Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Pelzhandelsgesellschaften waren die ersten, die nach Westen vordrangen, um neue Jagdgründe zu erschließen. Dabei stießen sie auf unbekannte Flüsse, Gebirgsregionen und Indianerstämme...Am 14. Mai des Jahres 1824 startete eine Expedition, die Präsident Thomas Jefferson veranlasst hatte. Sie sollte weit über den oberen Missouri hinaus führen und neue Erkenntnisse über den amerikanischen Kontinent liefern.Meriwether Lewis, William Clark und 45 weitere mutige Abenteurer traten die Reise ins sprichwörtliche Unbekannte an. Doch ohne Hilfe von Sacajawea, die als Dolmetscherin zwei Welten und viele Völker verband, fände diese ansonsten zum Scheitern verurteilte Expedition keine Erwähnung in den heutigen Geschichtsbüchern.Die Lewis-&-Clark-Expedition erforschte zunächst den oberen Missouri und stieß dann weiter in Richtung Nordwesten bis zur pazifischen Küste vor. Keiner der Männer besaß genaue geografische Kenntnisse über die Beschaffenheit des Weges, der vor ihnen lag. Diese Expedition war mit ungeheuren Strapazen und Gefahren verbunden, denn die ihnen bekannte Zivilisation war unendlich weit entfernt...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 429
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
ONLY EBOOK - WESTERN
BUCH 8
© 2024 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Alfred Wallon
Titelbild: Mario Heyer
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Satz: Torsten Kohlwey
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 978-3-7579-4636-4
e108v2
Vorwort
Der Aufbruch
Auf dem Weg nach Nordwesten
Der Deserteur
Begegnung mit den Osage
Gefährliche Begegnung
Das Gesetz der Wildnis
Tod und neues Leben
Die Reise ins Unbekannte
Schneebedeckte Gipfel
Im Land der Shoshonen
Durch die Wildnis der Rocky Mountains
Auf dem Columbia River in Richtung Westen
Fort Clatsop
Gefährliche Suche
Nachwort
Über den Autor
Thomas Jefferson, der dritte Präsident der noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika, hatte schon lange vor seinem Amtsantritt eine Vision von einem homogenen Staatengebilde, das bis zum Pazifik reichte. Immer wieder hatte er offen den Wunsch geäußert, eine Forschungsexpedition quer durch den Nordwesten bis zur pazifischen Küste zu senden, denn er hatte begründete Sorgen, dass die Engländer den Amerikanern zuvorkommen könnten.
Ich habe gehört, dass die Engländer eine große Geldsumme für die Erforschung des Landstrichs zwischen Mississippi und Kalifornien bereitgestellt haben. Sie behaupten, es ginge um reine Forschung. Doch ich fürchte, sie wollen jene Gebiete besiedeln, schrieb Jefferson im Jahre 1783.
Seine Unruhe vergrößerte sich, als er von den tatkräftigen Unternehmungen eines gewissen Alexander Mackenzie erfuhr, der die britische Vorherrschaft im hohen Norden durch eine Kette von Handelsposten sichern wollte, die ebenfalls bis zum Pazifik ging. Dadurch würden amerikanische Seefahrer, die an der Nordwestküste einen turbulenten Handel betrieben, endgültig aus dem Pelzgeschäft verdrängt werden. Einzig und allein die russischen Niederlassungen in dieser Region sollten unbehelligt bleiben. Mackenzies Plan war gut durchdacht, aber er setzte voraus, dass die beiden großen Pelzhandelsgesellschaften vor Ort - die Hudson´s Bay Company und die North West Company - diese Idee unterstützten – und dies schlug fehl.
Beide Gesellschaften konnten sich nicht einigen, zukünftige Unternehmungen gemeinsam zu planen und durchzuführen.
Dieser Zwist gab Jefferson die Möglichkeit, seinen Plan umso rascher durchzusetzen. Die Expedition sollte von Jeffersons ehemaligem Sekretär, Captain Meriwether Lewis, durchgeführt werden. Zusammen mit Captain William Clark sollte er Jeffersons Erwartungen erfüllen und währenddessen sämtliche Entdeckungen und Erkenntnisse in Tagebüchern und detaillierten Aufzeichnungen festhalten. Dies beinhaltete auch neues Wissen hinsichtlich der Flora und Fauna sowie genaue kartografische Angaben zu den Gebieten, die sie durchqueren würden.
Andere zivilisierte Nationen haben, indem sie Forschungsreisen durchführten, beträchtliche Aufwendungen zur Erweiterung der Grenzen ihrer geografischen Kenntnisse nicht gescheut, erklärte Präsident Jefferson in einer Botschaft an den Kongress. Unsere Nation ist sich und ihren Interessen die gleiche Aufgabe schuldig – nämlich die leichteste Verbindung durch den Kontinent zu erforschen und die in unserem Bereich gelegene Zone zu durchqueren.
Als Jefferson im Jahre 1803 den Kongress für seine Ideen zu motivieren versuchte, wusste er noch nicht, dass wenige Monate später die Verhandlungen in Paris zur Abtretung von ganz Louisiana an die Vereinigten Staaten führen würden. Jefferson hatte schon Wochen vorher mit Meriwether Lewis über seine Absichten gesprochen und ihn über die wichtigsten Pläne eingeweiht. Der Handel um Louisiana gab schließlich den Ausschlag, die bereits gefassten Entscheidungen endlich in die Tat umzusetzen. Nachdem der Vertrag unter Dach und Fach war, mussten sich die USA keine Hemmungen mehr auferlegen, die Grenzen in Richtung Nordwesten auszuweiten und sie in der Absicht zu erforschen, diese noch größtenteils unbekannten Gebiete eines Tages für die Besiedlung öffnen zu können.
Und so startete die Expedition von Captain Meriwether Lewis und Captain William Clark am 14. Mai des Jahres 1804. Insgesamt 43 wagemutige Abenteurer hatten sich bereit erklärt, diese Reise ins Unbekannte zu wagen und im Lauf der nächsten Wochen und Monate nicht nur neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern diese auch genauestens aufzuzeichnen und sämtliche Details kartografisch für die Nachwelt festzuhalten. Während der nächsten zwei Jahre würden sie alle der bekannten Zivilisation den Rücken kehren und Gebiete betreten, die kaum ein Weißer jemals zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte.
Als die Expedition am 23. September 1806 wieder in St. Louis eintraf, hatte sie vielfältige Erkenntnisse gewonnen, die für spätere Generationen von unschätzbarem Wert waren. Die Lewis & Clark-Expedition gilt auch heute noch – mehr als 200 Jahre nach Beginn dieser langen und gefahrvollen Reise – als ein Dokument von Mut, Wissensdrang und Expansionswillen einer noch jungen Nation.
Dass die Aufzeichnungen späteren Siedlerströmen den Weg ebneten und dadurch die Ureinwohner ins Abseits drängten, ist eine der Schattenseiten dieser abenteuerlichen Expedition. Aber zu dieser Zeit dachten weder Meriwether Lewis noch William Clark daran, dass nur 70 Jahre später große Teile des amerikanischen Kontinents bereits besiedelt und von einem Schienennetz durchzogen sein würden, das in einem unaufhörlichen Strom weitere Siedler bis in die entferntesten Winkel des Landes bringen sollte, nachdem Trecks und Wagenzüge den großen Aufbruch in den amerikanischen Westen bereits Jahre zuvor eingeleitet hatten.
Einen Roman über diese Expedition zu schreiben, ist eine große Herausforderung. Anna Lee Waldo hat dies in ihrem Roman Sacagawea auch getan, durch den ich vor vielen Jahren zum ersten Mal als Leser von dieser Expedition erfuhr. Lewis, Clark und Sacagawea gaben übrigens auch ein kurzes – wenn auch stummes Gastspiel – in dem Film Nachts im Museum, und zwar im ersten Teil. Aber das sei nur am Rande bemerkt.
Als Autor stand ich vor der Entscheidung, welche Quellen über die Lewis & Clark-Expedition nun stärkeren Einklang finden sollen. Zweifellos hatte diese Reise wissenschaftlichen und ethnologischen Charakter, denn Präsident Jefferson erhoffte sich zahlreiche neue Erkenntnisse über Flora und Fauna und einer bis dahin noch weitestgehend unbekannten Region.
Das führt zu der Erkenntnis, dass ein Aufzählen sämtlicher Entdeckungen, Flüsse, Pflanzen und weiterer Naturereignisse diesen Roman unweigerlich zu einem Sachbuch mit einem geringen fiktionalen Teil gemacht hätten. Ich habe jedoch bewusst den Schwerpunkt auf die handelnden Personen, deren Gedanken und Emotionen gelegt – und wie sie in einer Extremsituation reagieren.
Im Buch begegnen Lewis & Clark der Indianerin Sacagawea und ihrem cholerischen Mann Toussaint Charbonneau einige Monate früher als es der historischen Wirklichkeit entspricht. Diese schriftstellerische Freiheit möge man mir verzeihen – aber ich bin davon überzeugt, dass es spannender für den Leser ist, wenn die wichtigen Figuren eines Romans so rasch wie möglich aufeinander treffen.
Die Tagebücher der Lewis & Clark-Expedition sind überliefert und liegen mir in deutscher Übersetzung vor. Sie sind in einer klaren und meist einfachen Sprache gehalten. Die dort enthaltenen Schilderungen mögen dem einen oder anderen Ethnologen heute als subjektiv erscheinen und vermutlich nicht den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Für mich stellten diese Aufzeichnungen jedoch einen Blick in eine Zeit dar, wie sie Lewis und Clark zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich gesehen und erlebt haben könnten. Diese Eindrücke und Gefühle habe ich versucht, an den geeigneten Stellen mit einzuarbeiten.
- Alfred Wallon,
Augsburg, im September 2020
13. Mai 1804
In einem Lager am Ostufer des Mississippi
Drei Meilen von St. Louis entfernt
»Die Nordwest-Passage würde eine neue Zukunft für dieses Land bedeuten«, sagte Thomas Jefferson im Brustton der Überzeugung zu den beiden Männern, die vor ihm standen und seinen Worten lauschten. »Gentlemen, es obliegt Ihrer ganz besonderen Verantwortung, dieser Nation eine neue Zukunft zu bereiten. Es wird einmal der Tag kommen, an dem viele Generationen nach uns den Wunsch haben, weiter nach Westen zu ziehen und sich dort eine Existenz aufzubauen. Sie sollen die Wegbereiter dazu sein. Haben Sie alle dafür erforderlichen Vorbereitungen inzwischen treffen können, Mister Lewis?«
Der Angesprochene nickte und sah kurz zu dem zweiten Mann, bevor er schließlich das Wort ergriff. Meriwether Lewis war zwar mit der Machtfülle des dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten vertraut, aber es stellte etwas völlig anderes dar, als Privatsekretär präzisen Anweisungen zu folgen und die Entscheidungen dagegen anderen zu überlassen. Jetzt war er selbst gefragt, und diese große Verantwortung machte den Mann mit den kurzen dunklen Haaren und den markanten Augenbrauen etwas unsicher.
»Wir haben alles in Ihrem Sinne erledigt, Mister President«, sagte Lewis, der in den Rang eines Captains erhoben worden war. Clark dagegen war Lieutenant. »Wir haben genügend Vorräte und Ausrüstungsgegenstände gelagert. Ebenso wie Handelswaren, Decken und Glasperlen sowie genügend Pulver, Munition und Waffen. Wenn Sie wollen, können Sie sich selbst davon überzeugen.«
»Das ist nicht notwendig, Mister Lewis«, winkte der grauhaarige Thomas Jefferson ab, der es sich nicht hatte nehmen lassen, das Lager der Expeditionsteilnehmer am Abend vor dem Aufbruch persönlich aufzusuchen. »Ich kenne Ihr Organisationstalent seit vielen Jahren und weiß, dass ich mich auf Sie in dieser Hinsicht voll und ganz verlassen kann. Ich hoffe, das gilt auch für die übrigen Männer, die Sie und Mister Clark angeheuert haben...?«
»Reden Sie mit den Leuten, wenn Sie Zweifel haben, Sir«, ergriff jetzt der hagere William Clark das Wort. »Was mich betrifft – ich würde für jeden dieser Männer die Hand ins Feuer legen. Captain Lewis und ich hatten genügend Zeit, um jeden unserer Leute genau kennenzulernen. Vergessen Sie nicht, dass wir schon mehre Monate mit den Vorbereitungen für diese Expedition zugange sind. Wir haben Vorräte und Ausrüstungsgegenstände an diesen Ort geschafft. Handelswaren wie Glasperlen und Decken sowie genügend Pulver und Blei befinden sich bereits an Bord des Kielbootes und der beiden Pirogen. Die Männer können es kaum abwarten, dass wir endlich aufbrechen.«
Jefferson hatte die Kritik in den Worten Clarks verstanden und begrub deshalb alle restlichen Zweifel. Auf die beiden Männer, die er mit der Leitung der Expedition betraut hatte und auf deren Beurteilungsvermögen er sich bisher immer hatte verlassen können, lastete nun eine große Verantwortung, denn sie würden ab morgen der Zivilisation den Rücken kehren und womöglich mehrere Jahre die Wildnis durchqueren. Ob alle von ihnen auch wohlbehalten zurückkehrten, das wusste niemand. Aber dennoch hatten sich insgesamt 45 abenteuerhungrige Soldaten, Pioniere aus dem Mississippi-Tal, französische Voyageurs und Dolmetscher freiwillig zu diesem waghalsigen Unternehmen zusammengefunden, das sie aus den besiedelten Regionen hinaus in die Weite des unbekannten Westens führen sollte.
»Der Kongress hat Ihnen 2.500 Dollar für diese Expedition zur Verfügung gestellt«, ging der Präsident nun auf ein anderes Thema ein. »Ich weiß, dass die geplanten Ausgaben bereits überschritten worden sind, bevor Sie diese Reise überhaupt angetreten haben. Aber das lassen Sie ruhig meine Sorge sein. Ich werde die notwendigen und vor allen Dingen richtigen Worte finden, um unsere Abgeordneten davon zu überzeugen, dass man eben nicht alles im Voraus planen kann, Gentlemen. Gewisse Dinge muss man einfach tun.«
Lewis und Clark wussten, was Jefferson damit sagen wollte. Einerseits ging es zwar um die Erforschung einer Landroute nach Nordwesten bis zum Pazifik, aber andererseits steckten handfeste politische und wirtschaftliche Absichten hinter der Bewilligung dieser Expedition. Das hatte man natürlich der Bevölkerung nicht mitgeteilt, sondern stattdessen proklamiert, dass der Missouri und seine wichtigsten Nebenflüsse erforscht werden sollten – und dass nach einer Landverbindung zu den pazifischen Gewässern gesucht werden müsse. In Wirklichkeit sollten Lewis und Clark aber auch dafür sorgen, dass die wirtschaftlichen Interessen der amerikanischen Regierung beachtet wurden. Denn am oberen Missouri saßen die Agenten und Händler der kanadischen North West Company und hatten dort bereits ein gut funktionierendes Netz aufgebaut. Diese Vorherrschaft konnte nicht länger geduldet werden, und nicht zuletzt deswegen hatte der Präsident die Expedition vom Kongress bewilligt bekommen.
»Es könnte sein, dass wir Ärger mit der North West Company bekommen, wenn wir erst den oberen Missouri erreicht haben«, meinte Clark. »Wie sollen wir uns dann verhalten, Mister President?«
»Eben so, dass dieser Ärger nicht zu einer zwangsläufigen Eskalation führt, Mister Clark«, erwiderte Jefferson. »Da verlasse ich mich ganz auf Ihren gesunden Menschenverstand. Setzen Sie unsere Ziele durch, aber lassen Sie sich nicht unnötig provozieren.«
»Wir werden uns bemühen«, versprach nun auch Meriwether Lewis, der der Besonnenere von beiden war. »Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden, Mister President – deshalb danke ich Ihnen, dass Sie persönlich hierhergekommen sind. Werden Sie dabei sein, wenn wir morgen früh aufbrechen?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte Jefferson, der sich in dieser primitiven Umgebung des Camps nicht sonderlich wohl fühlte. Das konnte man ihm ansehen. Als gewählter Präsident einer ganzen Nation genoss er natürlich lieber den Komfort und die Sicherheit eines geregelten bequemen Lebens in seinem Amtssitz in Washington. Große Expeditionen vom Schreibtisch aus zu planen war leicht - aber die Durchführung war doch bedeutend schwieriger. Umso erleichterter war Jefferson, in Lewis und Clark genau die richtigen Männer gefunden zu haben, die sich beide auf optimale Weise ergänzten.
Jefferson verabschiedete sich von den Leitern der Expedition mit einem kurzen, aber kräftigen Händedruck. Lewis und Clark schauten zu, wie der Präsident von vier Soldaten begleitet wurde und in eine Kutsche stieg, die am Rande des Lagers auf ihn wartete. Aber das registrierten die meisten Teilnehmer der Expedition nur am Rande. Sie wussten zwar, dass Jefferson gekommen war, um mit Lewis und Clark zu sprechen – aber das war nicht wichtig für sie. Stattdessen widmeten sie sich den Abschlussarbeiten beim Beladen des Kielbootes und der beiden Pirogen.
»Morgen schreiben wir vielleicht Geschichte, William«, sagte Lewis zu seinem Partner. »Es wird ein großer Augenblick für uns alle werden.«
»Hoffentlich«, meinte Clark seufzend. »Aber Männer, die die Geschichte maßgebend geprägt haben, mussten immer ein schweres Schicksal erdulden.«
»Du bist wieder mal der geborene Pessimist«, meinte Lewis kopfschüttelnd. »Wir hatten ein gutes halbes Jahr Zeit, um alle Vorbereitungen ordnungsgemäß zu treffen. Außerdem sind wir kein feindliches Heer, das sich auf einem Eroberungsfeldzug befindet. Wenn wir uns den Indianern gegenüber friedlich zeigen und keine unsinnigen Machtdemonstrationen veranstalten, dürfte es auch keinen Ärger geben.«
»Ich werde dich daran erinnern, wenn es soweit ist«, meinte Clark und verabschiedete sich nun ebenfalls von Lewis. Er fühlte sich müde und wollte an diesem Abend früh schlafen gehen, um am nächsten Morgen ausgeruht die Expedition zu beginnen. Meriwether Lewis dagegen würde vermutlich noch bis spät in die Nacht in seinem Zelt sitzen und das Kartenmaterial studieren, auf dem sie den ungefähren Lauf der Reise eingezeichnet hatten. Aber der Weg nach Nordwesten war größtenteils unerforscht, und niemand wusste, was sie auf der Reise an sonstigen Hindernissen und Gefahren erwartete.
Mittlerweile war die Sonne bereits untergegangen und Präsident Jefferson auf dem Weg zurück nach St. Louis, wo er die Nacht in einem bequemen Bett verbringen würde, bevor er am kommenden Morgen die lange Rückreise nach Washington antrat. Clark dachte nur einen winzigen Augenblick daran, dass ein weiches und warmes Bett auch für ihn eine willkommene Abwechslung gewesen wäre.
Als er das Zelt erreichte, das er sich mit seinem schwarzen Diener York teilte, kam dieser gerade heraus. Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Nervosität und Neugier, weil er offensichtlich schon auf Clark gewartet hatte.
»Was ist denn, York?«, fragte ihn Clark, während er an ihm vorbei ins Zelt ging, den Dreispitz abnahm und seinen Rock aufknöpfte.
»Ich habe noch nie einen richtigen Präsidenten gesehen, Mister Clark«, rückte York nun mit dem heraus, was ihn beschäftigte. »Dass er auch noch bis nach St. Louis kommt, um nach dem Rechten zu sehen, ist fast ein Wunder.«
Clark musste bei den Worten seines Dieners lächeln. York war ein gutmütiger Mensch und eigentlich nur ein Sklave, der Clark schon seit einigen Jahren gute Dienste leistete. Als Clark ihm gesagt hatte, was er zusammen mit Meriwether Lewis plante, hatte York keine Angst gezeigt, sondern seinem Herrn stattdessen versichert, dass er auf dieser langen Reise sein Bestes geben würde, um Gefahren von ihm abzuwenden. Weil Clark ihn selbst als Sklaven meistens gut behandelte, hatte sich ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen den beiden gebildet.
»Mister Jefferson wird schon wissen, warum er das tut, York«, meinte Clark, während er seinem Diener den Rock reichte. »Politik ist für manche Menschen ein Buch mit sieben Siegeln – aber auf diesem Parkett kann er sich sehr gut bewegen...« Er bemerkte, dass York nicht verstand, worauf er hinaus wollte und fuhr deshalb rasch fort. »Er hat uns allen noch einmal viel Glück und Erfolg gewünscht – deshalb ist er gekommen. Und das können wir gut gebrauchen. Schließlich werden wir in Regionen vordringen, die gänzlich unbekannt sind.«
»Ich kannte auch noch nicht St. Louis, Mister Clark«, erwiderte York achselzuckend. »Hier sind viel zu viele Menschen. Man kann kaum noch atmen. Deshalb bin ich sehr froh darüber, wenn wir endlich morgen früh von hier aufbrechen.«
»Da magst du Recht haben«, musste nun auch Clark eingestehen, während er zu seinem Lager ging und sich darauf ausstreckte. »Aber das ist eben nun mal der günstigste Ausgangspunkt für unsere Reise. Hauptsache, das Wetter ist auf unserer Seite. Zumindest sieht es so aus, als wenn wir die nächsten Tage nicht mit Regen rechnen müssen. Das hilft uns, schneller voranzukommen.«
York nickte, sagte aber nichts mehr dazu. Er legte sich ebenfalls hin. Wenige Minuten später zeigten seine ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge, dass er bereits eingeschlafen war. Manchmal beneidete Clark seinen Diener. Er zerbrach sich nicht den Kopf über gewisse Dinge, sondern war mehr pragmatisch veranlagt. Wenn es ein Problem gab, dann nahm er es einfach hin und bemühte sich, dieses so schnell wie möglich zu lösen. Manchmal auch auf ganz überraschende Weise, für die ein anderer sehr viel Zeit benötigt hätte. Deshalb war es für William Clark beschlossene Sache gewesen, seinen Diener mit auf die lange und sicher auch gefahrvolle Reise zu nehmen.
Draußen hörte er die Stimmen der anderen Männer, die noch am Lagerfeuer saßen. Jemand lachte laut auf. Ein anderer sang ein Lied, dessen Melodie Clark sehr bekannt vorkam, auch wenn es in französischer Sprache gesungen wurde. Der Sänger war George Drouillard, ein Shawnee-Halbblut, der sich ebenfalls als Scout und Dolmetscher dieser Expedition angeschlossen hatte. Aber nicht um Geschichte zu schreiben, sondern um ein grandioses Abenteuer zu erleben, für das nach seinen Verhältnissen am Ende der langen Reise ein guter Lohn auf ihn wartete. So wie er dachten auch Reuben und Joseph Field und John Colter. Das waren erfahrene Männer aus dem Mississippi-Tal, die Lewis und Clarks Aufruf ohne Zögern gefolgt waren, genau wie die meisten anderen Teilnehmer der Expedition.
Clark spürte, wie die Müdigkeit immer stärker von ihm Besitz ergriff und er bald darauf die Augen schloss. Er hörte das französische Lied nur noch aus ganz weiter Ferne, und dann verstummte es schließlich. Das war der Moment, als William Clark in einen tiefen und ruhigen Schlaf fiel.
* * *
14. Mai 1806
14.00 Uhr
Zwei Stunden vor Aufbruch der Expedition
Am Zusammenfluss von Mississippi und Missouri herrschte schon zur frühen Stunde ein geschäftiges Treiben. Zahlreiche Bewohner und Neugierige – sowohl aus St. Louis als auch aus der näheren Umgebung – waren gekommen, um den Aufbruch der Expedition zu erleben. Männer und Frauen, aber auch einige Kinder beobachteten mit staunenden Augen, wie weitere Kisten und Packen in die Boote gebracht und dort sicher verstaut wurden.
Meriwether Lewis überwachte höchstpersönlich diesen Vorgang und hakte jeden einzelnen Posten an Vorräten und Ausrüstungsgegenständen sorgfältig auf einer Liste ab. Er wollte ganz sicher gehen, dass in diesem Stadium nichts vergessen wurde, was sich später als fataler Leichtsinn erweisen konnte. Für manch anderen mochte diese Vorgehensweise pedantisch und überflüssig erscheinen, aber Lewis wusste, was er tat – und deshalb waren seine Blicke sehr streng, als er die Männer beim Beladen noch einmal instruierte und präzise Anweisungen gab, was wo verstaut werden sollte.
»Aufpassen!«, rief er einem kräftigen Mann namens Ebenezer Tuttle zu, der zusammen mit dem blonden Isaac White eine schwere Kiste an Bord der Piroge schleppte. Lewis hatte bemerkt, dass White große Mühe mit der Kiste hatte und ins Stolpern gekommen war. Glücklicherweise konnte Tuttle das Schlimmste verhindern, sonst wäre die Kiste ins Wasser gefallen. Er fluchte laut und strafte White mit einem wütenden Blick. Der murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und bemühte sich jetzt, die Kiste sicher an Bord zu bringen.
»Die Männer geben wirklich ihr Bestes, Meriwether«, riss Lewis die Stimme seines Partners aus seinen Überprüfungen. Clark stand hinter ihm, ohne dass Lewis etwas bemerkt hatte, weil er zu sehr mit seiner Ladeliste beschäftigt gewesen war.
»Das Beste ist aber nicht gut genug für unser Vorhaben«, brummte Lewis. »Wenn etwas schief geht, müssen wir das alle büßen. Und deshalb werde ich insbesondere auf Isaac White ein Auge haben. Wenn er es noch nicht einmal schafft, eine Kiste an Bord zu bringen – wie soll er es dann hinbekommen, größere Hindernisse auf unserer langen Reise zu bewältigen? Ich dulde kein Versagen, William.«
»Wir sind alle nur Menschen, Meriwether«, entgegnete Clark. »Und wir müssen zusammenhalten. Vergiss das nicht.«
Lewis erwiderte nichts darauf, sondern konzentrierte sich wieder auf seine Listen. Clark wandte sich ab, weil er wusste, dass sich Meriwether Lewis von solchen Aussagen nicht überzeugen ließ. Präsident Jefferson hatte ihn höchstpersönlich ausgewählt und ihm zuerst das Angebot unterbreitet, diese Expedition zusammenzustellen. Erst danach war Clark auf Lewis‘ Empfehlung mit hinzugekommen, und Jefferson hatte dies bewilligt. Also traf auch Lewis letztendlich die Entscheidungen – auch wenn nach außen hin zwei Männer das Kommando haben sollten.
»Mister Clark, wir sind fertig!«, riss ihn Reuben Fields Stimme aus seinen Gedanken, der zusammen mit seinem Bruder Joseph aus dem Laderaum des großen Kielbootes kam und Clark am Landesteg erblickt hatte. »Wann brechen wir endlich auf?«
»In der nächsten Stunde«, antwortete Clark. »Haltet euch alle bereit!«
Die Zeit bis zu diesem Moment verstrich rasch. Keiner der Expeditionsteilnehmer achtete noch auf die Menschenmenge am Ufer, die immer größer geworden war. Bestimmt waren es über 100 Personen, die sich zu diesem historischen Ereignis hier versammelt hatten. Denn diese Expedition war die erste ihrer Art überhaupt, die einen solch langen und beschwerlichen Weg auf sich nahm, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Das große Kielboot, dem die beiden kleineren Pirogen folgen sollten, war ein wirklich majestätisch zu nennender Anblick. Es war groß und wuchtig und besaß genügend Ladekapazität für Vorräte und weitere Ausrüstungsgegenstände. Ein großer Mast in der Mitte des Bootes trug ein ebenso markantes Segel, das bei aufkommendem Wind hoffentlich dafür sorgen würde, dass die Reise nach Nordwesten schneller voran ging. Die beiden Pirogen waren weitaus kleiner, aber dafür umso wendiger. Ideal, um zum Einsatz zu kommen, wenn es darum ging, unbekannte Seitenarme des Missouri zu erforschen.
Meriwether Lewis überwachte immer noch die letzten Ladearbeiten. Erst als die Männer sämtliche Packen unter Deck gebracht hatten, begann sich seine Miene etwas zu entspannen, und ein winziges Lächeln zeichnete sich auf seinen vollen Gesichtszügen ab. Nun betrat er ebenfalls über die Planke das große Kielboot und dokumentierte damit nach außen, dass jetzt der Augenblick gekommen war, auf den die Männer schon gewartet hatten.
»Es ist soweit!«, erhob er seine Stimme. »Jetzt ist die Stunde gekommen, auf die wir seit mehr als vier Monaten hingearbeitet haben. Männer, wir brechen auf in unerforschte Regionen. Wir alle werden der bekannten Zivilisation für lange Zeit den Rücken kehren. Gar mancher von euch wird sich vielleicht danach sehnen, wie es ist, in einem Haus zu sitzen und in der kalten Jahreszeit in die flackernden Flammen eines Kaminfeuers zu blicken. Das alles gibt es jetzt nicht mehr. Wir werden Stürme und Unwetter erleben, aber auch Dürreperioden und Zeiten, in denen das Wasser knapp wird. Dafür aber bekommt ihr alle die einmalige Chance, Teil einer bedeutenden Expedition zu werden, die es so bisher in der Geschichte unserer jungen Nation bisher noch nicht gegeben hat. Ich verlese an dieser Stelle nochmals die Order, die Präsident Thomas Jefferson erteilt hat.«
Er zog ein Dokument aus seiner Umhängetasche, entfaltete es und fuhr dann mit stolzer Stimme fort.
»Gegenstand Ihrer Mission ist die Erforschung des Missouri und seiner wichtigsten Nebenflüsse, wobei aufgrund seines Verlaufes und der Landverbindung zu den pazifischen Gewässern festzustellen ist, welcher Fluss – Columbia, Oregon, Colorado oder irgendein anderer – die kürzeste und beste Wasserverbindung für den Handel durch den Kontinent gewährleistet. Der Kongress und der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wünschen der Expedition ein gutes Gelingen. Gott schütze Sie alle auf Ihren Wegen. Thomas Jefferson, Dritter Präsident der USA.«
Sekunden lang herrschte Stille an der Bord des großen Kielbootes. Dann brandete ein frenetischer Jubel auf, der auch einen sonst eher abgeklärt und nüchternen Mann wie Meriwether Lewis nicht kalt bleiben ließ. Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, während ein Teil der Besatzung jetzt die beiden Pirogen betrat und ebenfalls die kleineren Segel zu setzen begann.
Meriwether Lewis blickte hinauf zum nachmittäglichen Himmel. In der Ferne waren einige Wolken aufgezogen, und der Wind war etwas stärker geworden. Das war ein gutes Zeichen. So konnten das wuchtige Kielboot und die beiden kleineren Pirogen hoffentlich rasch Fahrt aufnehmen.
Am Ufer jubelten ihnen zahlreiche Menschen zu, während die letzten Taue gelöst wurden. Der frische Wind bauschte das Segel des Kielbootes auf, während sich die Distanz zum Ufer ganz langsam vergrößerte und damit die Trennung von allem noch verdeutlichte, was ihnen bisher vertraut und bekannt war.
»Endlich«, murmelte Meriwether Lewis und rückte seinen Dreispitz zurecht. »Wie sehr habe ich auf diesen Augenblick gewartet...«
Vergessen waren jetzt die Mühen und Anstrengungen der letzten Tage – und auch die Zweifel, die einige der Männer gehabt hatten. Einige von ihnen blickten zurück zum Ufer, denn unter den Zuschauern waren auch Freunde und Bekannte gewesen. Vielleicht war dies sogar ein Abschied für immer? Niemand wusste es genau, und deshalb war es für die meisten der ansonsten so hart wirkenden Männer ein ergreifender Moment.
Der schwarze Diener York dagegen achtete nicht auf die Menschenmenge, die den Männern auf dem Kielboot und den beiden Pirogen zuwinkte.
Seine Blicke richtete sich weiter flussaufwärts, denn er konnte es kaum erwarten, zusammen mit seinem Herrn William Clark in ein unbekanntes Territorium einzudringen und dort zahlreiche Abenteuer zu erleben. Er dachte nicht mehr daran, dass er ein Sklave war und nicht über die Rechte verfügte, die für alle anderen selbstverständlich waren. Stattdessen fühlte er sich als ein Teil dieser wichtigen Expedition, von der man hoffentlich noch lange sprechen würde. Und er war der einzige Schwarze an Bord und hoffte dadurch, für seine Rasse ein deutliches Zeichen zu setzen!
* * *
14. – 16. Mai 1806:
Aus den Tagebuchaufzeichnungen von William Clark:
...Wir brachen am 14. Mai um vier Uhr nachmittags auf, während uns viele benachbarte Einwohner zuschauten und uns alles Gute wünschten. Unter einer sanften Brise steuerten wir vier Meilen den Missouri hinauf bis zu einem Landeplatz bei einer Insel, wo wir schließlich unser Lager aufschlugen. Die Insel liegt nahe am rechten Flussufer, gegenüber einem kleinen Bach, der Coldwater Creek genannt wird. Gegen Einbruch der Dämmerung begann es zu regnen. Dies setzte sich während der ganzen Nacht fort bis zum Vormittag des folgenden Tages. Wir konnten erst wieder gegen zehn Uhr unsere Reise fortsetzen und legten neun weitere Meilen zurück. Nachdem wir zwei weitere Inseln passierten, waren wir gezwungen, erneut am Ufer am späten Nachmittag anzulegen, weil das Heck unseres Kielbootes zu schwer beladen war und es demzufolge immer wieder mit im Fluss treibenden Baumstämmen zusammenstieß. Captain Lewis hat deshalb Anweisung gegeben, die Ladung neu zu verteilen, damit wir nicht noch einmal solche Probleme bekommen. Die Männer führen ohne zu zögern seine Anweisungen aus - aber ich weiß, dass sie in Gedanken schon in den Kneipen von St. Charles weilen. Lewis hat ihnen das gestattet, aber wenn sie am darauf folgenden Tag deshalb ihrer Arbeit nicht nachkommen können, dann wird er Wege und Mittel finden, um sie zur Ordnung zu rufen.
Aus den Tagebuchaufzeichnungen von Sergeant Patrick Gass, am Abend des 16. Mai 1804:
…Am Abend des ersten Tages bezogen wir ein Lager auf dem nördlichen Ufer des Flusses, eineinhalb geografische Meilen von seiner Mündung entfernt. Hier hatten wir nun Muße, über unsere Lage und die Natur unserer eingegangenen Verbindlichkeiten nachzudenken. Da wir als Freiwillige die Unternehmung mitmachten, so mussten wir uns fragen, inwiefern auch wir für den Erfolg einer Reise verantwortlich wären, die von der Regierung zum Vorteil und auf Kosten der Vereinigten Staaten veranstaltet worden war und von welcher man sich so vieles versprach. Es war uns aus sicheren Nachrichten bekannt, dass das Land, das wir durchreisen sollten, von zahlreichen mächtigen und kriegerischen wilden Völkern bewohnt wurde, die von gigantischem Körperbau, grausam, treulos und vor allem entschiedene Feinde der Weißen waren. Wenn wir den Gerüchten und einer allgemeinen Tradition Glauben beimessen wollten, so wurden wir auch auf unserem Marsch durch völlig unübersteigbare Berge aufgehalten. Allein die gesamte Mannschaft war von Mut und Entschlossenheit beseelt, es herrschte ein festes Vertrauen in die beiden Anführer, und wir selbst waren von dem Gefühl der Ehre und der Pflicht so lebendig durchdrungen, dass auch nicht die geringste Furcht oder Besorgnis Zugang zu unseren Herzen fand...
»Du solltest lieber Schluss machen«, sagte Robert Frazer zu seinem angetrunkenen Gefährten Hugh McNeal, der sich aus eigener Kraft kaum noch auf den Beinen halten konnte. »Captain Lewis wird es ganz und gar nicht gefallen, wenn er am nächsten Morgen bemerkt, dass du zu viel getrunken hast und...«
»Ach was!«, fiel ihm der gedrungene McNeal ins Wort. »Verdammt, Robert – St. Charles ist die letzte größere Ansiedlung, die wir passieren. Diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen. Und wie du siehst, trifft das auch für die anderen Mannschaftsmitglieder zu.«
Während er das sagte, blickte er hinüber zur Theke, an der die beiden Field-Brüder standen. Reuben prostete John Colter zu, der nur wenige Schritte entfernt stand, und dieser hob ebenfalls sein Glas. Raues Gelächter erfüllte den Raum, als drüben an einem der Tische ein Mann plötzlich ins Stolpern geriet und gegen einen Tisch stieß. Dabei stürzte das Glas eines hemdsärmeligen vollbärtigen Mannes um und ergoss sich auf dessen Hosen.
Wahrscheinlich hätte Frazer diesem kurzen Vorfall keine Bedeutung zugemessen, aber bei dem Pechvogel handelte es sich um Silas Goodrich, einen hitzköpfigen Mann, der das so ohne weiteres nicht hinnehmen wollte.
Bevor ihn einer seiner Kameraden daran hindern wollte, war er auch schon aufgestanden, packte den Mann, der sein Glas umgestoßen hatte, am Kragen seines verwaschenen Hemdes, riss ihn zu sich heran und verpasste ihm mit der rechten Handfläche eine saftige Ohrfeige. Der völlig überraschte angetrunkene Mann taumelte nach hinten, stieß gegen zwei weitere, mürrisch dreinblickende Zeitgenossen – und die wiederum standen den beiden Field-Brüdern im Weg, als sie sich gerade erneut zuprosten wollten.
Das reichte aus, um das Chaos perfekt zu machen. Reuben Field war der erste, der sich zu wehren begann, und dabei blieb es nicht. Nur wenige Augenblicke später entwickelte sich eine handfeste Keilerei, bei denen auch Frazer und McNeal beteiligt waren. Frazer war normalerweise jemand, der einem Streit möglichst aus dem Weg zu gehen versuchte, aber als er sah, dass seine Kameraden bedrängt wurden und Probleme bekamen, mischte er sich natürlich ein und bemühte sich, im wahrsten Sinne des Wortes schlagkräftige Hilfe zu leisten.
McNeal hatte das auch vor, aber dabei standen ihm seine eigenen Füße im Weg. Er stolperte und fiel zu Boden, während über ihm die Schlägerei weiter ging. Ein Tisch ging zu Bruch, und ein Stuhl wurde in Richtung der Field-Brüder geschleudert, die das gar nicht lustig fanden und sofort mit gleicher Münze zurückzahlten.
Wenige Minuten später hatte sich die Kneipe in ein Schlachtfeld verwandelt. Männer stöhnten und fluchten, während sie Hiebe austeilten und sich gleichzeitig vor den Schlägen ihrer Gegner auszuweichen versuchten. Der Besitzer der Kneipe war indes ins Freie geeilt und schrie laut um Hilfe.
Sein Flehen wurde kurz darauf erhört, denn Captain Meriwether Lewis hielt sich mit Captain William Clark und sechs weiteren Männern in der Nähe auf. Sie waren der Einladung eines kanadischen Händlers namens Frank Ducett gefolgt, der von der Expedition zum oberen Missouri erfahren hatte. Lewis und Clark hatten von Ducett wertvolle Informationen über die Lage des Pelzhandels am oberen Missouri erfahren, die ihnen sicherlich weiter helfen würden. Gerade als sie das Haus des Händlers wieder verlassen hatten, waren sie auf sechs Mitglieder ihrer Mannschaft gestoßen und wollten den Rest des Abends bei einem Glas Brandy in einer der Kneipen am Hafen verbringen. Aber daraus wurde nichts, denn in diesem Moment kam der Wirt ins Freie gestürzt und erblickte die acht Männer.
»Gentlemen!«, rief er außer sich vor Sorge. »Bitte helfen Sie mir! Mein Lokal wird gerade von einem Haufen wilder Kerle verwüstet! Sie zerschlagen alles!«
Lewis warf seinem Partner einen kurzen Blick zu. Clark nickte und gab den anderen Männern einen Wink, ihnen zu folgen. Noch vor der Kneipentür hörten sie wüstes Gegröle und lautes Fluchen. Sekunden später taumelte ein Mann ins Freie.
Es war Reuben Field.
Er stieß gegen Meriwether Lewis und zuckte im selben Moment zusammen.
Lewis rümpfte die Nase, als er den Alkohol roch und zog seine Pistole.
»Folgt mir!«, sagte er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete und betrat mit vorgehaltener Waffe die Kneipe, während sich Reuben Field wieder aufzurappeln versuchte.
Als Lewis sah, dass sich die Männer hier immer noch eine handfeste Keilerei lieferten und auf nichts und niemanden Rücksicht nahmen, hob er seine Pistole, zielte auf die Holzdecke und drückte ab.
Der laute Schuss übertönte sämtliche anderen Kampfgeräusche, die Sekunden später gänzlich verstummten. McNeal, Frazer und die Field-Brüder erblickten mit Schrecken Captain Lewis, wie er in der Tür stand und sie in einer Mischung aus Zorn und Verachtung anschaute.
»Wie ich sehe, habt ihr es vorgezogen, euch zu besaufen und zu prügeln«, richtete Lewis das Wort an seine Leute. »Ihr geht sofort wieder zurück an Bord des Kielbootes. Habt ihr verstanden?«
»Captain, wir haben uns doch nur verteidigt!«, begehrte Hugh McNeal auf. »Wir mussten doch unserem Freund Silas helfen...«
»Goodrich also«, zog Lewis mit dieser Bemerkung die richtige Schlussfolgerung. »Was haben Sie dazu zu sagen, Mister Goodrich?«
Der Angesprochene wischte sich mit der rechten Hand das Blut aus dem Mundwinkel und stand noch etwas unsicher auf den Beinen. Seine Haltung wirkte trotzig, als er das Wort ergriff.
»Wenn mir jemand etwas zufügen will, dann wehre ich mich auch, Captain«, schnaufte er. »Oder hätten Sie es zugelassen, wenn jemand absichtlich Ihr Glas umstößt und...?«
»Das wollte ich doch gar nicht!«, rief ein anderer aus der Menge und schaute zornig zu Goodrich. »Ich wollte mich ja dafür entschuldigen, aber dann hat dieser Kerl sofort zugeschlagen!«
Lewis wartete einen kurzen Moment, bevor er dazu etwas sagte.
»Selbstverständlich werden meine Leute für den Schaden aufkommen, der hier entstanden ist«, richtete er das Wort an den Wirt, der einige Schritte hinter Lewis stand und sich immer noch nicht traute, nach vorn zu treten. »Reichen 50 Dollar, Sir?«
»Da ist sehr großzügig«, beeilte sich der Wirt zu sagen und konnte es gar nicht fassen, dass Lewis ihm nur wenige Sekunden später den Geldbetrag in glänzenden Münzen in die Hand drückte. »Vielen Dank.«
»Keine Ursache«, erwiderte Lewis und wandte sich dann wieder an diejenigen, die in die Prügelei verwickelt gewesen waren. »Zurück an Bord – aber unverzüglich. Wir werden darüber morgen Gericht halten.«
»Gericht?« Goodrichs Stimme klang erstaunt. »Aber was haben wir denn verbrochen, dass Sie uns mit einem Prozess drohen, Captain?«
»Ich fürchte, Sie haben den Ernst der Lage nicht erkannt, Mister Goodrich«, erwiderte Lewis in kaltem Ton. »Als Sie sich für diese Expedition gemeldet haben, geschah das zwar freiwillig, aber dennoch hat sich jeder von Ihnen bereit erklärt, den Befehlen von mir und Captain Clark Folge zu leisten. Und die lauten, dass sich jeder ordentlich zu benehmen hat. Solche Dinge dulde ich nicht und werde deshalb Gegenmaßnahmen treffen. Jeder von euch bleibt heute Nacht unter Deck und rührt sich nicht. Zuwiderhandlungen werden streng bestraft. Mehr habe ich nicht dazu sagen. Worauf wartet ihr noch?«
Keiner der beschuldigten Männer wagte es in diesem Moment, gegen Lewis‘ Entscheidung aufzubegehren.
Er und Clark besaßen genügend Autorität, um sie zu maßregeln und die meisten anderen Mannschaftsmitglieder standen unumstritten hinter den beiden Captains.
Mit gesenkten Häuptern verließen sie die Kneipe und gingen zurück zum Ufer, wo die beiden Pirogen und das Kielboot ankerten.
Dieser kurze nächtliche Ausflug hatte ein jähes Ende für sie gefunden!
* * *
Gegen zehn Uhr am nächsten Vormittag hatten sich die drei Boote schon einige Meilen von St. Charles entfernt und fuhren weiter flussaufwärts. Der Wind bauschte die Segel auf und sorgte dafür, dass sie ein gutes Stück Weg mittlerweile zurückgelegt hatten.
Lewis entschied, dass nun der richtige Moment gekommen war, um seine Androhungen einer Strafe auch in die Tat umzusetzen. Er ließ die unter Deck eingesperrten Männer unter den Blicken der übrigen Mannschaftsmitglieder herausholen und forderte sie auf, strammzustehen.
Die Mienen der Beschuldigten wirkten betroffen.
Nur Silas Goodrich blickte wütend drein, weil er offensichtlich immer noch nicht verstanden hatte, dass es hier um Disziplin und absoluten Gehorsam ging.
»Mister Goodrich, durch Ihr jähzorniges Verhalten haben Sie einen Streit in der Kneipe angezettelt und einige Ihrer Kameraden dazu angestiftet, sich an einer sinnlosen Prügelei zu beteiligen«, sagte Lewis. »Dafür ziehe ich Sie vor den Augen der gesamten Mannschaft zur Rechenschaft. Sie erhalten 80 Peitschenhiebe – in der Hoffnung, dass Sie Ihren Fehler einsehen und begreifen werden, dass Sie der Gemeinschaft mit Ihrem Verhalten geschadet haben. Die Strafe ist sofort durchzuführen!«
Während er das sagte, gab er den beiden Sergeants Charles Floyd und Patrick Gass einen kurzen Wink. Die beiden packten Goodrich an den Armen und schleppten ihn zu dem großen Mast in der Mitte des Kielbootes. Dort banden sie ihn an den Armen fest und rissen ihm das Hemd vom Oberkörper.
In der Zwischenzeit hatte ein anderer Mann Lewis eine Peitsche ausgehändigt, und der wartete ab, bis Gass und Floyd zur Seite getreten waren. Dann holte er mit der Peitsche zum ersten Hieb aus. Das Leder klatschte auf den nackten Rücken des gefesselten Goodrich, und dieser zuckte zusammen, als ihn der Schlag traf. Drei weitere Schläge nahm er teilnahmslos hin, ab dem vierten Hieb begann er leise zu stöhnen. Als ihn der fünfzigste Peitschenhieb traf, schrie er vor Schmerzen laut auf und konnte kaum noch auf den Beinen stehen, als Lewis ihm wenig später den letzten Hieb verpasste.
»Losbinden!«, rief der Captain den beiden Sergeants zu. »Bringt ihn unter Deck und kümmert euch um seine Wunden. Ich hoffe, diese Strafe war Ihnen eine Lehre, Mister Goodrich.«
Aber der Geschlagene hörte Lewis Worte überhaupt nicht, denn er war schon halb bewusstlos und bekam es gar nicht mit, wie seine Fesseln gelöst wurden. Hätten ihn Gass und Floyd nicht gestützt, wäre er auf der Stelle zusammengebrochen. Blut lief ihm den Rücken hinunter. Er musste große Schmerzen haben, denn sein Gesicht war bleich und verzerrt.
»Geht wieder an eure Arbeit!«, lautete Lewis‘ weiterer Befehl. »Wir haben schon genug unnötige Zeit dadurch verloren!«
Die Männer befolgten seine Anweisungen, aber es war deutlich spürbar, dass zumindest in diesem Moment eine schlechte Stimmung an Bord herrschte.
»War es wirklich richtig, Goodrich so hart zu bestrafen, Meriwether?«, wandte sich William Clark nun an seinen Partner. »Ich habe da meine Zweifel.«
»Ich nicht«, erwiderte Lewis abwinkend. »Wir haben von Präsident Jefferson einen Auftrag bekommen – und genau diesen werden wir nach bestem Wissen und Gewissen ausführen. Jeder dieser Männer hat einen Vertrag unterschrieben, William. Und der besagt, dass während der Dauer der Expedition unseren Anweisungen Folge zu leisten ist. Es ist mir lieber, dass ich jegliche Unruhe sofort im Keim ersticke als zuzulassen, dass sich das renitente Verhalten einiger Leute einfach weiter ausbreitet. Goodrich hat seine Lektion hoffentlich gelernt.«
Clark erwiderte nichts darauf. Weil er wusste, dass Lewis das ohnehin nicht verstanden hätte. Regeln und klare Anweisungen waren für einen Mann wie Meriwether Lewis die Grundpfeiler menschlichen Verhaltens. Die Männer mussten ihn nicht lieben, aber sie mussten ihm gehorchen.
29. Mai 1804
80 Meilen nordwestlich von St. Charles
Aus den Tagebuchaufzeichnungen von Meriwether Lewis:
...die braunen Fluten des Missouri wälzen sich zwischen versunkenen Ufern und über hingeworfene Wälder hinweg dem Mississippi entgegen. Die Böschungen sind eingestürzt und haben tausende von Bäumen mit sich gerissen. Die Strömung trägt den Wald vom Orte weg, wo er gewachsen ist und während eines ganzen Zeitalters gestanden hat. Es ist ein schreckliches Beispiel für den Lauf der Natur, wo alles in einem Konflikt zwischen Leben und Tod begriffen ist. Stromschnellen, eingestürzte Ufer und ein Gewirr halb versunkener Baumstämme zwangen uns häufig zu zeitraubenden Manövern. Unsere Boote bewegten sich vorwärts wie es die Lage erlaubte. Die Mannschaft zog von Land aus das Boot mit langen, am Mast befestigten Tauen, oder man stemmte die Pirogen in seichten Gewässern mit Stangen flussaufwärts, und gelegentlich, wenn Wind und Strom günstig waren, setzte man auch die Segel...
Es war ein gespenstisches Bild, das sich den Männern auf dem Kielboot und den beiden Pirogen bot. Wo die erdbraunen Fluten des Missouri endeten und wo sich das eigentliche Ufer erstreckte, konnte man nicht erkennen. Gefährliche Untiefen warteten zwischen den halb versunkenen Baumstämmen, die den Fluss säumten und teilweise direkt auf das Kielboot zutrieben.
John Colter und die Field-Brüder standen an den Rudern und versuchten so gut wie möglich, den Hindernissen in der Flussmitte auszuweichen, während zehn weitere Männer mit großen Stangen das Kielboot manövrierten. Wie tief der Missouri – oder besser gesagt wie flach – an dieser Stelle war, ließ sich nur schwer abschätzen. Keiner der Männer wusste, ob sie sich so nahe am Ufer befanden, dass sie jeden Augenblick auf eine tückische Sandbank auflaufen konnten.
William Clark beobachtete seinen schwarzen Diener York, der die albtraumhafte Flusslandschaft beobachtete, als wenn es ihm vertraut gewesen wäre. Bisweilen nahm sein Blick fast sehnsüchtige Züge an. Unter Umständen erinnerte dieses Naturschauspiel den Schwarzen an seine einstige Heimat. Clark beschloss jedoch, York nicht direkt darauf anzusprechen, weil er dessen Vergangenheit nur teilweise kannte. Auch wenn das Verhältnis Herr-Diener in diesem Falle nicht typisch war, so gab es dennoch Dinge, die York für sich behielt und niemandem anvertraute.
Meriwether Lewis stand am Bug des großen Kielbootes, hatte das Fernrohr angesetzt und spähte hindurch. Die braunen Fluten erstreckten sich bis zum Horizont, und nichts wies darauf hin, dass sich dies ändern würde. Die Flusslandschaft hatte sich seit gestern Mittag stark verändert, und der Wind, der bis dahin ihr ständiger Begleiter gewesen war, hatte soweit nachgelassen, dass die Männer das Segel einholen mussten.
Heute Morgen war dichter Nebel aufgezogen, der das Steuern durch diese Untiefen noch mehr erschwerte als es ohnehin schon der Fall war. Immer wieder ging ein Ruck durch das Kielboot, wenn der Rumpf unter Wasser gegen einen der zahllosen Bäume stieß, die sich auf dem Grund des Missouri befanden. Ein größeres Schiff hätte den Fluss an dieser Stelle überhaupt nicht mehr passieren können. Die beiden wendigen Pirogen dagegen hatten es leichter und konnten den Hindernissen besser ausweichen als das schwere Kielboot, das einen größeren Tiefgang hatte als die Pirogen.
Erst als sich der Nebel wieder zum größten Teil verzogen hatte und die Sicht es zuließ, welchen Kurs die drei Schiffe nehmen konnten, kamen sie besser voran. Seitdem beobachtete Captain Lewis die beiden Ufer. Aber er konnte nichts entdecken, was auf eine Siedlung hinwies. Die Männer waren allein in einer fremdartigen Natur, und die braunen Fluten des Missouri hatten sich mittlerweile zu einem vertrauten Anblick entwickelt.
»Weiter nach rechts halten!«, rief Lewis den Männern am Ruder zu. »Mehrere Bäume treiben genau auf uns zu!«
John Colter sowie Reuben und Joseph Field taten ihr Bestes, um eine drohende Kollision zu vermeiden, denn die Strömung in der Mitte des Flusses war seit einigen Minuten stärker geworden. Um nichts Unnötiges zu riskieren, gab Lewis deshalb entsprechende Anweisungen, die Boote mehr in Richtung rechtes Flussufer zu steuern. Eine Sicherheitsgarantie gab es jedoch nicht, denn der Fluss war so schlammig, dass man in den Fluten kaum erkennen konnte, was sich unter der Wasseroberfläche befand.
Plötzlich ertönte ein lautes Knirschen. Sekunden später folgte ein heftiger Ruck, und Lewis hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Er konnte sich aber noch rechtzeitig abstützen, sonst wäre er sicherlich ins Wasser gestürzt. Er rappelte sich wieder auf und blickte in Richtung Heck, wo Colter und die Field-Brüder ganz aufgeregt gestikulierten. Clark war schon zu ihnen geeilt und erteilte erste Anweisungen.
»Wir sind aufgelaufen«, sagte Clark, als Lewis zu ihm kam. »Das Kielboot sitzt fest.«
Lewis erwiderte zunächst nichts darauf, sondern beugte sich über das Heck. Aber er konnte in dem schlammigen Wasser nichts erkennen. Nervös strich er sich über das runde Kinn, während hinter seiner Stirn ein Gedanke den anderen jagte.
»Holt Taue!«, befahl er schließlich George Drouillard und Baptiste Dechamps. »Beeilt euch!«
Die beiden Angesprochenen sputeten sofort los und gingen unter Deck.
»Was hast du vor, Meriwether?«, wollte Clark wissen.
»Es bleibt uns nichts anderes übrig, als das Kielboot mit starken Tauen vom Ufer aus dieser misslichen Lage zu befreien«, klärte Lewis seinen Partner über den soeben gefassten Plan auf.
Bevor Drouillard und Dechamps mit den Tauen zurückkehrten, hatte Lewis Clark erklärt, auf welche Weise er beabsichtigte, den sprichwörtlichen Karren aus dem Dreck zu ziehen. Die kräftigsten Männer sollten mit den Tauenden an Land schwimmen, während die anderen Enden am großen Mast befestigt wurden - und dann war es Aufgabe der Männer, mit vereinten Kräften das Kielboot wieder von der Sandbank zu ziehen. Dazu musste auch ein Teil der Besatzung der beiden Pirogen an Land schwimmen, um ihren Kameraden beim Tauziehen zu helfen.
Die Männer, die sich jetzt freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatten, wussten, dass es ein riskanter Job war. Zwar war an dieser Stelle des Flusses die Strömung nicht mehr ganz so stark, aber trotzdem konnten noch weitere Gefahren in diesem schlammigen Gewässer lauern, von denen die Männer nichts ahnten.
Trotzdem erklärten sich Reuben und Joseph Field zusammen mit Drouillard und Colter als Erste sofort bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Zwanzig weitere Männer – die kräftigsten der Mannschaft – schlossen sich ihnen an. Sie warteten ab, bis die Taue sicher am stabilen Mast befestigt waren. Dann sprangen sie ins Wasser und schwammen mit kräftigen Zügen ans nahe Ufer. Auch wenn es nur knapp 40 Meter Distanz waren, so wollte keiner daran denken, was ihnen plötzlich noch zustoßen konnte. Schließlich hatten sie gestern einige große Schlangen im Fluss beobachtet, die sehr gefährlich aussahen. Wenn sie ausgerechnet jetzt auftauchten, dann würde dies für den einen oder anderen eine große Gefahr bedeuten.
Aber die Männer hatten Glück an diesem Tag. Sie durchschwammen den Fluss, erreichten wenige Minuten später das sichere Ufer und gingen sofort ans Werk. Dass es kein leichter Job war, den sie jetzt übernommen hatten, wussten sie alle. Aber jeder von ihnen war gewillt, sein Bestes zu geben und sich gewaltig anzustrengen, denn wenn es ihnen nicht gelang, das große Kielboot wieder freizubekommen, dann würde ihre Expedition ein rascheres Ende finden als jeder von ihnen gedacht hatte.
»Zupacken!«, rief Colter seinen Kameraden zu, während er selbst das dicke Tau in beide Hände nahm und fest im Griff hielt. »Und dann ziehen – jetzt!«
Mit vereinten Kräften gingen die Männer ans Werk. Schweiß trat ihnen auf die Stirn, als sie ihre Muskeln spielen ließen, sich mit beiden Beinen fest in den Sand des Ufers stemmten und kräftig am Tau zogen. Zuerst geschah überhaupt nichts, aber dann spürten sie, dass sich das Kielboot etwas bewegt hatte.
»Weiter!«, feuerte Drouillard seine Kameraden an. »Nicht locker lassen! Wir schaffen das!«
Gar mancher stöhnte laut oder begann zu fluchen, weil diese Aufgabe ihn forderte wie noch niemals zuvor. Aber keiner der Abenteurer wollte sich jetzt eine Blöße geben und seine Schwäche vor den anderen zeigen. Erneut straffte sich das Tau, und die Männer zogen weiter. Wieder bewegte sich das Kielboot und setzte sich jetzt ganz langsam in Bewegung. Diese Zeitspanne verstrich unheimlich langsam – dabei waren in Wirklichkeit gerade einmal 15 Minuten vergangen.
»Gleich haben wir es!«, rief Reuben Field voller Triumph, als auch er erkannte, dass der entscheidende Augenblick nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Noch einmal zogen die Männer mit vereinten Kräften an dem starken Tau – und dann hatten sie es geschafft. Das Kielboot war wieder freigekommen!
»Teufelskerle seid ihr!«, rief John Colter und musste seiner Begeisterung erst einmal Luft machen. »Leute, wenn wir das schaffen, dann gelingt uns alles andere auch. Hoch lebe die Lewis & Clark-Expedition!«
Es gab keinen unter den Männern, der jetzt nicht einen Freudenschrei ausstieß. Diese Begeisterung erfasste nun auch diejenigen, die an Bord des Kielbootes und der beiden Pirogen zurückgeblieben waren, aber dennoch darauf gehofft hatten, dass es ihren Kameraden möglichst schnell gelingen würde, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien.
Auch Meriwether Lewis lächelte, als er den Tatendrang seiner Leute beobachtete. Es war einer jener wenigen Momente, in denen er seine Gefühle und Empfindungen offen zeigte und nicht vor der anderen verbarg. William Clark ging zu ihm und schlug ihm anerkennend auf die rechte Schulter.
»Das war eine gute Idee«, sagte er zu ihm. »Ich hatte zu Beginn noch meine Zweifel, ob das wirklich so reibungslos vonstattengeht. Aber wie ich sehe, hat es tatsächlich geklappt.«
»Ich wusste es«, meinte Lewis. »Wenn alle ein gemeinsames Ziel vor Augen haben, dann kann man buchstäblich Berge versetzen, William. Ich hoffe nur, dass uns dieser tückische Fluss nicht noch weitere unliebsame Überraschungen bereitet. Wir lassen uns deshalb etwas mehr Zeit, um diesen Teil der Strecke hinter uns zu bringen. Diesmal haben wir es noch hinbekommen. Aber ein zweites Mal kann das schon wieder ganz anders sein.«
»Möglich«, musste Clark zugeben und beobachtete, wie die Männer jetzt wieder ins Wasser gingen, bis sie keinen Grund mehr unter den Füßen hatten. Dann schwammen sie mit langen und kräftigen Zügen zurück zu den Booten. Einige von ihnen waren jedoch so erschöpft, dass sie sich an dem Tau festhielten und ihren Kameraden an Bord des Kielbootes zuriefen, sie doch an Bord zu ziehen. Das geschah dann auch, und kurz darauf waren wieder alle Männer wohlbehalten an Deck – allerdings klatschnass und sehr geschwächt.
»Leute, ihr habt gute Arbeit geleistet«, lobte Captain Lewis seine Mannschaft. »Dafür spendiere ich heute Abend, wenn wir am Ufer anlegen, ein kleines Fass Brandy...«
Erneut brandete lautes Jubelgeschrei auf, als die Männer das hörten.
* * *
William Clark blickte kurz hinüber zu Silas Goodrich, der ebenfalls einen Becher mit Brandy ausgeschenkt bekam. Auch wenn er in St. Charles mit der Prügelei deutlich über die Stränge geschlagen hatte, so wollte Lewis ihn nicht von den anderen ausschließen. Ob ihm das Goodrich wirklich dankte, war eine ganz andere Sache, denn dieser hatte noch unter den Wunden zu leiden, die die Peitschenhiebe verursacht hatten. Deswegen war er noch nicht ganz einsatzfähig und konnte nur leichte Arbeiten verrichten.
»Mir gefallen Mister Goodrichs Blicke nicht, Mister Clark«, teilte York seine Befürchtungen mit, während er ihm einen Teller mit Essen brachte. »Ich glaube, er ist noch sehr wütend, weil ihn Mister Lewis vor allen anderen bestraft hat.«
»Na und?«, entgegnete Clark. »Er soll froh sein, dass Lewis ihn nicht noch härter bestraft hat. Disziplin und Gehorsam ist etwas sehr Wichtiges für diese Expedition. Ich kann nur hoffen, dass Goodrich das begreift. Lewis hat ihn zwar gemaßregelt, aber gleichzeitig auch eine Chance gegeben, dass er sich erneut beweisen kann. Alles Weitere liegt einzig und allein bei ihm.«
»Vielleicht sollte ich besser ein Auge auf ihn haben, wenn Sie einverstanden sind«, schlug York vor. »Nur für alle Fälle.«
»Tu das, wenn du willst«, nickte Clark. »Aber vergiss deswegen deine eigene Arbeit nicht!«
»Keinesfalls«, versprach ihm York und ließ seinen Herrn jetzt allein. Clark hielt sich ein Stück abseits vom Lagerfeuer auf und schaute beim Essen ab und zu den übrigen Mitgliedern der Mannschaft hinüber. Der größte Teil hielt sich rund ums Lagerfeuer auf. Trotzdem hatte Lewis darauf bestanden, dass Wachposten aufgestellt wurden, denn schließlich musste man in dieser Abgeschiedenheit auch mit unliebsamen Überraschungen rechnen. Und die wollte Lewis natürlich vermeiden.
Clark aß sich satt und stellte den Teller beiseite.