Die Erlkönig-Saga Sammelband: Band 1 Weidenritter, Band 2 Erlkönig - Eva Baumann - E-Book

Die Erlkönig-Saga Sammelband: Band 1 Weidenritter, Band 2 Erlkönig E-Book

Eva Baumann

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Beschreibung

Band 1: "Weidenritter" (Leah) Soldatin Leah ist als Weidengeborene unfruchtbar und hat damit nur einen Nutzen für das Alverreich: als Mann verkleidet die Gesetze zu verteidigen, die das Volk unterdrücken und ihr selbst alle Rechte nehmen. Als sie ihre eigene Familie umbringen soll, um ein Verbrechen des Königspaares zu vertuschen, kommt ihre Regimetreue ins Wanken. Bald ranken sich Legenden um den »Weidenritter«, jenem Helden unter den Soldaten, der für die Alveronen am Rande der Gesellschaft einsteht, doch diese Geschichten dürfen niemals dem Königspaar zu Ohren kommen. Als Leah für ihr Leben und die Rechte des Volkes kämpft, muss sie nicht nur lernen, auf welch grausamen Stützen die Gesellschaft im Alverreich fußt, sondern auch alles aufs Spiel setzen, was ihr teuer ist … Band 2: "Erlkönig" (Valentin) Das Leben eines Kindes für das eines ganzen Volkes? Erlkönig Valentin wird vor eine unlösbare Wahl gestellt: Entführt er den Jungen Jakob, der das Alverreich retten kann, oder wartet er, bis die Geburtsbäume sterben und mit ihnen sein Volk? Seit Monaten kommen keine Menschenkinder mehr ins Alverreich. In der Menschenwelt erzählt man Schauergeschichten über „Elfen“, die Kinder entführen, und Kinder haben zu viel Angst, dem Ruf der alveronischen Spielleute ins Land ihrer Träume zu folgen. Valentin war einst der beste Spielmann des Alverreiches, und wo alle anderen Spielleute versagen, gelingt es ihm, das Kind zu holen. Im Tausch muss er in die Menschenwelt gehen. Dort will er versuchen, Jakobs Familie beizustehen und gleichzeitig ergründen, woher diese unerklärliche Angst vor seinem Volk kommt. Er landet in einer Welt, in der alles von seiner Herkunft bis zu seiner Musik verhasst und gefürchtet ist. Der Rückweg ins Alverreich ist versperrt, und Jakobs Vater schwört, nicht eher zu ruhen, bis alle Elfen auf dem Scheiterhaufen brennen …

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Eva Baumann

Die Erlkönig-Saga Sammelband: Band 1 Weidenritter, Band 2 Erlkönig

Inhaltsverzeichnis

Weidenritter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Danksagung

Erlkönig

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Danksagung

Impressum

Über die Autorin

Außerdem von Eva Baumann

Inhalt

Weidenritter

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Danksagung

Erlkönig

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Danksagung

Impressum

Über die Autorin

Außerdem von Eva Baumann

Weidenritter

Die Erlkönig-Saga Band 1

Kapitel 1

Der Geruch des Todes hing in der Luft. In den unterirdischen Gängen verströmten Dampfschalen das Aroma von Eukalyptus und Rosmarin, doch den Tod konnten sie nicht überdecken. An den Geruch gewöhnte man sich nie, egal, wie lange man schon hier unten umherirrte. Leah führte ihre Kompanie seit zwei Tagen durch die Tunnel. Die anderen Soldatinnen und Soldaten schlurften und murrten seit Stunden, und auch Leahs Bewegungen wurden in der stickigen Luft schwerfälliger. Sie ließ sich zurückfallen, bis sie außer Sichtweite war, nahm ihren Helm ab und träufelte zwei Tropfen Pfefferminzöl auf das Seidentuch, das sie sich um Mund und Nase gebunden hatte. Der Stoff verbarg nicht nur ihr Gesicht und ließ ihre Stimme dunkler klingen, sondern klärte ihre Atemwege und Gedanken. Sie brauchte alle Konzentration, die sie aufbringen konnte, um ihre Leute heil durch diesen Einsatz zu bringen.

Sie erinnerte sich an diesen Tunnel. Zwei Abzweigungen zuvor war der gepflasterte Boden in gestampfte Erde übergegangen. Erde. Die Krankenstationen des Alverreiches waren berüchtigt für ihre labyrinthartigen Tunnel, doch hier, wo Stein in Erde überging, hatte niemand etwas zu suchen. Hierhin verirrten sich keine respektablen Bewohner des Reiches, weder Alveronen noch Menschen. Nur diejenigen, die ihre Taten vor dem Licht der Sonne verbergen mussten, suchten Zuflucht in den unterirdischen Gängen. Wie die menschlichen Heilerinnen und Heiler.

Kein Alverone würde freiwillig einen anderen Alveronen oder gar Menschen berühren, doch für Heiler war dies Teil ihres Berufes. Wenn sie ihre Kindheit hinter sich gelassen hatten und den Alveronen nicht mehr im Hain dienen konnten, lebten sie unter der Erde und pflegten Menschenkinder – oder begleiteten beim Sterben. Die alveronischen Gesetze duldeten Berührungen unter den Menschen, obwohl solche Taten unter Alveronen streng bestraft wurden. Doch wenn Heiler sich an Alveronen vergriffen, mussten sie mit der vollen Härte des Gesetzes rechnen. Spezialeinheiten wie Leahs Kompanie waren dazu ausgebildet, sich für die Verteidigung der öffentlichen Ordnung in Gebiete des Reiches vorzuwagen, in die kein Alverone jemals einen Fuß setzen sollte.

Rasch verbarg Leah ihr blondes Haar erneut unter dem Helm. Frauen waren in den Rechtsberufen keine Seltenheit, doch Weidengeborene wie sie würden nicht einmal als Fußsoldat eingeschworen werden. Ihr einziges Glück im Leben war es, dass ihre Mutter sie seit ihrer Geburt als Junge präsentiert hatte und somit die Weide als Geburtsbaum keine Schande darstellte. Ihr Geschlecht konnte sie leicht verbergen – mehrere Lagen Kleidung, eine verstellte Stimme – doch ihr Geburtsbaum würde sie verraten. Leah musste alles daran setzen, dass ihr Geheimnis gewahrt blieb.

Sie rückte den Helm zurecht und schloss zu ihrer Kompanie auf. Sie setzte sich an die Spitze des Trupps, und man schien neuen Mut zu fassen. Leah hatte noch nie eine Kompanie in den unterirdischen Gängen verloren, und die Leute vertrauten ihrer Führung. Zumindest, solange sie nicht wussten, dass sich hinter dem Namen »Weidenritter« eine Frau verbarg.

»Weidenritter, wie weit ist es noch?«

Leah drehte sich um. Einer der Männer lehnte an der Wand. Ihm schien es egal zu sein, dass die Erde dunkle Spuren auf seiner Kleidung hinterließ. Er trat von der Wand weg, um seinen Helm abzunehmen, und taumelte. Leah sprang auf ihn zu, packte ihn bei der Jacke und hielt ihn aufrecht, während er nach der stützenden Wand tastete. Der Mann blinzelte, als Schweiß in seine Augen rann. Er riss sein Tuch vom Gesicht und tupfte sich über Stirn und Wangen. Er atmete schwer. »Verdammt heiß hier unten«, stöhnte er. »Ich wünschte, wir könnten uns weniger bedecken … Wenigstens auf Jacke und Handschuhe werden wir doch verzichten können, oder, Weidenritter?«

Leah zog die Augenbrauen hoch. Solche Gedanken durften nicht einmal gedacht, geschweige denn ausgesprochen werden. Wäre der Eichenfürst nicht ein vorzüglicher Kämpfer, hätte sie ihn längst aus der Kompanie ausgeschlossen. »Und mit bloßen Händen Erde berühren? Ich glaube nicht. Außerdem … Hättest du keine Jacke angehabt, hätte ich dich fallen gelassen, das ist dir doch hoffentlich klar? Wir müssen sicherstellen, dass wir uns im Notfall unterstützen können, doch ich würde von niemandem verlangen, die unbedeckte Haut eines Kameraden zu berühren. Für die Einhaltung der Gesetze im Einsatz zu sein, heißt nicht, dass wir sie brechen dürfen. Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Und wenn wir es vorleben, wird es irgendwann nicht mehr nötig sein, Menschen oder Alveronen wegen unerlaubter Berührungen zu bestrafen.«

»Das wird niemals eintreten«, erwiderte der Eichenfürst. »Wie lange arbeitet Ihr schon als Gesetzeshüter, Weidenritter? Zehn Jahre bestimmt. Haben die Verbrechen seitdem abgenommen?«

Bevor Leah antworten konnte, zischte die Apfelgräfin: »Die verdammten Heiler. Wenn die nicht ständig das Gesetz brechen würden, müssten wir uns nicht hier unten herumtreiben wie dreckige Menschen.«

»Reiß dich zusammen«, fuhr Leah sie an. »Ohne Heiler würden uns die wenigen Menschen, die wir noch haben, zu früh wegsterben.«

»Ich hätte nichts dagegen. Es würde uns einiges an Arbeit ersparen.«

Leah hatte nie daran gezweifelt, dass die Apfelgräfin eine Wäscherin war, und solche Aussagen bestätigten ihre Gedanken. Die »Waschungen« waren seit über zwanzig Jahren offiziell verboten, und doch gab es immer noch Alveronen, die das Alverreich gewaltsam von unliebsamen Personen wie Menschen »säubern« wollten. Oder Schamanen, falls die Gerüchte stimmten und Schamanen nicht nur Märchengestalten waren, die kleine Kinder erschrecken sollten. Sahen die Wäscher denn nur die Unterschiede ihrer Völker, nicht die Gemeinsamkeiten? Waren sie so blind? Alveronen und Menschen waren sich äußerst ähnlich, mit bloßem Auge nicht zu unterscheiden, und daher hielt sich hartnäckig der Glaube, dass Alveronen von Menschen abstammten. Angeblich hatten sich einst Menschen in die Wälder zurückgezogen und im Bestreben danach, mit der Natur gänzlich zu verschmelzen, ihre Körperlichkeit mehr und mehr verleugnet, bis sie zum Baumvolk der Alveronen wurden. Doch wenn Menschen und Alveronen aus dem gleichen Volk stammten, wie die Schamanen es lehrten – wen bekämpften die Wäscher dann?

Leah wollte die Apfelgräfin zurechtweisen, doch sie durfte nicht den Anschein erwecken, als glaubte sie an die Legenden der Schamanen. »Wir brauchen Menschenkinder für den Hain, und die Erwachsenen sind billige Arbeiter. Solange Alveronen nicht die niederen Arbeiten ausführen wollen, müssen wir wohl oder übel mit den Menschen auskommen. Das heißt natürlich nicht, dass sie alveronische Gesetze brechen dürfen.« Sie hob den Helm auf, der auf den Boden gefallen war, und reichte ihn dem Eichenfürsten. »Los jetzt. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir die Verbrecher auf frischer Tat ertappen wollen.«

Sie bogen um eine weitere Ecke, dann noch eine … Leah hielt ihre Hand nach oben, ein Signal für die Kompanie, stehenzubleiben. Sie ging langsam weiter und winkte ihre Leute zu sich heran. Hinter der nächsten Biegung befand sich eine Gittertür, die so aussah, als würde sie bei der leisesten Bewegung quietschen. Sie geräuschlos zu öffnen, sollte dennoch kein Problem darstellen, denn die Apfelgräfin, die Holunderfürstin und der Lindengraf waren der Metallmagie mächtig. Ein leiser Luftzug hinter ihr, und die Tür schwang geräuschlos auf.

Leah nickte zufrieden. Fast geschafft. Sie war schon einmal hier gewesen, und wenn sie sich recht erinnerte, trennte nur eine schwere Holztür sie von dem Ort des Verbrechens. Leah richtete den Kragen ihrer Jacke auf, überprüfte den Sitz des Tuches um ihren Mund und zog die Handschuhe zurecht. Kein Risiko eingehen. Keine Berührungen, und seien sie noch so flüchtig und unbeabsichtigt.

Die Kompanie näherte sich der Tür, die nur angelehnt war. Leah lauschte, doch von drinnen kamen keine Geräusche. Gar keine? Sie trat näher. Leises Atmen, sonst nichts. Dort drin war jemand, und sie würden diesen Jemand in wenigen Augenblicken festnehmen müssen. Leah zog ihr Schwert, trat an die Tür heran und legte ihre Hand auf das Holz. Sie drückte vorsichtig. Der schwache Luftzug brachte einen Ton hervor, der entfernt an eine Harfe erinnerte. Leah blinzelte. Konzentrieren. Nicht ablenken lassen.

Im Zimmer herrschte die gleiche Düsternis wie auf den Gängen. Flackerndes Kerzenlicht erhellte nur unzureichend den kleinen Raum. Auf dem Bett lag ein Mann, unbekleidet, nur ein Leinentuch über seinen Unterleib gebreitet. Sein Oberkörper und seine Arme waren nackt. Leah zuckte vor dem Anblick zurück. Nackte Haut bedeutete Gefahr, und selbst zwölf Jahre Arbeit als Gesetzeshüterin hatten sie nicht ausreichend abgehärtet. Ihr Blick folgte dem ausgestreckten Arm des Mannes. Seine unbedeckte Hand, die die Zeichnung seines Geburtsbaumes trug, ruhte in der Hand einer alten Frau, die am Bett stand. Leah packte ihr Schwert fester und trat in den Raum.

»Finger weg!«, herrschte Leah sie an. »Loslassen und zurücktreten!« Der Befehlston ihrer Stimme hatte bisher immer das Ziel erreicht. Auch hier. Die Heilerin zuckte zusammen. Sie drehte sich zu Leah um und schluckte schwer.

»Herr«, stieß sie zitternd hervor. »Er liegt im Sterben. Lang kann es nicht mehr dauern. Erlaubt mir …« Ihre Stimme brach weg.

Leah schluckte. Da war er wieder, dieser unerklärliche Widerstand gegen das Gesetz. Ein Widerstand, den sie würde brechen müssen – mit Gewalt, wenn es nötig war. Merkte diese Heilerin denn nicht, was hier auf dem Spiel stand? Sie hielt einem Alveronen die Hand! »Mit der Berührung nehmt Ihr ihm jegliche Chance auf einen würdevollen Tod«, zischte sie. »Euch Menschen mag es nicht erstrebenswert scheinen, ätherisch zu werden, aber für uns Alveronen ist es das höchste Ziel! Ich muss Euch erneut auffordern, ihn sofort loszulassen!«

Die Heilerin seufzte und ließ langsam die Hand des Alveronen los. Er schlug die Augen auf, blickte sich suchend um und tastete umher. Zu Leahs Entsetzen packte er die Hand der Heilerin. Er stieß den Atem aus und verdrehte die Augen. Sein Arm sank herab, und die Hand der Heilerin entglitt seinen Fingern.

Die Heilerin beugte sich vor, fuhr mit der Hand über die blicklosen Augen des Mannes und schloss sie. Dann legte sie seinen Arm über seinen Oberkörper, ergriff die andere Hand und faltete beide Hände auf seiner Brust. Sie ergriff die Enden des Leinentuches und bedeckte den Mann vollständig. Leah biss die Zähne aufeinander. Beide – Mensch und Alverone – hatten sich ihrem Befehl widersetzt. Der Mann war durch die Berührung vor seinem Tod bereits genug gestraft und würde in der Erde beigesetzt werden. Doch sie musste nun dafür Sorge tragen, dass die Frau keinem weiteren Alveronen durch unnötige Berührungen den Weg zu einem Luftbegräbnis verwehren würde.

Sie drehte sich zu ihrer Kompanie um und entließ sie mit einem knappen Nicken. Ihre Leute verbeugten sich, traten vor die Tür und schlossen sie von außen. Verbrechen wurden im Stillen geahndet. Während die Menschen in ihrer Welt gern Strafen zu einem großen Schauspiel ausweiteten, gingen die Alveronen im Geheimen vor. Wenn niemand genau wusste, mit welcher Härte bestraft wurde, stieg die Angst durch das Ungewisse.

Es war nichts Besonderes. Solche Situationen hatte es schon häufig gegeben, und ohne die Gesetzeshüter würde es sie noch häufiger geben. Leah bräuchte nur ihr Schwert einsetzen, und der Tod der Heilerin würde die Anzahl der Verbrechen umgehend senken. Es war ein schmaler Grat: Sie brauchten die Heiler, um die wenigen Menschen im Alverreich am Leben und bei Gesundheit zu halten – doch auch die Heiler mussten sich nach den Gesetzen des Reiches richten. Jeder wusste um die schweren Strafen … Wieso riskierten diese Menschen wieder und wieder ihr Leben?

»Warum?«, flüsterte Leah. »Warum habt Ihr ihm das angetan?«

Die Heilerin runzelte die Stirn, doch sie antwortete nicht. Glaubte sie etwa, Leah würde scherzen? Bei einem Verbrechen gegen den Glauben, auf dem ihre gesamte Gesellschaft aufgebaut war? »Die Frage war mein Ernst. Warum tut Ihr so etwas? Warum verbaut Ihr ihm den Weg zu einem Luftbegräbnis?«

Das Stirnrunzeln der Heilerin vertiefte sich. »Kein noch so prunkvolles Begräbnis oder die Aussicht auf das, was nach dem Tode kommen mag, kann die Angst schmälern. Die Angst, allein zu sein in den letzten Stunden. Wenn wir nichts mehr für die Lebenden tun können, begleiten wir den Tod. Niemand soll allein sein, weder Mensch noch Alverone. Wenn das ein Verbrechen sein soll, dann bin ich bereit, die Strafe auf mich zu nehmen. Für ihn.«

Leah schauderte. Der Gedanke daran, in den letzten Atemzügen einem Verbrechen wie diesem ausgesetzt zu sein … »Ihr müsst uns nicht berühren, um uns beim Sterben beizustehen!«, sagte sie scharf.

Ein trauriges Lächeln glitt über das Gesicht der Heilerin. »Ich denke, Ihr habt es gesehen, Herr … Er hat mich berührt, nicht ich ihn. Er wollte es.«

»Aber wieso?« Es gelang Leah nicht, zwischen all dem gerechten Zorn die Hilflosigkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten. Was sollte einen Alveronen dazu bringen, freiwillig eine Berührung herbeizuführen?

Die Heilerin schüttelte den Kopf. »Warum fragt Ihr, Herr? Wollt Ihr nicht endlich die Strafe vollziehen? Oder bereitet es Euch Freude, den schmerzhaften Moment herauszuzögern und mich zu quälen? Verzeiht, doch kein Alverone stellt solche Fragen! Es interessiert Euer Volk doch nicht, was –« Ihre Augen wurden groß. »Es sei denn, Ihr seid …«

Leah holte tief Luft. Nicht schon wieder. Sie hätte nicht zögern dürfen. Sie hätte nicht fragen dürfen. Die Frau hatte sie erkannt, und Leah musste handeln, bevor es zu spät war. Ihr Geheimnis musste gewahrt bleiben, und sie durfte es der Heilerin nicht erlauben, die Sagen um den Weidenritter mit dem heutigen Erlebnis zu ergänzen. Die Erzählungen mussten aufhören, bevor etwas davon an die Ohren des Adelsstandes drang und nicht nur Leahs Leben, sondern auch das ihrer Familie für immer zerstören würde.

Leah steckte ihr Schwert weg und zog die Peitsche. »Dreht Euch zur Wand«, sagte sie mit einer erzwungenen Kälte in der Stimme. »Macht schon!«

Die Heilerin sah ihr in die Augen. »Ich wünschte, wir wären uns unter anderen Umständen begegnet, Weidenritter. Tut, was Ihr tun müsst.« Sie drehte sich um. Leah hob die Peitsche. Sie musste es tun. Für ihre Familie. Sie sollten nicht für Leahs Schwäche büßen müssen.

Den ersten Hieb ertrug die Heilerin mit nicht mehr als einem Stöhnen. Der zweite riss ihr den Rücken auf, und ein Schrei schnitt durch die Luft. Leah biss die Zähne zusammen. Noch ein Hieb. Und noch einer. Zehn mussten es mindestens sein. Vielleicht reichten sieben, wenn sie kräftig genug schlug. Wenn sie die Wahl hatte, die unfreiwillige Hauptfigur eines Märchens zu sein oder die Frau bewusstlos zu schlagen, musste sie ihr Geheimnis wählen. Sie war nicht stark genug, ihre wahre Identität zu offenbaren. Wie so viele Male zuvor.

Und wie viele Male zuvor hasste sie sich dafür.

Kapitel 2

Nach fünf Hieben hielt Leah inne. Die Schreie hatten aufgehört. Die Heilerin sank langsam zu Boden. Hoffentlich würde sie endlich durch Bewusstlosigkeit erlöst werden. Leah konnte nicht mehr. Sie würde es nicht schaffen, der wehrlosen Frau am Boden auch nur einen einzigen weiteren Hieb zu verabreichen.

Sie trat einen Schritt näher und betrachtete den Rücken der Frau. Ihre Kleidung war von den geflochtenen Strängen der Peitsche zerrissen und blutverschmiert, doch die Haut, die unter den Fetzen hervorschimmerte, schien unversehrt. Wie Leah erwartet hatte, erfüllte die Peitsche ihren Zweck, denn so, wie sie Haut zerriss, heilte sie im gleichen Augenblick. Leah atmete auf. Es hatte sich gelohnt, ihr langes Haar zu behalten und mit den hellen Strähnen wieder und wieder die Peitschenstränge zu erneuern, wenn die Magie aufgebraucht war. Die heilende Magie ihrer Haare war Leah lange Zeit nutzlos vorgekommen – sie wäre lieber in der Lage gewesen, mit ihrer Gabe Metall zu biegen oder Holz zu formen – doch in Zeiten wie diesen war Haarmagie eine willkommene Gabe. Sie konnte Gesetzesbrüche bestrafen, ohne andere Wesen dauerhaft verstümmeln oder gar töten zu müssen.

Es war Zeit, zu ihrer Kompanie zurückzukehren. Leah zog ihr Schwert und klappte mit der Spitze behutsam die blutigen Kleidungsfetzen um, sodass sie die Haut verbargen und niemand sehen konnte, dass die Heilerin unverletzt war. Warum war all das nötig? Warum konnten die Menschen nicht einfach auf Berührungen verzichten? Alveronen brachten es doch auch fertig, und ihnen fehlte nichts. Dass jener sterbende Alverone nach der Hand der Heilerin gegriffen hatte, war eine Ausnahme gewesen. Sicher war er vor Schmerzen wahnsinnig geworden. Niemand, der bei klarem Verstand war, würde sich dem Risiko einer Erdbestattung aussetzen –

Die Tür krachte auf und Leah sprang hoch. Ihr Schwert hinterließ einen blutigen Schnitt auf dem Rücken der Heilerin. Eine Wunde, die nicht so leicht heilen würde wie die Striemen der Peitsche. Beim Aufspringen war Leah gegen das Bett gestoßen, und irgendetwas war hinter ihr heruntergefallen und zu Bruch gegangen. »Seid ihr übergeschnappt?«, fauchte sie ihre Kompanie an. »Wieso platzt ihr einfach so herein? Mein Befehl war klar: Bei Bestrafungen will ich nicht gestört werden!«

»Verzeiht, Herr.« Der Lindengraf verbeugte sich. »Die Schreie hatten aufgehört und Ihr kamt nicht zurück … Wir hatten befürchtet, Euch sei etwas zugestoßen.«

»Es ist alles in Ordnung. Hier ist niemand außer dieser Frau und mir – und ein toter Alverone, von dem wohl keine Gefahr mehr ausgehen wird. Die Heilerin ist bestraft …« Leah deutete mit dem Schwert auf die Frau, die immer noch reglos am Boden lag. Ein Blutstropfen rann die Klinge herab und tropfte auf den Boden. »… und ich untersuche den Raum weiter nach Hinweisen. Lasst mich noch ein paar Minuten allein.«

Der Lindengraf nickte kurz, und die Kompanie zog sich zurück. Leah schloss die Tür hinter ihnen und schob den Riegel vor. Ein paar Minuten allein. Jeder hatte gesehen, dass sie ihrer Pflicht nachgekommen war, und sie konnte einen kurzen Augenblick verweilen, ohne mit weiteren Störungen rechnen zu müssen. Sie warf einen Blick auf die andere Frau. Sie atmete ruhig, doch schien nicht so bald aufzuwachen.

Leah nahm Helm und Tuch ab und holte tief Luft. Endlich allein. Achtundzwanzig Wochen und vier Tage hatte ihr derzeitiger Einsatz bereits gedauert, und es war höchste Zeit, eine Pause einzulegen und nach Hause zurückzukehren. Zu Hause musste sie sich nicht verstellen. Hinter den geschlossenen Türen ihrer Wohnung hoch oben in den Baumwipfeln bestand nicht die Gefahr, entdeckt zu werden. Besucher kündigten sich an, und Leahs Mutter würde Gäste auch ohne Leahs Anwesenheit unterhalten. Keine dauerhafte Anspannung, kein Hochschrecken und Dinge zerbrechen.

Sie drehte sich um. Was hatte sie eigentlich zerbrochen, als der Lindengraf hereingeplatzt kam? Holzsplitter lagen da, und … Leah ging um das Bett herum. Es sah aus, als würde dort eine winzige Windharfe liegen, aber das konnte nicht sein. Ein Musikinstrument? Hier unten? Keiner der Spielleute würde sich in die Tunnel vorwagen. Ihr Stand verlangte, dass sie Dienst am Tor verrichteten und damit länger am Boden verweilen mussten, als ihnen lieb war, doch wie alle respektablen Alveronen lebten sie vorzugsweise in den Bäumen. Nicht ganz so hoch oben wie die Adligen, doch als Mittelschicht der alveronischen Gesellschaft stand ihnen der Weg nach oben offen – wenn sie Berührungen unterließen. Dass jener alveronische Spielmann hier sein Schicksal in die Hände menschlicher Heiler gelegt und die Zukunft seiner ganzen Familie verspielt haben sollte … Leah schüttelte den Kopf. Das ergab keinen Sinn.

Sie las ein gebogenes Holzstück auf. Dies schien in der Tat eine Windharfe zu sein, ein Instrument, das vom Luftzug zum Klingen gebracht wurde. Wahrscheinlich hatte es den Ton hervorgebracht, den sie vorhin beim Eintreten gehört hatte. Zwei Saiten waren gerissen und etwas Holz an der einen Seite abgebrochen, doch abgesehen davon schien das Instrument intakt. Die Saiten, nun, die würde sie schnell austauschen können. Leah setzte sich auf den Boden und löste die Klammern, die ihren Zopf fest am Kopf hielten. Das blonde Haar fiel auf ihre Schultern, die längsten Strähnen auf der rechten Seite gingen fast bis zu ihrer Hüfte. An der linken Schläfe waren die Haare kurzgeschoren. Leah nahm eine dünne Strähne von rechts und schnitt sie dicht an der Kopfhaut ab. Bisher hatte sie ihr Haar für geflochtene Peitschenstränge genutzt – nun würde sich zeigen, ob sie damit gerissene Harfensaiten reparieren konnte.

Mit einem schmalen Messer, das sie vom Operationstisch nahm, löste sie die kleinen Schrauben, die beide Teile der Harfe verbanden. Wenn ihre Familie sehen würde, dass sie als Adlige Fertigkeiten aus dem Handwerk beherrschte … Leah spürte, wie ihre Ohren glühten. Nicht nachdenken, einfach tun. Mit ihren Handschuhen die winzigen Schrauben zu halten, war schwer genug, doch nichts in der Welt würde sie dazu bringen, Holz und Metall anzufassen. Sie spannte zwei Haarsträhnen ein, schloss die beiden Enden der Harfe und verschraubte sie. Genug. Sie musste sich auf den Weg machen. Wenn sie noch länger verweilte, würde die Heilerin –

Ein schwaches Stöhnen zog sich durch den Raum. Leah stellte hastig die Harfe auf den Boden, legte das Messer daneben und setzte ihren Helm auf. Sie riss ihn wieder herunter und steckte ihren Zopf fest. Verdammt! Solche Fehler konnten sie alles kosten … Sie band sich das Tuch um Mund und Nase, steckte einzelne, lose Haarsträhnen fest und setzte den Helm auf.

»Weidenritter …« Die Frau murmelte zusammenhängende Worte. Höchste Zeit, zu verschwinden. Leah sprang auf.

»Weidenritter, Ihr habt …« Die Heilerin nahm einen tiefen Atemzug. Sie stützte sich am Boden ab, hob den Kopf und sah Leah direkt in die Augen. »Ihr könnt heilen? Also sind die Geschichten wahr …«

»Nur Märchen«, murmelte Leah. Sie zog ihre Handschuhe hoch und huschte zur Tür. »Glaubt nicht alles, was man Euch erzählt. Und … erzählt es nicht weiter. Wenn Ihr auch nur ansatzweise schätzt, was ich getan habe, erzählt es nicht weiter.«

Sie zog den Riegel auf und öffnete die Tür. Der Luftzug brachte erneut die Windharfe zum Klingen, doch dieses Mal klang der Ton reiner, lieblicher. Leah blinzelte ihre Irritation weg und räusperte sich. »Machen wir uns auf den Rückweg«, sagte sie, und die gewohnte Sicherheit war zurück in ihrer Stimme. »Auch unter Folter hat sie nichts preisgegeben. Es scheint keine weiteren Vergehen zu geben, vorerst zumindest. Für heute sind wir fertig. Lasst uns an die Oberfläche zurückkehren.«

Die Streitigkeiten, die ihre Kompanie nach mehreren Tagen unter der Erde zu entzweien gedroht hatten, schienen vergessen. Mit neuem Schwung in den Schritten eilten die Frauen und Männer zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Leah ging langsam hinterher. An der Ecke drehte sie sich noch einmal um und warf einen letzten Blick zurück, als könnte ihr die schwere Holztür Antworten auf all ihre Fragen geben und alle Zweifel aus dem Weg räumen.

Die Heilerin stand in der Tür und hielt die Windharfe in den Händen. Sie lächelte Leah zu und verbeugte sich. Leah zuckte zusammen, wandte sich hastig ab und begann, die Gänge entlangzurennen. Sie hörte nicht auf zu rennen, bis sie zurück bei ihrer Kompanie war. Hier war sie sicher. Hier gab es keine Zweifel an richtig oder falsch, keine Fragen nach dem Sinn von Berührungen … Hier war alles einfach.

Kapitel 3

Die untergehende Sonne in Leahs Rücken tauchte das Tal des Königswaldes in goldenes Licht und warf einen langen Schatten vor ihr auf den schmalen Weg, der aus den entlegenen westlichen Wäldern zur Mitte des Alverreiches führte. Ein leichter Windhauch ließ die jungen Blätter der Baumkronen tanzen und den Sonnenuntergang in einem feurigen Glitzern widerspiegeln. Das Tal war im Norden und Osten vom Torwald umgeben, der eine dunklere Laubfärbung trug und sich zu einer Lichtung öffnete. Im Süden erstreckte sich die mächtige Hecke des Hains, in dem die Geburtsbäume wuchsen und die Hoffnungen aller Familien in sich trugen. Doch Leahs Zuhause lag im Zentrum des Königswaldes, wo der Königsbaum alle anderen Bäume überragte. Leahs Familienbaum stand direkt daneben und stach mit seinem hellen Laubgrün aus dem Ozean der Baumkronen hervor. Die milde Frühlingsbrise trug den Duft von Gräsern und Blüten herauf. In weniger als einer halben Stunde würde Leah zu Hause sein.

Ein seliges Lächeln überzog ihr Gesicht, als sie den Abstieg begann. Trotz der Erschöpfung, die ihr letzter Einsatz in den Tunneln und der beschwerliche Fußmarsch nach Hause mit sich gebracht hatten, hatte es sich gelohnt. Nichts konnte das Gefühl, nach Hause zu kommen, überbieten.

Je tiefer Leah ins Tal hinabstieg, desto feuchter wurde die Luft. Abendnebel kroch um ihren Körper und verdrängte die Sonne. Die Temperatur fiel, und Leah zog ihren Mantel enger um sich. Sie bog auf den Hauptweg ein, der in Nord-Süd-Richtung Torwald und Hain verband und am Königsbaum vorbeiführte. Hier sperrten die Baumkronen zwar nicht das Licht aus, aber die spärliche Wärme der Sonne konnte nicht bis hierher vordringen. Leah zog den Helm zurecht und legte die Hand auf den Griff ihres Schwertes. Der Hauptweg war gut bewacht, doch sie verließ sich nicht auf den Schutz durch andere Alveronen. Vor allem nicht, wenn sie in Gedanken schon ihre Verkleidung abgelegt hatte und im sicheren Kreis ihrer Familie weilte.

Die Wurzeln ihres Familienbaumes brachen bereits den Rand des Weges auf. Schmale Wurzeln, doch kräftig. Sie wurden breiter, und auf einer Wurzel wuchs ein kleiner, hellgrüner Trieb, ein Ableger des Baumes. Hieß das …

Leah beschleunigte ihre Schritte. Als sie um die nächste Kurve bog, versperrte ihr der Königsbaum den Weg. Leah holte tief Luft. Sie hatte vergessen, wie beeindruckend der mächtige Stamm war. Nicht zwei Türen, wie bei anderen Bäumen, führten ins Innere des Baumes, sondern allein fünf waren vom Hauptweg aus zu sehen. Drei für die verschiedenen Klassen der alveronischen Gesellschaft, eine für Dienstboten und eine für die Königsfamilie und besondere Gäste. Ob Leahs Familie bald auch durch diese letzte Tür gehen durfte? Die Tür der Adligen zu benutzen war schon eine Ehre, doch in wenigen Tagen würde Leahs Familie zu den »besonderen Gästen« gehören – wenn die Hochzeit problemlos ablaufen würde.

Leah knetete ihre Finger. Bei keinem ihrer vielen Einsätze war sie so nervös gewesen, dabei war es noch nicht einmal ihre eigene Hochzeit. Niemand würde sie je heiraten wollen, und von dem Gedanken an einen Ehemann und eine eigene Familie hatte sie sich längst verabschiedet. Niemand würde eine Weidengeborene zur Frau nehmen und sich damit freiwillig den gesellschaftlichen Aufstieg verwehren.

Leah betrachtete die Türen genauer. Sie waren mit Blumenranken geschmückt, und trotz der späten Stunde drang leise Musik aus den Baumwipfeln. War sie zu spät? Hatte die Hochzeit ihres Bruders mit der Kirschprinzessin bereits heute stattgefunden? Leah zog den Brief hervor, der mit ihrem Familienwappen versehen war, und vergewisserte sich, dass sie das richtige Datum erwischt hatte. Morgen, eindeutig. Anscheinend verlangte eine solche Hochzeit nach ausführlichen Vorbereitungen – es geschah schließlich nicht jeden Tag, dass eine Familie vom einfachen Adelsstand in die Königsfamilie aufgenommen wurde und damit dem Lebensziel aller Alveronen ein Stück näher rückte.

Der Brauch verlangte, dass der Ehemann den Stand der Ehefrau annahm, und unter all den Bewerbern für das einzige Kind von Ulmenkönig und Pflaumenkönigin hatte ihr Bruder Tristan sich durchsetzen können. Die langjährigen diplomatischen Beziehungen zur Königsfamilie hatten gefruchtet, doch ohne die wahre Liebe zwischen beiden jungen Leuten würde die Ehe nie zustandekommen. Die Zeichnungen ließen sich nicht überlisten, und selbst die hohe Magie der Königsfamilie könnte der Prinzessin keine Liebeszeichnung auf die Finger zaubern. Tristan und Clara kannten sich von Kindheit an, und die Liebe schien natürlich gewachsen zu sein.

Leah seufzte. Wenn nur alle Ehen im Alverreich auf diese Art zustandekommen würden. Keine Kuppler, kein Kampf von Vätern und Müttern um Einladungen bei höhergestellten Familien … Niemand würde seine Söhne förmlich anbiedern müssen, um das Rennen um den gesellschaftlichen Aufstieg zu gewinnen.

Leah bog auf einen Nebenweg ein und brauchte nur wenige Schritte, bis sie vor ihrem Familienbaum stand. Auch hier war man noch wach, Stimmen und Gelächter drangen von der Baumkrone bis hinunter zum Eingang. Beide Türen standen offen. Sollte sie die Glocke am Eingang läuten? Leah schmunzelte. Wenn dort oben alle so beschäftigt waren, wie sie vermutete, würde ein Läuten um diese Uhrzeit wahrscheinlich eine Panik verursachen.

Leah trat durch die Tür und erklomm die Stufen, die im Inneren des Baumstammes nach oben führten. Wie alle angesehenen Familien wohnte man hoch oben in der Baumkrone, wo die Äste weitläufige Wohnungen beherbergten. Viele Generationen brauchte es für den Aufstieg, und niemand würde sich die Blöße geben, weiter unten zu leben, wo die kahlen Stämme nur einfache, winzige Kammern direkt an der Treppe zuließen. Leah legte ihre Ausrüstung im ersten Stockwerk ab, wo die Dienerschaft wohnte. Das Personal konnte ihre Sachen nach oben tragen. Ob heute, morgen oder in einer Woche spielte keine Rolle. Leah war endlich zu Hause, und die Erschöpfung der letzten Monate machte sich bemerkbar. Ihre Beine zitterten, und auch ohne ihr schweres Bündel würde sie genug zu tun haben, die Treppen bis nach oben zu schaffen. Ausruhen. Schlafen. Endlich Helm und Tuch ablegen. Endlich sie selbst sein.

»Leon!« Tristan kam die Stufen heruntergesprungen. Seine Augen leuchteten in einem strahlenden Blau, sein kahler Kopf reflektierte das rötliche Sonnenlicht, das durch Fensteröffnungen im Stamm hereinfiel. »Ich wusste, dass du es bist. Du dachtest, du könntest dich reinschleichen, was? Keine Chance!« Er grinste über das ganze Gesicht, als er zum Gruß die Arme vor der Brust kreuzte. »Ich bin so froh, dass du es geschafft hast.«

»Bin ich noch rechtzeitig gekommen?« Leah lachte erleichtert. »Ich dachte schon, ich wäre zu spät.«

»Ich hatte gehofft, dass wir uns vor der Feier sehen. Ich muss so viel mit dir besprechen … Bruder.« Tristan zwinkerte ihr zu. »Lass uns raufgehen, dort sind wir ungestört.«

Und er würde sie mit »Leah« und »Schwester« anreden können, was nur innerhalb der Familie möglich war. Nicht einmal die Dienstboten durften wissen, dass »Leon Weidenritter« eine Frau war.

Tristan schnappte sich zwei Bündel von Leahs Ausrüstung und schnaufte. »Das Zeug hast du tagelang mit dir rumgeschleppt? Nicht zu fassen.« Er erklomm die Stufen mit sehr viel weniger Enthusiasmus als vorher.

Leah stapfte hinterher. »Reicht aber auch. Ich denke, dass ich etwas länger daheim bleiben werde.«

Tristan drehte sich zu ihr um. Er runzelte die Stirn. »Du klingst anders als sonst. Ist alles in Ordnung?«

Abgesehen davon, dass sie eine Bestrafung nach fünf Hieben abgebrochen hatte? Dass sie zweimal während eines Einsatzes den Helm abgenommen und es riskiert hatte, enttarnt zu werden? Dass sie sich seit dem Zusammentreffen mit der Heilerin fragte, warum jener Alverone seine Ehre aufgegeben hatte – für eine Berührung?

Im Treppenstamm gab es zu viele Zuhörer. »Das erzähl ich dir oben.« Sie schloss zu ihm auf, nahm ihm ein Bündel ab und stapfte vor ihm weiter die Treppe empor. Im vorletzten Stockwerk befanden sich ihre Gemächer, gleich neben denen von Tristan. Sie ließ ihre Sachen fallen, wartete, dass ihr Bruder eingetreten war, schloss die Tür und schob den Riegel vor. Endlich. Sie nahm den Helm ab und riss sich das Tuch vom Gesicht. Sie würde einfach ihre Gemächer mindestens einen Monat lang nicht verlassen. Die Wände aus glänzendem Holz bedeuteten mehr Freiheit als die Welt dort draußen. Hier musste sie keine Rolle spielen.

Ihr Blick traf Tristan, der sie mit offenem Mund anstarrte. »Die Haare …«, keuchte er. »Du hast … du hast langes Haar?«

»Fäden und Verbände für die Heiler«, sagte Leah schnell. Sie warf ihren Mantel auf das Gepäck und hoffte, dass der Stoff die Peitsche, die an der Seite befestigt war, verdeckte. »Haarmagie nützt nichts, wenn man keine Haare hat, oder?« Wieder Lügen. Irgendwann würde sie Tristan die Wahrheit sagen müssen. Sie konnte und wollte so nicht mehr weitermachen.

»Aber …«

»Ich weiß, was du sagen willst: Ätherisch werden geht vor.« Leah seufzte. »Aber es kann mir nichts wichtiger sein, als Alveronen mit meiner Magie zu heilen. Wenn Wunden mit meinem Haar genäht werden, heilen sie im Nu.« Ängstlich beobachtete sie die Reaktion ihres jüngeren Bruders.

»Haare lassen dich deinen Körper fühlen«, sagte Tristan kopfschüttelnd. »Sie kitzeln dein Gesicht, deinen Nacken … Du spürst den Wind in ihnen. Wie willst du es schaffen, ätherisch zu werden, wenn du dich von deinem Körper gefangen nehmen lässt?«

»Ich kann heilen«, beharrte Leah. »Das ist wichtiger. In der Öffentlichkeit trage ich den Helm oder andere Kopfbedeckungen, keiner bekommt mit, dass ich meine Haare nicht ausreiße.« Sie sah den missbilligenden Blick in den Augen ihres Bruders. »Sie sind schon ganz dünn, sieh doch. Bis vor drei Jahren wurden sie mir monatlich ausgerissen, wie bei dir, und sie wachsen nur spärlich nach.«

Tristan hatte die Stirn gerunzelt und die Lippen fest aufeinandergepresst.

»Tristan … Ist es nicht genug, dass ich ein Leben fernab von meinem Zuhause führe und mich mit meinen Leuten täglich der Gefahr von Tod und sogar Berührungen aussetze? Kann ich nicht einmal mein Haar behalten, wenn es dem Wohl der Gesellschaft dient?« Sie schluckte die Tränen herunter, die sich in ihren Augen sammelten. Sie würde nicht vor ihrem kleinen Bruder weinen, nicht heute, an ihrem ersten Tag daheim. Aber sie war so erschöpft … Sie wollte nur schlafen, sich ausruhen, im Kreis ihrer Familie sein, einfach sein … nicht sich rechtfertigen müssen.

Sie band sich ihr Tuch um den Kopf. »Besser?« Sie konnte die Enttäuschung nicht aus ihrer Stimme heraushalten. Wenn nicht einmal Tristan sie verstand … Wen hatte sie dann noch? Mit wem konnte sie frei sprechen, ohne dass jedes ihrer Worte in die Waagschale mit unerfüllbaren Anforderungen gelegt werden würde? »Vielleicht kannst du es ertragen, bei mir zu sein, wenn du mein Haar nicht sehen musst. Ich werde es nicht ausreißen. Das ist mein letztes Wort.«

Seine Gesichtszüge wurden weich. »Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen.« Er streckte die Hand aus, und einen verrückten Moment lang glaubte Leah, er wollte sie berühren. Er löste den Knoten, der das Tuch um ihren Kopf hielt. Als er das Tuch herunterzog, schloss Leah die Augen. Wenn das sanfte Streichen des Tuches auf ihrer Haut nun Hände wären … Berührungen … Sie atmete tief durch, und es war, als hätte sie seit Wochen nicht frei geatmet.

»Leah?« Tristans Stimme holte sie in die Wirklichkeit zurück.

Leah öffnete die Augen. Sie würde mit Tristan reden. Später, wenn die Hochzeit vorbei war, wenn alles sich ein wenig beruhigt hatte. Er war aufgeregt und musste noch mehr Angst haben, den Anforderungen nicht zu genügen, als sie. Immerhin stand er in den Augen der Öffentlichkeit und musste sich daran gewöhnen, dass jeder seiner Schritte überwacht und kritisiert werden würde. Nicht nur seine Schritte – auch die seiner Familie. Mit der Hochzeit würde ihre gesamte Familie eine Stufe nach oben steigen, und wenn er und Clara Kinder bekommen würden … Für ihre Eltern konnte es schon die Erlösung bedeuten. Eine Stufe weiter nach oben durch die Kinder – und vielleicht würden sie schon ätherisch werden.

Leah nickte. Diese Gedanken ergaben Sinn. Tristan würde sie verstehen, wenn erst der Druck ein wenig nachlassen würde. Er war ihr kleiner Bruder, ihr Ein und Alles … Er würde eines Tages König sein, und vielleicht würde es dann Chancen für Frauen wie Leah geben. Ihr Haar behalten zu dürfen, wäre der erste Schritt. Ihm von der Peitsche zu erzählen der nächste. Und vielleicht konnten sie das Thema der Berührungen überdenken. Die Menschen hatten von Wissenschaftlern in ihrer Welt erzählt … Wenn die Alveronen zusätzlich zu den Ständen des Adels, der Künstler und Handwerker noch Wissenschaftler schufen, könnte man vielleicht herausfinden, wie Körperlichkeit und die Verdammnis miteinander verknüpft waren. Und wie man das eine haben konnte – ohne das andere.

Die Hoffnung lag in der Zukunft. Leah musste die Hochzeit abwarten, die Geburt eines Kindes … Vielleicht würde ein Enkelkind schon ausreichen, um Claras Eltern ätherisch werden zu lassen – der einzige »Tod«, der im Alverreich erstrebenswert war.

Mit dem Aufstieg des alten Königspaares in den Äther und dem dann möglichen sorgfältigen Hinterfragen ihrer Gesetze würde ein neues Kapitel in der Geschichte der Alveronen beginnen. Ein helleres, hoffnungsvolles Kapitel.

Kapitel 4

Sie schlief. All die Erschöpfung der letzten Monate verlangte ihren Tribut. Morgen war ein wichtiger Tag, und Leah wollte ausgeruht sein. Je höher der Rang, desto stärker die Magie – es würde nichts geben, das ihrem Bruder unmöglich sein würde.

Leah würde ihrer Familie in diesen wichtigen Tagen Ehre machen – oder zumindest dem Glück ihres Bruders nicht im Weg stehen. Der Ruhm des Weidenritters war bis in den Königsbaum vorgedrungen, und selbst, wenn sie weiterhin ihr Gesicht verbergen musste, konnte sie Teil der Feier sein und zum Ansehen der Familie beitragen.

Sie fröstelte leicht und zog die Decke enger um ihre Schultern. Wirklich warm war es in den Baumwipfeln nur im Hochsommer, und dann zogen die adligen Familien in die Nähe der nördlichen Eislande, um der Hitze zu entgehen. Körperliches Wohlbefinden stand dem Ätherischwerden im Weg, und dicke Bettdecken und warme Kleidung, wie die Menschen sie in den kühleren Monaten trugen, waren verpönt. Beinahe sehnte sich Leah nach der Wärme der unterirdischen Gänge …

Jemand zog eine schwere Decke über sie. Das Gewicht beruhigte auf eine seltsame Art und Weise. Die Wärme löste die Verspannung in ihren Schultern, und der weiche Stoff strich sanft über ihre Haut. So musste sich Moos anfühlen. Mehr als einmal hatte Leah die Hand nach dem flauschig erscheinenden Boden ausgestreckt, aber es nie gewagt, das warme Grün wirklich zu berühren. Ein leises Lächeln strich über ihr Gesicht. So weich … Sie genoss das Gefühl auf der Haut, und was noch seltsamer war – sie fürchtete es nicht.

Auch, als jemand ihren Kopf streichelte, hatte sie keine Angst. Die Berührung war so sanft und liebevoll – wie konnte so etwas verboten sein? Warum kämpfte sie ihr Leben lang für die Gesetze, die augenscheinlich falsch waren? Leah öffnete halb die Augen und sah in das runzelige Gesicht der Heilerin. Der Klang der Windharfe drang durch den Raum. Wie konnte das sein? Sie hatte all das in den unterirdischen Gängen zurückgelassen.

Erneut der Klang der Harfe, doch schärfer, klarer. Beinahe wie eine Glocke. Leah riss die Augen auf und blinzelte im müden Kerzenlicht. Die Tür wurde leise aufgeschoben, und eine Flüsterstimme erklang. »Bist du wach?«

Leah zuckte zusammen. Ihre Wangen brannten vor Scham. Musste sie ihre Zweifel mit nach Hause bringen? Sicherlich sah man ihr die schändlichen Träume an, sie würde ihre Familie gefährden, und das am wichtigsten Tag! Wieso brachten nicht ihr Zuhause, ihr gewohntes Leben und die Regeln sie wieder auf den richtigen Weg? Mussten solche Träume sie sogar hier heimsuchen?

»Leah? Hast du mich läuten gehört?« Es war Tristan. Der Umriss seiner schmalen Gestalt war im Kerzenlicht zu sehen, doch nicht sein Gesicht. Leah atmete auf. Ihre brennenden Wangen und Ohren würden sie nicht verraten, nicht, solange sie sich im Schutz der Nacht verbargen.

Tristan kroch ans Fußende ihres Bettes und zog die dünne Decke zu sich. »Kalt«, flüsterte er, doch im nächsten Augenblick ließ er die Decke los, als hätte er sich verbrannt. Leahs Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Er hatte die gleichen Bedürfnisse wie sie, doch in seiner Position würde er sie nicht einmal vor seiner Schwester zugeben.

»Ich kann nicht schlafen«, murmelte er.

»Zu aufgeregt?« Leah versuchte, nachsichtig zu lächeln. Wenn sie ihn schon nicht tröstend in den Arm nehmen durfte – wie die Heilerin sie im Traum – musste sie alle Wärme in ihre Stimme legen. »Mach dir keine Sorgen, Bruderherz. Alles wird gut. Eure Liebe ist stark, das Mal auf deinem Finger zeigt es sehr deutlich. Und bald wird eine weitere Zeichnung wachsen und den Kindersegen ankündigen. Es gibt nichts zu befürchten.«

»Was, wenn die Liebe nicht stark genug ist? Was, wenn uns Kinder versagt bleiben?« Tristan krallte seine Finger erneut in die Decke. »Clara ist das einzige Kind des Königspaares – wenn sie keine eigenen Kinder bekommt, werden sie nicht aufsteigen können. Und ich werde schuld daran sein.«

»Tristan …« Leah schüttelte den Kopf. Sie machte sich Sorgen darüber, wie sie in diesen Tagen wirkte – wie schwer musste der Druck erst auf ihrem Bruder lasten! »Deine Frau heißt ›Kirschprinzessin‹! Claras Geburtsbaum ist der Kirschbaum, und wie viele Früchte trägt dieser? Ihr werdet einen reichen Kindersegen haben, glaub mir. Sie ist keine Weidengeborene wie ich, oder?« Sie zwinkerte Tristan zu.

»Es tut mir leid, ich wollte nicht … Ich habe nicht daran gedacht, dass …«

»… nur Frauen Kinder bekommen können, die selbst in einem Obstbaum geboren sind?« Leah winkte ab. »Die Realität meiner Herkunft vergesse ich keine Sekunde meines Lebens. Umso mehr freut es mich, dass euch ein anderes Schicksal beschert ist.«

»Leah …« Tristan zögerte. Er blickte sich um, als würde jemand in der Ecke stehen und lauschen. »Ich … du … Ich muss dich etwas fragen. Versprichst du mir, dass es unter uns bleibt?«

Leah zog die Augenbrauen hoch und nickte.

»Du verkehrst doch mit Menschen während deiner Einsätze, richtig?«

»Richtig.«

»Nun … man erzählt sich …« Er atmete tief durch.

»Tristan. Du wirst eines Tages König sein. Stelle deine Fragen mit Selbstbewusstsein. Ich habe schon zu viel gesehen und gehört, als dass mich irgendetwas schockieren könnte.«

»In Ordnung.« Er räusperte sich. »Stimmt es, dass Menschen Kinder mit … nun, mit ihren Körpern gebären?« Er verzog sein Gesicht. »Das ist nur ein Märchen, oder? Es ist so abwegig …«

»Es stimmt. Ich habe es natürlich selbst noch nicht gesehen, aber es scheint unter den Menschen ganz normal zu sein.«

»Die Kinder werden nicht in einem Baum geboren? Aber wie … Wie kommen die Kinder in die Menschen hinein?«

»Wie kommen sie in den Baum hinein?« Leah musste an sich halten, um nicht loszulachen. »Ich denke, es hat mit Berührungen zu tun. Menschen berühren sich, und sie bekommen Kinder in ihre Körper.«

»Aber dann … Hast du denn schon einmal daran gedacht, dass du auf diese Weise auch Mutter werden könntest?«

Leah starrte ihn an. »Wo denkst du hin? Berührungen hindern Menschen daran, ätherisch zu werden. Ihre Kinder bringen sie nicht dazu, aufzusteigen und mit genügend Generationen hoch genug zu sein, um sich mit der Luft zu verbinden. Es ist schlimm genug, in einem Weidenbaum geboren zu sein. Ein körpergeborenes Kind – das könnte ich euch nie antun. Unsere Familie wäre auf immer aus der Gesellschaft verstoßen. Außerdem … ich glaube nicht, dass wir Alveronen dazu in der Lage sind.«

»Es geht das Gerücht, wir teilen die gleiche Abstammung mit den Menschen –«

»Nur Märchen der Schamanen! Was ist los mit dir? Du scheinst es ja gerade darauf anzulegen, dass ich noch mehr Schande über die Familie bringe. Warum stellst du solche Fragen?« Als wären die Zweifel und die Träume nicht genug …

»Ich wollte dich nicht bekümmern, es tut mir leid. Ich bin nur so nervös … Ich brauche ein paar sensationelle Geschichten aus der Unterschicht, um mich abzulenken.« Sein Grinsen war nicht echt.

»Du möchtest sensationelle Geschichten? Wie wäre es mit: Ich habe gesehen, wie ein Alverone die Hand einer menschlichen Heilerin ergriffen hat, als er im Sterben lag! Was sagst du dazu? Sensationell genug?«

Sein Mund klappte auf. »Wie hat sie ihn dazu gezwungen? Er muss sehr entkräftet gewesen sein, wenn seine Magie ihr nicht standhalten konnte. Sind Menschen nun doch der Zauberei fähig, ohne dass wir es wussten?«

»Freiwillig, Tristan! Er hat ihre Hand freiwillig genommen.«

»Was? Aber wieso sollte er sich derart gefährden?«

»Das überlege ich auch schon die ganze Zeit. Die Berührungen scheinen wie eine Sucht zu sein, und das macht sie so gefährlich. Verstehst du jetzt, wieso ich niemals das Risiko eingehen möchte? Es reicht, wenn meine Gedanken unaufhörlich darum kreisen.« Sie biss sich auf die Lippen. Mehr würde sie nicht zugeben. Nicht jetzt, wo die Dämmerung das Zimmer in fahles Licht tauchte und der Tag, der die Hoffnungen eines ganzen Familienbaumes trug, wie ein verwaschenes Gemälde der Traurigkeit wirkte.

Tristan stand auf und ging zum Fenster. Er blickte auf den Königswald, über den er mit der Geburt seines ersten Kindes herrschen würde. Seine Schultern strafften sich. Die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich durch die dichten Baumkronen und ließen seinen Kopf seidig schimmern.

Als er sich zu Leah herumdrehte, stand das gleiche Leuchten in seinen Augen. »Wenn ich erst König bin, werde ich die Sache mit den Berührungen erforschen lassen«, sagte er, und es lag keine Spur des nächtlichen Zögerns in seiner Stimme. »Es gibt Gefahren – aber auch Potenziale, die wir nicht genügend kennen. Wir brauchen die Menschen, da nur Menschenkinder unsere Geburtsbäume pflegen, doch ich weigere mich, länger mit einer unbekannten Gefahr zusammenzuleben. Entweder wir finden heraus, wie Berührungen für uns unschädlich ablaufen – oder wir müssen die Gefahr beseitigen. Ich bin mir sicher, auch Alveronen können den Geburtshain pflegen und uns weiterhin Nachkommen bescheren. Wir brauchen die Menschen nicht.«

Leahs Gesicht, das bei seinen ersten, selbstbewussten Worten geleuchtet hatte, nahm einen hoffnungslosen Ausdruck an. Sie hatte lediglich Andeutungen über die Auswirkungen von Berührungen gemacht. Was würde Tristan sagen, wenn er herausfand, dass sie seit einem Jahr Menschen nur noch mit ihrer Peitsche bestrafte? Wenn er wüsste, dass die Wunden, die Leah in Ausübung ihres Amtes zufügte, umgehend heilten?

Er würde nichts sagen. Er würde sie verstoßen. Sie durfte ihm nie die volle Wahrheit sagen.

Kapitel 5

Leah sah zu ihrer Mutter hinüber, die Tristan wieder und wieder nervöse Blicke zuwarf. Die Anspannung war kaum auszuhalten. Tausend Dinge konnten schiefgehen, und die ehrfürchtige Stille, die das Eintreten des Königspaares begleitete, wirkte düster und unheilverkündend. Wenn man wenigstens etwas tun könnte … Selbst Nahrungsaufnahme wäre besser, als weiterhin mit angehaltenem Atem zu warten.

Endlich setzte die Musik ein und die Hochzeitsgäste konnten verstohlen an ihren Strohhalmen nippen. Nahrung war nötig, um die Körper bis zum Ätherischwerden – oder bis zum Tod – zu erhalten, doch in der Öffentlichkeit Nahrung aufzunehmen, galt weithin als unschicklich. Auf Hochzeiten bot man stärkende Getränke an, damit alle die Zeremonie durchhielten und kein menschlicher Heiler die oberen Stockwerke der Bäume beschmutzen musste. Doch die Alveronen trauten sich nur unter der Ablenkung, die die Spielleute boten, nach ihren Getränken zu greifen.

Bis auf Leahs Mutter. Sie stand heute unter besonderer Beobachtung. Ihr Sohn würde die Königstochter heiraten, und sie wollte besonders rein wirken. Leahs Anwesenheit duldete sie, mehr nicht. Keiner der Gäste trug ein Tuch um den Kopf gewickelt, das wie ein Turban nur Augen und Nase freiließ. Dem Weidenritter, den man für seine exotischen Missionen in ferne Teile des Reiches bewunderte, ließ man so etwas durchgehen, aber auch Leah spürte die Augen der Gäste auf sich. Mehr als bei sonstigen Feiern. Sie trug ihre reinweiße Festkleidung, deren goldbestickte Tunika bis über die Knie fiel und das dunkelgraue Zeremonienschwert an ihrem Gürtel hervorhob, doch trotz aller militärischen Würden war sie ein Außenseiter in den Augen ihrer Mutter. Eine Tochter, die Nachwuchs für den eigenen Familienbaum sichern würde, war eher willkommen als ein Soldat, egal, wie hoch sein Rang war.

Das Brautpaar stand abseits am Rand des Podiums und betrachtete seine Gäste mit hungrigen Augen. Sie hatten seit zwei Tagen weder Nahrung noch Wasser zu sich genommen, denn bei der Zeremonie wurde die Seele geprüft, und nichts Körperliches sollte ablenken. Clara Kirschprinzessin hielt sich aufrecht und ließ sich nichts anmerken, doch Tristan konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Er schwankte leicht und ballte seine Hände zu Fäusten, um sein Frösteln nicht durch Zittern zu verraten. Ob der kühle Lufthauch oder die Nervosität das Frösteln verursachten, konnte Leah nicht einschätzen. Wahrscheinlich beides.

Der Ulmenkönig und die Pflaumenkönigin traten auf das Podium: Obwohl beide um die siebzig Jahre alt sein mussten, wirkten sie würdevoll und strahlten eine Macht aus, die jedem im Saal Respekt einflößte. Sie winkten das Hochzeitspaar zu sich heran. Clara und Tristan ließen sich auf die Knie nieder. Der König sprach den traditionellen Trauspruch: »Das Liebesmal erschien zeitgleich bei diesen beiden jungen Leuten. Dies tut es nur, wenn die Liebe echt ist und beide für ein Leben miteinander bestimmt sind. Heute werden wir alle Zeuge sein, ob die Liebe die erste Prüfung der Enthaltsamkeit bestanden hat. Nur, wenn die Zeichnung auf der Haut immer noch deutlich zu sehen ist, wird die Trauung vollzogen sein.«

Als Applaus läuteten die Gäste die kleinen Glocken, die vor ihnen auf den Tischen standen. Leah erinnerte sich daran, wie sie einst einen Menschen hatte klatschen hören und bei dem Geräusch zusammengefahren war. Applaus sollte nicht wie ein zerbrechender Gegenstand klingen, oder wie ein Peitschenschlag. Und schon gar nicht sollte man sich selbst mehr als nötig berühren müssen.

Leah schüttelte die Gedanken ab und blickte wieder nach vorne. Ihr Bruder hatte die Hand erhoben. Die Handfläche wies zum Ulmenkönig, der Handrücken zu den Gästen. Sein Geburtsbaum, die Birke, schien in kräftigem Dunkelbraun auf seinem Handrücken eingraviert. Ein magisches Mal, das jeder Alverone von Geburt an trug.

Einer der Zweige war gewachsen und rankte sich wie ein Ring um seinen Finger. Leah atmete erleichtert auf. Das Liebesmal leuchtete kräftig, genau wie gestern Nacht. Die körperliche Schwäche schien Tristans Liebe zu seiner Verlobten nicht geschmälert zu haben.

Leahs Mutter musste erleichtert sein, doch sie blinzelte hektisch. Ihre Augen waren feucht. Sicher nur die Rührung. Der Jüngste ihrer Söhne würde heiraten, und es war die beste Partie, die man sich vorstellen konnte. Das halbe Leben von Müttern bestand darin, sich über die Zukunft der Söhne zu sorgen. Männer zogen zum Stamm der Brautfamilie, und sie nahmen auch ihren Stand an. Sobald Söhne nicht mehr in der untersten Schicht der Handwerker lebten, hatten sie viel zu verlieren – für ihre Familie und sich selbst. Adligen Söhnen war es verboten, mit den unteren Schichten zu verkehren – was, wenn sie sich verliebten und ihren Stand verloren? Die Zeichnungen auf der Haut trugen Magie, und sie waren für die Ewigkeit. Ein falsches Gefühl, und das Schicksal eines ganzen Familienbaumes würde besiegelt sein.

»Clara Kirschprinzessin!« Täuschte sich Leah oder bebte die Stimme des Ulmenkönigs? Er blinzelte etwas zu oft und etwas zu schnell … Er wirkte beinahe wie ein Mensch bei einem Verhör. Als hätte er etwas zu verbergen.

Clara hob die Hand. Der Kirschbaum war mit seinem leuchtenden Lila bis in den hintersten Winkel des Raumes sichtbar, und auch bei Clara schlängelte sich ein Zweig um den Finger. Leah schüttelte ihren Verdacht ab. Sie sah Gespenster, erst bei ihrer Mutter, nun bei Claras Vater. Es war alles in Ordnung. Tristan und Clara wiesen beide ein deutliches Mal auf, ihre Liebe war stark und würde dem Reich mit dem zu erwartenden Kindersegen Ehre bringen. Kein Grund mehr, nervös zu sein.

»Es ist vollbracht!«, dröhnte der Ulmenkönig, und ihm war die Erleichterung anzuhören. Er mochte schon viele Trauungen vollzogen haben, doch es musste etwas ganz Besonderes sein, die eigene Tochter zu vermählen. Er läutete die Glocke, die ein Diener ihm hinhielt, und nach einem kurzen Moment des Zögerns fiel die Pflaumenkönigin in den Applaus ein.

Sie trat zu dem Brautpaar. »Es ist nun Zeit, ein Kind zu zeugen. Ihr habt euch zehn Tage lang nicht gesehen, und die zweite Prüfung der Enthaltsamkeit sollte bald Früchte tragen.« Sie wies den beiden einen Tisch in der Mitte des Raumes zu. »Wenn du, liebe Clara, schon hier vor aller Augen schwanger wirst, ist dies natürlich die größte Ehre für unser Haus.« Sie blickte ihrer Tochter nicht in die Augen, als sie das sagte. »Tristan … wenn eure Liebe nicht schon hier von Erfolg gekrönt wird, sollt ihr Zeit haben bis Ende der Nacht. Gib dir Mühe. Wir haben dich und deine Familie in unseren Stand erhoben. Bringe uns keine Schande.«

Tristan nickte. Er leckte sich über die trockenen Lippen, als er sich an den Tisch gegenüber seiner Frau setzte. Leah fing seinen gehetzten Blick auf. Wie konnte ihm die Königin nur noch mehr Druck aufbürden! Als würde er sich nicht schon genug verrückt machen. Hoffentlich würde bald alles vorbei sein und die kleine, neugegründete Familie ihr Leben genießen können, bevor höfische Pflichten sie gänzlich in Anspruch nahmen. Beinahe war Leah froh, dass sie keine Kinder empfangen und daher nie in diese Situation geraten konnte, in der ihr Bruder nun steckte. Vor aller Augen in der Lage zu sein, alles auszublenden – das hatte Leah bei zahlreichen Einsätzen gelernt. Aber nun Liebe zu empfinden, sich ihr ganz hinzugeben und auf diese Art und Weise ein Kind zu zeugen – das musste unvorstellbar schwer sein.

Leah zog das Tuch, das ihren Mund verdeckte, herunter und nippte an ihrem Obstsaft. Das Warten auf die Empfängnis war beinahe noch unerträglicher als die Zeremonie selbst. Normalerweise ließen sich die Mitglieder beider Familien regelmäßig die Hände zeigen und erwarteten gespannt, dass sich zum Liebesmal ein Kindsmal auf dem benachbarten Finger zeigte. Doch während Leahs Mutter wieder und wieder nach den frischvermählten Eheleuten schaute, bewegten sich König und Königin nicht von ihren Podiumsplätzen fort. Sie redeten mit Flüsterstimmen miteinander, und obwohl Leah ein ausgezeichnetes Gehör hatte, konnte sie keine Worte wahrnehmen.

Nach einer halben Stunde angespannten Schweigens gab der König den Spielleuten ein Zeichen, aufzuspielen. Man verlor das Interesse an den Brautleuten, die offenbar unter den Augen der Öffentlichkeit nicht empfängnisbereit waren. Dem zukünftigen Königspaar hatte man selbstverständlich einen besseren Start ins Eheleben gewünscht, aber solche Schwierigkeiten waren normal. Warum sollte es den Hochgeborenen besser gehen als dem einfachen Adel? Es machte die jungen Leute nur sympathisch, vor allem den jungen Birkenprinzen, der zum ersten Mal die volle Last seiner Verantwortung tragen musste. Das Brautpaar hatte bis Ende der Nacht Zeit, und wenn sie erst allein waren, würde das Kinderproblem schnell gelöst sein. Jeder war sich sicher, morgen früh die frohe Kunde einer bevorstehenden Geburt im Königshaus zu hören.

Zur Begleitung der Musik begannen die Gäste, sich leise zu unterhalten. Einige standen auf und setzten sich an andere Tische. Es kam schließlich selten genug vor, dass man in Adelskreisen zusammentraf. Leah zog ihr Tuch zurecht und ging gemessenen Schrittes hinüber zu Clara und Tristan. Bloß nicht rennen. Bloß nicht den Anschein erwecken, dass sie sich Sorgen um die Zukunft machte. Sie löste ihre verkrampften Finger. Geballte Fäuste wirkten nicht so, als wäre alles unter Kontrolle, und in diesem Moment kam alles darauf an, welchen Anschein die Familien erweckten.

Die Königsfamilie ließ sich nichts anmerken. Dafür, dass der König bei der Vermählung noch nervös gewirkt hatte, schien er längst beruhigt zu sein. Wenn er sich keine Sorgen um den Ruf seiner Tochter machte, brauchte Leah es auch nicht zu tun. Alles würde gut werden. Wenn Clara und Tristan erst einmal allein waren …

Leah zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu den beiden. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte sie mit jener tiefen Stimme, die sich von jahrelangem Gebrauch so natürlich anfühlte, als wäre es schon immer ihre Stimme gewesen. »Schaut, die ersten gehen bereits. Es wird nicht mehr lange dauern und ihr seid allein. Ihr habt die ganze Nacht. Lasst euch nicht verrückt machen, ja?«

Tristan blickte sie an, und der hoffnungslose Ausdruck in seinen Augen stach Leah ins Herz. »Die zehn Tage waren so schwer«, flüsterte er. »Ich habe mir fast jeden Gedanken an Clara verbieten können, aber …« Er lächelte seine Frau traurig an. »Was, wenn es an mir liegt? Wenn ich … unfruchtbar bin?«

»Unsinn.« Leah winkte ab. »Du weißt, ich bin viel herumgekommen, doch ich habe noch von keinem Alveronen gehört, der keine Kinder zeugen konnte.«

Sein Mund formte die Worte »Mensch?«. Die Panik in seinen Augen war kaum zu ertragen.

»Als würden Ulmenkönig und Pflaumenkönigin Clara einem Menschen antrauen!« Würde ihr Bruder nicht sichtbar leiden, würde Leah laut auflachen. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass du nicht reinblütiger Alverone bist. Das Königspaar hätte niemals zugelassen, dass etwas zwischen euch steht. Im Gegenteil, sie haben eure Liebe sogar begünstigt! Seit ihr Kinder wart, haben beide Familien offen eine Verbindung zwischen euch angestrebt. Zweifle nicht an dir – und auch nicht an deiner Frau. Der Kirschbaum auf ihrem Handrücken leuchtet so klar, dass ihr euch nicht sorgen müsst.«

Sie blickte sich um. »Schaut, fast alle Gäste sind gegangen. Ich denke, euch wird es erlaubt sein, euch auf eure Gemächer zurückzuziehen. Morgen werden wir alle die frohe Botschaft hören. Und ihr beiden, lieber Bruder und liebe Schwägerin, werdet in einem tiefen Schlaf den Druck der letzten Tage vergessen und eure Liebe feiern können. Ich wünsche euch alles erdenklich Gute.« Sie kreuzte die Hände vor der Brust und flüsterte: »Wenn es passiert, weckt mich, ja? Ich möchte der Erste sein, der euch gratuliert.«

Tristan schien sich etwas beruhigt zu haben. Er nickte. Er stand auf, verbeugte sich vor seiner Frau und verkündete den wenigen Alveronen, die noch anwesend waren: »Meine Frau und ich werden uns nun zurückziehen. Wir erwarten, euch am Morgen frohe Kunde überbringen zu können.«

Leah nickte ihm anerkennend zu. Er hatte es tatsächlich geschafft, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. Man konnte erahnen, mit welcher Würde er seine Regierungsgeschäfte führen würde – wenn diese Nacht endlich überstanden war.

Kapitel 6

Leah hatte kaum vier Stunden geschlafen, als ein Läuten sie aus dem Bett holte. Endlich. Tristan würde ihr gute Nachrichten überbringen und das Kindsmal auf seiner Hand als Beweis vorzeigen. Am Morgen würden sie gemeinsam zum Obsthain laufen und den Hüter des Hains befragen, in welchem Baum das neue Königskind heranwuchs.

Leah riss die Tür auf. »Das Kindsmal!«, rief sie. »Ist es endlich soweit? Ich freue mich so für euch!«

Tristan huschte an ihr vorbei. »Schließ die Tür«, flüsterte er, und seine Stimme klang brüchig. »Es wird kein Kind geben.«

»Was? Aber warum … Belästigt euch jemand? Setzt euch jemand unter Druck?«

»Mehr als alle Gäste auf der Feier?«, entgegnete er grimmig. »Mehr als unsere Mutter? Wohl kaum.« Er ließ sich auf Leahs Bett fallen und zog die Decke an die Schultern. »Es gibt keine neue Zeichnung. Das Liebesmal, ja, aber kein Kindsmal.« Mit einer Handbewegung zündete er die Kerzen an. Wie zu erwarten war, hatte der Aufstieg seine Magie gestärkt. Er konnte Flammen nicht nur bewegen, nun konnte er sie auch aus dem Nichts entstehen lassen.

»Kein …«

»Kein Kindsmal.« Er blickte wie gebannt in die Flammen. Sein schmales Gesicht wirkte verhärmt. »Ich bin verloren.«

Leah starrte ihn mit offenem Mund an. Das ergab keinen Sinn. »Du bist nicht unfruchtbar, ganz sicher nicht! Und Clara auch nicht! Ist es der Stress, der Druck?« Wenn es so war, welchen Ausweg hatten sie dann? Sie konnte nicht die Nacht ewig dauern lassen oder Clara ein Kind herbeizaubern. Solche Zauber erforderten monatelange Vorbereitung, und die Zeit hatten sie nicht.

»Es gibt einen Weg«, murmelte Tristan. »Er wird dir nicht gefallen. Aber wenn es dich tröstet, mir gefällt er noch viel weniger. Ich liebe Clara mehr als mein eigenes Leben, und was ich tun möchte, ist … Ich weiß nicht, ob unsere Liebe das überleben wird. Aber es geht erst einmal darum, überhaupt zu überleben.«

»Bitte?« Leah horchte auf. »Zu überleben? Seit wann hängt das Leben eines Paares an der Geburt des Kindes?«

»Du hättest sie sehen sollen«, flüsterte Tristan. »Claras Eltern. Seit Tagen geht das schon so. Sie drohen uns. Clara ist ihr einziges Kind, und wenn sie durch meine Schuld kein Kind bekommen kann, werden wir verstoßen. Erst verstoßen, dann umgebracht. Ich denke nicht, dass sie wollen, dass das Ebenbild der Schande weiterlebt.« Er verbarg sein Gesicht in den Händen und zuckte im nächsten Augenblick vor seiner eigenen Berührung zurück.