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London 1863. Bridie Devine, Privatdetektivin und Expertin für kleinere chirurgische Eingriffe, erhält den Auftrag, die entführte Tochter des Adligen Sir Edmund zurückzubringen. Alles an dem Fall ist beängstigend seltsam: der nervöse Vater, die feindselige Dienerschaft, der windige Hausarzt. Allen voran aber die verschwundene Christabel, die kaum je einer gesehen hat. Doch zunächst ist die energische Bridie ganz in ihrem Element, denn sie liebt vertrackte Fälle. Zudem fühlt sie sich beschützt von ihrem neuen Begleiter, Ruby – der ist zwar tot, aber wen stört das schon. Als sich Bridie jedoch Zugang zu Christabels Räumen verschafft, begreift sie, was das Besondere an dem Mädchen ist und dass dieses in großer Gefahr schwebt. Und noch etwas ahnt sie: Ihr größter Widersacher aus der Vergangenheit, ein herzloser und grausamer Sammler menschlicher Kuriositäten, von dem Bridie gehofft hatte, dass er tot sei, ist wieder aufgetaucht, und er wird zu ihrem gefährlichsten Gegner bei der Suche nach Christabel. »Jess Kidd schafft mit Bridie Devine eine emanzipierte Ermittlerin, die Sherlock Holmes um Längen schlägt. Ein wahrlich fantastischer Kriminalroman« Karla Paul »Wenn Gothic-Regisseur Tim Burton eine Sherlock-Holmes-Geschichte verfilmen und die Ermittlerrolle mit Sally Hawkings besetzen würde, dann hätten Sie das Kopfkino vor Augen, das sich mir beim Lesen dieses wunderbar skurrilen Romans aufdrängte. […] Klingt schräg? Ist es auch! Und das ist eine Freude – für alle, die sich auf Jess Kidds mal irrwitzige, dann wieder gruselige Fantasie einlassen.« Janis Voll, EMOTION »›Die Ewigkeit in einem Glas‹ ist ein Fest für alle Freunde des Makabren, eine lustvolle Reise in die düstersten Winkel des viktorianischen Zeitalters.« Meike Schnitzler, BRIGITTE
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Seitenzahl: 529
Alles an Bridie Devines neuem Auftrag, die entführte Tochter des Adligen Sir Edmund zu finden, ist beängstigend seltsam: der nervöse Vater, die feindselige Dienerschaft, der windige Hausarzt. Allen voran aber die verschwundene Christabel, die kaum je einer gesehen hat. Doch zunächst ist die energische Bridie ganz in ihrem Element, denn sie liebt vertrackte Fälle. Zudem fühlt sie sich beschützt von ihrem neuen Begleiter, Ruby – der ist zwar tot, aber wen stört das schon. Als sich Bridie jedoch Zugang zu Christabels Räumen verschafft, begreift sie, was das Besondere an dem Mädchen ist und dass dieses in großer Gefahr schwebt. Und noch etwas ahnt sie: Ihr größter Widersacher aus der Vergangenheit, ein herzloser und grausamer Sammler menschlicher Kuriositäten, von dem Bridie gehofft hatte, dass er tot sei, ist wieder aufgetaucht, und er wird zu ihrem gefährlichsten Gegner bei der Suche nach Christabel.
Außenseiter, Schurken und seltsame Wesen bevölkern den spannenden Roman von Jess Kidd, in dem sie ein lebendiges Bild der englischen Gesellschaft zwischen Aberglaube und Fortschritt zeichnet.
© Travis McBride
Jess Kidd, 1973 in London geboren, hat einen Großteil ihrer Kindheit an der irischen Westküste verbracht. Sie hat Literatur an der St.Mary’s University in Twickenham studiert. Bei DuMont erschienen 2017 ihr Debütroman ›Der Freund der Toten‹, der auf der Krimibestenliste stand, und 2018 der Roman ›Heilige und andere Tote‹. Die Autorin lebt mit ihrer Tochter in West London.
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, beide 1955 geboren, haben Anglistik in Düsseldorf studiert. Seither arbeiten sie als Übersetzerteam und haben u.a. Dave Eggers, Tana French, Harper Lee, Delia Owens, Zadie Smith und Jeanette Walls ins Deutsche übertragen.
Jess Kidd
DIE EWIGKEIT IN EINEM GLAS
Roman
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Von Jess Kidd sind bei DuMont außerdem erschienen:
›Der Freund der Toten‹
›Heilige und andere Tote‹
eBook 2019
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel ›Things in Jars‹ bei Canongate, Edinburgh.
© Copyright Jess Kidd, 2019
© 2019 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagillustration: © gisela goppel c/o 2 agenten.com
Satz: Fagott, Ffm
eBook Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN EBOOK 978-3-8321-8470-4
www.dumont-buchverlag.de
Prolog
Sie ist blasser als eine Made und ein wundersamer Anblick.
Sie schaut erschreckt aus dem Bett zu ihm hoch. Ihre hellen Augen, milchig und trüb, huschen wie bei einem Fisch hin und her: Eindringling – Laterne – Tür – Eindringling. Als versuchte sie zu begreifen, wie das alles zusammenhängt.
Ist sie blind?
Nein. Sie sieht ihn sehr wohl; er weiß, dass sie ihn sieht. Jetzt folgen ihm ihre Augen, während er näher heranschleicht.
Sie ist hübsch, trotz allem.
Sie ist mehr als hübsch. Sie ist ein Friedhofsengel, eine Marmorstatue, mit ihren Elfenbeinlocken und den ach so bleichen steinernen Augen. Nein, nicht Stein – schimmerndes Perlmutt, so sanft getönt!
Er könnte sie berühren: ihr die Wange streicheln, die winzige Kinnspitze halten, ihre weißen Locken um seinen Finger wickeln.
Dann bewegen sich ihre Lippen, spitzen und verziehen sich, als würde sie Kraft sammeln, die Kraft, einen Ton hervorzubringen.
Ohne nachzudenken, drückt er ihr eine Hand auf den Mund, seine Haut dunkel auf ihrer im Licht der Laterne. Sie guckt böse, ihre Füße schlagen einen wütenden Trommelwirbel trotz der Fesseln, und die Bettdecke rutscht herunter. Sie hat zwei Beine, wie ein Mädchen. Zwei dünne weiße Beine und zwei dünne weiße Arme und sonst nicht viel dazwischen.
Dann hört sie auf und liegt still da, keuchend.
Wie sie sich anfühlt: irgendwie nicht natürlich. Die Haut wächsern und klamm, der Atem kalt: eine unnatürliche Kälte, wie ein lebender Leichnam.
Und wieder dieser Geruch, jetzt stärker, die beißende Salzluft des offenen Ozeans, ein tintiger Hauch Seetang.
Sie fixiert ihn mit ihren Perlmuttaugen. Er spürt ihre glitschigen Zähnchen und die nasse Zunge, die flink seine Hand erkundet.
Der Mann hat das Gefühl, dass sein Kopf sich öffnet wie ein weiches Schneckengehäuse, dass die Kleine klopft und bohrt, ihre Finger in sein Gehirn drückt. Die bebende Masse berührt, kitzelt. Sie greift und grapscht wie in ein Glas voller Fischchen, sie planscht und sucht wie in einem Gezeitentümpel. Mit dem kleinen Finger erwischt sie eine Erinnerung und angelt sie heraus, und dann noch eine und noch eine. Sie findet seine Erinnerungen, eine nach der anderen. Sie sammelt sie in der hohlen Hand, jede eine vollkommene, schimmernde Träne.
Ein Junge, er selbst, rennt mit einer Kartoffel in der Hand einem Karren hinterher und rutscht auf nassem Kopfsteinpflaster aus.
Eine Frau dreht sich in einem Hauseingang um, Sonne auf ihrem Haar, ah, die Frau seines Bruders!
Ein vier Tage altes Fohlen steht auf einer grünen Weide, ein reiner weißer Fleck auf der hübschen Nase.
Das Kind neigt die hohle Hand und sieht die Tränen davonrollen.
Panik durchströmt den Mann. Etwas steigt in ihm auf – eine reine und unbezwingbare Abscheu, der starke, jähe Drang, dieser Kreatur den Garaus zu machen. Sie zu erdrosseln, ihr Gesicht zu zertrümmern, ihr den Hals umzudrehen wie einem jungen Kaninchen.
Eine Stimme in ihm, die Lispelstimme eines Kindes, verhöhnt ihn. Ist er nicht ein unbarmherziger Schweinehund, würde er nicht bedenkenlos seine eigene Mutter ersticken? Hat er nicht schon alles Mögliche getan, schreckliche Dinge, unsägliche Dinge, ohne mit der Wimper zu zucken? Und jetzt auf einmal scheut er sich, die barmherzigste aller Gnaden zu gewähren.
Der Mann schaut die Kleine entsetzt an, und die Kleine erwidert seinen Blick.
Er lässt sie los und zieht sein Messer.
Eine zweite Laterne taucht flackernd im Türrahmen auf, und die Kinderfrau kommt herein. Eine nicht mehr ganz junge ehemalige Strafgefangene mit einem steifen Bein, mit sauberer Kleidung, aber schmutzigem Mundwerk, an üble Geschäfte gewöhnt. Zwei Männer, die sich Halstücher vors Gesicht gebunden haben, folgen ihr wie Leibwächter. Seltsame Vögel; Ellbogen angelegt, Köpfe hin- und herschwenkend, leisetretend, lauschend, blinzelnd. Bei jedem Schritt rechnen sie mit einem Hinterhalt.
»Rühr sie nicht an«, sagt die Kinderfrau zu ihm. »Geh von ihr weg.«
Der Mann blickt auf, zögert, und die Kleine beißt ihn, mit verblüffend spitzen Zähnchen. Er reißt überrascht die Hand weg und sieht eine Reihe Einstichlöcher, klein, aber tief.
Die Kinderfrau schiebt sich an ihm vorbei an die Seite des Betts, blickt auf seine Hand. »Das wirst du bereuen, meine Tulpe.«
Die Kinderfrau streift sich umständlich ein Paar feinmaschige Kettenhandschuhe über und löst die Stricke, mit denen die Kleine ans Bett gefesselt ist, legt ihr ein Geschirr aus festem Material an, Gliedmaße für Gliedmaße, schnallt ihr die Arme vor der Brust fest, bindet ihr die Beine zusammen. Die Kleine sträubt sich, mit aufgerissenem Maul.
Der Mann steht wie benommen da, öffnet und schließt die Hand. Rote Linien ziehen sich vom Handteller übers Handgelenk zum Ellbogen, die Bissspuren werden dunkelviolett, dann schwarz. Er dreht den Unterarm und drückt auf seine Haut. Schweiß perlt ihm auf der Stirn, der Oberlippe. Was für ein Kind beißt so, wie eine Ratte? Er stellt sich vor – spürt –, wie ihr Gift durch ihn hindurchströmt, vom Arm zum Herzen, von der Lunge zu den Gedärmen, von den Füßen in die Fingerspitzen. Ein glühendes Gift breitet sich aus, ein plötzliches Feuer verglüht, während es seinen Weg sucht. Dann verblassen die Linien, und die Bissspuren nehmen sich nur noch wie matte Nadelstiche aus.
Die ganze Zeit beobachtet die Kreatur ihn, und ihre Augen werden dunkel – gewiss eine optische Täuschung durch das Lampenlicht! Zwei Augen wie polierter Gagat, die Oberflächen flach, so seltsam flach.
Die Kinderfrau tritt zurück und befiehlt mit leiser Stimme: »Packt sie ein, beeilt euch, nehmt euch vor ihrem Mund in Acht.«
Sie wickeln das Kind in Segeltuch ein, ein Stagsegel, aus dem sie eine Art Hängematte machen.
Dem Mann, der noch immer seinen Arm befingert und die Nadelstiche untersucht, verschlägt es plötzlich die Sprache. Er gibt einen Laut von sich, einen Vokallaut, gefolgt von einer Reihe gurgelnder Konsonanten. Er sinkt auf die Knie wie zum Gebet und fällt dann rücklings auf den Kaminvorleger. Er würde schreien, wenn er könnte, doch er kann nur eine Hand ausstrecken. Er liegt da und schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Vom Fußboden aus sieht er zu, wie die zwei Männer das Bündel zwischen ihnen hochheben. Sie bewegen sich bedächtig, als wären sie unter Wasser.
Die Kinderfrau humpelt mit der Laterne in der Hand zu dem Mann und blickt auf ihn hinab. Ihre Diagnose: Es steht schlecht um ihn, das Gesicht so grau wie sein kurz geschorenes Haar. Nicht alt, aber bereits vom Leben verbraucht – und jetzt das.
Er beginnt zu schluchzen.
Der Kinderfrau ist ebenfalls zum Heulen zumute, weil sie einen guten Dieb verliert, einen, der dir die Zähne ziehen könnte, ohne dafür deinen Mund zu öffnen.
Sie kniet sich mühsam hin. »Schließ die Augen, Junge«, flüstert sie. »Das macht es mir sehr viel leichter.«
Eingepackt in eine Segeltuchhängematte wiegt sie fast nichts. Aber die zwei Männer würden eine weit schwerere Last mit größerer Leichtigkeit tragen. Natürlich hatten sie die Kinderfrau erzählen lassen, hatten sich im Wirtshaus mit schon ein paar Gläsern intus ihre Geschichten angehört. Aber jetzt sehen sie es selbst in dem Kind, genau wie sie prophezeit hat: alles erdenkliche Übel.
Was ist mit dem Gefallenen? Sie scheuten sich, ihn danach anzufassen. Ihn wegzutragen, wäre schlimmer gewesen, als ihn liegen zu lassen, und es bedrückt sie sehr, dass sie ihn zurückgelassen haben. Die eingewickelte Kleine schwingt zwischen ihnen, großäugig im Licht der abgedunkelten Laterne. Ja, jetzt sehen sie es in ihr. Als sie den Flur erreichen, schwitzen die Männer schon vor Anstrengung, weil sie sich mühsam beherrschen müssen, ihr nicht den Kopf an der Wand zu zerschmettern. Der eine würde ihr ohne Zögern ins Auge schießen, der andere würde ihr auf der Stelle die Gurgel durchschneiden. Oben an der Treppe angekommen, würden sie die Kreatur am liebsten hinunterschleudern.
Die Kinderfrau hält sie in Zaum. Sie erteilt flüsternd Befehle, beruhigt sie mit starken Fingern an Armen oder Rücken.
Erinnert sie an den Auftrag, den es zu erledigen gilt, gegen Geld.
»Denkt nicht drüber nach!«, sagt die Kinderfrau eindringlich und beschwörend. »Denkt an gar nichts. Schleppt sie hier raus, und weg sind wir.«
Das große Haus ist heute Nacht still, bis auf unsere Eindringlinge, die mit angehaltenem Atem und ihrer gefesselten Last über Flure schleichen. Auf lose Dielen und knarrende Türen und leichte Schläfer achten.
Aber die Dienstboten schlummern weiter. Die Haushälterin, ordentlich gebettet, hübsch mit Schlafmütze und Rüschen (wie ein Löffel, der »für gut« aufbewahrt wird) inspiziert in ihren Träumen die Wäscheschränke. Sie lächelt beim Anblick von makellosen Stapeln, himmlisch frisch, sauber wie Wolken. Der Butler, selbst im nachtbehemdeten Schlaf noch korrekt, kontrolliert einen endlosen Keller. Die Flaschen kichern in dunklen Ecken. Sie schieben ihre Korken raus und rufen mit honigsüßen Stimmen nach ihm. Sie singen Lieder von schwer behangenen Reben und sonnigen Berghängen und vergessenen Pflichten – weinselige Betörung! Er umklammert seine Laterne und hört nicht auf sie. Die Hausmädchen in ihren Mansarden-Nestern träumen von Omnibussen und Theaterstücken. Die Köchin schnarcht klangvoll, ungeschält und gut eingeweicht unter warmen Decken, so fest und nach Brandy duftend wie Plumpudding. Sie träumt von unvergleichlichen Soufflés; sie jagt ihnen nach, während sie in einer Pfanne über ein Bratensoßen-Meer segelt. Alle schlafen besinnungslos und gut zugedeckt und schwer atmend in der Ruhe vor Tagesanbruch.
Das große Haus ist heute Nacht still, bis auf unsere Eindringlinge, die eilig durch den Dienstboteneingang verschwinden.
Die Hunde liegen vergiftet im Garten, mit Schaum vor dem Maul, und eine Brise zerzaust ihnen das Fell. Es ist eine Brise, die vom Meer gekommen ist, viele Meilen über Land, vorbei an Wäldern, Feldern und Straßen, um den Kies auf der Zufahrt durchzurühren und die Schornsteine auf den Dächern zu umtanzen und durch die Schlüssellöcher zu pfeifen.
Die Mäuse sind wach, ebenso wie die bösäugige Hauskatze, die es auf ihre fetten Pelze abgesehen hat, schlau und leise. Dieser schlangenschwänzige Fluch der Speisekammer beobachtet, wie die Gestalten über den gepflasterten Hof eilen und im Mondlicht von ihren eigenen Schatten verfolgt werden. Die Scheuneneule sieht sie, als sie ums Haus herumkommen. Sie gleitet auf lautlosen Schwingen geisterhaft über ihnen dahin.
Der Herr des Hauses. Auch er ist wach.
Eine Lampe brennt in seinem Arbeitszimmer, wo er sorgenvoll grübelt, hin- und herüberlegt. Er beugt sich über seine Aufzeichnungen, sein stattlicher Backenbart ist grau meliert, seine Stirn zerfurcht. Er könnte ein Wahrsager sein, so wie er die Zukunft erfindet, sie mit schmeichelnd gemurmelten Worten heraufbeschwört.
Die Schatten huschen draußen vorbei, überqueren die Terrasse.
Der Herr des Hauses schaut zum Fenster, vielleicht, weil er ihre Schritte gehört hat, doch als er keine Veränderung am Nachthimmel bemerkt, widmet er sich wieder seinen Plänen.
Die Schatten eilen über den Rasen in Richtung Tor, zwei mit der zwischen ihnen schwingenden Beute, einer humpelnd hinterdrein.
Das Bündel schaukelt dicht über dem Boden. Die Kleine spürt das Gras, das ihre Segeltuchhängematte streift. Sie spürt die Nachtluft im Gesicht und atmet sie ein und stößt einen unhörbaren Seufzer aus.
Das in den Schlaf gewiegte Meer erwacht jetzt und antwortet, ein Refrain aus Wellen und Schuppengesang. Der noch nicht gefallene Regen im Himmel antwortet; ein Sturm zieht auf. Alle Flüsse und Bäche und Sümpfe und Marschen und Pfützen und Pferdetränken und Wunschbrunnen erwachen und antworten, bringen ihre Stimmen mit ein; schwach und rauschend, kehlig und gurgelnd, schlammig und klar.
Die Kleine blickt auf. Zum ersten Mal kann sie die Sterne sehen!
Sie lächelt zu ihnen hoch, und die Sterne schauen zu ihr herab und erschaudern.
Dann beginnen sie, heller zu leuchten, mit erneutem Fieber, im tiefen, dunklen Ozean des Himmels.
September 1863
Kapitel 1
Der Rabe geht in den Gleitflug über, Schwungfedern ausgefächert. Gekonnt auf den schwankenden Wogen aus Auf- und Abwinden reitend, dreht er den Kopf mal hierhin, mal dorthin. Vor seinem schwarzen Auge, so schwarz wie erkalteter Teer, breitet sich London aus – es gibt keinen Schleier aus Nebel oder Dunst oder Rauch, den sein Blick nicht durchbohren kann!
Unter ihm Straßen und Gassen, Fabriken und Arbeitshäuser, Parks und Gefängnisse, prächtige Villen und Mietskasernen, Dächer, Schornsteine und Baumwipfel. Und die gewundene, manchmal schimmernde Themse – des Himmels eigener schmutziger Spiegel. Der Rabe lässt den Fluss hinter sich und nimmt Kurs auf eine Kapelle auf einem Hügel mit einem Spitzdach und einem Uhrenturm. Er umkreist die Kapelle und landet mit raschelnden Flügeln auf dem Dach. Er pickt an Backstein, Flechten, toten Motten, an nichts. Er schmiegt sich an einen Wasserspeier in Fratzenform und fährt ihm mit dem Schnabel liebevoll um die Augen, stupst ihn an, schäkert.
Das Fratzenwesen ist dazu gedacht, aus seinem klaffenden Mund Regenwasser hinunter auf die Überdachung des Portals zu speien. Die Gemeindemitglieder (als es noch welche gab) dachten, die verstopften Regenrinnen wären schuld, doch der Übeltäter war stets der Wasserspeier, der immer erst dann einen plötzlichen Schwall auf die Gläubigen losließ, wenn sie an Gottes Schwelle standen, zum Himmel hinaufschauten und zurückschreckten.
Der Rabe hüpft an den Rand der Überdachung und späht nach unten.
Eine Frau steht da: Sie schaut nach oben, schreckt aber nicht zurück. Bridie Devine gehört nicht zur schreckhaften Sorte.
Zu welcher Sorte gehört sie dann?
Eine kleine dralle, aufrechte Frau von etwa dreißig, gekleidet in einem dunkellila Farbton, der sich (wunderbar und entsetzlich) mit dem leuchtend roten Haar beißt, das (größtenteils) unter ihrer Witwenkappe steckt. Sie trägt ein Halbtrauerkleid, das einen guten Schnitt hat, aber weder auffällig noch modisch ist. Auf ihrer Witwenkappe sitzt eine schwarze, mit Federn besetzte Haube, die ausnehmend hässlich ist. Ihre schwarzen Stiefel sind auf Hochglanz poliert und von robuster Machart. Die Krinoline ist nichts für sie; ihre Röcke sind nicht weit, und ihr Mieder ist so locker geschnürt, wie es der Anstand erlaubt. Ihr Cape, grau mit lila Bordüren, ist kurz. Sie ist eine praktische Frau oder zumindest eine Frau, die es praktisch findet, durch Türeingänge zu passen, Treppen hinaufsteigen zu können und Luft zu bekommen. Zu ihren Füßen steht ein altmodischer, geflickter Arztkoffer, das Leder glänzend und abgegriffen.
Sie holt eine Pfeife aus der Tasche. Das ist interessant: Eine so anstößige Angewohnheit bei einer so schicklich wirkenden Frau? Und ist es nicht schlau von ihr, dass sie im Schutz einer verlassenen Kapelle raucht (und nicht mit Bart und Hut auf offener Straße pafft)?
Der Rabe beäugt sie neugierig.
Die Frau zwinkert dem Vogel zu. In dem Zwinkern liegt etwas kolossal Übermütiges. Der Rabe antwortet mit einem leisen Krächzen.
Der Vogel mustert den Wasserspeicher. Kein Tropfen fällt; die Fratze hat einen trockenen Mund, die Lippen umrahmen eine leere Grimasse.
Beruhigt schwingt der Rabe sich in die Luft.
Bridie Devine sieht dem Raben nach, bis sie ihn aus den Augen verliert. Das Einzige, was sich jetzt noch im Hof dieser Kapelle bewegt, sind ihre Gedanken, denkt sie. Hin und wieder fährt ein Pferdewagen oder eine Kutsche am offenen Tor vorbei. Ansonsten trennt eine angemessen hohe Mauer Bridie von der Welt, und das genügt.
Bridie atmet aus, reckt das Gesicht in die Sonne: Herbstwärme, gehaltvoller und angenehmer als die Sommerhitze, mit dem milden Sterben der Jahreszeit darin. Bridie genießt sie an Stirn und Wange. Dass die Sonne ein Stück klare Luft gefunden hat, durch das sie scheinen kann (wo zurzeit alles in Rauch und Dunst und Nebel gehüllt ist), muss honoriert werden.
Bridie ist allein mit der Sonne und ihren Gedanken und ihrer Pfeife.
Die Pfeife ist unscheinbar: aus Ton, so geformt, dass sie gut in die Hand oder in eine Zahnlücke passt, die billige Sorte, wie sie von irischen Marktweibern bevorzugt wird. Kurzstielig und kleinköpfig, sodass eine Hexennase bequem darüberragen kann, um den Tabak vor Regen zu schützen. Die Pfeife mag unscheinbar sein, aber ihr Inhalt ist es ganz und gar nicht. Zu ihrer üblichen Prise billiges Kraut fügt Bridie neuerdings ein Klümpchen von Prudhoes Bronchialbalsam-Blend hinzu. Eine krümelige harzige Substanz, die mit einem angenehmen Weihrauchduft brennt, um anschließend einen stechenden chemischen Gestank zu verströmen. Das ist weniger unangenehm, als es klingt, denn die Wirkung ist belebend und abstumpfend zugleich. Wer rege Gedanken möchte, nimmt reichlich von Prudhoes Blend, wer gar keine Gedanken will, verdreifacht die Menge.
Prudhoes Bronchialbalsam-Blend ist nur eines der entspannenden Erzeugnisse von Rumold Fortitude Prudhoe, experimentierfreudiger Chemiker, Toxikologe und Experte für medizinische Jurisprudenz. Prudhoes vorherige legendäre Blends, Geheimnisvolle Karawane und Jahrmarktaufstand, erwiesen sich entweder als himmlisch oder tödlich. Von daher erfreuen sich diese Blends unter seinen eher abenteuerlustigen Freundinnen und Freunden, zu denen auch Bridie zählt, weiterhin einer treuen Anhängerschaft.
Aber jetzt ist Bridies Pfeife leer. Sie hat sie aufgeraucht.
Bridie klemmt sich das Mundstück ihrer Pfeife zwischen die Zähne, während sie nachdenkt. Noch ein Quäntchen Tabak wäre schön. Nicht, um ihre Gedanken zu vernebeln, bloß, um ihre Lunge auszukleiden. Sie raucht alles, egal ob erdig und bekömmlich oder süßlich und widerlich, Billiges vom Straßenhändler oder Feines für den Gentleman.
Wie als Antwort windet sich in der hinteren Ecke des angrenzenden Friedhofs eine dünne Rauchfahne in die Luft.
Bridie deutet das als ein Zeichen.
Bridie blickt hinab auf den Mann, der ausgestreckt auf dem protzigen Grab eines erfolgreichen Metzgers liegt. Zweierlei kommt ihr auf Anhieb seltsam vor.
Erstens, dem Mann fehlt es an Kleidung (seine gesamte Garderobe besteht aus: einem Zylinderhut, Stiefeln und einer langen Unterhose).
Zweitens, sie kann durch den Mann hindurchsehen.
Sie ist mühelos in der Lage, die Grabinschrift zu lesen, die eigentlich vom Körper des Mannes verdeckt sein müsste. Sie kann sogar die Engel auf dem ornamentalen Steinfries sehen.
Das ist ein Jux. Eine raffinierte Masche – ein Illusionstrick! Bestimmt sind Spiegel und Leinwände im Spiel, die Apparatur eines Zauberkünstlers, irgendein Blendwerk. Sie sucht flüchtig die Gräber ringsum ab, doch ohne Ergebnis.
Bridie ist verblüfft. Wenn für das Vorhandensein dieses durchsichtigen, spärlich bekleideten Mannes keine äußerliche Erklärung zu finden ist, muss es einen inneren Grund geben. Sie kann sich nicht erinnern, dass durchsichtige, spärlich bekleidete Männer zu den Symptomen zählen, die sich nach dem Konsum von Prudhoes Bronchialbalsam-Blend einstellen können. Aber die Liste ist lang und enthält viele unliebsame Reaktionen wie schwitzende Augäpfel oder Überempfindlichkeit gegenüber Akkordeonmusik.
Sie beschließt, die Erscheinung systematisch von Kopf bis Fuß unter die Lupe zu nehmen.
Der Zylinderhut ist über die Augen seines Besitzers gezogen. Und ebenso wie sein Besitzer ist der Hut durchsichtig. Dennoch kann Bridie erkennen, dass der Hut schon bessere Zeiten gesehen hat. Sein Kopf ist verbeult, seine Krempe verformt. Der durchsichtige Mann ist bis zur Taille nackt. Unterhalb der Taille trägt er eine weiße lange Unterhose, eng an den Oberschenkeln und ausgeleiert an den Knien. Die Stiefel an seinen Füßen sind nicht zugebunden und seine Fäuste nachlässig mit schmuddeligen Bandagen umwickelt, die sich teilweise gelöst haben. Er hat eine massige Brust, kräftige Oberarme, starke Schultern und einen dicken Hals. Und er ist tätowiert: von oben bis unten.
Unterhalb der heruntergezogenen Hutkrempe: eine Nase, die nicht ungebrochen davongekommen ist, eine glatt rasierte Wangenpartie und ein glänzender schwarzer Schnauzbart (üppigen Ausmaßes, gekonnt gewachst, eindeutig selbstverliebt). Im Mund hängt schlaff eine Pfeife, an der immer mal wieder gezogen wird. Der Rauch ist jetzt nur noch ganz schwach und hat keinen wahrnehmbaren Geruch. Beim Inhalieren leuchtet der Tabak im Pfeifenkopf blau auf.
Bridie fragt sich, ob der Mann ein bisschen Tabak für sie übrig hat und, falls ja, ob der wohl auch durchsichtig sein wird.
Der Mann, der offenbar ihre Gegenwart spürt, schiebt träge seinen Hut hoch. Seine Augen öffnen sich und finden ihre. Er springt alarmiert auf, hebt die Fäuste.
Er ist wirklich mirakulös.
Die Tätowierungen, die seinen Körper zieren – wie deutlich Bridie sie jetzt sieht –, bewegen sich tatsächlich. Sie fühlt sich an Monsieur Desvignes’ Mimoskop erinnert. Eine ausgeklügelte Vorrichtung (ein Wunder unter Wundern auf der Weltausstellung), Bilder zwischen zwei Spulen gewickelt, illuminiert von einem Funken. Bridie sah gebannt Tiere, Insekten und Maschinen – statische Bilder –, die flackernd zum Leben erwachten, die hüpften und flatterten, sich schlängelten und wanden. Bridie betrachtet diesen Mann mit derselben Faszination, während ein tätowierter Anker in einer einzigen durchgehenden Bewegung über die gesamte Länge seines Bizeps nach unten gleitet. Oben an seinem Bauch lässt ein hohläugiger Totenschädel, ein grinsendes Memento mori, den Unterkiefer klappern. Eine Meerjungfrau sitzt mit einem Spiegel in der Hand auf seiner Schulter und kämmt sich das blauschwarze Haar. Als sie merkt, dass sie beobachtet wird, bekommt die Meerjungfrau Angst und schwimmt mit einem flinken Schwanzschlag in die Achselhöhle des Mannes. Links auf seiner Brust zerbricht ein kunstvolles Herz und setzt sich immer wieder zusammen.
Er ist ein Zirkus fürs Auge.
»Genug gesehen?«, fragt er.
Bridie errötet. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich wollte mir nur ein bisschen Tabak borgen.« Sie deutet auf ihre leere Pfeife.
Der Mann senkt die Fäuste. »Ich glaub es nicht, du bist es. Oder nicht?« Sein Gesicht nimmt einen entzückten Ausdruck an. Er reißt sich den Hut vom Kopf. »He, Schätzchen, erkennst du mich?«
Bridie starrt ihn an. »Nein.«
»Ach, komm …« Er fährt sich mit einer Hand über das kurz geschorene Haar, schwarzer Samt, dicht wie ein Maulwurfsfell, und zieht die breite kantige Stirn kraus. »Du heißt Bridget.«
»Ich heiße Bridie.«
»Richtig.« Der Mann nickt. »Und dein vollständiger Name, wenn ich bitten darf?«
Bridie zögert. »MrsBridie Devine.«
Der Mann grinst. »Das nenn ich einen klangvollen Namen.« Er stockt. »Und Devine ist dann wohl der Name Ihres Gatten, Madam?«
»Meines verstorbenen Gatten, Sir«, berichtigt Bridie ihn.
Der Mann verbeugt sich. »Mein aufrichtiges Beileid, MrsDevine.«
Bridie wendet sich zum Gehen. »Wenn Sie mich nun entschuldigen, Sir.«
»Bleib doch noch, Bridget. Lass uns über alte Zeiten reden.«
Bridie bleibt stehen. »Sir, Sie irren sich, wenn Sie glauben, mich zu kennen …«
»Aber ich kenne dich: Du bist Gan Murphys Mädchen.«
Bridie reißt die Augen auf. »Er war mein Boss.«
»Das weiß ich!« Der Mann hält inne, mit belustigter Miene. »Du erinnerst dich kein bisschen an mich, oder?«
Bridie blickt ihn verzweifelt an, ahnt ein Spiel, das in alle Ewigkeit so weitergehen könnte. »Darum geht’s nicht, Mr…«
»Doyle.« Er schlendert zu einem Grab auf der anderen Seite des Weges und deutet darauf. »Kein schlechtes Plätzchen, was?«
Bridie folgt ihm. Sie liest die Inschrift auf dem Grabstein:
DER DEKORIERTE DOYLE
Hier ruht RUBY DOYLE,
der weltberühmte tätowierte Boxchampion
Verstorben am 24.März 1863
»Er hat keinen Mann niedergestreckt,
der nicht niedergestreckt werden musste.«
»Weißt du jetzt, wer ich bin?«, fragt der Tote.
»Nun ja, Sir, Sie sind ein Boxer namens Ruby Doyle. Sie sind vor einem halben Jahr verstorben, und ich kenne Sie noch immer nicht.«
Ruby Doyle setzt seinen Hut wieder auf. »Denk doch mal zurück, Bridget.« Er klopft den Zylinder fest. »Lass dir Zeit. Ich hab’s nicht eilig.«
»Wenn das hier irgendein Trick ist, MrDoyle …«
»Ruby, wenn ich bitten darf«, sagt er und tippt dabei keck an seine Hutkrempe. »Was für ein Trick?«
»Dass Sie tot sind.«
»Da bin ich der Gelackmeierte.«
»Ich glaube nicht an Geister, Sir.«
»Ich auch nicht – warum du nicht?«
»Ich denke wissenschaftlich. Geister sind Unsinn.«
»Finde ich auch.«
»Ein Zaubertrick.« Bridie blickt ihn forschend an. »Blendwerk.«
Ruby lächelt entwaffnend. »Die Möglichkeit, jemanden hinters Licht zu führen?«
»Fauler Zauber.«
»Und was ist mit Tischrücken?« Ruby, den das Ganze zu amüsieren scheint, blickt zum Himmel. »Schick mir ein Zeichen, Winifred.«
»Dunkle, überhitzte Räume und beeinflussbare Persönlichkeiten.«
»Halb London macht dabei mit!«
»Halb London wird beschwindelt. Wer an die Existenz von Geistern, Gespenstern, Phantomen glaubt – dass man sie sehen und mit ihnen sprechen kann –, ist verblendet.«
»Bist du verblendet, Bridget?«
»Ich sehe Sie, Sir, aber ich glaube nicht, dass Sie existieren.«
Ruby Doyle ist enttäuscht.
Bridie runzelt die Stirn. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, ich habe Arbeit zu erledigen.«
»Friedhofsarbeit, was?« Er blickt vielsagend auf die Tasche in ihrer Hand. »Ist da eine Schaufel drin? Lass mich raten: Du klaust Leichen, wie dein alter Boss Gan.«
Sie wird wütend. »Sehe ich etwa aus, als würde ich Leichen klauen? Ich helfe der Polizei.«
»Was du nicht sagst. Und wie?«
»Ich finde raus, wie Menschen gestorben sind.«
»Wie bin ich denn gestorben?«
»Durch einen schweren Schlag ins Genick.«
»Nicht schlecht. Aber ich wette, das hast du im Hue and Cry gelesen, was?«
»Hab ich nicht.«
»Boxer bei Kneipenschlägerei bezwungen. Ich hatte den Burschen, der aus mir Kleinholz machen wollte, schon erledigt, wollte mir nur kurz zur Feier des Tages einen genehmigen, und da …«
»Ruby, ich werde in der Krypta gebraucht. Dort wurde eine Leiche gefunden.«
»Das ist ja genau der richtige Ort dafür. Dann ab mit dir. Und beste Grüße an deinen Boss. Wie geht’s Gan?«
»Ist gestorben. Im Gefängnis.«
Rubys Lächeln schwindet. »Das tut mir leid. Gan war einer von den Burschen, die einfach nicht vergehen: zäh wie Knorpel, unverwüstlich. Siehst du ihn denn nicht auch?«
Bridie betrachtet den Mann gereizt. »Gan ist tot.«
»Dann bin ich der einzige Tote, den du sehen kannst?«
»Scheint so.«
»Was ist mit MrDevine?«
Bridie blickt verwirrt.
»Dein verstorbener Gatte«, schiebt Ruby nach. »Den siehst du doch bestimmt?«
»Nein.«
»Dann bin ich was Besonderes für dich. Bist du überrascht, Bridget? Bist du fassungslos?«
»Mich kann nichts überraschen oder aus der Fassung bringen.«
»Tatsächlich?« Er denkt einen Moment darüber nach, dann: »Kann ich mitkommen, zusehen, was du in der Krypta so machst?«
»Können Sie nicht.«
Bridie geht zwischen den Grabsteinen hindurch. Ruby trottet neben ihr her. Die ungeschnürten Stiefel lassen seinen federnden Boxergang ein wenig wackelig wirken.
Am Ende des Weges bleibt sie stehen und wendet sich ihm zu. »Ich halluziniere. Sie sind ein Wachtraum.« Sie beißt sich auf die Lippe. »Ich hab nämlich vor Kurzem etwas leicht Stimulierendes geraucht …«
Ruby nickt weise. »Deshalb war die Pfeife leer – warst du Kubla Khan besuchen?«
Bridie ist sprachlos.
Ruby deutet auf seine Bandagen. »Ringarzt, hat gern Coleridge-Gedichte aufgesagt, wenn er mich zusammengeflickt hat.«
Als sie die Kapelle erreichen, streckt Bridie ihm die Hand entgegen. »Hier trennen sich unsere Wege.«
Ruby lächelt. Er hat ein charmantes Lächeln, das die Umrisse seines imposanten Schnauzbartes fröhlich umformt. Seine Augen müssen im Leben hübsch braun gewesen sein, wie dunkler Sirup. Im Tod sind sie noch immer voll verschmitzter Entschlossenheit.
»Ich würde dir ja die Hand schütteln, Bridget, aber …«
Bridie zieht die Hand zurück. »Natürlich. Einen guten Tag, Ruby Doyle.«
Sie geht in die Kapelle.
»Ich warte auf dich, Bridget«, ruft der Tote. »Ich rauch mir einfach inzwischen ein Pfeifchen.«
Ruby Doyle schaut ihr nach. Gott im Himmel, sie hat sich nicht verändert. Sie ist noch immer Herrin ihrer selbst, das sieht man; Kopf hoch, Brust raus, fester Blick in den grünen Augen. Man schaut weg, bevor sie es tut. Sie hat sich gut gemacht, mit der Stimme und der Kleidung und ihrer Haltung.
Hätte er sie überhaupt erkannt, wenn da nicht der unvermeidliche mürrische Gesichtsausdruck und das unverwechselbare Haar gewesen wären? Andererseits erkennt das Herz stets die geliebten Menschen von vor langer Zeit wieder, auch wenn neue Garderoben das Auge verwirren und neue Lieder das Ohr verstören. Kennt Ruby die Geschichten, die sich um sie ranken? Dass sie eine irische Gossengöre war und ein feiner Chirurg sie von der Straße holte, weil er in ihr (zugegeben, es klingt übertrieben!) die verwaiste Tochter eines berühmten Dubliner Arztes erkannte. Dass sie trotz ihrer achtbaren Erscheinung (so wird in schlechter Gesellschaft gemunkelt) einen Dolch am Oberschenkel trägt und vergiftete Wurfpfeile in ihren Stiefelabsätzen versteckt hat. Dass sie mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hält, keine Frau und keinen Mann für besser oder schlechter erachtet als sich selbst, die Schläge, die andere erleiden, schmerzhaft spürt und nicht nur trinkfest ist, sondern auch beim Singen mithalten kann. Ruby Doyle spaziert zurück zu seinem Lieblingsplatz, um sich alles, was er über Bridie Devine weiß und nicht weiß, durch den Kopf gehen zu lassen, und zündet seine Pfeife mit der glühenden blauen Flamme des Jenseits an.
Der Hilfspfarrer der Kapelle von Highgate hat den Kragen hochgeschlagen und den Hut abgenommen und kämpft mit der verriegelten Tür zur Krypta. Bei Bridies Anblick verrät sein Gesicht Verblüffung, die in Unmut umschlägt, als sie ihn daran erinnert, weshalb sie gekommen ist. Der Vikar erwartet sie im Zusammenhang mit der heiklen Angelegenheit des eingemauerten Leichnams. Der Hilfspfarrer fixiert Bridie mit einem ungemein widerwilligen Blick und führt sie, nachdem es ihm gelungen ist, die Tür zu entriegeln, in die Krypta.
Der Leichnam steht aufrecht in einer Nische hinter losen Brettern. Entdeckt wurde er von Arbeitern, die nach einer inzwischen abgeebbten Überschwemmung mit Aufräumen beschäftigt waren. Nicht wenige Einwohner von Highgate machen Bazalgettes unterirdisches Gebuddel sowohl für die Überschwemmung als auch für den zutage geförderten Leichnam verantwortlich. Schön und gut, ein Abwassernetz zu bauen, um das uns die zivilisierte Welt beneiden wird, aber sollte man wirklich in Londons abscheulichen Bauch eindringen? London ist wie ein schwieriger OP-Patient; so vorsichtig das Skalpell auch angesetzt wird, es kann Gott weiß was hervorbrechen. Gräbt man zu tief, gibt es Überschwemmungen oder es kommen Leichen ans Licht, ganz zu schweigen von tödlichen Miasmen und augenlosen Ratten mit ellenlangen Zähnen. Die rationalen Einwohner von Highgate verteidigen MrBazalgette als einen vorzüglichen Tiefbauingenieur und bestreiten die Existenz von augenlosen Ratten.
Der Leichnam war in einer Nische eingemauert, die ihm angelegten Fesseln und die Panik in den großen Augenhöhlen deuten auf Fremdeinwirkung hin. Aber der Körper ist eindeutig schon recht alt, was das Interesse der Polizei verringert. Es handelt sich hier um ein längst vergangenes Verbrechen in einer Stadt, die sich vor neuen Verbrechen nicht retten kann.
Die Polizei hat alle Hände voll zu tun: London wird überflutet mit frisch Ermordeten. Stündlich tauchen Leichen auf, hocken mit durchschnittener Kehle in Hauseingängen, liegen mit eingeschlagenem Schädel in Gassen. Halb verbrannt in Kaminen und erdrosselt auf Dachböden. In Koffer gestopft oder scharenweise in der Themse treibend, mit aufgeblähten Leibern.
Bridie besitzt die Begabung, Leichen zu lesen: die Geschichte von Leben und Tod, die auf jedem toten Körper geschrieben steht. Aufgrund dieser Begabung betraut Bridies alter Freund, Inspektor Valentine Rose von Scotland Yard, sie gelegentlich mit einem Fall – unter der Voraussetzung, dass sie die Finger von Obduktionen lässt, wozu sie aufgrund mangelnder Qualifikation nicht befugt ist. Die Fälle haben für gewöhnlich zweierlei gemein, davon abgesehen, dass sie Roses Interesse geweckt haben: Es sind bizarre und unerklärliche Todesfälle, und die Opfer stammen aus dem Bodensatz der Gesellschaft (Zuhälter, Huren, Obdachlose, Kleinkriminelle und Verrückte). Für ihre fundierte Meinung erhält Bridie ein Honorar (das Rose ohne Bridies Wissen aus eigener Tasche zahlt), und sie unterzeichnet ihren Bericht mit einer unleserlichen Unterschrift. Falls irgendwer fragt, ist ihr Name Montague Devine. Muss sie vor Gericht eine Aussage machen, tut sie das in Gehrock und mit Stehkragen.
Unterstützt vom Hilfspfarrer räumt Bridie die restlichen Steine aus der Nische. Die Krypta ist düster, mit einer Gewölbedecke und einem Steinplattenboden. Wie bei vielen unterirdischen lichtlosen Räumen herrscht hier das ganze Jahr über ein Winterklima. Die jüngste Überschwemmung hat einen kräftigen, torfigen Geruch hinterlassen, der an Moorboden erinnert.
Die Leiche, eine Frau, wie Bridie anhand von Körpergröße und Kleidung befindet, ist erstaunlich gut erhalten, wenn man ihr mutmaßliches Alter und den Fundort berücksichtigt. Ein makabrer Anblick in feinem Gewand. Sie hat eine grausame Theatralik an sich, kostümiert wie für ein lebendes Bild. Eine tragische Heldin, eine Göttin – eine unbekannte Gestalt aus der Geschichte! Ihr Gewand, jetzt verrottet, könnte griechisch, römisch sein. Ihr helles Haar, das büschelweise ausgefallen ist, hängt auf verdorrte Schultern. Bridie erahnt die letzten Augenblicke, am Hals gefesselt, in der erstickenden Dunkelheit. Sie sieht es an dem offenen Mund, im Schrei erstarrt.
Der Hilfspfarrer macht sich leise fluchend an der Lampe zu schaffen. Er ist ein junger Mann von unvorteilhaftem Aussehen. Schmächtig von Statur, mit übergroßem Kopf und schütterem hellbraunem Haar, durch dessen dünnen Scheitel ein breiter Schädel durchscheint, der mit seinen zahlreichen Beulen und Dellen selbst einen erfahrenen Phrenologen in Erstaunen versetzen würde. Seine Gesichtsfarbe ist fahl und mehlig wie eine zerkochte Kartoffel, und sein Mund ist wie geschaffen für spöttisches Grinsen. Ansonsten bemerkt Bridie, dass er für einen Hilfspfarrer schäbig gekleidet ist und ihr irgendwie bekannt vorkommt.
»Sir, kennen wir uns?«, fragt sie.
Der Hilfspfarrer betrachtet sie mit leerem Blick. »Ich glaube nicht, Miss …«
»MrsDevine – wie war noch gleich Ihr Name, Sir?«
»Cridge.«
»Kommen Sie mit der Laterne möglichst nah heran, MrCridge.«
Bridie setzt die Untersuchung fort. Ignoriert, so gut sie kann, MrCridges Anstrengungen, über ihre Schulter zu spähen.
Die Verletzungen der Toten (knochentiefe Schnittwunden am rechten Arm, drei gebrochene Finger, zerschmetterte Kinnlade, Fraktur des Jochbeins) erzählen eine düstere Geschichte. Ein Umhängetuch verbirgt ihren linken Arm. Bridie schiebt es vorsichtig beiseite.
»Sie hat ein Kind«, sagt sie.
Ein gewickeltes Baby, nicht größer als eine Steckrübe, liegt in einer Schlinge unter den Falten des Umhängetuchs seiner Mutter. Bridie spürt eine Welle von Mitleid. Die kleine Nische, in der die beiden eingezwängt waren, bot nicht mal genug Platz zum Sitzen. Die Frau war also im Stehen gestorben und ihr Baby mit ihr.
MrCridge beugt sich mit einer morbiden Erregung im Gesicht näher und beißt sich auf die Lippe. Bridie ist stellvertretend für die Opfer gekränkt.
»Wenn Sie das alles irgendwie verstört, MrCridge, schlage ich vor, dass Sie mich allein lassen.«
»Ich bin keineswegs verstört. Wie alt ist das Kind?«
»Zum Todeszeitpunkt ein paar Monate. Es nuckelt noch am Finger seiner Mutter.« Bridie schaut genauer hin. »Nein, es nuckelt nicht am Finger seiner Mutter, es nagt daran.«
»Verdammt, mich laust der Affe!« Der Hilfspfarrer hebt die Augen zur Decke. »Entschuldigung.«
Bridie blickt finster. »Das Licht, MrCridge, so nah Sie können, bitte.«
Bridie sieht das Gesicht des Babys, ganz schrumpelig, mit undeutlichen Zügen und ledrig. Sie steckt eine Fingerspitze in die winzige Mundhöhle des Kindes, schiebt sie behutsam vorbei an dem ausgedörrten Finger der Mutter. Sie ertastet eine Reihe winziger nadelähnlicher Höcker.
»Die sind wie Hechtzähne«, sagt sie erstaunt. »Unregelmäßige Nadeln im Ober- und Unterkiefer, noch scharf.«
»Was sagt man dazu …«, murmelt MrCridge.
»Ich muss die Leichen in besseres Licht bringen, um sie gründlich untersuchen zu können.«
»Das ist unmöglich«, sagt MrCridge unwirsch. »Jedenfalls heute nicht möglich.«
»Es muss aber heute sein. Die Polizei wartet auf meinen Bericht.«
»Der Vikar ist nicht da.«
»Dann warte ich auf ihn.«
»Ich werde diese Angelegenheit umgehend mit ihm besprechen, wenn er wieder da ist, MrsDevine.«
»Bitte tun Sie das, MrCridge.«
Als der Hilfspfarrer sich von der Toten ab- und Bridie zuwendet, liegt in seinem Blick eine solch geballte Feindseligkeit, dass sie eines ganz sicher weiß: Wenn er könnte, würde er sie in die Nische schubsen und dadrin einmauern.
MrCridge schließt und verriegelt das Tor hinter ihnen und steckt den Schlüssel ein.
»Ich rate Ihnen dringend, die besondere Art dieses Fundes für sich zu behalten, MrCridge«, sagt Bridie. »London hat eine Vorliebe für Anomalien.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass wir diese Angelegenheit mit größter Diskretion behandeln werden. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, MrsDevine.« Der Hilfspfarrer setzt seinen Hut auf, verbeugt sich mürrisch und stapft in Richtung Pfarrhaus davon.
Bridie lässt den Blick über den Friedhof schweifen: keine Spur von irgendwelchen spärlich bekleideten, imaginären toten Faustkämpfern. Dann sieht sie, dass oberhalb der Mauerkrone eine Kopfbedeckung auf und ab hüpfend in Sicht kommt: ein Zylinderhut. Ein Hut, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Er ist verbeult, seine Krempe verformt, und er ist durchsichtig. Bridie packt ihren Arztkoffer fester und ergreift die Flucht, läuft um die Kapelle herum und zum hinteren Tor hinaus. Sie geht allein die Straße entlang – wirft jedoch den einen oder anderen Blick über die Schulter, mit einer Mischung aus Erleichterung und fast so etwas wie Enttäuschung.
Bridie, von der Krypta noch bis auf die Knochen durchgefroren, ist froh, wieder über Tage zu sein. Als sie Highgate Hill hinabgeht, flimmert London unter ihr in der gesäuerten rauchgeschwängerten Luft. Sie folgt der verhangenen Fleet Road in Richtung Stadt, während der Himmel dunkler wird und Straßenlaternen angezündet und Gaslampen in Geschäften und Pubs hochgedreht werden. Vorbei an St Giles, Little Ireland, wo die Mietskasernen wanken und in den Höfen und Gassen das Laster fröhliche Urstände feiert. Die New Oxford Street marschiert mitten hindurch. Die Iren überspringen sie und breiten sich nach Norden aus, fassen neu Fuß. Sie haben diese Stadt überschwemmt, Welle für Welle, strömen aus ihren überfüllten Elendsvierteln, um sich überall niederzulassen. Auf der Südseite kehren die Gebäude der Hauptstraße den Rücken zu, neigen sich nach innen, wie ausgemergelte Verschwörer. Stets bahnt sich Veränderung an. Erneuerung wartet wie ein Schauspieler hinter den Kulissen, bereit zum Auftritt, beißt sich auf die Lippe und grinst. Mit Lumpen zugestopfte Fenster und bröckelnde Ziegel werden offenen Landschaften aus Stein und Himmel weichen.
Die Ratten und die Einwanderer werden das Weite suchen müssen.
Aber vorläufig sind die Armenviertel genau wie eh und je: so warm und lebendig wie eine Wolldecke voller Läuse.
Bridie könnte mit geschlossenen Augen und offenen Nasenlöchern den Weg nach Hause finden.
Versuch es jetzt mal. Schließ die Augen (Augen, die in dem Gewirr von verwinkelten Sträßchen, gewundenen Durchgängen und halb verfallenen Häusern ohnehin die Orientierung verlören).
Atme ein – aber nicht zu tief.
Folge den abscheulichen Dämpfen aus den Gerbereien und den üblen Gerüchen der Brauerei, wie fauliges Karamell, die über Seven Dials wabern. Geh weiter, vorbei an den Mottenkugeln des billigen Schneiders, und biege an der versengten Seide des verrückten Hutmachers links ab. Gleich dahinter riechst du den ungewaschenen Schritt der überarbeiteten Prostituierten und den christlichen Schweiß der Putzfrau. Jeder Atemzug bringt eine sich verändernde Geruchspalette: Zwiebeln und abgekochte Milch, Chrysanthemen und Bratapfel, Grillfleisch und nasses Stroh und ganz plötzlich der Gestank der Themse, wenn der Wind sich dreht und die engen Seitenstraßen hochweht. Über all dem wirst du den schweren und widerwärtigen Chor der Scheiße wahrnehmen.
Der Geruch von Scheiße ist die vorrangige olfaktorische Absonderung der bunt gemischten Einwohnerschaft in Bridie Devines Teil der Stadt. Alle steuern dazu bei, die Russen, Polen, Deutschen, Schotten und vor allem die Iren. Jeder mischt mit. Von MrsNearys Neugeborenem, das in die Windeln kackt, bis hin zu Father Doucan, der distinguiert auf seinem Nachttopf hockt. Ihre Hinterlassenschaften werden in Jauchegruben, Keller und Höfe geworfen, wo sie zu Londons gefährlichem Gestank beitragen.
Schlechte Luft (das wird jeder Wissenschaftler, der sein Monokel wert ist, bestätigen) bereitet die Bühne für die neusten ansteckenden Krankheiten. Allen voran die Cholera. Wenn die Cholera auftritt, sind die Straßen leer. Die Cholera sorgt dafür, dass Frauen und Kinder den Wasserpumpen und Plätzen fernbleiben, hält die Männer im Haus, wo sie sich den Hintern kratzen. Wenn die Cholera auftritt, sind die Straßen still. Es gibt kein geschäftiges Treiben, kein Tratschen, kein derbes Lachen, nur inbrünstige Gebete und die Furcht vor unheilvollen Darmentleerungen.
Zum Glück gibt es heute keine Cholera, daher sind die Straßen voll.
Voll, wie nur London voll ist – und was für ein Lärm! Marktschreier, Obst- und Gemüseverkäufer, Händler, Pferdeomnibusse, die über die Straßen donnern, überall Hufgetrappel und knarrende Kutschräder, rumpelnde Leiterwagen und Schubkarren, ganz London, das gleichzeitig in alle Richtungen drängelt.
Bridie geht nach Hause zur Denmark Street.
Kapitel 2
Bridie Devine wohnt seit einigen Jahren auf der Denmark Street in Zimmern über der Werkstatt von MrFrederick Wilks, seines Zeichens Glockenaufhänger. MrWilks ist ein sehr alter Mann, der aussieht wie etwas, das sorgsam aufpoliert und dann für lange Zeit weggelegt wurde. Sein Gesicht ist ebenso gütig, wie seine Kleidung streng ist. Über einem steifen Gehrock mit Gagatknöpfen, der so starr wirkt wie etwas seit Langem Versteinertes, schaut ein rundes Gesicht mit großen verschlafenen Augen heraus. Zu beiden Seiten des Kopfes mit dem kurz geschorenen weißen Haar sitzen Ohren, die zu einem größeren Mann passen würden. Bridie hat den Verdacht, dass der Alte in dem Laden lebt und sich abends selbst in den Werkzeugschrank räumt. Tagsüber sitzt er am Fenster und werkelt an seinen Glocken oder poliert die Schwengel. Von seinem Gehrock aufrecht gehalten, bewegt MrWilks sich nur selten, aber wenn, dann flattert er blitzschnell vom Hocker zur Werkbank und wieder zurück.
Bridie hat von MrWilks die zwei oberen Stockwerke gemietet (bestehend aus Wohnzimmer, Küche, Wirtschaftsraum, Schlafzimmer und Dachkammer für das Hausmädchen), und sie darf auch den Garten mitbenutzen. Die Adresse ist nicht die vornehmste, zugegeben. Eher feine oder weniger robuste Besucher mag die Nähe zu den berüchtigten Armenvierteln und deren üblen Absonderungen (krimineller, moralischer und ansteckender Art) abschrecken. Aber es ist ein praktisch gelegenes Domizil in einer freundlichen Straße eingebettet zwischen der deutschen Bäckerei Weiß und dem Gewehrschlosser MrDryden. Bridie Devine ist zweifellos die beste Mieterin, die MrWilks je hatte.
Obwohl vom jahrzehntelangen Glockentesten nahezu taub und an grauem Star leidend, ist er dennoch in der Lage, MrsDevine sowohl zu hören (ah, diese melodiöse, kräftige Stimme mit dem irischen Einschlag!) als auch zu sehen (ah, was für herrliche feuerrote Locken!).
MrsDevine mietete sich als Witwe bei MrWilks ein. Nähere Einzelheiten zum Ableben des verstorbenen MrDevine oder zu seiner Stellung in der Welt und sonstiges Wissenswertes lassen auf sich warten. Gemeinhin wird angenommen, dass MrsDevine entweder über oder unter ihrem Stand lebt (je nachdem, mit wem man spricht), weil sie im Besitz einer »Mahagoni«-Anrichte ist, eine Bibliothek aus Büchern ihr Eigen nennt und sich eine Riesin von Hausmädchen leistet, der sie beigebracht hat, diese Bücher zu lesen. Das entspricht nicht der Wahrheit; Bridies Hausmädchen liest nur Groschenhefte (alte und neue Geschichten, hauptsächlich welche, in denen aufregende Liebesaffären, Straßenräuber und Hinrichtungen am Galgen vorkommen).
Dann ist da noch die Erwerbstätigkeit, die MrsDevine zusätzlich zu ihrem Dasein als Witwe mit einer bescheidenen Jahresrente ausübt. Ein Schild hängt neben Bridies Haustür, die gleich neben MrWilks’ Haustür ist (ganz anheimelnd). Dieses Schild könnte einen Hinweis bieten, welchem Gewerbe oben im Haus nachgegangen wird:
MrsDevine
Privatermittlungen
Kleinere Operationen (Insbes. Beulen, Warzen, Extraktionen)
Diskretion garantiert
Schau nach oben. Bridies Wohnsitz strahlt etwas Verriegeltes, Zugeknöpftes aus. Ihre Haustür ist ständig geschlossen, und die Fenster sind selten offen, die Vorhänge manchmal zugezogen und die Fensterläden mitunter zugeklappt: Nachbarn sind nicht angehalten, auf eine Tasse Tee hereinzuschauen. Cora Butter, Bridies Hausmädchen, ist immun gegen die Freuden von Klatsch und Tratsch und lässt sich nicht in Gespräche verwickeln, selbst wenn sie draußen die Eingangsstufen fegt.
Cora Butter ist das einzige – und furchterregendste – über zwei Meter große Hausmädchen in ganz London. Die Kinder aus der Nachbarschaft werden es nie leid, Cora nachzuspionieren. Bei schönem Wetter ist sie manchmal zu sehen, wie sie im Garten Wäsche aufhängt und dabei in ihrem prächtigen Bariton Kirchenlieder singt. Oder wie sie sich in der Küche rasiert, das Messer am Riemen schärft, sich in aller Ruhe die Stoppeln am Kinn einseift. Und wenn sie die Kinder beim Spionieren erwischt, ist es eine Lust zu hören, wie ihr Bassgebrüll über die Dächer schallt und Ratten und Tauben verscheucht.
Wer mit geschäftlichen Anliegen kommt, erntet von Cora einen einschüchternden Blick und wird ins Wohnzimmer geführt.
Cora begrüßt ihre Herrin oben an der Treppe. Bridie reicht Cora ihr Cape. Cora schüttelt es kräftig, dreht ihm den Hals um und hängt es auf.
»Im Wohnzimmer wartet ein Mann«, sagt Cora mit einem gereizten Ausdruck in den Augen.
»Geschäftlich?«
Cora nickt. »Der hat was von einem Wiesel an sich. Ich würde ihm nicht weiter über den Weg trauen, als ich ihn werfen könnte.«
Bridie lächelt zu ihrem Hausmädchen hoch. Cora hat noch nie einem Kunden getraut. Cora traut niemandem. Und je nach Größe kann sie einen Mann erstaunlich weit werfen.
»Hat er einen Namen?«
»Hab nicht gefragt.«
Cora öffnet die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt, und sie schauen hinein. Der Besucher schreitet vom Kamin zum Fenster und wieder zurück, was auf einen Zustand nervöser Unruhe schließen lässt.
Zugegeben, das Zimmer selbst hat nichts an sich, was der Entspannung des Mannes förderlich wäre. Es ist niedrig und trist. Die Lampen brennen trübe, und im Kamin prasselt kein gastliches Feuer, weil Cora sowohl mit Kohlen als auch mit Gas knausert. Zu den zusammengewürfelten Möbeln gehörten ein eleganter Schreibtisch von altmodischer Machart, mit Glasflaschen vollgestellte Vitrinen und Bücherregale, die zum Bersten mit schwieriger Lektüre gefüllt sind. Die Anrichte ist hübsch und tut so, als wäre sie aus Mahagoni (doch selbst bei diesem Licht ist sie unübersehbar nur furniert). Der Besucher betrachtet mit zusammengekniffenen Augen die Rücken einiger Bücher, zieht bei etlichen die Augenbrauen hoch, nimmt dann eines aus dem Regal und schlägt es unter der Gaslampe auf, nur um es rasch zurückzustellen. Er dreht sich um und bemerkt einen mysteriösen und interessanten Gegenstand, der auf dem Kaminsims Staub ansetzt. Ein großer, rätselhafter Mechanismus aus mattem Metall mit einem Aufsatz aus Gummi, der in einen bedrohlich wirkenden Nippel mündet. Ein Messgerät, eine Apparatur, aber wer kann sagen, wofür?
Der Besucher nähert sich der Vorrichtung. Er streckt einen Finger aus und berührt zögerlich den Gumminippel, tritt rasch zurück, als fürchtete er irgendwelche Reaktionen. Als nichts geschieht, berührt er ihn erneut, streichelt ihn sanft.
»Siehst du, was ich meine?«, flüstert Cora.
»Er hat etwas Unansehnliches an sich.«
»Das liegt an seinem Kopf«, sagt Cora, »kahl wie ein gepelltes Ei.«
Bridie runzelt die Stirn. »Was will er?«
»Hat er nicht gesagt, aber es geht bestimmt um irgendeine faule Sache.« Cora sieht sie an. »Soll ich ihn verprügeln und verkehrt herum halten, bis er irgendwas gesteht?«
»Versuchen wir erst mal, ohne die Prügel rauszufinden, was er will. Indem wir unseren Verstand benutzen.«
Cora schnaubt und rauscht Richtung Küche davon, während Bridie das Zimmer betritt.
Der Besucher dreht sich zu Bridie um und macht eine steife Verbeugung.
Er ist ein Mann mittleren Alters mit üppigen langen Koteletten, zwei Teppiche, die seine Wangen bedecken, als sollten sie die spiegelnde Glatze wettmachen. Sein Kinn ist glatt rasiert, und die Nickelbrille, die er hoch auf dem Nasenrücken trägt, hat dicke Gläser. Sein unvorteilhafter Kopf sitzt auf einem Körper, der aus einem langen Rücken, dünnen Armen, hängenden Schultern und breiten fraulichen Hüften besteht und wie zusammengeschustert aussieht.
Er hat ein griesgrämiges Gesicht mit einem angespannten rotlippigen Mund und winzigen Augen, die unruhig hinter Glas hin- und herhuschen wie Kaulquappen. Sie flitzen pechschwarz und pfeilschnell über Bridie hinweg.
Er hatte mehr erwartet.
Aber Menschen, über die man heroische Dinge gehört hat, sind ja immer enttäuschend, wenn man ihnen leibhaftig gegenübersteht. Und natürlich wird das Debakel ihres letzten Falls Bridie Devines Selbstvertrauen angegriffen haben.
Der Besucher mustert sie forschend, um abzuschätzen, wie angegriffen Bridie Devine wirklich ist.
Sie ist klein und stämmig und macht einen robusten Eindruck; sie würde einem Sturm standhalten. Ohne die Haube quillt ihr Haar, eine wilde rostrote Lockenpracht, unter der weißen Witwenkappe hervor. Ihre Augen sind auffallend, schlammgrün und schelmisch, ausdrucksstark. Der Besucher muss prompt an Harems und Wilde, tosende Meere und Vagabunden denken.
»Was führt Sie zu mir, Sir?«, fragt Bridie.
»Eine Angelegenheit, die nicht nur äußerst dringlich ist, sondern noch dazu überaus delikat, Madam.«
»Betrifft diese Angelegenheit Sie persönlich?«
Er schüttelt den Kopf. »Nein, ich vertrete einen Mann von hoher gesellschaftlicher Stellung. Eine bedeutende Persönlichkeit des öffentlichen Lebens.«
»Schön für ihn, und wer sind Sie, den er zu mir geschickt hat? Sein Diener?«
Das Lächeln erstarrt. »Sein Freund und Leibarzt, William Harbin.«
»Sieh einer an. Ist ja toll.«
Bridie bedeutet ihm, Platz zu nehmen, und setzt sich ihm gegenüber. Dr.Harbin pflanzt sein Hinterteil auf die Sesselkante. Sein Anliegen ist so eilig, dass er keine Zeit hat, sich richtig hinzusetzen.
»Und er hat Sie mit dieser Angelegenheit, dieser delikaten, dringlichen Angelegenheit betraut?«
Das Lächeln bleibt starr. Dr.Harbin hebt eine Hand, um seine Koteletten zu streicheln, erst eine Seite und dann die andere, sanft, beruhigend, als wären sie schreckhafte Haustiere, die ihm sonst aus dem Gesicht springen würden.
»Ich muss gestehen«, sagt Dr.Harbin, »dass ich dachte, mein Auftraggeber sei falsch beraten, Ihre Dienste in Anspruch nehmen zu wollen. Ich war sicher, Sie hätten Ihre Tätigkeit an den Nagel gehängt. Den Laden geschlossen, sozusagen.«
»Wie Sie sehen, bin ich noch im Geschäft, Dr.Harbin«, erwidert Bridie grimmig.
Er wirft ihr einen verschlagenen Blick zu. »Es zeugt von einer bewundernswerten Standhaftigkeit, dass Sie trotz allem weitermachen. Ihr letzter Fall: ein kleiner Junge, nicht wahr, MrsDevine?«
Ein kleiner Junge, den sie nicht rechtzeitig finden konnte.
Sie hatte die Geschichte ihres Versagens auf seinem Körper gelesen: Lockenkopf, Schwimmfüße, tot. Unverletzt bis auf drei unscheinbare Blutergüsse, je einer rechts und links von den Nasenflügeln und einer unterm Kinn. Nahezu spurloser Erstickungstod. Ein Muster, das für jemanden, der einmal mit Leichen gehandelt hatte, erkennbar war, für den Käufer des Leichnams hingegen nicht.
»Furchtbare Sache.« Der Arzt setzt ein mitfühlendes Gesicht auf. »Wir haben alles darüber gehört, obwohl wir meilenweit von London entfernt sind.«
Ja, du gepelltes Ei, denkt Bridie. Es stand ja auch in sämtlichen Zeitungen.
»Das Problem ist«, fährt Dr.Harbin fort, »jeder Amateur kann sich als Ermittler bezeichnen. Aber überlässt man dergleichen nicht besser der Polizei?«
»Die Polizei war an dem betreffenden Fall beteiligt, Dr.Harbin. Ich war nicht die Einzige, die nach dem gestohlenen Kind gesucht hat.«
Der Arzt macht eine Handbewegung, eine Art Winken, abfällig und versöhnlich zugleich.
Bridie blickt ihm direkt in die unsteten Augen. »Sir, wenn Sie der Ansicht sind, dass eine polizeiliche Ermittlung besser ist, warum sind Sie dann hier?«
Dr.Harbin wird dunkelrot im Gesicht, einschließlich Ohren und Nasenspitze.
Bridie steht auf und geht zur Tür. Sie nimmt die Glocke. »Würden Sie ein Gläschen Madeira mit mir trinken, Dr.Harbin? Das könnte nur hilfreich sein.«
Cora kommt augenblicklich ins Zimmer. Sie wirft Bridie einen ungeduldigen Blick zu. Das hier dauert um einiges länger als eine ordentliche Tracht Prügel.
»Cora, servier doch bitte den Madeira. Den besonderen Jahrgang.«
Cora lacht finster in sich hinein.
Dr.Harbin erschrickt.
Cora zwinkert Bridie zu, sieht den Gast böse an und geht die Karaffe holen.
Bridie hat einen Plan. Sie wird diesen Affenarsch mit irgendeiner die Zunge lösenden Mischung aus der Madeira-Flasche betrunken machen, und dann wird er munter drauflosplaudern.
»Um noch einmal zusammenzufassen, Dr.Harbin: Sie sind hier im Auftrag von Sir Edmund Athelstan Berwick – einem Baronet, immerhin. Seine sechs Jahre alte Tochter Christabel ist verschwunden und wurde Ihrer Einschätzung nach höchstwahrscheinlich entführt.«
»Das ist korrekt.«
»Sir Edmund hat, wie allgemein angenommen, keinen Erben, da seine Ehe mit der verstorbenen Lady Berwick kinderlos blieb.«
Dr.Harbins Blick huscht hinter Glas hin und her; er nickt.
»Nun stellt sich jedoch heraus, dass Sir Edmund eine kleine und geheime Tochter auf seinem Anwesen, Maris House, hatte.«
»Ja.«
»Sir Edmund ist absolut sicher, dass nur vier Personen von der Existenz der Tochter wissen.«
»Das ist korrekt.«
»Und diese Personen sind Sie selbst, der Butler, die Haushälterin und die Kinderfrau.«
»Ja.«
»Das heißt, die Kinderfrau, die zeitgleich mit dem Kind verschwunden ist?«
Dr.Harbin zögert. »Ja.«
»Und Sir Edmund hat seine Tochter nie irgendwem sonst gegenüber erwähnt: Freunden, Verwandten, interessierten Außenstehenden?«
Dr.Harbin klingt allmählich müde. »Das ist korrekt.«
»Und Lady Berwick ist verstorben.«
»Ja.«
»Wann und wie?«
»Ist das von Bedeutung, MrsDevine?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Dr.Harbin blickt verärgert. »Lady Berwick hatte einen tragischen Unfall. Wenige Tage nach Christabels Geburt.«
»Was für einen Unfall?«
»Ertrunken, unglückseligerweise.«
»Wo?«
»In dem Zierteich auf Sir Edmunds Anwesen.«
»Lady Berwick ist in einem Zierteich ertrunken?«
Selbst Dr.Harbin wirkt wenig überzeugt. »Ja.«
»Und deshalb hat Sir Edmunds Erbin die ganzen sechs Jahre ihres Lebens ohne Mutter und im Verborgenen verbracht?«
Dr.Harbin nickt.
Bridie greift nach ihrer Pfeife. »Darf ich, Sir?«
Sie deutet das Hochziehen seiner Brauen als Zustimmung.
Bridie nimmt ihren Tabak, stopft die Pfeife, zündet sie an und pafft eine Wolke. Dann erinnert sie sich an ihren Entschluss, nicht zu rauchen, und vergisst die Erinnerung gleich wieder.
Dr.Harbin rutscht unruhig hin und her. Seine langen Beine zucken, er will gehen.
»Fällt Ihnen das Sitzen schwer, Dr.Harbin?«
»Ich möchte möglichst bald zurück und Sir Edmund in dieser schweren Stunde beistehen, Madam.«
»Natürlich.« Bridie raucht gleichmütig ihre Pfeife.
Dr.Harbin bemüht sich, nicht zu zappeln.
»Ich bin ein wenig verwirrt, Dr.Harbin. Wieso versteckt jemand ein Kind vor Sonnenlicht und Spielkameraden, Geburtstagspartys und Weihnachten? Ich nehme an, dass die Kleine, ihrer Freiheit beraubt, nichts von alledem erlebt hat.«
Dr.Harbin scheint sein Glas Madeira zu studieren, aber es ist schwer zu erkennen, wohin sich seine Augen in der fernen Tiefe hinter den Brillengläsern bewegen.
»Der Kleinen fehlt es an nichts«, sagt er. »Sie hat alles, was sie braucht. Und als Spielkameradin hat sie meine eigene Tochter Myrtle.«
»Dann wissen also fünf Personen von ihrer Existenz?«
Dr.Harbins Finger umfassen den Stiel des Glases fester. »Ja.«
»Haben Sie sonst noch jemanden vergessen zu erwähnen, Sir?«
»Nein, Madam.«
»Den Schornsteinfeger oder den Milchmann? Vielleicht haben die ja auch Christabels Bekanntschaft gemacht?«
Er ist indigniert. Bridie bemerkt, dass sein Mund sich anspannt und die Beine stärker zucken.
Sie lächelt. »Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Dr.Harbin. Warum wurde die Kleine versteckt?«
»Sie ist ein wenig ungewöhnlich«, sagt Dr.Harbin, die Stimme gestelzt vor Zorn.
»In welcher Hinsicht ungewöhnlich?«
»Sir Edmund hat mir nicht erlaubt, darüber Auskunft zu geben.«
»Ach, kommen Sie, als Arzt der Familie haben Sie das Kind doch sicherlich untersucht?« Bridie beobachtet Dr.Harbin genau.
Und tatsächlich: Der Arzt zuckt zusammen.
»Worüber dürfen Sie denn Auskunft geben, Dr.Harbin?«, fragt Bridie gelassen.
Dr.Harbins Hand hebt sich an seine Koteletten, tätschelt sie beruhigend. »Ich kann Ihnen verraten, dass das Kind ungewöhnliche Merkmale hat – ich werde nicht sagen, was für welche –, die es daran gehindert haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.«
»So viele Geheimnisse! Ein verschwundenes Mädchen, das bislang erfolgreich vor der Welt verborgen gehalten wurde … was gewiss schwierig zu bewerkstelligen war. Aber andererseits sind sechsjährige Mädchen ja meistens klein und still.«
Dr.Harbin zuckt erneut zusammen. Bridie bemerkt es wieder.
»Und die verschwundene Kinderfrau, wie lange hat sie sich um das Kind gekümmert?«
»Fast einen Monat. MrsBibby hatte hervorragende Referenzen.«
»Also nicht sehr lange – und vor MrsBibby?«
»Die Frau, die sich schon um Sir Edmund als Kind gekümmert hat.«
»Etwas ausführlicher bitte.«
Dr.Harbin zögert kurz. »Sie ist bedauerlicherweise ertrunken.«
»Im Zierteich?«
»Nein, in einem Waschzuber«, sagt Harbin steif. »Sie ist ausgerutscht und hingefallen.«
»Man lebt gefährlich im Maris House.« Bridie nimmt einen Zug aus ihrer Pfeife. »Und Sie sagen, die übrigen Dienstboten wissen nichts von Sir Edmunds geheimer Tochter.«
»Sie wissen nichts von dem Kind, Madam.«
»Dr.Harbin, Ihnen ist ebenso bewusst wie mir – Sie beschäftigen selbst welche und haben sicherlich die entsprechenden Ratschläge gelesen –, dass Dienstboten niemals nichts wissen. Sie haben Augen, Ohren, Verstand, und sie sind süchtig nach Klatschgeschichten. Das befähigt sie, Geheimnisse aufzustöbern wie Spürhunde.«
»Sir Edmunds Bedienstete sind loyal und diskret.«
»Als was haben Sie die Kinderfrau, MrsBibby, ausgegeben?«
»Als Näherin, um die Wandbehänge im Westflügel auszubessern.«
»Dann wurde das Kind im Westflügel versteckt gehalten?«
»Ja.«
Bridie zündet ihre Pfeife erneut an, denkt nach, raucht mit Genuss. Eine Bewegung in der Zimmerecke erregt ihre Aufmerksamkeit. Hinter der Topfpalme, neben dem Fenster, steht der Tote vom Friedhof. Er fingert vorn an seiner Unterhose herum. Er schaut auf, und als er sieht, dass Bridie ihn anblickt, wirkt er kurz verwirrt, verschmilzt dann mit der Wand. Bridie wartet, merkt sich die Stelle, wo er verschwunden ist, doch es taucht kein geisterhaftes Nachbild irgendeiner Art auf.
»MrsDevine, geht es Ihnen gut?«
»Ja, natürlich.« Sie schwenkt ihr leeres Glas in Richtung der Karaffe, die Cora auf der Anrichte abgestellt hat. »Wären Sie so freundlich, Dr.Harbin?«
Bridie ist bei ihrem fünften Glas, und Dr.Harbin hat kaum an seinem ersten genippt. Er trinkt Madeira wie eine unverheiratete Tante, aber das ist ohne Belang; das Gespräch läuft jetzt schön entspannt.
»Ist die Polizei verständigt worden, Dr.Harbin?«
Dr.Harbin wirkt verschlossen. »Sie wurde von einem Bediensteten gerufen, der gedacht hat, es habe ein Einbruch stattgefunden.«
»Was ja auch der Fall war. Aber die Polizei wurde nicht über den Diebstahl der kleinen und geheimen Tochter in Kenntnis gesetzt?«
»Nein.«
Bridie nickt; das hat sie sich gedacht. »Haben die Täter bereits irgendwelche Forderungen gestellt?«
»Bei meiner Abreise war noch nichts dergleichen eingegangen. Sir Edmund ist bereit, jede Lösegeldsumme zu zahlen.«
»Es wäre möglich, dass es den Entführern nicht um Lösegeld geht.«
»Was auch immer sie beabsichtigen, mein Aufraggeber möchte, dass seine Tochter möglichst schnell gefunden wird«, entgegnet Dr.Harbin kühl. »Sir Edmund wird Sie für Ihre Mühe und Ihre absolute Verschwiegenheit entlohnen. Und er hofft, dass Sie bei der sicheren Rückkehr des Kindes eine großzügige Erfolgsprämie entgegennehmen werden.«
Bridie runzelt die Stirn. Sie hat das Gerippe des Falls – entführte geheime Erbin, verschwundene Kinderfrau –, aber nicht das Fleisch.
»Sie erzählen mir längst nicht alles, Dr.Harbin.«
»Ich habe Ihnen alles erzählt, womit Sir Edmund mich betraut hat.«
»Dennoch, für einen Mann der Wissenschaft sind Sie etwas zurückhaltend mit Ihren Beobachtungen und den Fakten, wie sie sich derzeit darstellen. Die Ärzte, die ich kenne, sind da normalerweise redseliger.« In Bridies Gesicht der Hauch eines Lächelns. »Sind Sie wirklich nicht der Diener, Sir?«
Dr.Harbin stellt sein Glas ab und steht abrupt auf. Er tritt vor, eine dunkle Drohung flackert hinter den Brillengläsern. Er greift in die Tasche seines Gehrocks.
Unversehens kommt Ruby Doyle blitzschnell aus der Wand gesprungen und baut sich schützend vor Bridie auf, in Kampfhaltung. Eine Hand ist als furchteinflößende Faust erhoben, die andere zerrt seine geisterhafte Unterhose ein Stück höher.
Bridie verkneift sich ein Lachen.
Dr.Harbin bleibt unbeirrt (er sieht nur dünne Luft zwischen sich und Bridie Devine) und zieht seine Hand aus der Tasche.
Sie enthält nichts Gefährlicheres als einen Briefumschlag.
Bridie betrachtet den Briefumschlag auf dem Kaminsims, während sie nachdenklich ihre Pfeife raucht, nicht ganz allein im Wohnzimmer.
Ruby hat in dem Sessel gegenüber Platz genommen, nachdem er dem Arzt beim Abschied noch mit Schwung in den Hintern getreten hat. Er hat seinen Zylinderhut zwischen den Knien und zupft an einer Spitze seines prächtigen Schnurrbarts. Sein Blick streift durch den Raum, kehrt aber immer wieder zu Bridie zurück.
Cora kommt herein, ohne anzuklopfen. »Was wollte der Blödmann?«
»Du hast es gehört, du hast dir doch die Ohren an der Tür plattgedrückt.«
Ruby richtet sich auf. »Kann die mich sehen? Frag sie.«
»Cora«, sagt Bridie und deutet auf Ruby in dem Sessel, »was ist das da?«
Cora schaut hin. »Ein Sessel.«
»Und in dem Sessel?«