zu machen.
Der zweite Schritt der Arbeit, beinhaltet die Analyse der Fakten der Entfremdung in den Romanen nach ihren Entstehungszeiten. Deshalb werden die Werke in dieser Reihe analysiert: 1. “Der Verschollene”, 2. “Der Proceß”, 3.” Das Schloß, wobei die Inhaltsangaben und nötigen Informationen über diese Romane vorliegen.
Die Analyse der Fakten der Entfremdung wird bei den drei Romanen unter den folgenden Überschriften gemacht, die eine Zusammenfassung der verschiedenen Definitionen des Begriffs “Entfremdung” beinhalten: 1. Machtlosigkeit als Faktum der Entfremdung.
2. Die soziale Isolierung und Einsamkeit des Individuums in der Gesellschaft. 3. Die Selbstentfremdung des Individuums.
Unter diesen drei Überschriften werden die Ursachen der Entfremdung, in den von Kafka beschriebenen Verhältnissen dargelegt und ihr Einfluß auf die Individuen und der Entfremdung geschildert.
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1.0 DIE DEFINITION DES BEGRIFFS “ENTFREMDUNG”
Um die Entfremdung des Individuums analysieren zu können, muß man zuerst den Begriff “Entfremdung” verständlich machen. Hierzu möchten wir einige Definitionen des Begriffs angeben:
Der Begriff “Entfremdung” gewann erst viel später einen Namen, obwohl die Entfremdung schon längst ihren Ursprung gefunden hatte. Mit der gesellschaftlichen Entwicklung, gewann der Ausdruck auch neue Bedeutungen, die folgend angeben werden. Hier die Etymologie des Begriffs:
Entfremdung, mit lateinischer Bedeutung ‘Alienatio’, war bereits von den Kirchvätern, in der Scholastik und Mystik vieldeutig gebraucht. Der Ausdruck beinhaltete eine neutrale aber auch pejorative Bedeutung, und zwar die Trennung und den Abfalls von Gott. Er hatte aber auch eine positive Bedeutung und das war die Abkehr von irdischen Dingen. ‘Alientio mentis’ wurde mehr für die Bezeichnung von Gottesverwirrung gebraucht
Nach J. Schaar ist “der Gedanke der Entfremdung nach einigen Bedeutungen älter als die schriftliche Geschichte” (1961,S.174). In seinem Werk “Escape from Autoritiy”, (Schaar 1961) geht er darauf ein, daß Homer von einem stammlosen, ängstlichen, gesetzlosen Menschen spricht, der von der Kameradschaft ausgewiesen, von dem freundschaftlichen Feuer des Klan und der Verwandtschaft entfernt ist. Das Motiv, des Wandersmanns kommt in der Tradition der Juden nochmals vor prägt sich in der Religion des Westens. Abraham ist ein Prototyp und internationales Motiv des entfremdeten Menschen. Er ist von seiner Familie, von seinem Volk, von seiner Religion entfernt, so daß er ohne Boden, Glaube, und Volk alleine wandert. Er ist ein Wanderer, der die Begriffe wie Liebe und Angehörigkeit nicht kennt. Und weil er nicht lieben kann, gibt er sich einer größeren Macht und setzt statt der Kommune das Gesetz, und statt der Liebe die Folgsamkeit ein. Weil er sich entfremdet hat,
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reflektiert er alles Gute, was in sich befindet einem anderen absoluten Dasein, das nicht sein absolutes Dasein ist, und verändert seinen Namen als Symbol seiner persönlichen Veränderung. Dies alles geschah schon längst vor der existentiellen Auffassungstheorie meint J. Schaar um darauf hinzuweisen, daß diese Tatsache im Leben des Menschen sich erwies, bevor wir diesen Begriff kannten. Jedoch ist Entfremdung eine in der Tradition vonG.W.F. Hegelverwendeter philosophischer Ausdruck und dargestellter Sachverhalt. “ Bei Hegel ist eine terminologisierte von einer nicht-terminologierten Fassung der Entfremdung zu unterscheiden. Zunächst (1) ist Entfremdung allgemein (hier tritt der Ausdruck ‘Entfremdung’ nur kursorisch auf) ein Moment der Zuständlichkeit, insofern diese nicht nur affirmativ, sondern als Wahrheit prozessual verstanden ist. Sie ist das dialektische Moment des Selbstverlustes im geistigen Selbsterfahrungsgang. So wird etwa die Entwicklung des
‘Selbstbewußtseins’ in Hegel “Phänomenologie des Geistes” (1807), und hier vor allem das Verhältnis von ‘Herrschaft und Knechtschaft’ (Phänomologie des Geistes, 127-136, Selbständigkeit und
Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft), als Durchgang durch Entfremdungen gefaßt. Die Verlorenheit an die Gegenständlichkeit als ‘Bewußtsein’, die Abhängigkeit von ihr als ‘Begierde’, die Unterwerfung des einen Selbstbewußtseins im ursprünglich auf Komplementarität angelegten Anerkennungsgang unter das andere Selbstbewußtseins (Herr und Knecht), in der der Selbstverlust seinen Höhepunkt seinen Höhepunkt erreicht, und die ‘dienende’ Arbeit für den Herrn und deren ‘fremder Sinn sind konstituive Entfremdungsstufen für die Entwicklung des autonomen
Selbstbewußtseins emphatisch seinen ‘eigenen Sinn’[. . .]” ( Mittelstraß 1995, S. 550)
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“Bei Hegel heißt Entfremdung in der “Phänomenologie des Geistes” der “Verlust der ursprünglichen Freiheit”; Entfremdung ist 1) dieunvermittelte Wirklichkeit,die ihrer wahren Bestimmung, aufgehoben zu werden, entäußert,entfremdetist und 2) des reineBewußtseinals “andere Form der Entfremdung, welche eben darin besteht, in zweierlei Welten das Bewußtsein zu haben.” Das Bewußtsein kann sich für Hegel der eigenen objektiven Allgemeinheit gegenüberstellen und sich so gegen sie entfremden. Darüber hinaus gehört Entfremdung zum Wesen der Arbeit (und somit zum Wesen des Menschen); das Produkt der Arbeit löst sich vom Arbeitenden ab und stellt sich ihm gegenüber.” ( Ulfig 1997, S.106)
“Das unwesentliche Bewußtsein ist hierin für den Herrn der Gegenstand, welcher die Wahrheit der Gewißheit seiner selbst ausmacht. Aber es erhellt, daß dieser Gegenstand seinem Begriffe nicht entspricht, sondern daß darin, worin der Herr sich vollbracht hat, ihm vielmehr ganz etwas anderes geworden, als ein selbständiges Bewußtsein. Nicht ein solches ist für ihn, sondern vielmehr ein unselbständiges; er [ist] also nicht d e s F ü r s i c h s e i n, als der Wahrheit gewiß, sondern eine Wahrheit ist vielmehr das unwesentliche Bewußtsein, und das unwesentliche Tun desselben.” (Hegel 1988, S. 135) Denn die Arbeit selbst beschreibt Hegel folgend: “Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden. Die negative Beziehung auf den Gegenstand wird zur Form desselben, und zu einem Bleibenden; weil eben dem Arbeitenden der Gegenstand Selbständigkeit hat.” Und nur weil die Arbeit eine Selbständigkeit hat, weil es ja nach der Mühe zu einem Produkt wird also “in das Element des Bleibens tritt”, kann sich der Arbeiter in sich in seinem Produkt wiederfinden; “das arbeitende Bewußtsein kommt also
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hierdurch zur Anschauung des selbständigen Seins, als s e i n e r s e l b st.” ( Hegel 1988, S. 135) “ Hegel hat diesen Begriff am Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft erläutert: Der Knecht entfremdet sich von sich selbst, weil er seine Arbeit für den Herrn und nicht zur Herstellung seines eigenen Bewußtseins leistet, und der Herr, weil er die Arbeit des Knechts nur genießt, sich dabei selbst aber nicht schafft. Weder der Herr noch der Knecht gewinnen ihr eigentliches menschliches Wesen. Es ist aber letztlich die Arbeit des Knechts, die die Welt gestaltet.” (Höffe 1997, S.57) So formuliert es Hegel selbst:
“Der Begierde gelang dies nicht wegen der Selbständigkeit des Dinges; der Herr aber, der den Knecht zwischen es und sich eingeschoben, schließt sich dadurch nur mit der Unselbständigkeit des Dinges zusammen, und genießt es rein; die Seite der Selbständigkeit aber überläßt er dem Knecht, der es bearbeitet.” (Hegel 1988, S.133) Hegel beschreibt diesen Begriff vor an Machtverhältnissen. Der Knecht ist dem Herrn untergeordnet und steht unter seinem Dienst. Er arbeitet für ihn und nicht für sich selbst. Er kann sich mit seiner Arbeit nicht Verwirklichen sondern muß es unter Notwendigkeit leisten. Der Herr jedoch, der nichts leistet und sich nur mit der Produktivität seines Knechts abfindet befindet sich auch in einer Entfremdung. “Der Herr ist das für sich seiende Bewußtsein, aber nicht mehr nur der Begriff desselben, sondern für sich seiendes Bewußtsein, welches durch ein anderes Bewußtsein mit sich vermittelt ist, nämlich durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört, daß es mit selbständigem Sein oder der Dingheit überhaupt synthesiert.” (Hegel 1988, S. 132)
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J.J.Rousseaudrückt “Entfremdung” als “Entäußerung” aus. Nach Rousseau liegt der Ursprung der Entfremdung im Gesellschaftsvertrag, der die Entscheidungsfreiheit und somit auch die individuelle Bürgerliche Freiheit des Menschen aufhebt. Die Bourgeoisie entscheidet für den normalen Bürger, und der Bürger wird zum gehorcher.
J.J Rousseau (Contrat social I,6) verwendet ‘aliénation’ in einem vertragstheoretischen Sinne von (Ent)Veräußerung. ‘Aliénation totale’ ist die im normativen Gesellschaftsvertrag vorbehaltlos erfolgende vollständige Entäußerung der natürlichen Freiheit eines einzelnen an die Gemeinschaft in einer Realisierung von Gleichheit und individueller bürgerlicher Freiheit (als citoyen) im Verbund mit dem Allgemeinwillen (volonté généale). In einem anderen (nicht terminologischen) Sinne konstatiert Rousseau den Sachverhalt der Entfremdung von sich selbst (Selbstferne), in der zivilisierte Mensch (als bourgeois) als gesellschaftliches Wesen faktisch lebt. Er erfährt seine Identität nur jeweils im “Spiegel der Meinung der anderen” (Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, 265, vgl.221). Der moderne Mensch lebt im “Widerspruch mit sich selbst” (contadictio acec luiméme) ) Emil oder über die Erziehung, 13). Rousseau vereinigt in seinen Entwürfen und Zustandsdeutungen bereits alle jene Momente, die für die spätere Diskussion um die Entfremdung bei Hegel und Marx in unterschiedlicher Gewichtung bedeutsam werden. Die Entäußerung der natürlichen Freiheit zum Zwecke der Realisierung der bürgerlichen Freiheit ist dialektisch als Aufhebung abgelegt. Der Verlust der Identität im gesellschaftlichen Leben spiegelt die Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Auch die Unverzichtbarkeit der Erfahrung des Durchganges durch die Entfremdung in Hinsicht auf die Realisierung einer vollkommeneren (tugenhaften), weil bewußten Daseinsform des einzelnen findet sich bereit angelegt (Emil, 523). Der Entfremdungszustand wird jedoch in einer gewissen Abstraktheit als situierte Größe eingeführt.
Die Auffassung von J.J. Rousseau, die er als totale Entäußerung (aliénation totale) bezeichnet, kann also als totale Entfremdung aufgenommen werden. Als
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“[. . .]die Übertragung aller Rechte des einzelnen Bürgers auf die Gesamtheit (Staat) als Bedingung des Gesellschaftsvertrags. Die natürliche Freiheit weicht der Freiheit unter einem von den Gesellschaftsmitgliedern geschaffenen Rechtssystem nach der volonté générale.” ( Reinhold 1997, S. 140-141)
Karl Marx,übernimmt diesen Begriff eigentlich von Hegel. Jedoch fügt er dem Begriff eine materialistische Bedeutung zu und schafft die idealistische Seite weg. Nach Marx ist dieser Begriff eine Folge der kapitalistischen Machtverhältnisse und findet seinen Ursprung mit dem Klassenunterschied. Marx, der in den “Ökonomisch-philosophischen Manuskripten” (1844) die ausführlichste Entfremdungstheorie formuliert, kritisiert, daß Hegel die Entfremdung nur als eine des reinen Selbstbewußtseins, als nur gedankliche und im philosophischen Gedanken aufzuhebende Entfremdung auffaßt. Er konfrontiert das über den philosophischen Gedanken bei Hegel sich konstituierende Selbstbewußtsein im Anschluß an Ludwig Feuerbachs Anthropologie mit dem ‘wirklichen’, ‘sinnlichen’ und ‘gegenständlichen’, durch Natur bestimmten und sich in der Abarbeitung an der Natur bestimmenden bzw. verlierenden Menschen.” (Mittelstraß 1995, S.551) Marx beschreibt die Entfremdung vier Stufen:
1) Die Entfremdung vom Produkt der Arbeitstätigkeit: Arbeitsteilung und Eigentumsverhältnisse führen dazu, daß sich der Arbeiter in seiner Tätigkeit entfremdet, weil er nur ein Teilbereich des Erzeugnisses sieht. So verselbständigen sich die produzierten Gegenstände und setzen sich in der Warenwelt gegen den Menschen, so daß die Ware eine selbständige Macht gegenüber dem Arbeiter wird.
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“Der Arbeiter legt sein Leben in den Gegenstand, aber nun gehört es nicht mehr ihm, sondern dem Gegenstand. Je größer also diese Tätigkeit, um so gegenstandsloser ist der Arbeiter. Was das Produkt seiner Arbeit ist, ist er nicht. Je größer dieses Produkt, um so weniger ist er selbst. DieEntäußerungdes Arbeiters in seinem Produkt hat die Bedeutung nicht nur, daß seine Arbeit zu einem Gegenstand, zu einemäußerenExistenz wird, sondern daß sieaußer ihmunabhängig, fremd von ihm existiert und eine selbständige Macht ihm gegenüber wird [. . .]” (Marx 1981, S.244)
Ein weiterer Ursprung der Entfremdung, liegt in der Arbeitsteilung, denn die Arbeit ist “naturwüchsig geteilt” und “solange die Tätigkeit also nicht freiwillig, sondern naturwüchsig geteilt ist, die eigene Tat des Menschen ihm zu einer fremden gegenübergestellten Macht wird, die ihn unterjocht, statt daß er sie beherrscht”, und “die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat jeder einen bestimmten, ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann[. . .].” (Marx 1996, S.451)
2) Die Entfremdung von der Natur der Arbeit: Der Mensch, als Gattung beinhaltet in seinem Dasein das produzieren und unterscheidet sich von den Tieren damit, daß er seine Tätigkeiten bedenkt ausführt und nicht nur nach den Lebensnotwendigen strebt. So ist seine Tätigkeit nicht nur das bestreben am Leben zu bleiben sondern eine intellektuelle Tätigkeit. Aber indem dem Menschen die Arbeit nicht mehr als freiwillige Tätigkeit sondern als Zwangsarbeit gegenübersteht entfremdet er sich von seiner Tätigkeit. Die Tätigkeit wird äußerlich, geistige und körperliche Kräfte sind nicht erlaubt und daher dient sie nicht mehr der allseitigen Entwicklung der Persönlichkeit. In den “Grundrissen” wird das folgend formuliert: “Der Arbeiter selbst (ist) absolut gleichgültig gegen die Bestimmtheit seiner Arbeit; sie hat als solche nicht Interesse für ihn, sondern nur
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insoweit sie überhaupt Arbeit und solche Gebrauchswert für das Kapital ist.” (Marx 1953, S.204)
3) Die Entfremdung des Arbeiters von sich selbst: Die Folge, daß das Individuum seinem Arbeitsprodukt, seiner Arbeitstätigkeit und seinem Gattungswesen entfremdet ist, zeigt eine Entfremdung zu sich selbst. Da das Individuum sich im Arbeitsprozeß nicht wiederfinden kann, und mit seiner Tätigkeit kein instrienische Befriedigung ermöglichen kann, ebtfremdet er sich selbst. “Erstens, daß die Arbeit dem Arbeiteräußerlichist, d.h. nicht zu seinem Wesen gehört, daß er sich daher in seiner Arbeit nicht bejaht, sondern verneint, nicht wohl, sondern unglücklich fühlt, keine physische und geistige Energie entwickelt, sondern seine Physis abkasteit und seinen Geist ruiniert . . . Seine Arbeit ist daher nicht freiwillig, sondern gezwungen.Zwangsarbeit[. . .]Sie ist Verlust seiner selbst.” ( Marx 1953; S. 244)
4) Die Entfremdung des Arbeiters von der Gesellschaft: Die entfremdete Arbeit entreißt ihm nun auch sein Gattungsleben, sie entfremdet den Menschen vom Menschen.
In seinem Werk “Die deutsche Ideologie” (1846); tritt der Begriff nochmals vor. Nach Marx befindet sich das Individuum in einem System, wo seine Interesse nicht mit den gemeinschaftlichen Interessen Zusammenfallen und diesen entfremdet ist:
“Eben weil die Individuen nur ihr besonderes, für sie nicht mit ihren gemeinschaftlichen Interessen zusammenfallendes stehen, wird dies als ein ihnen ‘fremdes’ und von ihnen ‘unabhängiges’, als ein selbst wieder besonderes und eigentümliches ‘Allgemein’-Interesse geltend gemacht, oder sie selbst müssen sich in diesem Zwiespalt begegnen wie in der Demokratie.” ( Marx 1996, S.451)
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Marx, schildert eigentlich die weite Ausdehnung des Arbeitsprozeßes im kapitalistischen System und daraus folgender Entfremdung auf alle Lebensbereiche, wenn man seine Auffassungen in den Werken “Grundrisse”, “Ökonomischphilosophischen Manuskripten” (1844), “Deutsche Ideologie” zusammenfaßt. Die Entfremdung im Arbeitsprozeß führt schließlich zu der Entfremdung des Menschen zu sich selbst und zu den anderen Individuen. Diese Entfremdung des Menschen, die nach Marx seinen Grund im kapitalistischen System auftretenden Arbeitsprozeß findet, hat verschiedene Erscheinungen in der Gesellschaft. Damit, daß Marx die Entmenschlichung der Industriearbeit nicht auf die Arbeitsteilung an sich zurückführt, sondern auf ihre spezifische Form im Kapitalismus, machte er diesen Begriff zu einem sozialwissenschaftlichen Konzept, der heute noch von vielen Wissenschaftlern in unserem Jahrhundert aufgenommen wird. Psychoanalytiker uns SozialphilosophErich Frommerwähnt in seinem Werk “Die Furcht vor der Freiheit” (1980) von diesem Begriff. Er deutet darauf hin, daß mit der Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft neue “psychische Bedürfnisse” hervortraten, die mit den “Hauptlehren des Protantismus” von Luther und Calvin bedeckt worden sind. “Durch die Lehren des Protestantismus war der Mensch psychologisch auf die Rolle vorbereitet, die er unter dem modernen Industriesystem zu spielen hatte”, meint er dazu. Diese Lehren dienten dazu, daß sich die Menschen in der neuen gesellschaftlichen Struktur freier fühlten als im Mittelalter. Jedoch war diese Freiheit nur scheinbar. Denn “es diente der Weiterentwicklung des Individuums - und machte es hilfloser; es gab ihm größere Freiheit - und erzeugte Abhängigkeiten neuer Art.” Die mittelalterliche gesellschaftliche Struktur, welche ihre Mächte konkret vor den Menschen stellte wie der König oder die Kirche wechselte der Kapitalismus in neue Feinde um. Diesmal waren es “- Feinde, bei denen es sich im wesentlichen nicht um äußere Beschränkungen handelt, sondern um innere Faktoren, welche die volle Verwirklichung der Freiheit der Persönlichkeit blockieren.” (Fromm 1980, S.80)
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Die neuen Lebenserscheinungen wie die scheinbare neue Freiheit machte den Menschen im Kapitalismus blind. Er gab ihm neue Rechte und Freiheiten (wie die freie Meinungsäußerung) gegen “alte Zwänge” jedoch “vergessen wir”, daß der moderne Mensch sich aber in der Lage befindet, wo vieles, was “er” denkt oder sagt, genau dasselbe ist, was auch alle anderen denken oder sagen; daß er sich nicht die Fähigkeit erworben hat, auf originelle Weise (das heißt selbständig) zu denken - was allein seinem Anspruch einen Sinn gibt, daß niemand des Recht hat, ihm die Äußerung seiner Meinung zu verbieten.” Diese Entpersönlichung der Menschen, die dazu führt, daß sie keine Individuellen Meinungen leisten können ist eine Ursache des kapitalistischen Apparates, welche ihre Regeln der Struktur nicht durch direkte Zwänge sondern durch Mitteln an Menschen ausübt, die nicht direkt wahrgenommen werden können:
“Wir sind von der Zunahme unserer Freiheit von Mächtenaußerhalbunserer selbst begeistert und sind blind für dieinnerenZwänge und Ängste, die die Bedeutung der Siege, welche die Freiheit gegen ihre traditionellen Feinde gewonnen hat, zu unterminieren drohen.” (Fromm 1980, S. 81)
Gegenüber den “traditionellen Feinden” hatte der Mensch nun neue Feinde erworben die mit der neuen gesellschaftliche Struktur auch neue Dimensionen gewonnen hatte. Die ökonomischen und politischen Entwicklungen brachten neue Erscheinungen der Macht, die diese Entwicklungen gegen den Menschen selbst anwandten.
“Was der Protestantismus auf spirituellem Gebiet zur Befreiung des Menschen begann, hat der Kapitalismus auf geistig - seelischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet fortgeführt.[. . .] Der Höhepunkt der Entwicklung der Freiheit im politischen Bereich war der moderne demokratische Staat, der sich auf den Grundsatz der Gleichheit aller Menschen und des gleichen Rechts aller gründet, sich durch
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Repräsentanten seiner eigenen Wahl an der Regierung zu beteiligen.” (Fromm 1980, S.82-83)
Die Veränderung der Freiheit auf dem geistig-seelisch Bereich trug “zur wachsenden Vereinsamung und Isolation des einzelnen bei und erfüllte ihn mit dem Gefühl seiner Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht” (Fromm 1980, S.83). Die “individuellen Initiativen” , die mit diesem neuen System eine große Bedeutung gewann und als wichtiger Faktor des Systems dargestellt wurde und als “Prinzip die ‘Freiheit von’ ” vergrößerte, trug es andererseits dazu bei, sämtliche Bindungen der Menschen untereinander zu durchtrennen, wodurch es den einzelnen von seinen Mitmenschen isolierte.” (Fromm 1980, S.83) Wie zum Beispiel die Beziehung mit Gott und dem Menschen im Mittelalter. Sie beruhte auf die Kirche, die das “Bindeglied” zwischen dem Menschen und Gott darstellte. Diese Funktion der Kirche verringerte die persönliche Anschauung auf Menschen, jedoch fühlten sich die Menschen als eine Gruppe, die einer Macht zusammen wirkten. Die lutherische Auffassung, die diese Bindung, also die Kirche aufhob brachte den Menschen alleine Gottes Macht gegenüber und gab ihm das Gefühl “sein Heil in der völligen Unterwerfung” zu suchen. Dieser “spiritueller Individualismus” verlief mit dem “ökonomischen Individualismus” gleich und hatte die gleichen psychologischen Auswirkungen auf den Menschen:
“In beiden Fällen ist der einzelne völlig auf sich gestellt und steht in dieser Isolation einer überlegenen Macht gegenüber, ob es sich dabei um Gott, um seine Konkurrenten oder um unpersönliche Wirtschaftliche Mächte handelt.” (Fromm 1980, S.84)
Der Kapitalismus, dessen neue Werte dank Luther und Calvin geschaffen wurde, trug auch dazu bei, daß dem Menschen “das Gefühl für seine Würde und seinen Stolz nahmen und ihn lehrten, er habe mit seiner Tätigkeit Zwecken zu dienen, die außerhalb seiner selbst liegen”, weil ja “ein Hauptpunkt Luthers Lehre die Betonung der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und der Vergeblichkeit allen guten Willens und allen Bemühens” war. Die Rolle des Menschen wurde somit
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geschaffen: “sich selbst als völlig unbedeutend zu empfinden und bereit zu sein, sein Leben ausschließlich Zwecken unterzuordnen, die nicht seine eigenen waren.” (Fromm 1980, S.85)
Was sind diese Zwecke die nicht seine eigenen waren und wie werden sie dem Menschen emposiert ? Nach Fromm bestimmt “in einer Gesellschaft der Geist, der in den mächtigsten Gruppen dieser Gesellschaft herrscht, den Gesamtgeist. Das kommt zum Teil daher, daß diese Gruppen das gesamte Bildungssystem unter Kontrolle haben [. . .]wodurch sie die ganze Bevölkerung mit ihren eigenen Ideen durchtränken” und diese Ideen der Gesellschaft emposieren als ob sie ihre eigenen wären, denn “die mächtigen Gruppen” haben ja ein solches “Ansehen” in der Gesellschaft, “daß die unteren Schichten nur allzu bereit sind, ihre Wertbegriffe zu übernehmen, sie nachzuahmen und sich mit ihnen psychologisch zu identifizieren.” (Fromm 1980, S.87) Diese Identifikation mit den anderen, ihm fremden Werten schafft “das ‘Selbst’, in dessen Interessen der moderne Mensch handelt”, eingesellschaftlichesSelbst, ein Selbst”, “das sich im wesentlichen mit der Rolle deckt, die der Betreffende nach dem, was die anderen von ihm erwarten, zu spielen hat und die in Wirklichkeit nur eine subjektive Tarnung seiner objektiven Funktionen in der Gesellschaft ist.” (Fromm 1980, S.90)
Fromm geht auch darauf ein, daß “der Mensch in bemerkenswertem Ausmaß gelernt hat, die Natur zu beherrschen” aber, daß jedoch “die Gesellschaft doch die von ihr ins Leben gerufenen Kräfte nicht unter Kontrolle” hat. Der Mensch, der sich im Produktionsablauf befindet schafft neue Produkte, pflügt die Felder und erntet, “aber er ist den Erzeugnissen seiner Hände entfremdet und er beherrscht die Welt nicht mehr, die er gebaut hat.” (Fromm 1980, S.90) “Diese vom Menschen geschaffene Welt” ist “zu seinem Herren geworden, dem er sich beugt, den er zu besänftigen und so gut er kann zu manipulieren versucht.” Denn er hat sich nun mit seinen eigenen zu einem “Werkzeug” gemacht und dient zu einem “Zweck jenes Apparates”, “den er selbst geschaffen hat” und befindet sich jetzt in “Bedeutungslosigkeit, Ohnmacht und Isolation” und “entfremdet” sich auch seiner
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Umwelt, und so “sind die Beziehungen der Menschen untereinander” eben “genauso entfremdet” (Fromm 1980, S.90)
Die Entfremdung zu den Machtapparaten, zu seinen menschlichen Beziehungen wirkt natürlich auch auf den Menschen selbst, der sich “zu seinem Selbst” entfremdet. Was ist nun anderes zu erwarten als daß, der “einzelne Mensch noch einsamer, noch isolierter”, und “zum Werkzeug in den Händen überwältigender starker Kräfte außerhalb seiner selbst wurde.” Dieses “unsichere Individuum” mußte sich in anderen Werten wiederfinden und schaffte sich neue, dem neuen System passende materielle Werte, die zu seinem selbst wurden: “Seine Kleidungen oder sein Haus waren genauso Bestandteile seines Selbst wie der eigene Körper. Je weniger er das Gefühl hatte, jemand zu sein, um so dringender braute er Besitz.” (Fromm 1980, S.92) Besitz trat in der Gesellschaft an die Stelle der menschlichen Werte, so daß es dem Menschen ankam mit dem Besitz auch an “Prestige und Macht”
heranzukommen. Denn “die Bewunderung durch andere und die Macht über sie gaben dem Besitz, dem unsicheren individuellen Selbst eine gewisse Sicherheit” (Fromm 1980, S.92). Denn “das Gefühl der Ohnmacht und Vereinsamung hat beim einzelnen zugenommen”, und “fühlt sich von gigantischen Mächten bedroht.” Der Kampf gegen diese Macht, “eine ungeheure, wenn auch geheime Macht, wird über die Gesellschaft von einer kleinen Gruppe ausgeübt, von deren Entscheidung das Schicksal eines großen Teils unserer Gesellschaft abhängt” war eigentlich erfolglos. Diese Erfolglosigkeit gegen die Macht, die ihn neue Fesseln angebracht hatte, führte den Menschen zu einem neuen “Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit.” (Fromm 1980, S.94)
Die Mächte, haben heute keinen “konkreten Charakter” mehr, denn wenn man schon die Wahlen bedenkt, “sieht sich der Wähler Mammutparteien gegenüber, die ihm genauso fernstehen und ihn genauso einschüchtern wie die
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Mamutorganisationen der Wirtschaft.” (Fromm 1980, S.98) Nicht ist heutzutage so schnell wahrnehmbar, denn alles ist komplizierter und verläuft nicht mehr direkt vor Augen:
“Die wirtschaftliche und politische Szene ist komplizierter und umfangreicher geworden, als sie früher war, der einzelne ist daher weniger in der Lage, die Dinge zu durchschauen.” (Fromm 1980, S.99) Auch der Lebensstil der Menschen entspricht den oben angegebenen neuen Anerkennungen:
“Die großen Städte, in denen der einzelne verlorengeht, die Häuser so hoch wie Berge, das ständige akustische Bombardement durch Radio, [. . .],der aufpeitschende Rhythmus des Jazz - all das und noch vieles andere ist Ausdruck einer Konstellation, die der einzelne nicht mehr unter Kontrolle hat und die derartige Dimensionen angenommen hat, daß er selbst im Vergleich dazu nur ein Staubkörnchen ist.” (Fromm 1980, S.100)
All das, was wir oben von Erich Fromm erwähnten, ergibt uns ein großes Bild von dem Menschen in der kapitalistischen gesellschaftlichen Ordnung, welches ihm nichts weiter als eine Welt der Entfremdung leistet und uns mit diesem Begriff vertraut macht.
Erich Fromm bestätigt auch unsere These, indem er auf Kafka zurückkommt: “Franz Kafka hat das Thema der Machtlosigkeit des Menschen in seinem Werk auf höchst präzise Weise zum Ausdruck gebracht. In seinem Roman ‘Das Schloß’ schildert er einen Mann, der mit den geheimnisvollen Bewohnern eines Schlosses Verbindung aufnehmen will, die ihm sagen sollen, was er zu tun hat, und die ihm seinen Platz in
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der Welt zeigen sollen. Sein ganzes Leben erschöpft er sich in dem leidenschaftlichen Bemühen, mit ihnen in Berührung zu kommen, aber es gelingt ihm nie, und erbleibt allein mit seinem Gefühl äußerster Sinnlosigkeit und tiefster Hilflosigkeit.” (Fromm 1980, S.101) “Aber dieses Gefühl der Isolierung und Ohnmacht des einzelnen, wie es diese Autoren [Franz Kafka, Julian Green] zum Ausdruck bringen und wie viele sogenannte Neurotiker spüren, wird vom normalen Durchschnittsmenschen nicht bewußt wahrgenommen. Dazu ist es zu anstrengend. Er überdeckt es mit der Routine seiner Alltagstätigkeit, mit der Bestätigung und Anerkennung, die er in seinen privaten gesellschaftlichen Beziehungen findet, mit seinem geschäftlichen Erfolg, mit allen möglichen Zerstreuungen, damit, daß er sich amüsiert, daß er Bekanntschaften schließt und ‘ausgeht’. Aber des Pfeifen im Dunklen macht noch nicht hell. Einsamkeit, Angst und innere Unruhe bleiben, und die kann der Mensch auf Dauer nicht ertragen. Er kann die Last der ‘Freiheitvon’nicht immer weitertragen. Er muß versuchen, der Freiheit ganz zu entfliehen, wenn es ihm nicht gelingt, von der negativen zur positiven Freiheit zu gelangen.” (Fromm 1980, S.101) NachMartin Heideggerbefindet sich der Mensch im “Mitsein” zwischen den anderen Menschen. Er bestrebt sich danach sein “eigenes Dasein” mit “den Anderen” zu vergleichen. Das Individuum will in der Gesellschaft einen Unterschied zwischen “den Anderen” haben. Er ist “im Besorge dessen, was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen[. . .]”, denn er möchte kein Durchschnittsmensch sein (Heidegger 1980, S.126). “Existenzial ausgedrückt, es hat den Charakter der Abständigkeit” (Heidegger 1980, S. 126). Der Mensch möchte also einen bestimmten, ihm persönlichen individuellen Charakter besitzen, obwohl dies eigentlich nicht möglich ist denn, “nicht er selbstist,die Anderen haben ihm das Sein abgenommen. Das Belieben der Anderen verfügt über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins.
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Diese Anderen sind dabei nichtbestimmteAndere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie vertreten.” (Heidegger 1980, S. 126). Also hat der Mensch als Persönlichkeit keinen Wert, denn jeder kann also diesen Menschen vertreten, weil er ja keinen Unterschied zwischen den Anderen hat, denn es befindet sich schon eine “übernommene Herrschaft der Anderen.” Obwohl man einen Unterschied zu der Masse haben möchte, ist man ja unter ihnen und nicht wo anders: “Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. ‘Die Anderen’, die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im alltäglichen Miteinandersein zunächst und zumeist ‘dasind’.Das Wer ist nicht dieser und jener, nicht man selbst und einige und nicht die Summe Aller. Das ‘Wer’ ist das Neutrum,das Man”(Heidegger 1980, S. 126).
Der Mensch hat also keinen “Subjektcharakter”, denn “dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart ‘der Anderen’ auf, und zwar, daß die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden.” (Heidegger 1980, S. 126). Alle sind also jedermann.Manhandelt nach den Anderen, obwohlmaneinen anderen Handlungscharakter haben möchte, denn “in dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigene Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wiemangenießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wiemansieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom großen Haufen” zurück, wiemansich zurückzieht; wir finden “empörend”, wasmanempörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.” (Heidegger 1980, S. 126),
Mit dieser Abständigkeit, befindet sich das Dasein in einer durchschnittlichen Leben. Alle Handlungen, die er vollbringt sind die Handlungen jenes Menschen, der mit den Anderen im Durchschnitt ist.
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“Die genannte Tendenz des Mitseins, die wir die Abständigkeit nannten, gründet darin, daß das Miteinandersein als solches dieDurchschnittlichkeitbesorgt.” (Heidegger 1980, S. 127) Also ist jede Tendenz des Menschen, sei es auch das Bestreben danach nicht im Durchschnitt zu sein, sich als Anderer zu verhalten, als dies “was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme.” (Heidegger 1980, S.127)
“Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wie dieEinebnungaller Seinsmöglichkeiten nennen.” (Heidegger 1980, S. 127)
Als dies, was oben genannt wird, umkreist Heidegger mit einem Begriff: Die Öffentlichkeit und erklärt es folgend: “Abständigkeit, Duchschnittlichkeit, Einebnung konstituieren als Seinsweise des Man das, was wir als‘die Öffentlichkeit’nennen.” (Heidegger 1980, S. 127). Die Öffentlichkeit ist ein Begriff der alle Handlungen in sich einschließt und eine Erklärung für sie ist. “Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus”, meint Heidegger und möchte damit erklären, wie fremd es eigentlich dem Dasein manches ist, was ihm so erklärbar erscheint (Heidegger 1980, S. 127). Die Öffentlichkeit bietet dem menschlichen Dasein eine Welt, in der er sich mit allem vertraut macht, was um ihn geschieht. Er verhält sich nach dem Durchschnitt und fühlt sich in Obhut. “Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab.” (Heidegger 1980, S. 127)
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In diesem Vertrauen in der Öffentlichkeit, verliert der Mensch sein Entscheidungsvermögen, was ihm eigentlich schon lange aus den Händen genommen war aber immer noch in dieser Täuschung ist das zu besitzen. Eigentlich fürchtet er sich ja eine Verantwortung für etwas zu haben. “Das Manentlastetso das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit” und in diesem “Leichtmachen” , “verfestigt es seine hartnäckige Herrschaft.” (Heidegger 1980, S.128)
Der Mensch ist ein “Dasein” , es ist ein Gattungswesen zwischen den anderen Gattungen. Auf die Frage “wer” gibt es also nur eine Antwort nach Heidegger: “Das Man.” Das Man entpersönlicht den Menschen, weil es keine individuellen Eigenschaften besitzt. Der Mensch verliert seine Bedeutung, weil man auf die Frage “wer” keine Antwort finden kann:
“Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. DasMan,mit dem sich die Frage nach denWerdes alltäglichen Daseins beantwortet, ist dasNiemand,dem Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.” (Heidegger 1980, S. 128)
Zu den oben erwähnten Tendenzen tritt noch ein anderes dazu, die“Ständigkeit”:
“Diese Ständigkeit betrifft nicht das fortwährende Vorhandensein von etwas, sondern die Seinsart des Daseins als Mitsein. In den genannten Mit seiend hat das Selbst des eigenen Daseins und das Selbst des Anderen sich noch nicht gefunden bzw. verloren. Man ist in der Weise der Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit.” (Heidegger 1980, S. 128) Wenn man das noch mal zusammenfassen sollte, läßt sich die Auffassung von Heidegger folgend erklären: Der Mensch ist ein Dasein, so daß man auf die Frage ‘wer’ keine Antwort findet alsdas Man.Das Man befindet sich in Abständigkeit, Durchschnittlichkeit, Einebnung, Öffentlichkeit, Entgegenkommen und Ständigkeit.
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All diese Fakten kommen deshalb zustande, weil sich “das Dasein” im alltäglichen “Untereinandersein” befindet. Das “Miteinandersein” mit Anderen ist die Ursache das der Mensch - “ das Sein” in der Welt “verloren” geht, aber natürlich ist es auch nicht vorstellbar dieses nicht zu tun.
Seeman,der dem Begriff Entfremdung eine neue Dimension leistet definiert es folgend:
“Diese “Säkularisierung” (Seeman) des Entfremdungbegriffs setzt an einer sozialpsychologischen Formulierung verschiedener Varianten der Entfremdung aus der Sicht des Handelnden an, die als individuelle Einstellungen gegenüber verschiedenen Merkmalen der Arbeits- und Lebenssituation untersucht wird Die sozialpsychologische Grundthematik wird dadurch formuliert, daß eine Diskrepanz zwischen möglicher und tatsächlicher sozialer Praxis den Alltag des Menschen bestimmt, die in mangelnden Kontrollmöglichkeiten über wirtschaftliche und politische Prozesse zum Ausdruck kommt.” (Heinz 1992, S.135)
Seeman (1972) hat das globale Entfremdungskonzept in sechs Varianten oder Dimensionen differenziert, um eine möglichst umfassende empirische Erhebung von Entfremdung als sozialer Einstellung zu ermöglichen: 1. Machtlosigkeit oder das Gefühl geringer Kontrollmöglichkeiten gegenüber Ereignissen und Institutionen;
2. Sinnlosigkeit oder das Gefühl der Undurchschaubarkeit persönlicher und sozialer Zusammenhänge;
3. Normenlosigkeit oder die Erwartung, gesellschaftlich akzeptierte Ziele nur mit illegitimen Mitteln erreichen zu können;
4. kulturelle Zurückweisung oder Ablehnung allgemein anerkannter Werte der Gesellschaft bzw. verschiedener Gruppen;
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5. Selbstentfremdung oder Eingebundenheit in Aktivitäten, die nicht in sich, d.h. keine intrinsische Befriedigung ermöglichen; 6. Soziale Isolierung oder das Gefühl, sozial ausgeschlossen bzw. zurückgewiesen zu werden. (Heinz 1992, S.135)
Die Gegenüberstellung von “Gemeinschaft” und “Gesellschaft” bei Tönis, die Kategorie des “Kollektivbewußseins” bei Durkheim, die Konsequenzen “sozialer Differenzierung” bei Simmel, die Tendenzen zur “Bürokratisierung” nach Max Weber, das Problem des Außenlenkung bei D. Rieman, die “Rollentheorie” R. Dahrendorf, “das Unbehagen in der Kultur” bei Freud, die gesellschaftlichen Analysen von Herbert Marcuse enthalten Reflexionen über negative Einwirkung sozialer Strukturbedingungen auf die Individualität und Identität des Menschen, die wir hier nicht einzeln aufnehmen konnten. All diese Auffassungen und Analysen geben uns eine Tatsache die uns zu der Entfremdung zurückführen. Die von Seeman entwikelte Definition des Begriffs, ist eine Auffassung, die all die Entfremdungserfahrungen auf dem Gebiet der Philosophie, der Politik, der Arbeitswelt und der Menschenpsychologie umfaßt. So werde ich die Entfremdungsdimensionen der Charaktere im Roman nach einigen von diesen Überschriften zu systematisieren versuchen, um die verschieden Erscheinungen der Entfremdung, eine Übersicht gewinnen zu lassen. Daneben werde ich, die oben erwähnten verschiedenen Entfremungsauffassungen aufnehmen und im betreffenden Fall ihre Parallelität mit dem Roman zeigen.
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2.0 DIE ANALYSE DER ENTFREMDUNG DES INDIVIDUUMS IN DEM ROMAN “DER VERSCHOLLENE”
2.1 ÜBER DEN ROMAN “DER VERSCHOLLENE” (1912)Der unvollendete Roman “Der Verschollenen” handelt von dem siebzehnjährigen Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika geschickt wird, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hat. Schon auf dem Schiff konfrontiert er sich mit der Tatsache der ungerechten Behandlung und dem erfolglosen Versuch, Recht zu bekommen. Mit der Heizer-Episode beginnt der Roman und das Thema der Ungerechtigkeit, welches den ganzen Roman durchzieht. Er wird von seinem Onkel, der ein Senator ist, aufgenommen und nach kurzer Zeit wieder ausgewiesen. Karl kann dieser Verstoßung keinen Sinn geben, jedoch bleibt es ihm nichts mehr übrig , als sich auf dem neuen Kontinent alleine zurechtzufinden. Auf dem Weg ins Unbewußte, trifft er Robinson und Delemarche, die wie Karl arbeitslos sind und aus der Fremde kommen. Jedoch bereiten sie ihm nichts weiter als Probleme und Unbehagen, so daß er durch ihre Anwesenheit von seiner Stelle als Liftjunge in dem “Hotel Occidental”, wieder auf ungerechte Weise entlassen wird. Auch später, als Karl sich in einer totalen Ausweglosigkeit befindet, nehmen sie ihn unter den Dienst Bruneldas auf, wo er unter ihrer Gefangenschaft leiden muß.
Karl Roßmann bleibt dem neuen Kontinent bis zum Ende des Romans fremd, wird von der neuen Welt nicht eingenommen, kann keine Freundschaften aufbauen und macht nur negative Erfahrungen, die ihn zur Hoffnungslosigkeit führen. Jeder, den er trifft, behandelt ihn feindlich und keiner erlaubt, daß Karl sich in Amerika einlebt. Er bleibt “verschollen”, bis er dem “Naturtheater von Oklahama” begegnet. Diese utopische Welt gibt Karl all die Möglichkeiten, die er in Amerika nicht finden konnte. So gelingt es Karl schließlich in einer utopischen Welt ein zu Hause zu finden, welches ihm in der realen Welt nicht möglich wurde.