Die Eroberung von Plassans - Emile Zola - E-Book

Die Eroberung von Plassans E-Book

Émile Zola

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Beschreibung

In 'Die Eroberung von Plassans' von Emile Zola wird die Geschichte einer Stadt in der südfranzösischen Provinz während des Zweiten Kaiserreichs erzählt. Der Roman zeichnet sich durch seinen naturalistischen Schreibstil aus, der die dunklen Seiten der menschlichen Natur und die sozialen Strukturen der Zeit aufdeckt. Zola beschreibt detailliert die Intrigen, Machenschaften und moralischen Abgründe, die die Bewohner von Plassans beeinflussen, und zeigt dabei die Verflechtung von Politik, Religion und persönlichen Beziehungen. Der Autor schafft es, die Atmosphäre der Zeit lebendig werden zu lassen und bietet dem Leser einen Einblick in die gesellschaftlichen Herausforderungen des 19. Jahrhunderts. Emile Zola, selbst ein führender Vertreter des literarischen Naturalismus, war bekannt für seine schonungslose Kritik an den sozialen Missständen seiner Zeit. 'Die Eroberung von Plassans' ist Teil von Zolas Rougon-Macquart-Zyklus, in dem er das Schicksal einer Familie über mehrere Generationen hinweg verfolgt. Als politisch engagierter Autor nutzte Zola seine Werke, um auf die sozialen Probleme seiner Zeit aufmerksam zu machen und die Menschheit zu einem besseren Verständnis ihrer eigenen Existenz zu führen. Dieses Buch ist ein Muss für jeden, der sich für die französische Literatur des 19. Jahrhunderts interessiert und fesselnde Geschichten über menschliche Abgründe und soziale Konflikte schätzt. Zola gelingt es meisterhaft, die Psychologie seiner Figuren zu durchleuchten und den Leser mitzureißen. 'Die Eroberung von Plassans' ist ein zeitloses Werk, das auch heute noch relevante Fragen zu Macht, Moral und Menschlichkeit aufwirft und zum Nachdenken anregt.

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Emile Zola

Die Eroberung von Plassans

La conquête de Plassans: Die Rougon-Macquart Band 4

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1458-7

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.
Sechzehntes Kapitel.
Siebzehntes Kapitel.
Achtzehntes Kapitel.
Neunzehntes Kapitel.
Zwanzigstes Kapitel.
Einundzwanzigstes Kapitel.
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Erstes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

Desirée klatschte in die Hände. Sie war ein Mädchen von vierzehn Jahren, aber für ihr Alter kräftig entwickelt. Sie lachte wie ein Kind von fünf Jahren.

Mutter! Mutter! rief sie. Schau doch meine schöne Puppe!

Sie hatte von ihrer Mutter einen Flicken bekommen, aus dem sie sich seit einer Viertelstunde abmühte, eine Puppe zu formen, indem sie ihn an einem Ende mit einem Zwirnfaden umwand. Martha sah von ihrem Strumpfe, den sie eben sorgfältig ausbesserte, lächelnd zu dem Mädchen hinüber:

Aber das ist ja nur ein Püppchen und keine Puppe, sagte sie. Du weißt doch, eine Puppe muß einen Rock haben wie eine Dame.

Mit diesen Worten nahm sie aus der Lade ihres Nähtischchens einen Fleck Kattun und gab ihn Desirée; dann beugte sie sich wieder über ihre Arbeit. Beide saßen in einer Ecke der schmalen Terrasse; die Tochter auf einem Schemel zu den Füßen der Mutter. Die Sonne ging an diesem schönen Septemberabende eben unter und übergoß sie mit ihrem ruhig warmen Lichte, während der Garten, der sich vor ihnen ausbreitete, schon im Halbdunkel lag und allmählich in Schlaf sank; kein Laut war in diesem einsamen Winkel der Stadt vernehmbar.

Schweigend arbeiteten die beiden einige Minuten weiter: Desirée gab sich unendliche Mühe, für ihre Puppe einen Rock zusammenzubringen, während Martha zeitweilig von ihrer Arbeit aufsah und mit einer gewissen Traurigkeit auf das Mädchen blickte. Als sie bemerkte, wie sich das Kind nutzlos abmühte, sagte sie:

Gib her! Ich werde die Arme machen.

Sie nahm die Puppe in die Hand. In diesem Augenblicke kamen zwei Jünglinge von siebzehn und achtzehn Jahren die Treppe herunter und begrüßten Martha.

Sei nicht böse, Mutter, sagte Octave lächelnd, ich habe Serge mit zur Musik genommen... Was für eine Menge Leute auf der Promenade Sauvaire waren!

Ich glaubte, ihr müßtet noch in der Schule bleiben, erwiderte die Mutter; sonst würde ich mich geängstigt haben.

Aber Desirée dachte jetzt nicht mehr an ihre Puppe; sie warf sich Serge um den Hals und rief:

Denke dir, der blaue Vogel, den du mir geschenkt hast, ist mir entflohen.

Sie war nahe daran, bei diesen Worten zu weinen, und ihre Mutter, die geglaubt hatte, daß sie an diesen Verlust nicht mehr denke, zeigte ihr vergebens die Puppe, um sie zu beruhigen; das Mädchen nahm den Bruder bei dem Arme und zog ihn in den Garten fort mit den Worten:

Komm, ich will es dir zeigen.

Serge, der stets gefällig war, ging mit, wobei er sie zu trösten suchte. Desirée führte ihn zu einem kleinen Gewächshaus, vor dem auf der Erde ein kleiner Vogelkäfig stand. Hier zeigte sie ihm, wie der Vogel in dem Augenblicke entfloh, als sie die Türe des Bauers öffnete, um zwei Vögel, die raufen wollten, auseinanderzubringen.

Nun, sagte Octave, der sich auf das Geländer der Terrasse gesetzt hatte, das ist doch ganz natürlich: sie greift immer in dem Käfig herum, schaut, wie sie gebaut sind, was sie in der Kehle haben, daß sie so singen; neulich trug sie die Vögel einen ganzen Nachmittag in der Tasche herum, damit sie warm bleiben.

Octave! rief Martha vorwurfsvoll, laß doch das arme Kind in Ruh'!

Desirée hatte nicht gehört; sie erzählte Serge lang und breit, auf welche Weise der Vogel entkommen war.

Schau, so ist er herausgekommen; dann flog er dort hinüber und setzte sich auf den Apfelbaum des Herrn Rastoil; von dort flog er da hinüber auf den Pflaumenbaum, kam dann wieder zurück und schwirrte über meinen Kopf hinweg zu den großen Bäumen der Unterpräfektur hinüber, wo ich ihn aus den Augen verlor – für immer.

Die Kleine weinte.

Vielleicht kommt er doch noch zurück, meinte Serge.

Glaubst du wirklich? ... Weißt du, ich möchte die anderen Vögel in eine Schachtel tun und den Käfig die ganze Nacht offen stehen lassen.

Octave lachte. Martha aber rief das Mädchen zu sich und gab ihr die Puppe, die prächtig ausgefallen war: sie hatte einen steifen Rock, den Kopf bildete ein Stöpsel aus Stoff und die Arme waren an den Schultern festgenäht. Desirée freute sich ungemein darüber und setzte sich, ohne weiter an den Vogel zu denken, auf den Schemel, und herzte und küßte die Puppe in kindlicher Freude.

Serge stand neben seinem Bruder; Martha beugte sich wieder über ihren Strumpf.

Nun, fragte sie, wie hat die Musik gespielt?

Ja, sie spielt jeden Donnerstag, erwiderte Octave. Du solltest doch auch einmal mitgehen; die ganze Stadt ist dort: die Fräulein Rastoil, Frau von Condamin, Herr Paloque, die Frau und Tochter des Bürgermeisters. Warum gehst du nicht auch hin?

Martha sah auf und erwiderte leise:

Ihr wißt doch, Kinder, daß ich nicht gern ausgehe. Hier habe ich meine Ruhe; außerdem kann Desirée nicht allein bleiben.

Octave wollte sprechen, aber ein Blick auf seine Schwester hieß ihn schweigen. Er pfiff leise vor sich hin, sah auf die Bäume der Präfektur hinüber und betrachtete dann aufmerksam die Apfelbäume des Herrn Rastoil, hinter denen soeben die Sonne unterging. Serge zog ein Buch aus der Tasche und las aufmerksam darin, so daß in dem fahlen Lichte, das sich allmählich auf die Terrasse herabsenkte, alle still waren. Martha arbeitete in dieser friedlichen Ruhe des Abends an ihrem Strumpfe weiter und blickte zeitweilig auf ihre Kinder.

Verspätet sich denn heute jeder? sagte sie nach einigen Augenblicken. Es ist schon beinahe zehn Uhr und euer Vater ist noch nicht da ... Ich glaube, er ist auf Tulettes zu gegangen.

Da ist es freilich nicht zu verwundern, erwiderte Octave ... die Bauern von Tulettes lassen ihn nicht sogleich fort, wenn sie ihn einmal haben ... Handelt es sich um einen Weinkauf?

Ich weiß nicht, versetzte Martha. Ihr wißt, er spricht nicht gern von seinen Geschäften.

Wieder wurde es in diesem Kreise still. In dem Speisezimmer, dessen Fenster auf die Terrasse zu geöffnet war, deckte soeben die alte Rosa den Tisch, wobei sie mit den Tellern und dem Eßzeug klapperte. Sie schien nicht gut gelaunt zu sein, denn bald stieß sie die Stühle mit den Füßen weiter, bald brummte sie vor sich hin, bald sah sie zur Haustüre hinaus« nach dem Präfekturplatz hinunter. Als sie einige Minuten so gewartet hatte, trat sie auf die Freitreppe hinaus und rief:

Kommt Herr Mouret nicht zum Essen?

O ja, Rosa, warten Sie nur! erwiderte Martha ruhig.

So muß alles verbrennen. Es ist unrecht gehandelt! Wenn der Herr so lange wegbleiben will, sollte er es doch sagen ... Mir ist es freilich gleich, aber das Essen wird nicht zu genießen sein.

Glaubst du, Rosa? sagte plötzlich jemand ruhig hinter ihr. Wir essen es aber doch.

Mouret war heimgekehrt. Rosa drehte sich um und sah ihrem Herrn in das Gesicht, als wolle sie losbrechen; aber da sie dieser ruhig mit einem gewissen Zug spießbürgerlicher Schelmerei anblickte, fand sie gar keine Worte und ging hinaus. Mouret begab sich auf die Terrasse und ging daselbst eine Weile herum, ohne sich zu setzen; dann trat er auf Desirée zu, deren Wange er streichelte und die ihm zulächelte. Martha hatte zuerst aufgeblickt; als sie aber ihren Gatten sah, begann sie ihre Handarbeit in das Nähtischchen zu legen.

Bist du nicht müde? fragte Octave mit einem Blick auf die staubbedeckten Schuhe des Vaters.

O ja, ein wenig, erwiderte Mouret, ohne weiter ein Wort von dem langen Wege zu sagen, den er zu Fuße gemacht hatte.

Plötzlich sah er inmitten des Gartens eine Hacke und einen Rechen liegen, die die Kinder dort mußten vergessen haben.

Warum verwahrt man nicht die Geräte? rief er. Habe ich es nicht schon hundertmal gesagt? Wenn ein Regen kommt, rosten sie.

Er ereiferte sich nicht weiter, sondern ging in den Garten, holte die Geräte und lehnte sie sorgsam an das kleine Treibhaus. Als er wieder auf die Terrasse hinaufging, sah er sich nach allen Seiten um, ob alles im Garten in Ordnung sei.

Lernst du deine Aufgabe? fragte er Serge, der noch immer in seinem Buche las.

Nein, lieber Vater, erwiderte das Kind. Es ist ein Buch, das mir der Abbé Bourrette geliehen hat; es ist der Bericht über die Missionen in China.

Mouret blieb vor seiner Frau stehen.

War niemand da? fragte er.

Nein, niemand, erwiderte sie sehr überrascht.

Er wollte noch etwas sagen, besann sich aber eines anderen; einen Augenblick blieb er noch stehen, dann trat er auf die Treppe und rief:

Nun, Rosa, wie ist es denn mit dem verbrannten Essen?

Gar nichts ist, rief sie zornig aus der Küche heraus. Jetzt ist alles wieder kalt. Sie müssen warten!

Mouret lachte, während er auf seine Familie schielte; der Zorn der Alten schien ihn zu belustigen. Dann erregten die Obstbäume des Nachbars seine Aufmerksamkeit.

Es ist wirklich auffallend, sagte er leise, welch prächtige Birnen dieses Jahr Herr Rastoil hat.

Martha war seit einigen Augenblicken besonders aufgeregt und schien eine Frage auf den Lippen zu haben. Endlich kam sie ängstlich damit heraus.

Hast du heute jemanden erwartet?

Ja und nein, gab er zur Antwort und ging wieder auf und ab.

Du hast vielleicht den zweiten Stock vermietet.

Erraten!

Nach einer kurzen Verlegenheitspause sagte er in ruhigem Tone:

Bevor ich heute früh nach Tulettes aufbrach, ging ich zu dem Abbé Bourrette. Er hatte es sehr eilig, und ich schloß den Handel ab. Ich weiß, es ist dir nicht angenehm; aber wenn du so recht darüber nachdenkst, kannst du doch keine Einwendungen machen. Der zweite Stock nützt uns gar nichts und gerät in Verfall. Das Obst, das wir in den Zimmern dort aufbewahren, verbreitet eine Feuchtigkeit, die alle Tapeten loslöst ... Weil ich gerade daran denke, vergiß nicht, das Obst aus den Zimmern fortschaffen zu lassen, denn unser Mieter kann jeden Augenblick eintreffen.

Und wir lebten hier so ruhig, versetzte Martha leise.

Ach was, ein Priester macht uns keine Umstände. Er lebt für sich und wir für uns. Diese Schwarzröcke verkriechen sich, wenn sie ein Glas Wasser trinken wollen. Du weißt doch, wie gern ich die Leute habe! Die meisten sind nur Tagediebe! ... Ich habe die Wohnung nur vermietet, weil ich einen Priester gefunden habe. Bei diesen Leuten braucht man sich wegen des Zinses keine Sorgen zu machen, und dann führen sie ein so ruhiges Leben, daß man sie kaum den Schlüssel in das Schloß stecken hört.

Martha war fassungslos. Sie sah sich um, betrachtete das glückliche Haus, den schönen Garten, der im Dämmerlichte vor ihr ausgebreitet lag, die Kinder, kurz das stille Glück, das dieser enge Winkel umschloß.

Weißt du, wer dieser Priester ist? fragte sie.

Nein, aber der Abbé Bourrette hat in seinem Namen gemietet ... Ich weiß nur, daß er Faujas heißt, Abbé Faujas, und daß er aus der Diözese Besançon kommt. Gewiß hat er sich mit seinem Pfarrer nicht vertragen und ist deshalb hierher an die Kirche Saint-Saturnin als Vikar versetzt. Vielleicht ist er mit unserem Bischof Rousselot bekannt. Das geht uns alles aber nichts an ... Ich verlasse mich in dieser Sache auf den Abbe Bourrette.

Aber Martha war noch immer nicht beruhigt und setzte diesmal ihren Kopf auf, was sonst nur höchst selten bei ihr vorkam.

Du hast recht, sagte sie nach kurzem Schweigen, der Abbé ist ein würdiger Herr. Nur kann ich mich erinnern, daß er, als er sich die Wohnung ansah, mir sagte, er kenne den Mann nicht, in dessen Namen er zu mieten habe. Das sei so ein Auftrag, wie er unter benachbarten Priestern häufig vorkomme ... Du hättest denn doch nach Besançon schreiben und Erkundigung einziehen sollen, damit man weiß, wen man in das Haus bekommt.

Mouret wollte nicht böse werden.

Der Teufel wird es nicht sein, erwiderte er lächelnd ... Du zitterst ja förmlich. Für so abergläubisch habe ich dich nicht gehalten. Du wirst doch nicht auch an die Dummheit glauben, daß Priester Unglück ins Haus bringen sollen? Sie bringen zwar auch kein Glück; sie sind eben Menschen wie alle anderen ... Du wirst ja sehen, wenn dieser Abbé hier ist, ob sein Talar mir Furcht einjagt.

Nein, abergläubisch bin ich nicht, das weißt du, erwiderte sie leise. Ich mache mir nur Sorgen.

Er unterbrach sie mit heftiger Gebärde.

Jetzt ist es aber bald genug. Ich habe vermietet; reden wir nicht mehr davon!

Mit dem zufriedenen Lächeln eines Mannes, der glaubt, ein gutes Geschäft gemacht zu haben, fügte er hinzu:

Das Beste ist dabei, daß ich den zweiten Stock für hundertundfünfzig Franken vermietet habe ... So kommen jetzt jedes Jahr hundertundfünfzig Franken mehr ins Haus.

Martha machte keine Einwendungen mehr; nur ihre Hände zog sie krampfhaft zusammen und drückte sie dann leise gegen die Augen, als wolle sie die Tränen zurückhalten. Sie schielte nach ihren Kindern hin, die von diesem Streit nichts gehört zu haben schienen, da sie ohne Zweifel an solche Szenen schon gewöhnt waren, in denen die spöttische Derbheit ihres Vaters sich gefiel.

Wenn Sie jetzt essen wollen, können Sie hereinkommen, rief Rosa und trat auf die Freitreppe hinaus.

Schön! Kinder, die Suppe steht auf dem Tische! rief Mouret heiter ohne jeden Anflug von übler Laune.

Die Familie stand auf. Desirée, die sich bis jetzt ganz ruhig verhalten hatte, wurde dadurch, daß sich alle erhoben, neuerdings an ihren Verlust erinnert. Sie warf sich an den Hals ihres Vaters und rief:

Papa, mir ist ein Vogel entflohen.

Ein Vogel, mein Kind? Wir fangen ihn wieder.

Dann herzte und küßte er sie; aber er mußte sich auch den Käfig ansehen. Als er mit dem Kinde zurückkam, waren Martha und seine beiden Söhne schon in dem Speisezimmer. Die Strahlen der untergehenden Sonne brachen sich an den Porzellantellern, den Trinkbechern der Kinder und dem weißen Tischtuche. Das Zimmer war warm und anheimelnd mit dem grünen Garten im Hintergrunde.

Als Martha, die sich in diesem friedlichen Räume wieder beruhigt hatte, den Deckel von der Suppenschüssel nahm, ließen sich auf dem Korridor Schritte vernehmen. Rosa kam bestürzt hereingelaufen und meldete stotternd:

Gnädiger Herr! Der Abbé Faujas ist draußen!

Zweites Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

Mouret machte eine ärgerliche Gebärde, denn er hatte seinen Mieter erst für übermorgen erwartet. Er stand rasch auf, doch der Abbé erschien schon an der Türe. Es war ein großer, starker Mann mit viereckigem Gesicht, breit ausgeprägten Zügen und fahler Farbe. Hinter ihm stand eine ältliche Frau, die ihm auffallend ähnelte, aber kleiner war und rohere Züge hatte. Als die Ankömmlinge den gedeckten Tisch erblickten, machten beide eine zögernde Bewegung und wichen zurück, ohne aber sich zu entfernen. Die hohe Gestalt des Priesters warf einen dunklen Schatten an die mit Kalk weißgetünchte, helle Wand.

Verzeihen Sie, daß wir stören, sagte er zu Mouret. Wir kommen von dem Abbé Bourrette; er hat Sie doch in Kenntnis gesetzt?

Durchaus nicht, rief Mouret. Der Abbé macht immer solche Streiche! Er schwebt immer in höheren Sphären. Noch heute früh sagte er mir, Sie würden erst in zwei Tagen eintreffen ... Jetzt sind Sie aber da und müssen sich einrichten, so gut es eben geht.

Der Abbé Faujas entschuldigte sich. Er hatte eine tiefe Stimme mit sanftem Tonfall. Er sei wirklich trostlos, zu einer solch ungelegenen Stunde gekommen zu sein. Nachdem er in wenigen, aber gewählten Worten sein Bedauern ausgedrückt hatte, wandte er sich um und bezahlte den Gepäckträger. Seine großen, dicken Hände zogen aus einer Falte seines Talars eine Börse, von der man nur die Ringe bemerkte. Er wühlte einen Augenblick vorsichtig gesenkten Hauptes darin herum und befühlte die Münzen, darauf entfernte sich der Träger, ohne daß man gesehen hätte, was ihm gegeben war. Der Abbé sagte dann höflich:

Ich bitte Sie, mein Herr, sich nicht stören zu lassen ... Ihre Dienerin kann mir ja die Wohnung zeigen und mein Gepäck hier mit hinauftragen.

Mit diesen Worten bückte er sich und faßte den Griff eines kleinen hölzernen Koffers, der durch Blechbeschläge geschützt war und an den Seiten eine Reparatur durch eine quer befestigte Latte erkennen ließ. Mouret suchte mit erstaunten Blicken das übrige Gepäck des Priesters, bemerkte aber nur einen großen Handkorb, den die Frau krampfhaft vor sich in den Händen hielt und trotz ihrer Ermüdung nicht auf den Boden setzen wollte. Da der Deckel ein wenig emporstand, sah man deutlich neben einiger Wäsche einen in Papier eingewickelten Kamm und den Hals einer schlecht verkorkten Flasche.

Lassen Sie nur stehen, sagte Mouret und stieß leicht mit dem Fuße an den Koffer. Er ist nicht schwer, Rosa kann ihn ganz leicht allein hinauftragen.

Er dachte gar nicht daran, welche Verachtung eigentlich in seinen Worten lag. Die alte Frau sah ihn mit ihren schwarzen Augen scharf an, dann ließ sie ihre Blicke wieder über den Tisch gleiten, den sie beobachtete, seitdem sie da war; mit eingekniffenen Lippen unterzog sie jeden Gegenstand einer genauen Prüfung. Sie hatte noch kein Wort gesprochen. Abbé Faujas ließ es schließlich doch zu, daß der Koffer hinaufgetragen werde. In dem gelben Staube der Sonnenstrahlen, die durch die Türe hereinfielen, erschien sein abgenützter Talar rötlich; und die Säume zeigten deutliche Ausbesserungen. Trotz der Reinlichkeit sah das Priesterkleid so abgenutzt, so ärmlich aus, daß sich Martha, die bis jetzt sitzen geblieben war, voll Unruhe erhob. Der Abbé, der nur einen flüchtigen Blick auf sie geworfen hatte, sah sie doch aufstehen, ohne daß er sie anzusehen schien.

Ich bitte Sie, sagte er noch einmal, sich nicht stören zu lassen. Es wäre uns sehr unangenehm, wenn Sie um unseretwillen vom Essen aufstehen sollten.

Gut, erwiderte Mouret, der Hunger hatte, Rosa wird Sie hinaufführen. Verlangen Sie von ihr alles, was Sie brauchen ... Richten Sie sich ganz so ein, wie es Ihre Bequemlichkeit verlangt.

Der Abbé grüßte und ging schon auf die Treppe zu, als Martha sich ihrem Gatten näherte und leise sagte:

Aber du vergißt ...

Was denn? fragte er, als er sah, daß sie zögerte.

Das Obst, du weißt es doch.

Richtig! Du hast recht. Es ist ja Obst oben! rief er bestürzt aus.

Als der Abbé sich mit einem fragenden Blicke umwandte, sagte Mouret zu ihm:

Es ist wahrhaftig ärgerlich. Abbé Bourrette ist gewiß ein würdiger Mann, nur ist es unangenehm, daß Sie ihn mit dieser Angelegenheit betraut haben ... Er hat nicht für zwei Pfennige Überlegung ... Wenn wir es gewußt hätten, würden wir alles vorbereitet haben. Jetzt müssen wir aber erst eine Räumung vornehmen ... Sie sehen ein, daß wir die Zimmer nicht ganz leer stehen lassen konnten, und so haben wir denn auf dem Fußboden unsere ganze Obsternte ausgebreitet: Feigen, Äpfel, Wein ...

Der Priester konnte trotz seiner großen Höflichkeit seine Überraschung nicht verbergen.

Es wird nicht lange dauern, fuhr Mouret fort. Wollen Sie sich nur zehn Minuten gedulden, Rosa ist gleich damit fertig, Ihre Stuben zu räumen.

Auf dem Gesichte des Abbés zeigte sich eine auffallende Unruhe.

Die Wohnung ist möbliert, nicht wahr? fragte er.

Nein, es ist kein einziges Möbel darin. Wir haben sie nie bewohnt.

Jetzt verlor der Priester seine Ruhe. In den grauen Augen leuchtete es auf und er erwiderte in heftigem Tone:

Was? Ich habe doch in meinem Briefe nur eine möblierte Wohnung verlangt. In meinem Koffer konnte ich mir doch nicht Möbel mitbringen.

Dieser Bourrette ist ein fürchterlicher Mensch! rief Mouret erregt. Er war hier, sah sicher auch die Äpfel; denn er nahm einen in die Hand und sagte noch, daß er nie so schöne gesehen habe; dann erklärte er, daß ihm alles gefalle und daß er die Wohnung miete.

Abbé Faujas hörte nichts mehr. In seinen Wangen stieg die Zornesröte empor und mit zitternder Stimme sagte er zu der Frau:

Mutter, hörst du? Die Wohnung ist nicht möbliert.

Die alte Frau hatte soeben das Erdgeschoß mit einigen flüchtigen Schritten besichtigt, ohne ihren Korb wegzustellen.

Sie war bis zur Küchentüre gekommen, hatte einen Blick hineingeworfen, war dann zur Freitreppe gelangt, von wo sie gleichsam den Garten in Besitz nahm. Aber am meisten interessierte sie das Speisezimmer und der gedeckte Tisch, auf dem die dampfende Suppe stand.

Ihr Sohn sagte nochmals:

Hörst du, Mutter? Wir müssen ins Gasthaus gehen.

Sie sah ihn an, ohne eine Antwort zu geben. Aber ihre Gesichtszüge zeigten deutlich, daß sie nicht gesonnen sei, dieses Haus zu verlassen, in dem sie schon alle Winkel kannte. Sie zuckte mit den Achseln, während ihre Augen von der Küche in den Garten und von dem Garten in den Speisesaal schweiften.

Jetzt wurde Mouret unruhig, denn es entging ihm nicht, daß weder die Mutter noch der Sohn gesonnen sei, vom Platze zu weichen.

Unglücklicherweise, sagte er, haben wir keine Betten. Auf dem Dachboden steht zwar ein Gurtbett, mit dem sich die Frau bis morgen begnügen könnte, aber ich wüßte wirklich nicht, wohin ich den Herrn Abbé legen sollte.

Jetzt öffnete Frau Faujas den Mund und erwiderte mit heiserer Stimme:

Mein Sohn legt sich auf das Gurtbett ... Ich begnüge mich mit einer Matratze auf der Erde in einem Winkel.

Der Abbé nickte zustimmend mit dem Kopfe. Mouret wollte widersprechen und suchte nach einem anderen Auskunftsmittel, aber vor den zufriedenen Blicken seiner neuen Mieter schwieg er und wechselte nur mit seiner Frau einen Blick des Erstaunens.

Morgen früh, sagte er in seinem spöttischen Tone, können Sie sich dann einrichten, wie Sie wollen. Rosa schafft das Obst weg und macht die Betten. Wenn Sie unterdessen auf der Terrasse warten wollen ... Kinder, zwei Stühle, schnell!

Die Kinder waren die ganze Zeit seit der Ankunft des Abbés ruhig an dem Tische sitzen geblieben. Der Priester wollte sie nicht bemerken, aber Frau Faujas hatte ihnen einen stechenden Blick zugeworfen, als wolle sie mit einem Schlage diese jungen Köpfe durchdringen. Als die Kinder die Worte ihres Vaters vernahmen, sprangen sie alle auf und trugen Stühle hinaus.

Die alte Frau setzte sich nicht. Als Mouret sich umdrehte, bemerkte er sie vor einem halb offenen Fenster des Salons stehen und ihre Besichtigung fortsetzen ruhig und behaglich wie eine Person, die eine verkäufliche Besitzung besichtigt. In dem Augenblicke, als Rosa den Handkoffer aufhob, trat sie wieder in das Vorderhaus und sagte:

Ich helfe Ihnen.

Mit diesen Worten ging sie hinter der Dienerin die Treppe hinauf.

Der Priester ließ sie ruhig gewähren; er lächelte den drei Kindern zu, die vor ihm standen. Sein Gesicht konnte, wenn er wollte, trotz der Härte und den rohen Zügen um den Mund ungemein mild erscheinen.

Ist dies Ihre ganze Familie? fragte er Martha, die näher getreten war.

Ja, mein Herr, erwiderte sie, vor dem scharfen Blicke des Mannes sich befangen fühlend.

Die beiden Söhne werden bald Männer sein, fuhr er fort ... Haben Sie Ihre Studien schon beendet, fragte er Serge.

Mouret antwortete selbst:

Er ist schon fertig, obwohl er der Jüngere ist. Wenn ich sage »fertig«, so will ich damit sagen, daß er die Reifeprüfung hinter sich hat; jetzt besucht er das Kollegium wieder, um ein Jahr Philosophie zu hören. Er ist der Gescheite in der Familie ... Der andere, der Ältere, der große Tölpel da, taugt nicht viel. Er ist schon zweimal bei der Prüfung durchgefallen; ein Nichtsnutz, der nur immer an tolle Streiche denkt.

Octave hörte diese Vorwürfe lächelnd an, während Serge bei seiner Belobung den Kopf senkte. Faujas schien sie noch einen Augenblick still zu prüfen, dann trat er auf Desirée zu und sein Gesicht nahm wieder einen zärtlichen Ausdruck an.

Darf ich Ihr Freund sein, Fräulein? fragte er.

Sie gab keine Antwort, sondern verbarg, fast erschreckt, das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter. Diese drückte sie noch mehr an sich und legte den Arm um sie.

Sie müssen sie entschuldigen, sagte die Mutter ernst; sie ist ein Kind geblieben ... Ihr Verstand ist schwach, und wir plagen sie nicht mit dem Lernen. Sie ist jetzt vierzehn Jahre alt, und ihre ganze Freude bilden nur die Tiere.

Das Mädchen beruhigte sich unter den Liebkosungen der Mutter, sah hinter ihr auf und lächelte; dann sagte sie:

Ich möchte wohl, daß Sie mein Freund seien ... Nur dürfen Sie den Fliegen nichts zuleide tun.

Da alle bei diesen Worten lachten, fuhr sie ernst fort:

Octave tötet immer die Fliegen; das ist schlecht von ihm.

Der Abbé Faujas hatte sich niedergesetzt und schien sehr müde zu sein. Einen Augenblick gab er sich der warmen Ruhe hin, die auf dieser Terrasse lag, und ließ seine Blicke über den Garten und die Bäume der benachbarten Besitzungen schweifen. Diese tiefe Ruhe in dem stillen Winkel des Städtchens überraschte ihn, und die Schatten des Ernstes legten sich auf sein Antlitz.

Hier ist es schön, sagte er leise.

Darauf verfiel er wie geistesabwesend in ein tiefes Schweigen, so daß er erschreckt zusammenfuhr, als Mouret zu ihm sagte:

Wenn Sie erlauben, mein Herr, gehen wir jetzt zu Tische.

Auf einen Blick der Frau hin fügte er hinzu:

Ich bitte das gleiche zu tun und einen Teller Suppe anzunehmen. Auf diese Weise brauchen Sie nicht in das Gasthaus zu gehen. Bitte ... machen Sie keine Umstände.

Ich danke Ihnen herzlichst, aber wir haben gar keinen Hunger, erwiderte der Abbé ungemein höflich, so daß eine zweite Aufforderung ganz unnütz war.

Hierauf begaben sich die Mouret wieder in das Speisezimmer, wo sie sich zu Tische setzten. Martha teilte die Suppe aus, man klapperte lustig mit den Löffeln, und die Kinder plauderten. Desirée lachte hell auf, da ihr der Vater eine Geschichte erzählte voller Freude, daß es endlich ans Essen ging. Unterdessen saß der Abbé unbeweglich auf der Terrasse und schien gar nichts zu hören. Als die Sonne unterging, nahm er den Hut ab, weil ihm zu heiß war. Martha, die bei dem Fenster saß, sah seinen großen, dicken Kopf mit kurzen Haaren, die an der Schläfe schon ergrauten. Ein letzter roter Sonnenstrahl beleuchtete diesen rauhen Soldatenschädel, auf dem sich die Tonsur wie die Narbe von einem Keulenschlage ausnahm. Dann verschwand das Sonnenlicht; die Schatten des Abends hüllten den Priester ein, und er war nur mehr ein schwarzes Profil in dem Aschgrau der Dämmerung.

Martha wollte Rosa nicht rufen und holte deshalb selbst eine Lampe, worauf sie den ersten Gang auftrug. Als sie aus der Küche kam, begegnete sie am Fuße der Treppe einer Frau, die sie zuerst nicht erkannte. Es war Frau Faujas, die jetzt ein weißes Häubchen auf hatte und in ihrem wollenen Kleide, das über der Brust von einem rückwärts zusammengebundenen gelben Tuche bedeckt war, ganz wie eine Magd aussah. Sie keuchte noch von der soeben vollbrachten Arbeit, als sie in ihren plumpen Schuhen über den Korridor dahinschlürfte.

Sind Sie fertig, Madame? fragte Martha lächelnd. Ja, erwiderte sie, im Handumdrehen war alles gemacht. Dann ging sie die Freitreppe hinunter und rief ihrem Sohne zu:

Ovide! Liebes Kind! Willst du nicht hinaufgehen? Es ist alles bereit!

Sie mußte ihren Sohn bei der Schulter berühren, um ihn aus seinen Träumereien zu reißen. Da es kühl wurde und ihn schon fröstelte, folgte er ihr, ohne ein Wort zu sagen. Als er an der Tür des Speisezimmers vorüberging, das in dem Lichte der Lampe erstrahlte und das Geplauder der Kinder ertönte, rief er hinein:

Gestatten Sie mir, Ihnen nochmals zu danken und Sie für unsere Störung um Entschuldigung zu bitten ... Wir sind ganz trostlos ...

Aber gar keine Ursache! Gar keine Ursache! rief Mouret. Nur wir müssen bedauern, daß wir Sie für diese Nacht nicht besser unterbringen können.

Der Priester grüßte und Martha sah neuerdings diesen starren Adlerblick, der sie schon das erstemal beunruhigt hatte. Es kam ihr vor, als leuchte es in den Augen dieses Mannes plötzlich auf gleich Lampen, die nachts an den schlafenden Häusern vorbeigetragen werden.

Der Herr Pfarrer scheint recht feurige Augen zu haben, sagte Mouret spöttisch, als die beiden hinaufgegangen waren.

Ich halte sie für nicht sehr glücklich, erwiderte Martha leise.

Großen Reichtum bringt er nicht mit ... Sein Koffer ist federleicht. Ich hätte ihn mit dem kleinen Finger aufheben können.

Doch er wurde von Rosa unterbrochen, die soeben über die Treppe heruntergelaufen kam, um all das Merkwürdige zu berichten, das sie gesehen.

Die kann arbeiten! sagte sie, indem sie sich an den Tisch stellte, wo die Herrschaft aß. Die Frau ist wenigstens fünfundsechzig Jahre alt. Das sieht man ihr aber kaum an. Sie arbeitet wie ein Pferd!

Hat sie dir beim Wegräumen des Obstes geholfen? fragte Mouret neugierig.

Freilich, gnädiger Herr. So trug sie das Obst in ihrer Schürze weg; dabei nahm sie so viel, daß sie zu reißen drohte. Ich sagte zu mir: »Das Zeug muß reißen,« aber es riß doch nicht, denn der Stoff ist so gut wie der meinige. Wir sind wenigstens zehnmal hin und her gegangen, und ich spürte dann kaum mehr meine Arme. Ihr war es aber immer noch zu langsam, und sie zankte, nein, sie fluchte sogar, mit Respekt zu sagen.

Mouret schienen diese Worte zu belustigen.

Und die Betten? fragte er weiter.

Die Betten hat sie gemacht ... Die muß man sehen, wie sie einen Strohsack aufschüttelt! Sie packt ihn bei einem Ende an und wirft ihn wie eine Feder in die Luft ... Dabei ist. sie aber ungemein genau ... Sie machte das Bett, als wolle sie das liebe Jesukindlein hineinlegen ... Von vier Decken legte sie drei auf das Bett. Alle beiden Polster gab sie ihrem Sohne; sie wollte keinen haben.

So schläft sie auf der Erde?

In einem Winkel wie ein Hund. Sie warf eine Matratze auf den Fußboden in dem anderen Zimmer, und erklärte, sie schlafe dort besser als im Paradiese. Ich konnte sie durchaus nicht dazu bringen, sich ein besseres Lager zu machen. Sie sagte, es friere sie nie, und sie habe einen viel zu dicken Schädel, um die Fliesen des Fußbodens zu fürchten ... Ich brachte ihnen dann Wasser und Zucker, wie es die gnädige Frau mir anbefohlen hatte ... Kurz und gut, solch drollige Leute habe ich noch nicht gesehen.

Rosa bediente weiter; die Mouret ließen sich diesen Abend mit dem Essen Zeit und kamen immer wieder auf die Mieter zu sprechen. In ihrer Lebensweise, die regelmäßig wie eine Uhr war, mußte die Ankunft der Fremden ein großes Ereignis sein. Sie sprachen von ihnen wie von einer Katastrophe mit jener Weitschweifigkeit, mit der man in der Provinz spricht, um die langen Abende totzuschlagen. Mouret besonders hatte seine Freude an dem kleinstädtischen Tratsch und sagte immer wieder bei dem Nachtisch mit der zufriedenen Miene eines glücklichen Menschen:

Besançon hat Plassans kein hübsches Geschenk damit gemacht ... Habt ihr rückwärts seinen Talar gesehen, als er sich umdrehte? ... Es soll mich sehr wundern, ob die Betschwestern einem solchen schäbigen Rocke nachlaufen! Die Betschwestern haben nur hübsche Pfarrer lieb!

Seine Stimme ist aber mild, sagte Martha, die nachsichtig war.

Aber nicht, wenn er in Aufregung gerät, versetzte Mouret. Hast du nicht bemerkt, wie er sich ärgerte, als er vernahm, daß die Wohnung nicht möbliert sei? Er ist ein roher Mensch. Ich bin nur neugierig, wie er sich morgen einrichtet – vorausgesetzt, daß er zahlt. Wenn nicht, so halte ich mich nur an den Abbé Bourrette.

Die Familie war wenig fromm. Selbst die Kinder machten sich über den Abbé und seine Mutter lustig. Octave ahmte die alte Frau nach, wie sie den Hals vorstreckte, um in jedes Zimmer hineinsehen zu können, worüber Desiree nicht wenig lachte.

Serge, der ernster war, nahm »diese armen Leute« in Schutz.

Sonst nahm Mouret immer um zehn Uhr, wenn er nicht eine Partie Piquet spielte, den Leuchter in die Hand und ging schlafen; aber heute hielt er sich noch um elf Uhr tapfer gegen den Schlaf. Desiree war schließlich eingeschlafen, mit dem Kopfe auf den Knien der Mutter liegend; auch die beiden Knaben waren schon in ihr Zimmer hinaufgegangen. Mouret plauderte immer noch mit seiner Frau.

Für wie alt hältst du ihn? fragte er plötzlich.

Wen? entgegnete Martha, die auch schon zu schlummern begann.

Nun, den Abbé! Für vierzig bis fünfundvierzig Jahre, nicht wahr? Schade, daß er die Kutte trägt! Er hätte einen schönen Soldaten abgegeben.

Fach einer kleinen Pause erging er sich mit lauter Stimme in Betrachtungen, die ihn ganz träumerisch machten:

Sie sind mit dem Zuge um 6 Uhr 45 Minuten angekommen und haben daher gerade noch Zeit gehabt, sich zu dem Abbé Bourrette zu begeben und dann hierherzukommen ... Ich wette, sie haben gegessen! Wir hätten sie ja sonst in das Gasthaus gehen sehen ... Ich möchte wirklich gern wissen, wo sie gespeist haben.

Rosa ging seit einigen Augenblicken in dem Speisezimmer hin und her und wartete, bis ihre Herrschaft schlafen ging; denn sie wollte die Türen und Fenster schließen.

Ich weiß, wo sie gegessen haben, sagte sie.

Mouret drehte sich erstaunt nach ihr um.

Ja, ich war wieder hinaufgegangen, um zu fragen, ob sie nichts brauchten; da sich in dem Zimmer nichts hören ließ, habe ich durch das Schlüsselloch geschaut.

Das schickt sich aber durchaus nicht, unterbrach Martha in strengem Tone. Sie wissen, Rosa, daß ich dies nicht leiden kann.

So laß sie doch, rief Mouret, der in jedem anderen Falle sie ebenfalls wegen ihrer Neugierde getadelt hätte. Sie haben also durch das Schlüsselloch geschaut?

Ja, gnädiger Herr, und zwar in guter Absicht.

Gewiß ... Was machten sie denn?

Nun, sie aßen, gnädiger Herr ... Sie aßen auf der Bettstatt. Die Alte hatte die Serviette ausgebreitet, und so oft sie aus der Weinflasche getrunken hatten, lehnten sie sie verkorkt wieder ans Kissen.

Aber was aßen sie denn?

Das weiß ich nicht genau. Es schien mir ein Stück Kuchen zu sein, der in ein Stück Zeitungspapier eingewickelt war. Sie hatten auch Äpfel neben sich liegen, aber so kleine, daß sie nach gar nichts aussahen.

Sie sprachen doch auch miteinander? Hast du das nicht gehört?

Nein, gnädiger Herr, sie sprachen nicht miteinander ... Und doch war ich fast eine Viertelstunde an der Türe ... Nein, sie redeten gar nichts, sondern aßen nur immer.

Martha stand auf und weckte Desiree; sie wollte sich auf ihr Zimmer begeben; die Neugierde ihres Mannes war ihr peinlich. Mouret entschloß sich nun auch, das gleiche zu tun, während die alte Rosa, die sehr fromm war, leise fortfuhr:

Der arme liebe Mann muß einen schrecklichen Hunger gehabt haben ... Seine Mutter gab ihm die größten Stücke und sah ihm mit Vergnügen zu, wie er einhieb ... Jetzt schläft er wenigstens in reinlichen Bettüchern, wenn der Obstgeruch ihn nicht daran hindert. Es riecht in dem Zimmer gar nicht gut. Sie wissen ja, Äpfel und Birnen haben einen scharfen Geruch ... Das ganze Zimmer ist leer, nur ein Bett steht in einer Ecke – ich würde mich fürchten, da oben zu schlafen.

Mouret hatte die Kerze in die Hand genommen, blieb einen Augenblick vor Rosa stehen und faßte die Ereignisse des Abends in dem spießbürgerlichen Ausruf zusammen:

Es ist ganz außerordentlich!

Dann folgte er seiner Frau, die er am Fuße der Treppe einholte. Sie schlief schon, während er noch immer auf die von oben kommenden Geräusche lauschte. Das Zimmer des Abbés lag gerade über dem seinigen. Nach einigen Augenblicken hörte er oben sachte das Fenster öffnen, was ihn nicht wenig interessierte. Er hob den Kopf von den Polstern und kämpfte tapfer gegen den Schlaf, da er gern wissen wollte, wie lange der Priester an dem Fenster bleibe. Aber der Schlaf war stärker; Mouret sank in die Kissen zurück, bevor er neuerdings das Knarren des Fensterflügels hören konnte.

Der Abbé Faujas sah oben in die dunkle Nacht hinaus.

Er blieb lange an dem Fenster stehen und war froh, daß er endlich allein war und ganz seinen Gedanken nachhängen konnte. Unter sich fühlte er den ruhigen Schlaf des Hauses, in dem er sich seit einigen Stunden befand, den reinen Atem der Kinder, die ruhigen Atemzüge Marthas und das regelmäßige Schnarchen Mourets. Es lag etwas wie Verachtung in der Bewegung, als er seinen Stiernacken aufrichtete und den Kopf vorstreckte, um bis an das Ende der in Schlaf gesunkenen Stadt zu sehen. Die großen Bäume des Gartens der Unterpräfektur bildeten eine dunkle Masse, und die Birnbäume des Herrn Rastoil starrten mit ihren dürren Ästen in die dunkle Nacht empor; hinter ihnen war ein Meer von Finsternis, dem nicht der leiseste Laut entstieg. Unschuldig wie ein Wiegenkind lag das Städtchen im Schlafe.

Faujas breitete mit spöttischem Trotz die Arme aus, als wolle er Plassans umfassen und es mit einem Drucke an seiner starken Brust zermalmen.

Und diese Dummköpfe lachten, sagte er leise, als sie mich durch ihre Straßen gehen sahen!

Drittes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

Am folgenden Morgen hatte Mouret nichts anderes zu tun, als seinen Mieter zu beobachten. Dieses Spionieren sollte künftig seine müßigen Stunden ausfüllen, die er zu Hause damit zubrachte, die herumliegenden Gegenstände zu ordnen, mit Frau und Kindern Händel zu suchen. Jetzt hatte er doch eine Unterhaltung, eine Beschäftigung, die ihm in sein tägliches Leben eine Abwechslung brachte. Er konnte die Priester nicht leiden, und doch interessierte ihn der erste Priester, der in sein Haus kam, außerordentlich, weil er etwas Geheimnisvolles, Unbekanntes, sogar Beunruhigendes an sich hatte. Obgleich sich Mouret auf den Freigeist aufspielte und gern ein Anhänger Voltaires sein wollte, flößte ihm doch dieser Abbé ein gewisses Erstaunen, eine gewisse spießbürgerliche Achtung ein, in die ein Zug von Neugierde sich mengte.

Da in dem zweiten Stocke nicht das geringste Geräusch zu vernehmen war, horchte Mouret aufmerksam auf der Treppe und wagte sich sogar auf den Dachboden hinauf. Als er langsam den Korridor entlang ging, glaubte er hinter der Türe ein Schlürfen von Pantoffeln zu hören, was ihn ungemein aufregte; er konnte aber nichts Sicheres sehen und hören und ging in den Garten hinunter und hielt sich in der Nähe der Laube auf, von wo er vergebens durch die Fenster erkennen wollte, was in den Zimmern vorging. Er bemerkte nicht einmal den Schatten des Abbés, denn seine Mutter hatte in Ermanglung von Vorhängen die Leintücher vor die Fenster gespannt.

Bei dem Frühstück schien Mouret sehr beunruhigt.

Sind denn die da oben tot? fragte er, während er den Kindern Brot abschnitt. Hast du sie nicht herumgehen hören, Martha?

Nein, ich habe nicht darauf geachtet.

Rosa rief aus der Küche:

Die sind schon lange fort; wenn sie immer noch gehen, müssen sie schon weit sein.

Mouret rief die Köchin und fragte sie nach allem aus.

Sie sind ausgegangen, gnädiger Herr. Zuerst die Mutter, dann der Pfarrer. Ich hätte sie nicht einmal gehört, so leise kamen sie die Treppe herunter; aber ich sah ihre Schatten an den Küchenwänden, als sie die Türe öffneten ... Ich sah auf die Straße hinaus ... Aber sie sind ungemein schnell gegangen.

Das ist eigentümlich ... Aber wo war ich denn zu der Zeit?

Ich glaube, der gnädige Herr war hinten im Garten bei der Laube.

Jetzt kam Mouret in eine schreckliche Laune. Er schimpfte auf die Priester, nannte sie alle Duckmäuser mit allerlei Machenschaften, in denen sich der Teufel nicht auskenne; und dabei zeigten sie eine solche lächerliche Schamhaftigkeit, daß noch niemand einen Priester sich habe waschen sehen. Schließlich bedauerte er, daß er dem Abbé, den er gar nicht kenne, die Wohnung vermietet habe.

Daran bist nur du schuld, sagte er zu seiner Frau, als er vom Tische aufstand.

Martha wollte Einwendungen erheben und ihn an ihr gestriges Gespräch erinnern, doch sie sah ihn nur an und schwieg. Aber er ging heute nicht aus, wie sonst seine Gewohnheit war, sondern begab sich in den Garten, kam nach kurzer Zeit wieder in das Speisezimmer und zog in heftigen Worten gegen die Unordnung los, die in dem ganzen Hause herrsche. Dann tadelte er Serge und Octave, die eine halbe Stunde zu früh in das Kolleg gegangen seien.

Geht Papa nicht fort? fragte Desirée leise ihre Mutter. Er ärgert uns nur, wenn er zu Hause bleibt.

Martha hieß sie schweigen. Endlich sprach Mouret von einem Geschäft, das er im Laufe des Tages abschließen wolle. Nicht einen Augenblick habe er Zeit! Nie könne er sich einen Tag zu Hause ausruhen, wenn er es gerade notwendig habe. Voll Unmut darüber, daß er fortgehen müsse und nicht weiter auf der Lauer bleiben könne, verließ er das Haus. Als er abends zurückkehrte, war er von einer fieberhaften Neugierde geplagt.

Nun, was ist mit dem Abbé? fragte er, noch ehe er den Hut abnahm.

Martha arbeitete wieder an ihrem Tischchen auf der Terrasse.

Der Abbé? wiederholte sie mit einiger Überraschung. Ach so, der Abbé ... Ich habe ihn nicht gesehen ... ich glaube, er hat sich schon eingerichtet. Rosa sagte mir, daß Möbel gekommen seien.

Das befürchtete ich eben, rief Mouret aus. Ich wäre gern da gewesen; – denn schließlich sind die Möbel meine Sicherstellung. Ich wußte ja, daß du dich nicht von deinem Sessel rühren werdest. Du bist eben nicht recht gescheit ... Rosa! Rosa!

Die Köchin kam heraus.

Man hat für die neuen Mieter Möbel gebracht?

Ja, gnädiger Herr, auf einem kleinen Wagen. Es war der Wagen des Möbelhändlers Bergasse. Schwer war er nicht. Frau Faujas ging hinter dem Wagen, und als sie die Balande-Straße herauffuhren, legte sie mit Hand an, um den Karren zu schieben.

Sie haben doch die Möbel gesehen? Haben Sie sie gezählt?

Gewiß, gnädiger Herr. Ich habe mich vor die Türe gestellt. Sie mußten jedes Stück an mir vorübertragen, was freilich Madame Faujas nicht recht war. Also hören Sie!... Zuerst trugen sie ein eisernes Bett hinauf, dann eine Kommode, zwei Tische, vier Stühle ... Das ist alles ... Aber ganz neu waren die Möbel nicht. Ich würde keine dreißig Taler dafür geben.

Aber sie hätten die Frau verständigen sollen, daß wir unter solchen Bedingungen die Wohnung nicht vermieten können ... Ich werde darüber sofort mit dem Abbé Bourrette sprechen.

Ärgerlich wollte er hinausgehen, als ihn Martha zurückhielt und ihm sagte:

Richtig, das habe ich ganz vergessen ... Sie haben die Miete für ein halbes Jahr vorausbezahlt.

Was? Sie haben gezahlt? stotterte er.

Ja, die alte Frau kam herunter und übergab mir dies hier.

Mit diesen Worten nahm sie aus der Lade ihres Arbeitstisches fünfundsiebzig Franken in lauter Fünffrankenstücken, die sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelt waren. Mouret zählte das Geld und brummte:

Wenn sie zahlen, können sie tun, was sie wollen ... Sonderbare Leute bleiben sie doch! Jeder Mensch kann nicht reich sein, das ist gewiß; aber wenn man ein armer Teufel ist, muß man sich nicht gar so verdächtig benehmen.

Ich wollte dir auch sagen, erwiderte Martha, als sie ihren Mann wieder beruhigt sah, daß die alte Frau mich fragte, ob wir ihr nicht das Gurtbett überlassen möchten. Ich habe ihr daraufhin gesagt, daß wir es nicht brauchen und daß sie es behalten könne, solange sie wolle.

Das war ganz gut; man muß sie sich verpflichten ... Ich habe dir schon gesagt: mich ärgert es am meisten an diesen Priestern, daß man nie weiß, was sie denken und was sie tun. Indes gibt es auch sehr ehrenwerte Leute unter ihnen.

Das Geld schien ihn ganz getröstet zu haben, denn er scherzte und machte sich über Serge lustig, der eben wieder in dem Buche »Missionen in China« las. Während des Essens schien er an die Leute im zweiten Stock nicht mehr zu denken. Als aber Octave erzählte, daß er den Abbé Faujas habe aus der Bischofresidenz kommen sehen, da konnte sich Mouret nicht mehr halten und nahm beim Nachtisch das gestrige Gespräch wieder auf. Aber er schämte sich doch ein wenig. Unter seiner Schwerfälligkeit eines ehemaligen Kaufmannes barg sich ein feiner Verstand; er hatte einen nüchternen Sinn und ein richtiges Urteil, das ihn oft bei allen Klatschereien der Stadt das passende Wort finden ließ.

Schließlich ist es nicht gut, die Nase in die Angelegenheiten anderer zu stecken, sagte er, als er schlafen ging ... Der Abbé kann machen, was er will. Es ist überhaupt langweilig, immer von diesen Leuten zu sprechen. Ich wasche meine Hände in Unschuld.

Acht Tage gingen dahin. Mouret hatte seine gewohnte Beschäftigung wieder aufgenommen. Er schlenderte im Hause herum, sprach mit den Kindern, ging nachmittags zum Zeitvertreib Geschäften nach, von denen er nie sprach, aß und schlief wie ein Mann, für den das Leben eine glatte Bahn ist, ohne Erschütterungen und ohne Überraschungen. In das Haus schien die alte Ruhe wieder eingezogen zu sein. Martha saß an ihrem gewöhnlichen Platze auf der Terrasse vor dem Nähtischchen; Desiree spielte neben ihr; die beiden Knaben brachten zu denselben Stunden dasselbe geräuschvolle Leben ins Haus; Rosa brummte jeden an, während der Garten und das Speisezimmer in Frieden lagen.

Du sieht, sagte Mouret zu seiner Frau, daß du im Irrtum warst, als du glaubtest, die neue Partei werde uns stören. Wir haben eigentlich jetzt eine größere Ruhe als früher, denn das Haus ist kleiner und daher noch friedlicher.

Manchmal sah er zu den Fenstern des zweiten Stockes hinauf, vor denen vom zweiten Tage an Vorhänge von grobem Kattun angebracht waren, deren Falten sich nie rührten. Ihr Aussehen war so keusch, steif und kühl wie das Linnenzeug einer Sakristei. Hinter ihnen schien das Schweigen und die Ruhe des Klosterlebens zu herrschen. Nur zeitweilig waren die Fenster halb offen und ließen durch die weißen Vorhänge den Schatten der hohen Decken erkennen. Aber vergebens lauerte Mouret, nie konnte er die Hand bemerken, die das Fenster öffnete und schloß; er hörte nicht einmal das Knarren der Fensterflügel. Kein menschlicher Laut kam aus dieser Wohnung. Im Verlaufe von acht Tagen hatte Mouret noch nicht ein einziges Mal den Abbé wiedergesehen, so daß dieser Mensch, der neben ihm wohnte, und dessen Schatten er nicht einmal bemerkte, ihm schließlich eine nervöse Unruhe einflößte. Trotz seiner Bemühungen, gleichgültig zu bleiben, fing er doch wieder an zu fragen, und begann eine förmliche Untersuchung.

Du bekommst ihn also nicht zu Gesicht? erkundigte er sich bei seiner Frau.

Ich glaube, daß ich ihn gestern sah, als er heimkehrte. Aber ich weiß es nicht genau ... Da seine Mutter immer schwarz gekleidet geht, kann auch sie es gewesen sein.

Auf seine weiteren Fragen erzählte sie ihm alles, was sie wußte:

Rosa behauptet, daß er jeden Tag ausgeht und sehr lange außen bleibt ... Die Mutter ist regelmäßig wie eine Uhr. Täglich kommt sie um sieben Uhr herunter, um ihre Einkäufe zu machen. Ihren Handkorb hat sie immer geschlossen und bringt in ihm alles, was sie braucht: Kohlen, Brot, Wein und andere Lebensmittel; denn man sieht nie, daß jemand ihnen etwas herbrächte ... Übrigens sind sie die Höflichkeit selbst. Rosa sagte, daß sie immer grüßen, sooft sie ihr begegnen. Aber zumeist hört Rosa sie gar nicht die Treppe herunterkommen.

Die müssen eine sonderbare Wirtschaft oben führen, erwiderte Mouret, den das Gehörte nicht befriedigte.

Als eines Abends Octave erzählte, daß er den Abbé in die Kirche Saint-Saturnin habe treten sehen, fragte der Vater, wie er gegangen sei, ob die Vorübergehenden ihm nachgeblickt hätten und was er in der Kirche zu tun gehabt hätte.

Du bist gar zu neugierig! rief der junge Mann lachend ... Schön nahm er sich mit seinem verschossenen, fast roten Talar am hellichten Tage nicht aus. Es entging mir nicht, daß er absichtlich an den Häusern entlang im Schatten ging, damit sein Talar ein bißchen schwarz aussehe ... Er geht sehr schnell, den Kopf hat er immer gesenkt ... Zwei Mädchen fingen an zu lachen, als er über den Platz ging. Er hob den Kopf und sah sie freundlich an; nicht wahr, Serge?

Dieser erzählte, daß er schon einigemal, als er aus dem Kolleg kam, den Abbé von weitem gesehen habe, wie er die Kirche verließ. Er geht durch die Straßen, meinte der junge Mann, ohne mit jemandem zu sprechen, scheint niemanden zu sehen und fühlt gewiß beschämt das höhnische Lächeln, das er allenthalben erregt.

Spricht man denn von ihm in der Stadt? fragte Mouret mit regem Interesse.

Mit mir hat niemand von dem Abbé gesprochen, erwiderte Octave.

O ja, sagte Serge, man spricht von ihm. Der Neffe des Abbé Bourrette erzählte mir, daß er nicht gern in der Kirche gesehen werden, denn man könne die fremden Priester nicht leiden. Dann sieht er auch gar so elend aus ... Wenn man sich an ihn gewöhnt hat, wird man von dem armen Manne nicht mehr sprechen. In der ersten Zeit will man aber doch wissen, welche Bewandtnis es mit ihm habe.

Martha riet dann ihren Söhnen, sich nicht ausfragen zu lassen, wenn man von ihnen etwas Näheres über den Abbé erfahren wolle.

Ach was! Das können sie ruhig sagen, rief Mouret aus. Was wir von ihm wissen, tut ihm nichts.

Von diesem Augenblicke an machte er seine Kinder, ohne etwas Schlechtes zu denken, zu Spionen, die er an die Fersen des Abbé heftete. Octave und Serge mußten ihm alles sagen, was in der Stadt von ihm gesprochen wurde; ja noch mehr, sie erhielten den Auftrag, dem Priester zu folgen, wenn sie im begegneten. Aber diese Quelle war schnell versiegt. Das Gerede, das durch die Ankunft des fremden Priesters veranlaßt wurde, verstummte bald. Die Stadt kümmerte sich um den »armen Mann mit dem schäbigen Talar« nicht mehr und beachtete ihn einfach nicht. Anderseits begab sich der Priester nur in die Kirche und aus ihr nach Hause, wobei er immer durch dieselben Gassen ging. Octave meinte lächelnd, er zähle die Pflastersteine.

Zu Hause suchte Mouret Desirée auf seine Seite zu ziehen, da sie nie ausging. Er führte sie deshalb abends in den Garten, fragte sie aus, was sie den Abend über getan und gesehen habe und suchte immer das Gespräch auf die Partei im zweiten Stock zu bringen.

Höre, sagte er eines Tages zu ihr, morgen wirst du, wenn das Fenster offen steht, deinen Ball in das Zimmer; dann gehst du hinauf und verlangst ihn.

Am folgenden Tage warf das Mädchen tatsächlich den Ball in das Zimmer; aber er wurde von unsichtbarer Hand sofort auf die Terrasse hinabgeworfen, noch ehe das Kind die Treppe erreicht hatte. Mouret, der auf die Anmut des Kindes gerechnet hatte, um die gleich am ersten Tage abgebrochenen Beziehungen wieder aufzunehmen, sah das Spiel verloren; er stieß augenscheinlich auf den klaren Willen des Abbé, sich in seiner Wohnung einzuschließen. Dadurch aber wurde seine Neugierde nur noch gesteigert. Er klatschte in allen Winkeln mit der Köchin zum großen Ärger Marthas, die ihm wegen dieses unwürdigen Betragens Vorwürfe machte. Er wurde darüber böse und suchte alle möglichen Ausflüchte. Er fühlte jedoch sein Unrecht und sprach deshalb von dem Abbé mit Rosa nur im geheimen.

Eines Morgens gab ihm Rosa ein Zeichen, ihr in die Küche zu folgen.

Denken Sie sich, gnädiger Herr, sagte sie, nachdem sie die Türe zugemacht hatte, ich warte schon seit einer Stunde, daß Sie aus Ihrem Zimmer herunterkommen.

Hast du etwas erfahren?

Sie werden es gleich hören ... Gestern abend habe ich länger als eine Stunde mit Frau Faujas gesprochen.

Mouret zitterte vor Freude. Er setzte sich auf einen zerrissenen Strohsessel inmitten der Wischlappen und der Küchenabfälle nieder.

Also schnell! Heraus damit!

Ich stand gestern, begann Rosa, in der Türe und wünschte dem Dienstmädchen des Herrn Rastoil einen guten Abend, als Frau Faujas die Treppe mit einem Kübel schmutzigen Wassers herunterkam. Sonst geht sie gleich wieder hinauf, ohne sich umzusehen; diesmal blieb sie aber einen Augenblick stehen und sah mich an. Ich entnahm daraus, daß sie mit mir reden wollte, und sagte ihr, daß es schönes Wetter sei und daher ein guter Wein wachsen werde ... Sie antwortete mir »Ja, ja,« wie eine Frau, der dies ganz gleichgültig ist, weil sie keinen Weinberg besitzt. Aber sie setzte den Kübel auf die Erde, blieb stehen und lehnte sich neben mir an die Wand ...

Nun, was hat sie dir denn erzählt? fragte Mouret voll Ungeduld.

Ich war nicht so dumm, sie auszufragen ... Ich brachte das Gespräch auf das, was sie angeht. Der Pfarrer zu Saint-Saturnin, der liebe Herr Compan, ging eben vorüber. So erzählte ich ihr, wie er lebe, daß er sehr krank sei, daß er es nicht lange mehr aushalten werde, und wie schwer er zu ersetzen sei. Sie war jetzt ganz Ohr und fragte mich sogar, was dem Herrn Compan fehle. Dann kam ich von einem zum anderen, sprach von unserem Bischof Rousselot und erzählte ihr, was für ein trefflicher Mann er ist. Sie wußte nicht, wie alt er sei; ich sagte, daß er sechzig Jahre vorüber, ebenfalls weichen Gemütes sei und sich an der Nase führen lasse; man rede auch viel von Herrn Fenil, dem Großvikar, der in der bischöflichen Residenz tue was er wolle ... Das war Wasser auf ihre Mühle; die Alte wäre bis Sonnenaufgang vor der Türe stehen geblieben.

Mouret machte eine Gebärde der Verzweiflung.

Ganz recht! Jetzt hast du mir nur erzählt, was du gesprochen hast ... Was hat denn aber sie gesagt?

So warten Sie doch! erwiderte Rosa ruhig; lassen Sie mich weiter erzählen, ich komme schon zu Ende. Um sie auch zum Plaudern zu bringen, erzählte ich ihr schließlich von uns. Ich sagte, daß Sie François Mouret heißen und Kaufmann in Marseille gewesen seien, der in fünfzehn Jahren durch einen Handel in Wein, Öl und Mandeln sich ein Vermögen zu erwerben gewußt habe. Dann erzählte ich, daß Sie hier in Plassans Ihre Rente verzehren, weil die gnädige Frau hier Verwandte habe; dann fand ich sogar eine passende Gelegenheit, ihr mitzuteilen, daß die gnädige Frau Ihre leibliche Base sei, daß Sie vierzig Jahre und die gnädige Frau siebenunddreißig Jahre alt seien. Weiter, daß Sie eine sehr zufriedene Ehe führen, nie auf der Promenade Sauvaire gesehen werden, kurz, ich erzählte Ihr ganzes Leben ... was sie ungemein interessierte. Sie antwortete mir immer: »Ja, ja,« ohne Eile zu haben. Als ich nun innehielt, da nickte sie mit dem Kopfe, als wolle sie sagen: »Ich höre ja zu, erzählen Sie nur weiter!« So plauderten wir denn – immer an die Mauer gelehnt – bis tief in die Nacht hinein wie gute Freundinnen.

Mouret erhob sich zornig.

Wie? rief er aus, das ist alles? ... Sie hat Sie eine Stunde reden lassen und Ihnen nichts gesagt?

Sie sagte mir, als es ganz finster war: »Es wird kühl.« Damit hob sie den Wasserkübel auf und ging wieder in ihre Wohnung hinauf.

Wie Sie dumm sind! Die Alte versteht es, sie würde zehn solche verkaufen, wie Sie sind. Nein! Wie müssen die jetzt lachen! Sie wissen nun alles von uns, was sie wissen wollten ... Rosa, Sie sind sehr dumm!

Die alte Köchin geriet darüber in Aufregung und ließ ihren Zorn an den Töpfen und Schüsseln aus, die sie hin und her stieß.

Wissen Sie, gnädiger Herr, erklärte sie, wenn Sie nur in die Küche gekommen sind, um mir Grobheiten zu sagen, hätten Sie draußen bleiben können. Sie können gehen ... Ich habe dies alles nur getan, um Ihnen eine Freude zu machen. Wenn uns die gnädige Frau hier beisammen fände, würde sie mit mir zanken und das mit Recht, denn es schickt sich nicht ... Übrigens konnte ich doch dieser Frau nicht die Worte aus dem Munde reißen. Ich habe mich dabei benommen wie sich jede andere benehmen würde. Ich habe geplaudert und Ihr Leben beschrieben. Um so schlimmer für Sie, wenn sie nicht auch das ihrige beschrieb. Fragen Sie sie selbst, wenn Ihnen soviel daran liegt. Vielleicht sind Sie nicht so dumm wie ich ...

Da die Alte immer lauter wurde, hielt es Mouret für geraten, die Küche zu verlassen, damit nicht noch seine Frau dazu komme. Aber Rosa trat hinaus und rief ihm nach:

Sie sollen wissen, daß ich mich um nichts mehr kümmere. Geben Sie einem anderen Ihre häßlichen Aufträge.

Mouret war geschlagen. Seine Niederlage ließ einigen Unmut in ihm zurück. Aus Rache gefiel er sich in der Behauptung, daß seine Mieter sehr unbedeutende Leute seien.

Allmählich verbreitete er unter seinen Bekannten seine Ansicht, die zuletzt die ganze Stadt glaubte. Der Abbé Faujas wurde als mittelloser Priester angesehen, der ohne jeden Ehrgeiz sei und ganz außerhalb der Ränke des Kirchspiels stehe; man dachte, er schäme sich seiner Armut, gebe sich mit den unbedeutendsten Verrichtungen in der Pfarrkirche zufrieden und halte sich so weit wie möglich im Dunkel, wo es ihm besonders gefalle. Nur wollte man gern wissen, warum er von Besançon nach Plassans gekommen sei. Es waren die verschiedensten Geschichten im Umlaufe, doch waren es nur Mutmaßungen. Selbst Mouret, der seine Partei ebenso zur Unterhaltung beobachtete, wie er zum Vergnügen Karten oder Billard spielte, begann schließlich zu vergessen, daß ein Priester bei ihm wohne, bis doch ein neues Ereignis seine Aufmerksamkeit auf ihn lenkte.

Als Mouret eines Nachmittags nach Hause ging, sah er den Abbé Faujas vor sich in der Balande-Straße. Er mäßigte daher seine Schritte, um ihn genau zu beobachten; denn es war das erstemal, daß er ihn am hellen Tage sah. Der Abbé hatte noch immer seinen alten Talar an; langsam ging er die steile, leere Straße mit ihren kahlen Häusern und geschlossenen Fenstervorhängen hinan; trotz des heftigen Windes trug er seinen Dreispitz in der Hand. Mouret ging jetzt auf den Fußspitzen, damit er von dem Priester nicht gehört werde. Als sie sich aber dem Hause des Herrn Rastoil näherten, kamen eben einige Personen vom Präfekturplatze, traten dort ein, und der Abbe machte einen kleinen Umweg, um mit ihnen nicht zusammenzutreffen. Als sich die Türe hinter ihnen geschlossen hatte, blieb der Abbé plötzlich stehen und drehte sich nach seinem Hausherrn um.

Es freut mich, mit Ihnen zusammenzutreffen, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. Ich hätte mir sonst erlaubt, Sie heute abend zu belästigen ... Der letzte Regen hat in dem Plafond meines Zimmers einen Fleck hervorgebracht, den ich Ihnen gern zeigen möchte.

Mouret erwiderte verlegen, daß er ganz zu seinen Diensten stehe. Da sie zusammen ins Haus traten, fragte er den Priester, welche Stunde ihm angenehm sei, um die Decke besichtigen zu können.

Wenn es Ihnen nicht lästig ist, bitte ich gleich mit mir hinaufzukommen.

Mouret stieg erregt die Treppe hinauf, während Rosa ihm von der Küchentüre aus mit großen Augen nachsah.

Viertes Kapitel.

Inhaltsverzeichnis

Als Mouret im zweiten Stocke ankam, war er verlegener als ein Student, der zum ersten Male das Zimmer einer Frau betritt. Die unerwartete Erfüllung eines langgehegten Wunsches und die Hoffnung, etwas ganz Außerordentliches zu sehen, raubte ihm fast den Atem. Unterdessen steckte der Abbé den Schlüssel in das Schloß, und die Türe öffnete sich so geräuschlos, als drehe sie sich in samtenen Angeln. Der Priester bat den Hausherrn durch eine Gebärde einzutreten.

Die Leinwandvorhänge an den beiden Fenstern waren so dicht, daß das Zimmer wie in das Zwielicht einer Klosterzelle gehüllt war. Das Zimmer war sehr groß und hoch mit einer reinlichen, aber verblaßten Papiertapete beklebt. Mouret ging rasch hinein und schritt auf den spiegelblanken Fliesen weiter, deren Kälte er unter den Sohlen zu fühlen glaubte. Verstohlen ließ er seine Blicke im Zimmer umherschweifen. Das eiserne Bett hatte keine Vorhänge, und die Decke war so straff gespannt, daß man das Bett für eine weiße Steinbank im Winkel hätte halten können. Die Kommode auf der anderen Seite, ein kleiner Tisch in der Mitte, zwei Stühle, vor jedem Fenster einer: das war die ganze Einrichtung. Nirgends lag oder hing etwas; weder auf dem Tische, noch auf der Kommode, noch an der Wand. Kein Papier, kein Kleidungsstück, kein sonstiger Gegenstand war zu sehen. Nur über der Kommode hing ein großer Christus aus schwarzem Holze, die einzige Abwechslung in der düsteren Öde dieses Zimmers.

Hier, mein Herr, sagte der Abbé, ist der Fleck an der Decke.

Aber Mouret ließ sich Zeit; er genoß. Obwohl er nichts Außerordentliches sah, wie er gehofft hatte, so hatte das Zimmer doch für ihn viel Anziehendes, einen eigentümlichen Geruch. Es riecht da nach Priester, dachte er; es riecht nach einem Menschen, der ganz anders ist wie die übrigen, der das Licht auslöscht, wenn er das Hemd wechselt und der weder Strümpfe noch Rasierzeug herumliegen läßt. Es ärgerte ihn, daß er weder auf den Möbeln noch in den Ecken etwas herumliegen sah, was ihn auf weitere Vermutungen hätte führen können. Das Zimmer war ganz so wie dieser seltsame Mensch: stumm, kalt, höflich, undurchdringlich. Die größte Überraschung empfand er darüber, daß er nirgends eine Spur von Dürftigkeit sah; er hatte im Gegenteil einen Eindruck, wie ehemals, als er den sehr reich möblierten Salon eines Präfekten in Marseille betrat. Der große Christus dort an der Wand schien diesen Raum mit seinen schwarzen Armen ganz auszufüllen.

Mouret mußte aber dem Abbé in jene Ecke folgen, wo sich der nasse Fleck an der Decke gezeigt hatte.

Sehen Sie da oben den Fleck? sagte dieser. Er ist freilich seit gestern etwas kleiner geworden.