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Das Leben des rational denkenden Steuerfachangestellten Erik Zuckler besteht aus seinem Beruf, Samstagstelefonaten mit seiner Mutter und klassischen Klamaukfilmen. Doch als eines Tages seine Traumfrau vor der Wohnungstür steht und ihn danach fragt, ob er ihren persönlichen "Wichtel" gesehen hat, gerät seine geordnete Welt völlig aus der Bahn. Ein Abenteuer voller mürrischer Zauberer, intriganter Waldfeen, hasserfüllten Zombies und einem gelangweilten "Bud Spencer"-Klon beginnt...
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Seitenzahl: 371
Veröffentlichungsjahr: 2024
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DIE FABRIK DER TRÄUME
von Frank Hinz
Ebenfalls erhältlich:
Der Nekromant und das Mädchen
Heitere Geschichten zur Erheiterung, Erbauung, Belehrung, Belustigung und Belästigung junger Menschen
1. Auflage
Texte: © Copyright 2020-2022 by Frank Hinz
Umschlaggestaltung: © Copyright by Frank Hinz
Verlag: Frank Hinz Deichstr. 31 25436 Uetersen
Erstlektorat, Testleserin: Jennifer »Bookie« S.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autoren unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Impressum
Widmung
Dramatis Personae
ERSTER TEIL
Prolog: The Void
1. Irritierende Initiationsriten
2. The Last Dance
3. Der lange Marsch
4. Weird Hearts Can‘t Be Broken
5. Traumforschung
6. Catwoman and the Nerd
7. Feenstaub kann hier auch nicht mehr helfen…
8. Zwei Fäuste für ein Halleluja
9. Wovon träumen eigentlich Katzen?
ZWEITER TEIL
Interludium: Das Erstarken des Hasses
10. Zeit des Erwachens
11. Auf der Flucht
12. Der »Nimm deinen Kleinen mit zur Arbeit«-Tag
13. Lage- und Buchbesprechung
14. Gefährdete Gefährten
15. Kurze Vorbereitungen und lange Verabschiedungen
16. Back to the Forest
DRITTER TEIL
Exkurs: Deux Femmes dans la Forêt
17. Die Konferenz der Tiefergelegenen
18. Fairytale gone very, very bad
19. Das unterentwickelte Land
20. Unheimliche Begegnungen der ungesitteten Art
21. Was tot ist, bleibt auch tot. Meistens.
22. Armee der Dunkelheit
23. His Final Fantasy
24. Gemeinsames Abhängen mit Freunden
Epilog
Schlussbemerkungen
Meinen Eltern gewidmet.
Dank an die junge Dame von einem entfernten Planeten mit der ich über unsereschrecklichen Witze lachenkonnte ohne je unserSafeword schreienzu müssen …
Elyas M‘Dackelmann (Nachwuchswichtel)
Chubby Pferdesortierer (Bester Freund)
Michael »Bully« Voreilig (Bully)
Alfred E. Sandmann (Oberster Sandmann)
Helmut Karpfenverleger (Sandmann des Westens)
Ronny Metzgerlächeln (Sandmann des Ostens)
Dieter Katzenverwirrer (Seeelenschmied)
Opa Wichtel (Ältester Wichtel, nicht unbedingt der weiseste)
Lady Lavinia (Feenkönigin)
Prinzessin Neevea (Ihre Tochter)
Playmobilas (Verlobter von Prinzessin Neevea
Mutter Natur (Mutter Natur)
Erik Zuckler (Nerd)
Tanja Schröter (Nerdin)
Iphigenie »Iffy« Schröter (Tanjas ältere Schwester und Mitbewohnerin)
Hans-Peter Goebel (Lohnbuchhalter)
Gisela Zuckler (Eriks Mutter)
Weeno der Mächtige (Beschwörer)
… sowie Rüpel, Tanzlehrerinnen, Katzen, Pizzaboten, Monster, Mutanten und Bud-Spencer-Klone.
»Chi sucht den Menschen,der nur für Chi bestimmt ist!«
Chi(aus dem Manga »Chobits«)
Die Entität erwachte.
Sie wurde sich ihrer Existenz bewusst.
Sie nahm die Leere um sie herum wahr.
Sie war ein Teil der Leere.
Sie war aber auch die Leere.
Sie wurde sich ihrer unendlichen Größe bewusst.
Sie ignorierte ihre Winzigkeit.
…
Die Entität wartete.
Sie wusste nicht, worauf.
…
Die Entität entdeckte die Schönheit des Dunklen.
Sie sah die aufflackernden Lichter um sie herum.
Sie würde sie alle eines Tages erblassen lassen.
Viele glauben, dass die Feen für die Wunder der Natur verantwortlich sind. Doch sind diese Leute genauso weit von der Wahrheit entfernt, wie Alpha Centauri vom Hannover Hauptbahnhof entfernt ist …
»Wach auf, du Lusche! Heute ist unser großer Tag!«, brüllte Chubby Pferdesortierer während er wie ein Wahnsinniger an dem Bett seines Mitbewohners rüttelte.
Elyas M‘Dackelmann öffnete langsam die Augen und keifte: »Lachfichte, äh, Flachwichtel!«
»Astgesicht!«
»Schweinekropf-kopf!«
»Genitalwarze eines göbelnden Giftzwergs!«
Langsam stieg Elyas aus seinem Bett.
»Äh, du meintest wohl ›Pöbelnder Giftzwerg‹?«
»Nein, du bist in meinen Augen nichts weiter als ein göbelnder Giftzwerg. Du kotzt mich an!«
»Hehe, danke, Alter!«
»›Alter‹ nennst du mich? Ey, Mann, wir beide sind genau gleich alt, so wie alle Jungwichtel hier in der Baumkrone! Hehehe, und ab heute sind wir – yeah – WICHTEL!«
Voller Stolz setzte Chubby, der übergewichtige Freund von Elyas, sein rotes Mützchen auf. Ihnen beiden werden ihre gegenseitigen Frotzeleien fehlen, das war ihnen klar. Sie wussten nicht genau, was sie heute Abend erwarten würde, es gab zwar Gerüchte und Andeutungen, aber keiner von den Jungwichteln konnte genau sagen, was nach dieser abendlichen Zeremonie mit ihnen geschehen würde. Sie wussten nur, dass ein neuer Lebensabschnitt beginnen würde. Ob ihre Freundschaft den heutigen Abend überstehen würde, war ziemlich ungewiss.
Elyas verließ schlaftrunken sein Bett beziehungsweise Bettchen, rieb sich die Augen beziehungsweise Äuglein und wusch sich mit den Tautropfen eines nahegelegenen Blattes. Beziehungsweise Blättchen. Auf einem weiteren, wesentlich kleineren Blättchen kaute er, um sich die Zähne zu reinigen. Er schaute sich um und sah im Dämmerlicht (bekanntlich schlafen Wichtel tagsüber und arbeiten nachts), die unzähligen – er nahm an, dass es mindestens 20 waren – anderen Jungwichtel, die zumeist schon angezogen, vorbereitet und voller Enthusiasmus der heutigen Nacht entgegenfieberten. Langsam kleidete auch er sich an. Er wusste nicht, warum es so war, aber er hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Keiner der anderen Wichtel konnte ihm sagen, was ihn in dieser Vollmondnacht erwartet.
»In zweihundert Jahren habe ich einen Bart und mein Gesicht ist nicht mehr zart, tralala!«, sang Chubby und klopfte dabei rhythmisch auf seinen ohnehin schon permanent wackelnden Bauch.
»Halt die Klampfe, äh, Klappe, Dude!«
Ja, jeder wird nun einmal (früher oder später) erwachsen, oder zumindest volljährig, und muss seinen Platz in der Welt finden. Beziehungsweise – so wie im Falle der Wichtel – seine Bestimmung zugewiesen bekommen. So wie es seit Äonen üblich war. Und genau heute, genau drei Monate, nachdem Elyas, Chubby und die anderen Nachwuchswichtel den Blütenkelchen der Waldblumen (auf der ätherischen Ebene natürlich) entstiegen waren und sich von den Alten und Weisen einweisen ließen, begann der Ernst des Lebens für die kleinen Mützenträger …
Flink liefen die beiden besten Freunde die Treppe hinab, die nach unten führte. Für Außenstehende wie Menschen und alle anderen nichtmagischen Wesen mit eingeschränkter Wahrnehmung wäre diese Treppe nur eine sehr breite, dunkelgrüne Ranke gewesen, die spiralförmig an einer Buche entlangführte, aber für die Wichtel war sie der direkte Weg nach unten. Zum Waldboden. Dort, wo bereits viele weitere Wichtel voller Ungeduld warteten. Elyas teilte diese Gefühle nur bedingt. Misstrauen lag in seiner Natur.
Apropos Natur: Unten am Versammlungsplatz (eine kreisförmige, von Pilzen und etwa streichholzgroßen Fackeln1 umgebene Grasfläche) stand der Ehrengast in unmittelbarer Nähe zu Opa Wichtel, dem Anführer der hiesigen Waldwichtel. Es handelte sich dabei um Mutter Natur, die sich freundlicherweise auf Wichtelgröße geschrumpft hatte. Herzlich lächelnd begrüßte sie jeden einzelnen Jungwichtel, der den Platz betrat. In ihrem weißen Kleid und mit ihrer Blütenkrone auf ihrem langen blonden Haar sah sie verführerisch für Menschen und anbetungswürdig für Wichtel aus.
Elyas und sein Freund Chubby waren inzwischen am unteren Ende der »Wendeltreppe« angelangt. Jemand versperrte ihnen den Weg. Es handelte sich dabei um Michael »Bully« Voreilig und seine beiden Freunde Mario Nasengenießer und Luigi Barthebel. Niemand wusste, warum sie Elyas und Chubby hassten und die beiden Freunde hofften, die drei »Bullys« nach dieser Nacht nie wieder sehen zu müssen.
»Na, wen haben wir denn da? Den Dicken und den Dummsülzer!«
»Lasst uns durch, ja?«, bat Elyas freundlich. Er wollte nicht als Letzter bei diesem Meeting erscheinen.
»Wen nennst du hier einen Dummsülzer?«, frug Chubby.
Verdrießlich schaute Opa Wichtel, der sich etwa einen halben Meter beziehungsweise 20 Wichtelschritte von ihnen entfernt auf seinem Podest beziehungsweise Stein stand, zu ihnen hinüber. Er läutete seine Glocke.
Michael »Bully«, Mario und Luigi standen Elyas und Chubby noch immer grinsend gegenüber. Nach einer – für Elyas unendlich scheinenden – Weile von fünf Sekunden ließen die drei rüpelhaften Wichtel die zwei friedlichen vorbei. Natürlich mussten Mario und Luigi ihnen (jeweils) ein Bein stellen. Elyas stolperte, er verlor das Gleichgewicht und sein Kopf knallte hart gegen die Baumrinde. Chubby taumelte Michael »Bully« entgegen und wurde von ihm in Richtung von Mario geschubst. Mario schleuderte ihn zu Boden. Er lag direkt neben Elyas und richtete sich allmählich auf.
Elyas bekam dies nur sehr beiläufig mit. Um ihn herum drehte sich alles. Er bemerkte sanfte Hände, die sich vorsichtig und sehr geschmeidig von hinten unter seine Arme klemmten und ihn langsam aufrichteten. Als er sich umdrehen wollte, um dieser Person zu danken, vernahmen seine Ohren nur Geflatter und Gekicher. Er schüttelte den Kopf, vielleicht war das alles auch nur eine Einbildung gewesen. Er setzte seinen Weg fort, Chubby war so gut wie am Ziel. Das Gemecker von Opa Wichtel nahmen sie nur nebensächlich wahr.
Wie zu erwarten war, schafften sie es als Letzte zum Versammlungsplatz. Alle Jungwichtel der naheliegenden Bäume befanden sich in diesem Kreis und schauten voller Ungeduld zu Opa Wichtel. In den drei Monaten, die Elyas und Chubby bereits existierten, dachten sie, dass sie alle der etwa 100 Wichtel, die um sie herumstanden, kennen würden. Bartlose, zeigefingergroße Männlein mit roten Mützen. Aber da waren noch andere Wichtel. Ältere, nicht unbedingt uralte Wichtel wie der von allen respektierte Opa Wichtel, aber, welche, die bereits prächtige Bärte trugen; ein paar von ihnen waren schwarz, ein paar von ihnen rot, die meisten aber grau. Elyas zählte genau sieben von ihnen. Sie trugen weder rote Mützen wie Elyas oder Chubby, noch eine dunkelgraue wie Opa Wichtel und die anderen Altwichtel, sondern hellblaue. Sie standen alle außerhalb des Pilzkreises. Elyas nahm an, dass sie … Ach, es war noch zu früh, um Theorien aufzustellen.
Mutter Natur lächelte den verwirrten Elyas freundlich an. Opa Wichtel läutete dreimal seine Glocke und sprach: »Wichtelmännchen und … Wichtelmännchen! Die Zeit der großen Veränderung ist da. Eine Zeit des Wanderns, äh, Wandels. Eine Zeit des Aufbruchs. Nach diesem Tage werdet ihr die Gemeinschaft der Wichtel mit Stolz erfüllen und in der euch zugewiesenen Gilde euer Tagewerk, äh, Nachtwerk verrichten. Doch bevor die heilige Prozedur beginnt, lasset uns innehalten und unseren geschätzten Gast begrüßen.«
Er wandte sich Mutter Natur zu, die zu seiner Rechten stand. Charmant winkte sie den Wichteln zu.
»WIR GRÜSSEN EUCH!«, riefen die Wichtel mit Ausnahme von Elyas, der versehentlich »grützen« statt »grüßen« sagte. Es schien so, als ob Mutter Natur dies bemerkte, denn sie zwinkerte ihm leicht zu. Aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
Nachdem wieder etwas Ruhe geherrscht hatte, ergriff Opa Wichtel erneut das Wort:
»Meine lieben Freunde! Erinnert euch stets an die drei heiligen Regeln:
Erstens: Erledigt eure Aufgaben voller Ernst und Gewissenhaftigkeit! Ein Zauber, der vollzogen wurde, kann niemals mehr zurückgenommen werden! Ein Trank der gebraut wurde, verfehlt nie seine Wirkung! Eine Tat, die erbracht wurde, egal, wie unbedeutend sie euch erscheinen mag …«
Und nun riefen alle anwesenden Wichtel, egal welchen Alters:
»… HAT IMMER KONSEQUENZEN!«
Er fuhr fort:
»Zweitens: Hütet euch vor Katzen! Abgesehen von einigen magischen Wesen und selbstverständlich den Zauberern sind sie die einzigen Lebewesen, die euch trotz eurer naturgegebenen Unsichtbarkeit wahrnehmen können! Ein schwacher Hieb mit einer Katzenpranke, die Menschen nennen sie auch euphemistisch »Tatze« oder »Pfötchen«, kann für euch schwerwiegende Folgen, denn …«
»…EIN BLUTENDER WICHTEL IST EIN SICHTBARER WICHTEL!«
»Menschen! Manche von euch werden ihnen dienen! Doch beachtet immer die bedeutsamste Regel …«
Hinter vorgehaltener Hand flüsterte Chubby Elyas zu: »Warum sagt er nicht ›wichtigste Regel‹?«
»Krabbe, äh, Klappe!«
Der oberste Wichtel bemerkte die beiden Unruhestifter, räusperte sich laut und wiederholte seine Ausführungen:
»Die bedeutungsvollste, dritte Regel lautet: Dient den Menschen, aber bleibt ihnen fern! Mutter Natur hat in ihrer unendlichen Weisheit und Güte …« – während er dies sprach, schaute er vergrämt zu ihr herüber – »… uns zu den Hütern aller Lebensformen, sowohl der Flora als auch der Fauna, bestimmt. Und ein leider viel zu großer Teil dieser Lebewesen sind …«
»MENSCHEN, DIESE AFFENARTIGEN UND ZERSTÖRUNGSWÜTIGEN RIESEN!«
»Ja, die Menschen. Sie glauben nicht an unsere Existenz! Sie erfinden banale Erklärungen für das Wachstum der Pflanzen, dem Entstehen von Tautropfen am Morgen und den Träumen von Babys. Diese Narren!«
Er beruhigte sich.
»Na, also, äh, genau. Nun lasst uns die Zuweisungsprozedur beginnen. Seht ihr diesen Baum dort drüben?« Er deutete auf eine mittelgroße Birke, die sich in der Nähe befand.
»Seht ihr auch diese kleinen violetten Pilze, die an ihm wachsen? Von diesen Pilzen werdet ihr …«
Etwa 20 Jungwichtel, darunter auch Mario und Luigi, liefen auf den Baum zu und versuchten, auf ihn zu klettern. Mit Mühe gelang es einigen, die Pilze zu entfernen. Sie kehrten innerhalb von wenigen Sekunden zu dem Versammlungsplatz zurück und präsentierten ihre »Trophäen«.
Opa Wichtel grinste schadenfroh und setzte seine Ausführungen fort. »… die Finger lassen. Sie sind hochgradig giftig, aber das tut jetzt nichts zur Sache.«
Einer der älteren Wichtel, der, genauso wie seine Kollegen, außerhalb des Pilzkreises stand, brüllte: »DIEJENIGEN, DIE EBEN AUF DEN BAUM KLETTERTEN, MÖGEN ZU MIR KOMMEN!«
Die Wichtel taten wie ihnen geheißen wurde, auch, weil sie sich nicht trauten, woanders hinzugehen …
»VON NUN AN GEHÖRET IHR DER EHRENWERTEN SCHNEEFLOCKEN- UND REGENTROPFENGESTALTUNGS-GILDE AN!«
Brav stellten sie sich hinter ihrem Gildemeister.
Opa Wichtel kicherte: »Tja, so trennt man die Spreu vom Weizen … Möge man mir nun die Zuteilungsmaschine bringen!«
Chubby flüsterte in Elyas Ohr hinein: »Sagte er eben ›Zerteilungsmaschine‹?«
»Pscht, du Vollforst!«
Zwei Altwichtel brachten eine merkwürdige Ziehungstrommel2. Sie war etwas größer als Opa. Einer der Alten drehte mehrmals an einer merkwürdigen Kurbel. Man hörte ein seltsames Klackern. Der andere Altwichtel öffnete eine Klappe.
Opa sprach: »Ihr verbliebenen Wichtel stellt euch nun hintereinander vor dieser heiligen Maschine auf. Dann werde ich jedem von euch eine kleine Kugel in die Hand drücken. Bewahrt sie gut auf und verlasst dann die Schlange …« (Bei dem Wort »Schlange« zuckten ein paar der empfindlicheren Jungwichtel, einschließlich Elyas, zusammen.)
Der Opa griff in die Öffnung der Ziehungstrommel und entnahm ein kleines Bällchen, dass in etwa so groß wie die geballte Faust eines Wichtels war. Er las, was auf der Kugel stand und drückte selbige in die Hand des ersten Jungwichtels: »B-5«
Er entnahm die nächste Kugel und gab sie dem nächsten Wichtel: »O-72«
Noch eine Kugel, noch ein Wichtel: »N-32«
Elyas stand direkt hinter Chubby, etwas weiter hinten in der Schlange und wartete voller Ungeduld.
»I-16«
»N-37«
So ging es noch einige Zeit weiter, bis endlich Chubby an der Reihe war. Er erhielt eine Kugel mit der Aufschrift: »G-50.«
Weil er nicht wusste, was diese Zahlen und Buchstaben für ihn zu bedeuten hatten, hob er gleichgültig die Schulter und stieß nur ein gleichgültiges »Hmpf.« aus. Elyas bewunderte die Gelassenheit seines Freundes. Das Motto des stark korpulenten Chubby Pferdesortierers war: »Erstmal abwarten!«, während Elyas M‘Dackelmann nach der Devise lebte: »Alles, was ich nicht kenne, ist eine Gefahr für mich!«
Nun war Elyas dran: Opa warf ihm einen mürrischen Blick zu, griff in die Drahttrommel, schaute sich kurz die Aufschrift dieser Kugel an und kicherte schadenfroh: »Kchrchr, du bist ein N-45!«
›Wieso musste er kichern! Wieso musste Opa Wichtel ausgerechnet bei mir KICHERN?‹, dachte Elyas voller Panik.
Es folgten nach ihm noch ein paar weitere Wichtel, doch dann vermeldete Opa Wichtel: »Die Zuteilung ist nun beendet.«
Einer der älteren Wichtel, vermutlich der größte den Elyas jemals in seinem jungen Leben gesehen hatte, befahl: »ALLE ÜBRIGEN JUNGWICHTEL MÖGEN SICH BEI MIR VERSAMMELN. IHR SEID AB SOFORT TEIL DER EHRENWERTEN SPEZIALABTEILUNG FÜR ›NECESSARY HUMAN INTERACTIONS‹ HERZLICH WILLKOMMEN IM TEAM!«
Etwa acht Wichtel riefen fast automatisch »Jawohl, Sir!« und marschierten im Gleichschritt zu ihrem zukünftigen Anführer.
Nun sprach Opa Wichtel in einem etwas gemäßigten Tonfall: »Alle Wichtel, die eine G-Kugel von mir erhielten, mögen nun hervortreten!«
Genau 15 Jungwichtel befolgten diese Anweisung.
»Das G auf eurer Kugel steht für ›Garten‹. Eure Aufgabe wird ab sofort die Pflege unserer grünen, pflanzlichen Freunde sein. Ihr kümmert euch um das ordnungsgemäße Wachstum der Waldpflanzen und um die Gartenpflanzen der Menschen. (Erschreckt euch nicht vor den kleinen Statuen3, die diese dummen Wesen euch zu Ehren in ihren Gärten aufgestellt haben!)«
Zu dumm! Ich wäre gerne in dieser Gilde! Ich kann gut mit Grünzeug umgehen! Hatte nicht Chubby eine G-Kugel erhalten?
Ein Oberwichtel rief: »G-WICHTEL ZU MIR!«
Der Versammlungsplatz lichtete sich etwas.
Opa Wichtel rief: »I-Wichtel bitte vortreten!«
Wieder traten genau 15 Wichtel nach vorne. Wieder gab es eine kurze Einweisung: »Das I steht für ›Insekten und Kleintiere‹. Eure Gilde ist für die Belange der Waldbewohner zuständig. Ihr bringt den Bienen den Wabenbau bei, tröstet verwaiste Eichhörnchen und sagt den Igeln, wann es Zeit für den Winterschlaf ist!«
»DAS I-TEAM ZU MIR!«
Wieder wurde Elyas enttäuscht. Er war sehr tierlieb, auch wenn er sich vor Nacktschnecken ekelte.
»Sagte er eben ›Intim‹?«, flüsterte jemand in Elyas‘ Ohr.
Elyas flüsterte zurück: »Chubby, solltest du nicht bei den G-G-Gartenwichteln sein?«
»Ich hab‘ meine Kugel mit Kai Hundescherz getauscht.«
»Ach so.«
Nach diesem Muster folgte das O-Team, dass für organisatorische Dinge verantwortlich war, aber auch die Weisheit der Waldwichtel an zukünftige Generationen weitergab.
»Und nun die B-Wichtel bitte!«, befahl Opa.
Elyas grinste als er sah, dass sein selbsternannter Erzfeind Michael »Bully« Voreilig zu dieser Gruppe gehörte. Von nun an würde er seine Ruhe vor diesen Penner haben!
»Das B steht für Babys. Eure Aufgabe wird es sein, den Seelenschmied beim Beseelen aller neugeborenen Tiere und natürlich auch der Menschen zu unterstützen. Eine ehrenvolle Tätigkeit, auf die ihr mit Recht stolz sein könnt!«
Michael »Bully« verzog sein Gesicht und knurrte.
»Oh ja, ich bin mir sicher, dass das der richtige Job für unseren zutiefst empfindsamen Freund sein wird …«, flüsterte Chubby.
Die B-Wichtel gingen behäbig zu ihren zuständigen Oberwichtel, niemand wollte ernsthaft diesen Job haben.
»Natürlich sind wir als letzte dran …«, seufzte Elyas. Es befanden sich nur noch die 15 Mitglieder der N-Gruppe in dem Pilzkreis.
Der Opa sprach: »Von allen Wichteln werdet ihr Mitglieder der N-Gruppe die wichteligste, äh, wichtigste Aufgabe haben. Das N steht für ›Nacht‹ …«
»Sagte er eben ›nackt‹?«, scherzte Chubby. Der genervte und zutiefst angespannte Elyas beantwortete seine Frage mit einem leichten Tritt.
»Bis zum Ende der Zeit werdet ihr die Gehilfen der Sandmänner sein. Herzlichen Glückwunsch!«
»SANDMÄNNER?«
1 Zahnstocher, an denen lumineszierende Pilze aufgespießt worden waren.
2 »My First Bingo-Game™« (Hassbro, 1982), ein im Wald vergessenes Kinderspiel. In früheren Zeiten benutze Opa Wichtel einen mit bunten Steinen gefüllten Sack für das folgende Auswahlverfahren, aber auch er musste sich dem Fortschritt anpassen.
3 Gartenzwerge
»Nicht einschlafen! Du schaffst das schon! Eins-Zwei-Drei-Drehung-Eins-Zwei-Drei …«, hörte Erik Silke sagen. An diesem Abend hatte Erik ein neues Gefühl kennengelernt, für das er keine Bezeichnung hatte. Er fühlte sich gleichermaßen beschämt wie gelangweilt. Er führte die zugegebenermaßen eher einfachen Schritte präzise aus und versuchte, dabei an NICHTS zu denken.
Andernfalls würde er vor Scham im Boden versinken. Während alle anderen Teilnehmer dieses Tanzkurses für Anfänger mit ihren Partnerinnen tanzten, war er gezwungen, Walzer mit Silke, der Tanzlehrerin zu tanzen. Man hatte ihn versetzt!
Silke, die Tochter des Inhabers der Tanzschule Gnöppke war zwar durchaus eine ansehnliche Person gewesen; sie war freundlich und konnte gut mit ihren Schülern umgehen – aber es machte Erik wahnsinnig, dass nun alle Augen der anderen Tänzer auf ihn gerichtet waren. Außerdem trug sie ein übertrieben aufdringliches Parfüm, das sich fest in seine Nase einbrannte …
Folgendes war zuvor geschehen: Erik Zuckler, Steuerfachangestellter, Anfang 20, versprach seiner Mutter Gisela, Hausfrau, Ende 50, von nun an einen Tanzkurs zu besuchen. Sie hoffte, dass dies sein unfreiwilliges Singledasein beenden würde und sie nun endlich eine Schwiegertochter bekommen könnte; er hatte etwas weniger Hoffnung bei der Sache. Als Gegenleistung würde sie ihm auch in Zukunft seine Hemden bügeln. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als in den Deal einzuwilligen!
In der Vorwoche hatte man ihm eine wirklich sehr nette, aber auch schüchterne Rumänin als Partnerin zugeteilt. Ein schüchterner Mann und eine schüchterne Frau ergeben zusammen … einen Krampf, wie Erik schnell feststellen musste. In den Tanzpausen fiel ihm nicht ein einziges halbwegs interessantes Gesprächsthema ein, er faselte nur etwas über die Tomatenpflanzen auf seiner Fensterbank, während sie versuchte, ihm alles über Brettspiele nahezubringen. Beim Tanzen traute er sich nicht, sie angemessen zu führen und sie schaute ständig voller Sehnsucht zu den anderen Paaren hin.
Als Erik diesen Abend überstanden hatte, schwor er sich, nie wieder diese Tanzschule zu betreten. Leider schaffte es seine Mutter im Laufe der Woche, ihn zu einem weiteren Versuch zu überreden. Die Tanzlehrerin Silke erzählte ihm nach seinem vorherigen Anruf, die »perfekte« Partnerin für ihn gefunden zu haben …
Voller Vorfreude – oder besser gesagt, voller Neugier – fuhr er mit einem E-Roller zur Tanzschule Gnöppke. Vielleicht begegnet er heute seiner Traumfrau!
Er betrat das Gebäude, ging die Treppe hoch, räusperte sich, atmete nochmal tief durch, pulte einen Fussel von seinem Hemd und öffnete die Tür. Ein paar der Paare, die bereits letzte Woche zugegen waren, begrüßten ihn mitleidig. Er setzte sich an die Bar, die sich vor dem Eingang des Tanzsaales befand. Er bestellte ein Glas Wasser und schaute sich um. Vielleicht war seine Partnerin schon anwesend!
Er wartete, wartete und wartete. Silke informierte ihn darüber, dass sich seine Tanzpartnerin etwas verspäten würde und bot ihm an, »zunächst« mit ihm zu tanzen.
Soweit zur Vorgeschichte. Alle 15 Minuten versicherte Silke ihm, dass die für ihn vorgesehene Nachwuchstänzerin eintreffen würde und Erik glaubte ihr in seiner Naivität.
Der Abend neigte sich dem Ende zu. Bevor er ging, hörte er die entschuldigenden Worte von Silke: »Bestimmt stand sie im Stau oder hatte einen Trauerfall in der Familie oder so etwas … Ganz sicher finden wir nächste Woche eine geeignetere Partnerin für dich! Äh.«
»Ja, sicher …«
Erik zweifelte an ihren Worten und fuhr deprimiert heim. Inständig hoffte er, dass die Tanzschule, dieser Drecksladen, der einfach gestrickten Idioten wie ihm falsche Hoffnungen machte, sein Geld erstatten würde. Wie naiv muss man sein, um anzunehmen, dass man an solchen Orten Frauen kennenlernen kann? Verärgert schüttelte Erik seinen Kopf und vergaß dabei, dass er seine »coole«, d. h. randlose Freitagsbrille aufgesetzt hatte. Leider war ihr Bügel recht locker, sie fiel in Richtung einer nahegelegenen Bushaltestelle und landete vor den Füßen einer wartenden Goth-Frau, die lautstark mit jemanden telefonierte.
Unverzüglich hielt er an und schob seinen E-Roller zurück zu der jungen, schwarzhaarigen, schwarz gekleideten Dame. »Äh, Verzeihung, dürfte ich?« Zaghaft bückte er sich, hob die Brille auf und vermied es, ihre wohlgeformten, mittellangen Beine anzustarren. Sie wandte sich von ihm ab, vermutlich hatte sie ihn überhaupt nicht bemerkt. Er sah, dass sie mit jemanden telefonierte und dem Nerd, der um sie herumwuselte, keine Beachtung schenkte.
»Äh, danke.«
Er setzte die stark verbogene Brille auf, bestieg sein eher lächerlich anmutendes E-Fahrzeug und fuhr heim. In seiner Wohnung angekommen, begoss er seine Pflanzen, las noch etwas im Bett und versuchte vergeblich, einzuschlafen …
* * *
»Aufwachen? Hah! Sehr witzig! Es kann ja wohl jeden mal passieren, dass man die Bahnstation verpasst! Nein, ich habe nicht geschlafen, meine Gedanken waren nur für kurze Zeit … woanders.« Tanja Schröter, 19 Jahre, Erzieherin, schrie ihr Handy an. Sie stand an der Bushaltestelle und befand sich auf dem Heimweg.
»Hör auf mit diesem Schwesterherz-Schwachsinn! Es war abzusehen, dass ich zu spät kommen würde. Ja, und auch deine Versuche, mich vorher ganz und gar umzustylen, hat zu viel Zeit gekostet! Wenn der Typ mich nur geschminkt und in einem Aufzug ertragen kann, den selbst ›Elvira – Mistress of the Dark‹ neidisch machen würde, dann kann mir so ein Dödel gestohlen bleiben!«
Sie ließ ihrer Schwester kaum Zeit, um darauf zu antworten.
»Hah! Von wegen! Der erste Eindruck zählt, sagst du? Wo steht geschrieben, dass man bei seinem ersten Schnupperabend in der Tanzschule gleich wie eine Opern-, äh, Oberdiva aussehen muss! Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Knilch, den sie mir dort andrehen wollten, wie ein Parkbankpenner aussah!«
Sie nahm einen kurzen Atemzug.
»Nein, wegen dieser f***ing Umbauarbeiten in der U-Bahn habe ich nun alles verpasst und bin wieder auf dem Heimweg. Wir sehen uns, Pupsmonster!«
Sie bemerkte in ihrer Rage den Nerd nicht, der schüchtern vor ihren Füßen kniete und beinahe ihr Tanzpartner geworden wäre – wären die Umstände etwas anders gewesen. Das Schicksal spielt einem manchmal die absurdesten Streiche …
Die 15 Wichtel der Gruppe N wanderten direkt hinter ihrem Gildenmeister in Zweierreihen zu ihrer neuen Arbeitsstätte, der »großen Traumbuche«.
»HEIHO-HEIHO!DAS DIENEN MACHT UNS FROH!«
Jeder der Wichtel ging neben einem anderen Wichtel in der Reihenfolge der ihnen zugewiesenen Nummern. Elyas M‘Dackelmann war der letzte, denn er erhielt in der Nacht zuvor die höchste Nummer. N-45.
»HEIHO-HEIHA!ZUM ARBEITEN SIND WIR DA!«
Ein paar der pflichtbewussteren Wichtel sangen dieses traditionelle Marschlied. Elyas hatte sich allerdings bei der kalten Nachtluft am Vorabend eine leichte Erkältung zugezogen, einschließlich der obligatorischen Halsschmerzen. Zumindest hatte er das den anderen Wichteln erklärt, die ihn fragten, warum er nicht mitsänge. Die Wahrheit lag darin begründet, dass er sich diesen ungemein komplizierten Text einfach nicht merken konnte.
»HEIHO-HEIHE!WER ZU FAUL IST, DEM TUN WIR WEH!«
Chubby, der neben Achim Münzenrächer gehen musste und sich unsagbar langweilte, begann, seinen Marschpartner mit »Mess Around« aus dem Konzept zu bringen. Einem Lied, das er von ein paar Menschen, die im Wald feierten, aufschnappte. Mit Erfolg, aber alle anderen Wichtel sangen weiterhin dieses unsägliche Lied.
»HEIHO-HEIHU!WIR ERLEDIGEN ALLES IM NU!«
Elyas amüsierte sich über seinen Freund Chubby, der zwei »Reihen« vor ihm ging. Im Gegensatz zu dem Gildenmeister, der – wie man es von derartigen Meistern annehmen sollte – die Gruppe vorne anführte. Er war auch der einzige von ihnen, der den Weg zur Traumbuche kannte.
»HEIHO-HEIHI!WIR KLAGEN UND VERSAGEN NIE!«
Plötzlich, ohne Vorwarnung, wurde es zunächst kurz hell und dann tiefschwarz vor Elyas‘ Augen! Er musste stehenbleiben. Angenehm warme und sehr sanfte Hände spürte er auf seinen Augen. Zwischen den zierlichen Fingerspitzen leuchtete irgendetwas, er konnte es aber nicht einordnen. Oder leuchteten die Fingerspitzen von sich aus? Er vernahm einen süßlichen Duft. Und er hörte Geflatter, dass ihm bekannt vorkam.
»Hihihi, wer bin ich wohl?«, fragte eine piepsige, mädchenhafte Stimme.
»Äh, du musst die Fee sein, die mir gestern aufhalf, nachdem mein Klotz, äh, Kopf mit dem Baum kollidierte!«
»Gern geschehen, hihihi!«
Sie nahm ihre Hände beiseite, was Elyas aus Gründen, die ihm unbekannt waren, für einen kurzen Moment bedauerte. Er stellte fest, dass er sich in den wenigen Sekunden recht weit von der Marschgruppe entfernt hatte und versuchte hastig, wieder den Anschluss zu finden. Die Fee flog ihm nach.
»Hat dieser prächtige Wichtel denn auch so etwas wie einen Namen? *Lach*«
»Man hat mich Elyas getauft. Elyas M‘Dackelmann4.«
Als die junge Fee diesen Namen hörte, musste sie aus unerfindlichen Gründen kichern.
»Was ist daran komisch?«
»Nichts, garnichts. Mich nennt man Neevea.«
»Äh, angenehm, Niveau-äh-Neevea.«
Elyas marschierte pflichtbewusst den anderen Wichteln hinterher, die – wie er es bereits gewohnt war – keine Notiz von ihm nahmen. Noch immer flatterte das Feenwesen neben ihm. Versehentlich berührte sie seinen Oberschenkel mit ihrem Fuß.
»Hihihi, oops – Entschuldigung!«
»Angenehm, äh, ich meine, äh …«
Es folgte nun ein zumindest für Elyas unangenehmes Schweigen. Die Fee flog neben ihm und summte ein fröhliches Lied. Das Leuchten ihrer Aura stach leicht in seine Augen und genau dieses Leuchten erschwerte es Elyas, seinen Wichtelkollegen zu folgen. Aber er beschwerte sich nicht. Irgendwie gefiel es ihm, eine Begleiterin beziehungsweise Begleitung zu haben.
»Hast du uns gestern die ganze Zeit zugesehen?«
»Hihihi, nein, nur am Anfang bin ich ein paarmal über euch hinweggeflogen. Aber nach eine Weile wurde es mir zu langweilig.«
»Kann ich bestehlen – äh – verstehen.«
Der Abstand zu seinen Vorderwichtelmännern wurde immer größer, leider übersah Elyas dies bei seinen Versuchen, das Interesse dieser interessanten Feendame zu wecken. Sie war wirklich ein angenehmer Anblick im Vergleich zu den Leuten beziehungsweise Leutchen, die er normalerweise in seinem Umfeld beziehungsweise Umfeldchen hatte. Ihre helle Haut, ihre zierlichen Arme und Beine, ihr grünes, vermutlich aus Blättern zusammengenähtes Kleidchen und ihre hochgesteckten, blonden Haare harmonierten perfekt miteinander. Es war ein Anblick, den man ohne Übertreibung als »hinreißend« bezeichnen konnte.
»Äh, stimmt es, dass ihr F-F-Feen in einem Schloss in den Wolken lebt?«
»Genau zwischen der Tropos- und der Stratosphäre. Hihihi.«
»Ist es da oben nicht sehr – äh – kalt?« Elyas hatte keine Ahnung davon, wie man mit Feen Konversation betreibt. Wer schon?
»Man gewöhnt sich an alles. *kicher*«
Während er noch eine Weile versuchte, mit der Waldfee zu plaudern – er hätte gerne mit ihr geflirtet, aber in erster Linie war er überhaupt froh darüber, wenn die Worte, die seine kleinen Lippen verließen, halbwegs einen Sinn ergaben – beobachtete er aus dem Augenwinkel seine Kameraden, die bereits sehr weit vor ihm marschierten. Es hätte sie gerne über die neidischen Blicke seiner Kameraden gefreut, aber niemand von ihnen bemerkte oder interessierte sich für Elyas und seine neue Bekanntschaft. Er sah bereits in der Vergangenheit Feen über seine Buche schweben und er bewunderte gemeinsam mit Chubby diese anmutigen Wesen. Hätte Chubby ihn jetzt gesehen, dann wäre er vor Eifersucht geplatzt …
»Was ist eigentlich der Unterschmiedschied zwischen einer Fee und einer Elf …«
Abrupt packte sie ihn an der Schulter.
»Solltest du nicht eben an der Fichte links abgebogen sein?«
»Äh, kann sein, aber es kann auch …«
Elyas schaute in alle Richtungen. Seine Kameraden waren verschwunden. Nicht einmal deren Gesang konnte er hören. Er war allein in der Dunkelheit, zusammen mit einer Fee. Er bekam es mit der Angst zu tun. Nicht nur die Gefahren in der Nacht ängstigten ihn, sondern auch der Ärger, den er bekommen würde.
Hoffnungsvoll fragte er: »Du kennst doch bestimmt den Weg zur großen Traumbuche?«
»Nee, für mich sehen alle Buchen gleich aus.«
Er setzte sich auf einen Stein, während die Fee Neevea um ihn herum kreiste.
»Was sollen wir nur tun? Was? Waaa-haaas?«
Neevea ließ ihn noch eine Weile im Ungewissen. Dann kicherte sie und nahm seine Hand. Verwundert bemerkte Elyas, dass er um einiges leichter wurde. Die Fee zog ihn leicht zu sich heran und der Wichtel erhob sich. Zunächst von dem Stein, auf dem er saß und dann vom Waldboden.
»Wieso schwebe ich?«
»Magie?«, spottete die Fee.
Was ihn noch mehr als seine Leichtigkeit verwunderte, war die Tatsache, dass ihm vom Schweben nicht speiübel wurde. Er erinnerte sich daran, wie lange es dauerte, bis er seine Höhenangst überwand und überhaupt auf dem Ast eines Baumes herumlaufen konnte. Irgendwie schaffte es diese anmutige Fee, ihn völlig zu beruhigen …
Gemeinsam erhoben sie sich in die Lüfte. Die Äste und Blätterdächer ließen sie schnell hinter beziehungsweise unter sich und kreisten zusammen über den Wald. Elyas spielte mit dem Gedanken, weiter in die Lüfte zu steigen, den Wald zu verlassen und über die Lichter der Menschenstädte zu fliegen oder die Feenstadt zu besuchen … Leider war Pflichtbewusstsein ein essenzieller Bestandteil eines jeden Wichtels. Hätten Wichtel nicht diese angeborene Charaktereigenschaft, wären sie nur kleine Idioten, die mit ihren lustigen Mützen im Wald herumwanderten.
Von der Aussicht konnte Elyas allerdings nicht genug bekommen. Er hoffte, eines Tages wieder mit der Fee diese Erfahrung machen zu können. Er stand beziehungsweise flog über den Dingen. Es war ein erhabenes oder besser gesagt: erhebendes Gefühl, nach dem man süchtig werden konnte. Elyas war so tief in seinen Gedanken versunken, dass er Neevea beinahe losgelassen hätte – er konnte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er das täte. Mit Sicherheit wäre es etwas Unschönes gewesen …
»Ich glaube, ich höre etwas«, unterbrach die Fee seine Gedanken.
Tatsächlich, es war der Marschgesang der Wichtel!
»HEIHO-HEIHÜ!WIR ARBEITEN VON SPÄT BIS FRÜH!«
Es dauerte nicht lange, bis die beiden die Richtung der Wichtel ausmachen konnten. Und was für Elyas fast noch wichtiger war: Er wusste nun, wo sich die »berühmte« große Traumbuche befand. Seine zukünftige Arbeitsstelle, die von Außen betrachtet auch nicht anders als andere Buchen aussah. Gut, sie glitzerte etwas, war magentafarben und etwas höher als die anderen Bäume. Unten, in Wurzelnähe besaß sie eine kleine, nur für Wichtel erkennbare Tür. Aber das waren auch schon die einzigen Unterschiede zu den »gewöhnlichen« Bäumen.
So wie es aussah, waren die Wichtel nur etwa 20 Meter von ihr entfernt. Elyas nahm an, dass die Fee ihn bei, oder besser: unbemerkt hinter seinen Freunden und zukünftigen Kollegen absetzen würde, aber das übermütige Feenmädchen hatte etwas anderes mit Elyas im Sinn.
Beide landeten genau neben der Traumbuche.
»Hihi, wir sehen uns!«, flüsterte die Fee in Elyas‘ Ohr. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und flatterte geschwind davon. Elyas schaute ihr sehnsuchtsvoll hinterher, während sie bereits die Baumwipfel erreicht hatte.
Er war hin und weg und konnte das nächste Zusammentreffen mit der Fee kaum erwarten. Inzwischen hatten die anderen Wichtel ihn erreicht und wäre Elyas nicht in seinen Gedanken versunken, hätte er ihre verwunderten Gesichter bemerkt. Nur Chubby schaute gen Himmel, sah etwas Helles, Feenartiges über den Bäumen herumfliegen, machte seine Schlussfolgerungen und grinste.
Die laute Stimme von Alfred E. Sandmann, dem obersten Sandmann in diesem Wald, weckte ihn mit einem Schlag: »WAS HAT DAT‘ ZU BEDEUTEN!«
* * *
Es schwebte eine weibliche Fee hinauf zu den Wolken. Eine männliche Fee flog ihr entgegen.
»Hehehehe, unser kleines Fischlein hat angebissen!«
»Exzellent.«
4 Seit jeher war es die Aufgabe des obersten Wichtels, die Namen der Jungwichtel festzulegen. Es war eine einfache Angelegenheit, zumindest damals, vor Äonen, als die Wichtelbevölkerung noch überschaubar war. Laut dem »Heiligen Buch der Wichtel und anderen wuseligen Waldbewohner« genügte es, das Subjekt nach einem herausstehenden Charaktermerkmal zu benennen. (Schlafmütz, Grumpy, Schlaubi, etc.) Als sich die Wichtelbevölkerung genauso wie die der Menschen exponentiell vergrößerte, war Opa Wichtel gezwungen, zu umdisponieren: Er vertraute auf die Weisheit der Götter, ihm die richtige Inspiration zu liefern, und benannte die Jungwichtel nach den ersten Wörtern, die ihm spontan einfielen.Die Pocketausgabe einer Vogue aus dem Jahr 2013, die er im Wald fand, und die dort enthaltenen Promi-News, war ebenfalls eine große Hilfe für ihn und ersetzte schnell sein heiliges Buch. Außerdem bekam er alles über die besten Looks aus Shanghai beigebracht und die 12 erfolgreichsten Methoden, Männer zu verführen. (Was für ihn sinnlos war, da Wichtel zwar in der Lage sind, romantische Gefühle zu empfinden, aber leider keine Genitalien besitzen.)
Tanja Schröter stritt noch etwas mit ihrer älteren Schwester Iphigenie, die von ihr zärtlich »Iffy« genannt wurde. Bäuchlings lag sie in ihrem Bett und Tränen flossen aus ihrem Gesicht. Dabei starrte sie ungläubig den Bildschirm ihres schwarzen, mit "Diablo 2"-Aufklebern verzierten Laptops an. Ihre Schwester kniete etwas weiter links neben ihr auf dem Fußboden und versuchte vergeblich, tröstend den Arm um die Schulter ihrer kleinen Schwester zu legen.
Noch weiter hinter ihr im Raum schärfte Captain Pawcard seine Krallen am Kratzbaum. Das Tier, eine schwarze Bombaykatze mit goldfarbenen Augen, schaute fasziniert zu den beiden jungen Frauen hinüber, entschied sich aber, so schnell wie es ihr möglich war, den Raum in Richtung des etwas ruhigeren Wohnzimmers zu verlassen.
»Warum hast du das nur getan? Wieso bloß? Wie konntest du nur meine Privatsphäre verletzten?«
»Es war besser so, Tanja, glaub’ es mir.«
»Du hast mich vor LandoCarlrissian24 blamiert! Wie konntest du nur? Er wird von nun an… Oh, bestimmt wird er mich blocken! Gut gemacht, Iffy!«
»Es geschah zu deinem Besten. Man weiß nie, welche abartigen Typen bei Dating-Communities herumhängen. Du verdienst etwas Besseres als diesen Lando-Typen!«
»Wer gab dir die Erlaubnis dazu, ihm diesem Schwachsinn zu schreiben?«
Der Lärm, den die beiden großen Dinger da machten, störten Captain Pawcard ungemein bei seiner wohlverdienten Ruhepause. Er vergrub seinen Kopf tief in einem Couchkissen und hoffte, dass die beiden kreischenden Riesinnen, deren einzige Aufgabe es war, diese silbernen, bunt bedruckten Objekte mit dem leckeren Inhalt zu öffnen, ihre Differenzen beilegen würden.
»Ich bin deine ältere Schwester. Schwestern müssen füreinander da sein!«
»Hör auf mit diesem sentimentalen Quatsch!«
»Seit unsere Mutter fort ist, gibt es nur noch uns b...«
»Sie besucht Tante Ulrike in Düren!«
Es folgte ein viel zu kurzes, aber dennoch unangenehmes Schweigen. Captain Pawcard schöpfte wider besseres Wissen für einen kurzen Moment so etwas wie Hoffnung.
»Gestern, nachdem ich viel Zeit aufwenden musste, um dich ansehnlich für diesen Tanzschul-Typen zu machen und du wie vom Teufel gehetzt die Wohnung verlassen hast, sah ich, dass dein Laptop noch nicht ausgeschaltet war. Entschuldigung, dass mir unsere Stromrechnung wichtiger als deine Privatsphäre ist!«
»Ach, und dann hast du noch schnell FindYourLove24 im Browser aufgerufen, mein Passwort geknackt …«
»… Ein 24-stelliges, nur aus zufälligen Sonderzeichen bestehendes Passwort zu knacken, ist nun wirklich kein großes Prob...«
»Ich wiederhole: Du knacktest mein Passwort, lasest den Chat mit Lando in allen Einzelheiten und schriebst ihm, dass ›Unsere Unterhaltung ihre Leichtigkeit verloren hätte und mir diese Art des Datings nicht läge und ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wolle‹! Wer verzapft denn so was?«
Captain Pawcard verstand nicht, worüber sich die beiden großen Dinger stritten. Und er war froh darüber.
* * *
Erik Zuckler saß vor seinem PC und suchte nach einer Differenz. Normalerweise benötigte er nur wenig Zeit für diese Aufgabe. Zu dem Beruf eines Steuerfachangestellten gehört das Suchen nach Differenzen einfach dazu. Genauso gut könnte sich ein Tierarzt über das Entflohen von Hunden beschweren. Diese Differenz allerdings war anders.
Wäre er in irgendeiner Weise religiös, dann würde ihn diese Unstimmigkeit zwischen dem Jahresgewinn der Gärtnerei »Grobvogel & Söhne« laut Buchungsdaten und dem Gewinn, den diese Tabelle ausgab, nachdenklich stimmen. 666. Die Zahl des Tieres aus dem Buch der Offenbarung. Oder so ähnlich.
Sein Kollege Hans-Peter Goebel hätte diese Differenz zutiefst erschreckt. Goebel, der schmierige, rattengesichtige, gelbzahnige Lohnbuchhalter, mit dem Erik sein viel zu kleines Büro teilen musste, gehörte der Sekte der »Butzaner« an, vermutlich eine der restriktivsten Gemeinschaften des Christentums. Dreiviertelstündlich musste er genau siebenmal das Vaterunser beten, jeden dritten Dienstag im Monat freibekommen, um eine Wallfahrt nach Hannover zu unternehmen und er durfte sich nur von Lebensmitteln ernähren, die sich auf »Graubrot« reimen. Es gab noch 84 weitere Regeln, denen Goebel sich unterwerfen musste, um seine Hingabe an Gott zu zeigen, aber das würde jetzt zu weit führen, sie alle aufzuzählen. Erik kannte den Glauben seines Kollegen in allen Einzelheiten; bei jeder sich bietenden Gelegenheit hielt er Erik von seiner Arbeit ab und versuchte, ihn zu »missionieren« …
Die Zahl 666 war durch neun teilbar. Jeder Auszubildende in seinem Beruf bekommt als Erstes beigebracht, dass es sich bei derartigen Differenzen um Zahlendreher handeln musste. Einen Zahlendreher zu finden, war für ihn die einfachste Sache der Welt, aber wieso fand er dieses Mal den Fehler nicht? Zum Glück konnte er sich einigermaßen konzentrieren, das nächste lautstarke Gebet seines Kollegen wäre erst in zwanzig Minuten fällig. Erik musste nun zum wiederholten Male jede Buchung durchgehen und jede Kontobewegung in seinen Taschenrechner eingeben. Er schnaufte.
»Könnten sie vielleicht etwas leiser schnaufen?«, beschwerte sich Goebel, »Man kann seinen Ärger auch innerlich verarbeiten, indem man innehält und auf den Herrn vertraut.«
»Natürlich«, antwortete Erik, während er den Wunsch verspürte, Goebels 100 Jahre alten, verschrumpelten Testikel an seiner Bibel festzutackern.
Es half alles nichts. Der Fehler muss sich irgendwo in den Buchungen der Kasse befinden. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als jeden einzelnen Beleg zu überprüfen. Goebel schaute wieder pikiert zu ihm herüber. Als ob der Typ noch nie Differenzen hatte …
Erik musste raus aus diesen miefigen Raum. Er brauchte etwas frische(re) Luft und verließ das Büro in Richtung Küche. Wie oft hatte er in den letzten Monaten diese schmutzigen, stinkenden und vor allem ungeordneten Belege dieser abgewichsten Dorfgärtnerei in der Hand gehabt? Nach jeden Sortiervorgang stanken seine Hände nach Dung, Achselschweiß und Kompost. Genauso gut hätte er in der Unterhose von Til Schweiger herumwühlen können.
Auf dem Weg zur Küche ging er an dem Büro seiner beiden Kolleginnen vorbei. Ein kaum hörbarer Seufzer entfleuchte ihm dabei. Bei Lisa und Britt herrschte immer eine perfekte Harmonie. Es war unwahrscheinlich, dass die eine von der anderen gestört wurde. Außerdem waren die beiden ein durchaus angenehmerer Anblick als dieser Goebel-Fatzke!
In der Küche angekommen, füllte er seine Kaffeetasse mit der Aufschrift »TAX ACCOUNTANTS DO IT SLOWLY AND OVERCAREFUL« auf. Diese duftende braune Brühe war jetzt genau das Richtige für ihn. Er musste noch ein paarmal tief durchatmen, bevor er sehr langsam den Weg zurück zu seinem Kabäuschen machte. Zurück zu Mister Lohnbuchhaltung. Er nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse. Dann setzte er einen Fuß vor den anderen.
Er bedauerte es, dass er nicht Rockstar geworden ist. Stattdessen empfahl ihm der Berufsberater diesen Horrorjob. Und der einzige Grund, warum Tenager-Erik diesen Beruf ergriff, lag darin begründet, dass man ihm sagte, dass es bei Steuerfachangestellten einen besonders hohen Frauenanteil gab. Von nervigen Lohnbuchhaltern, mit denen man eingepfercht wird, hatte ihm leider niemand etwas gesagt.
Er ging wieder den Gang entlang und warf einen kurzen Blick in das Büro von »Pretty« Britt und »Lovely« Lisa. Die Tür war wie immer leicht geöffnet. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob die beiden jungen Frauen eng umschlungen Walzer tanzten. Hatte er sich das eingebildet? Oder was das wieder eine von seinen Lesben-Fantasien? Erik schüttelte den Kopf. Seine Müdigkeit hat ihm vermutlich einen Streich gespielt.
Er trank erneut aus seiner Tasse und klopfte kurz an der Tür zu seinem Büro. (Ja, sein Kollege Goebel verlangte dies von ihm vor jedem Betreten dieses Raumes!) Goebel schaute pikiert auf seine Armbanduhr und dann zu Erik hin.
»Vier Minuten!«
»Äh, ja, es hat etwas länger gedauert, Tschuldigung!« Wieso entschuldige ich mich immer wieder bei diesem Idioten?
Erik ging vorsichtig an Goebel vorbei. Er hätte ihm gerne seinen Kaffee in den Schritt gegossen, aber der Typ war es nicht wert, dass man seinen Kaffee an ihm verschwendet.
Kurz bevor sich Erik auf seinen Stuhl hinsetzen konnte, räusperte Goebel.
»Ähem, wären Sie bitte so freundlich und reichen mir die Akte der ›Wonz GbR‹?«
»In Ordnung.«
Während alle anderen Steuerbüros auf der Welt weitgehend papierlos arbeiteten, überredete Goebel seinen Chef vor vielen Jahren, aus »Sicherheitsgründen«, sämtliche Akten in DIN-A4-großen, dicken und schweren Kartons aufzubewahren. Etwa 150 dieser Kästen befanden sich in den Regalen der Wand, direkt hinter Erik und Goebel. Weil dieses Büro so klein war, gab es nur einen Abstand von weniger als einem Meter zu den beiden. Theoretisch hätte sich Goebel nur auf seinem Bürostuhl umdrehen müssen, um an die Akte zu gelangen.
Erik suchte in den alphabetisch geordneten Kästen nach W wie »Wonz«. Ein paar der Etiketten waren schon etwas älter und kaum lesbar.
»Äh, ich kann den Karton nicht finden, haben sie ihn bereits …«
»Sind sie blind? Da drüben ist er doch! Dort, wo er sich immer befindet!«
»Wo?«
»Rechts von ihnen!«
Erik suchte weiter rechts nach der Akte.
»Rechts! Ich sagte: RECHTS!«
Erik war bereits bei den Z-Akten.
»Rechts!«
Erik schaute Goebel fragend an.
»Sind sie zu unfähig, um eine einfache Akte zu finden? Kennen sie nicht den Unterschied zwischen rechts und links?«
»Sie sagten, die Akte sei rechts und ich …«
»Äh, ich meinte natürlich: links. Sie ist links, LINKS, LIII-HINKS!«
Erik sah die Akte auf den Schreibtisch von Goebel liegen und tippte ein paarmal auf sie. Goebel verstand diese Botschaft nicht.
»Was soll das? Sie sollen mir die Akte Wonz geben!«
Erik tippte erneut. Goebel bemerkte es und nahm die Akte an sich. Jeder andere hätte sich jetzt für diese Unannehmlichkeiten entschuldigt, aber nicht Goebel.
Erik nahm nun endlich auf seinen Stuhl Platz. Mit einem lauten »Hmpf« zog er den alten Karton mit den müffelnden Kassenbelegen hervor. Jetzt konnte beziehungsweise musste er sich endlich dieser unliebsamen Tätigkeit widmen.
Er nahm die zusammengetackerten und einigermaßen geordneten Belege vom Januar in die Hand. Zuvor schaute er voller Sehnsucht aus seinem Fenster. Auf die vielen Passanten, die unten an seinem Bürogebäude und den nahegelegenen Geschäften vorbeigingen, er befand sich im vierten Stock. Und da waren sie wieder: Etwa dreimal wöchentlich liefen Mr. Schnösel und seine Modelfreundin unten an seinem Gebäude vorbei. Händchenhaltend. Gemeinsam lachend. Glücklich. Verliebt. Der glatzköpfige Angeber in seinem Armani-Mantel und seine langbeinige, perfekt gebaute, wunderschöne Luxus-Freundin haben bestimmt noch nie in ihrem Leben nach Differenzen gesucht. Oder überhaupt Differenzen gehabt! Und er musste für einen Hungerlohn mit einem nervigen Vollidioten in einem engen Raum eingesperrt unter Zeitdruck Jahresabschlüsse zusammenklöppeln!
Na gut. Los geht‘s. Konzentriert öffnete er den Datensatz für Januar und…
»Vaterunser, der du bist im Universum,geheiligt werde deine Existenz.Zu uns kömme deine Macht.«
»Bitte nicht …«, flehte Erik.
»Dein Wille möge immer unser Leitfaden sein.Wie oben so unten.«
Erik schäumte vor Wut.
»Unsere täglichen Aufgaben gebe uns,die wir mit Freude empfangen.«
Erik musste sich aus seinem Bürostuhl erheben.
« … Und erfülle uns mit Demut,wie auch wir demütigen unseren Nächsten.«
Erik ging zu dem Schreibtisch seines Kollegen Goebel, der mit gefalteten Händen und seiner olivgrünen Gebetsmütze in sein einseitiges Gottesgespräch vertieft war.
»Wasche hinfort alles Übel,und übe Vergeltung an unseren Feinden.«
»Zu spät!«