Die Farbe der Alpen - Christina Wermescher - E-Book

Die Farbe der Alpen E-Book

Christina Wermescher

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Beschreibung

Romantische Gefühle in rauer Landschaft . . . und eine Begegnung, die zwei Leben verändert. Als Valerie die Künstleragentur ihrer Mutter in München übernimmt, fällt ihr auf, dass der erfolgreichste Maler schon lange kein Gemälde mehr verkauft hat. Kurzerhand macht sie sich auf den Weg zu einer abgelegenen Berghütte in den Alpen, um sich vorzustellen und ihm auf den Zahn zu fühlen. Doch Konstantin steckt in einer waschechten Schaffenskrise – und Valerie beschließt, alles zu tun, um ihn wieder zum Malen zu bewegen ...

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Seitenzahl: 302

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Nach ihrem Studium zur Diplom-Kauffrau promovierte Christina Wermescher in England und arbeitete bei verschiedenen Unternehmen. Die Geburt ihres Sohnes bewog sie jedoch dazu, sich voll und ganz ihren Geschichten zu widmen. Christina Wermescher liebt es zu reisen – sowohl in ihren Büchern als auch in der Realität.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Motive von shutterstock.com/FooTToo, shutterstock.com/Praew stock

Lektorat: Marit Obsen

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-216-1

Roman

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

1

Die Kunstagentur ihrer Mutter war nicht besonders groß. Sie bestand lediglich aus einem Büro, einem Besprechungszimmer, einem Lagerraum und einer kleinen Kaffeeküche. Trotzdem fühlte Valerie sich, als beträte sie heilige Hallen. Sie würde all das hier für die nächsten Wochen übernehmen. Endlich konnte sie zeigen, was sie draufhatte und dass sie eine würdige Nachfolgerin wäre.

»Bist du sicher, dass du das hinkriegst?« Der skeptische Tonfall ihrer Mutter holte sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Genervt rollte Valerie mit den Augen. »Natürlich bekomme ich das hin. Ich verkaufe seit fast zehn Jahren Gemälde.«

»Ja. Auf Kreuzfahrtschiffen.«

Valerie presste die Lippen aufeinander. Sie wollte sich nicht streiten. Nicht heute, am Tag von Mamas Abreise. Außerdem war sie solche Bemerkungen schon gewohnt. Dennoch schmerzte der abfällige Unterton.

»Kunst ist Kunst, und Kundschaft ist Kundschaft«, antwortete sie, bemüht, dabei nicht zu klingen wie ein trotziges Kind. »Deine Agentur ist bei mir in guten Händen. Kümmere du dich jetzt erst einmal um deine Gesundheit.« Damit spielte sie den Ball der Animositäten gekonnt zurück zu ihrer Mutter. Die verzog prompt das Gesicht. Dass sie ein neues Hüftgelenk brauchte, hatte sie noch immer nicht ganz verkraftet, führte es ihr doch unmissverständlich vor Augen, dass sie nicht mehr so jung war, wie sie sich gerne gab. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass sie sich jedem mit »Hedy« vorstellte und das sogar auf ihre Visitenkarten drucken ließ, weil ihr »Hedwig« zu altmodisch klang.

Das war ein wunder Punkt. Zum letzten Geburtstag hatte Valerie ihr ein Buch mit dem Titel »Würdevoll altern« geschenkt. Das hatte der Party ein vorzeitiges Ende beschert und eine Funkstille zwischen Valerie und ihrer Mutter für volle drei Wochen.

»Wollen wir die Kartei noch zusammen durchgehen?«, fragte Valerie versöhnlich. Ihr stand nicht der Sinn nach Meinungsverschiedenheiten, und schließlich sollte man nicht im Streit auseinandergehen.

»Das wird nicht nötig sein. Ich habe die offenen Vorgänge abgeschlossen und auch alle informiert, dass ich nicht erreichbar sein werde. Du wirst also nicht viel zu tun haben. Deine einzige Aufgabe wird wohl sein, ans Telefon zu gehen, falls jemand mein Schreiben übersehen hat und sich doch hier meldet.«

Valerie seufzte. Sie hatte sich gefreut und geehrt gefühlt, weil ihre Mutter ihr anscheinend endlich Vertrauen entgegenbrachte, was die Agentur betraf. Ganz so weit her schien es damit allerdings nicht zu sein. Es fiel der Queen schwerer als erwartet, das Zepter aus der Hand zu geben, und sei es auch nur für ein paar unvermeidliche Wochen.

»Für den Fall der Fälle brauche ich dann noch das Passwort zu deinem Laptop.« Valerie bemühte sich redlich, nicht beleidigt zu klingen.

»Den wollte ich eigentlich mitnehmen.«

»Jetzt ist es aber genug!« Sie stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte ihre Mutter vorwurfsvoll an.

Wider Erwarten zeigte die energische Pose tatsächlich Wirkung. »Schon gut, schon gut. Es lautet ›Nougatpralinen‹.«

Valerie hob skeptisch eine Augenbraue. »Nougatpralinen?«

»Ja, das ist die Sache, die ich am liebsten mag auf der Welt«, gab Hedy achselzuckend zurück.

Valerie verkniff sich eine ungläubige Bemerkung. Sie würde später ja sehen, ob es stimmte. So eigen, dass sie ihr ein falsches Passwort gab, war ihre Mutter dann wohl hoffentlich doch nicht. »Also gut. Wollen wir fahren?«

»Stell bitte vorher die Rufumleitung auf dein Handy ein. Ich bin bekannt dafür, dass ich zuverlässig bin und immer für meine Kundschaft erreichbar – Tag und Nacht«, erklärte ihre Mutter mit gewichtiger Miene. Valerie nickte ergeben. Dann würde sie ihr Handy in den nächsten Wochen also nicht wie gewohnt nachts ausschalten. Das war verkraftbar, auch wenn sie es ein wenig übertrieben fand.

Nach einer Handvoll weiterer mehr oder weniger wichtiger Hinweise klemmte sie sich schließlich den Laptop unter den Arm und scheuchte ihre Mutter nach draußen und ins Auto. Dank des Stadtverkehrs brauchten sie eine geschlagene Stunde bis zur Klinik, die zwar immer noch im Großraum München, jedoch etwas außerhalb lag. Als das Krankenhaus endlich vor ihnen auftauchte, machte ihre Mutter ein Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte der Weg offenbar noch etwas länger sein dürfen.

»Nun guck nicht so. Es wird bestimmt gut. Außerdem wirst du dort schön gepflegt und bedient. Das ist doch auch mal ganz nett«, startete Valerie einen etwas kläglichen Aufmunterungsversuch.

»Pff! Ich brauche nicht bedient zu werden. Mein Leben lang habe ich gearbeitet, und das wird auch so bleiben!«

Oje, was hatte sie nun wieder losgetreten? Valerie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Es gab durchaus Tage, an denen sie gern mit ihrer Mutter zusammen war. Man konnte zum Beispiel gut mit ihr shoppen gehen, zumindest wenn man bezüglich desillusionierender Kommentare nicht gerade zartbesaitet war. Und sie wusste auch immer über die neuesten und angesagtesten Restaurants Bescheid, für deren Besuche sie stets zu haben war. Heute stellte sie Valeries Geduld jedoch auf eine harte Probe.

Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass es höchste Zeit wurde, die Vollnarkose einzuleiten. Dann würde Hedy endlich einmal die Klappe halten. Sogleich bekam sie ein schlechtes Gewissen. Schließlich war so eine Operation ja nie ganz ohne. Und Valerie wollte Mitgefühl zeigen, auch wenn ihre Mutter es ihr gerade nicht unbedingt leicht machte. Etwas unbeholfen tätschelte sie ihr die Schulter, ehe sie ausstieg.

Als sie den Trolley aus dem Kofferraum zerrte, fragte sie sich unweigerlich, ob Hedy nicht doch ihr halbes Büro eingepackt hatte. Zum Glück hatte das Ding Rollen und jede Klinik einen Aufzug.

So langwierig die Fahrt gewesen war, so schnell ging alles vor Ort. Schon nach wenigen Minuten standen Mutter und Tochter in dem Krankenzimmer, in dem Hedy die nächste Zeit wohnen würde. Als deren Blick auf das zweite Bett fiel, das zwar gerade leer, jedoch eindeutig in Benutzung war, rümpfte sie die Nase. Ein Einzelzimmer wäre ihr natürlich lieber gewesen. Doch da musste sie jetzt durch, und mehr als Hedy tat Valerie die Zimmernachbarin leid. Hoffentlich war sie ihrer Mutter gewachsen.

Als sie die Kleidung in den Schrank geräumt und den Kulturbeutel ins Bad getragen hatte, stand Hedy mit dem Rücken zu ihr am Fenster und blickte hinaus.

»Lass meine Pflanzen nicht sterben, ja?«

»Natürlich nicht. Du kannst dich auf mich verlassen.«

»Weiß ich doch.«

Bitte? Wurde ihre Mutter angesichts der bevorstehenden OP etwa doch noch umgänglich? Valerie fiel aus allen Wolken, als Hedy sich plötzlich zu ihr umdrehte und sie in die Arme schloss. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann ihre Mutter das zuletzt getan hatte.

»Rufst du mich heute Abend noch mal kurz an?«, fragte sie nun auch noch.

Valerie schluckte den Kloß, der sich aufgrund so viel unerwarteter Wärme in ihrem Hals gebildet hatte, hinunter. »Klar, mache ich.«

»Und morgen nach der OP auch?«

»Ja, morgen auch.«

Dann lösten sie sich voneinander, und Valerie verließ mit überraschend gemischten Gefühlen die Klinik.

2

Valerie verbrachte den nächsten Morgen damit, den Laptop ihrer Mutter unter die Lupe zu nehmen, nachdem »Nougatpralinen« ihr tatsächlich die Tore geöffnet hatten. Alles war ordentlich abgelegt, das musste man Hedy lassen. Nach zwei Stunden hatte Valerie einen guten Überblick über die Künstler und Künstlerinnen, die bei ihrer Mutter unter Vertrag standen. Es waren überwiegend Maler, jedoch mit ganz verschiedenen Stilrichtungen. Viel gab es allerdings tatsächlich nicht zu tun. Hedy hatte kürzlich eine Auktion und eine Vernissage organisiert, und beides war vollständig abgeschlossen. Keine offenen Rechnungen, sämtliche Bilder waren bereits bei ihren neuen Besitzern. Ihre Mutter hatte den Laden im Griff, das stand außer Zweifel. Valerie wollte ihr während ihrer Abwesenheit jedoch unbedingt beweisen, dass auch sie dieses Geschäft im Griff hatte. Sie hatte immer davon geträumt, hier mit einzusteigen und die Agentur später einmal zu übernehmen. Sie wusste, dass sie das konnte, nun musste sie endlich auch ihre Mutter davon überzeugen. Die hatte das zwar selbst schon vage ins Auge gefasst, sich auf Nägel mit Köpfen bisher jedoch nicht einlassen wollen. Und Valerie hatte auf diese Chance zu lange gewartet, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen.

Sie ließ ihre Kaffeemaschine, die der einzige Grund war, warum sie heute Morgen nicht Hedys heilige Hallen aufgesucht hatte, einen Espresso aufbrühen. Vielleicht würde das tiefbraune Elixier ihr eine Idee einflößen, wie sie ihre Mutter beeindrucken konnte.

Während sie an der kleinen Tasse nippte, klickte Valerie sich erneut durch die Kundenkartei. Zwei Ausstellungen waren geplant, und die Künstler hatten zugesichert, Werke zum Verkauf fertigzustellen, doch bis zu den Vernissagen war noch Zeit und trotzdem bereits alles vorbereitet. Fast erweckte der makellose Terminplan den Eindruck, Hedy habe unter allen Umständen verhindern wollen, dass Valerie aktiv wurde. Grummelnd presste sie die Lippen aufeinander. Ihre Euphorie, die Agentur zeitweise übernehmen zu können, war längst verpufft.

Da fiel ihr Blick auf den Namen Konstantin Brauer. Sie erinnerte sich daran, dass Hedy vor einigen Jahren eine große Ausstellung mit dem Maler gemacht hatte. Es war eine ihrer prestigeträchtigsten Veranstaltungen gewesen. Sowohl Presse als auch lokale Promis hatten Schlange gestanden, und die Bilder fanden zu sehr zufriedenstellenden Preisen neue Besitzer.

Sie sah sich das Kundenprofil genauer an und musste feststellen, dass schon seit einem guten Jahr kein einziger neuer Eintrag mehr verzeichnet worden war. Wäre Brauer verstorben, hätte Valerie bestimmt davon gehört. Und ein Ausnahmetalent wie er hörte doch nicht einfach von heute auf morgen auf zu malen. Irgendetwas war da faul, das spürte sie. Hatte Brauer sich womöglich neue Vertriebswege erschlossen, ohne die Agentur ihrer Mutter? Vielleicht sollte Valerie ihm mal auf den Zahn fühlen.

Ohne auch nur eine Sekunde an ihrer Idee zu zweifeln, griff sie zum Telefon. Nummer und Adresse waren natürlich lückenlos in der Datei eingepflegt. Alles andere hätte Valerie auch stark gewundert. Sie ließ es lange klingeln, doch leider ging Brauer nicht ran. Aber so schnell würde sie nicht lockerlassen. Ihre Mutter würde Augen machen, wenn sie es während ihrer Abwesenheit schaffte, ein Bild ihres lukrativsten Künstlers zu verkaufen! Hoch motiviert speicherte sie Brauers Nummer in ihr Handy ein, um es später noch einmal zu versuchen.

Dann rief sie im Krankenhaus an. Doch auch dort erreichte sie niemanden. Anscheinend war Hedy noch nicht wieder in ihrem Zimmer und schlummerte vielleicht noch im Aufwachraum vor sich hin.

Valerie überlegte, was sie noch tun konnte, und suchte die letzte Version des Standardvertrages heraus, den ihre Mutter für die Zusammenarbeit mit den Malern verwendete. Am Vorabend hatte sie nämlich eine Reportage über künstliche Intelligenz gesehen. Ein großer Themenkomplex waren dabei die Bildgenerierung und die Urheberrechtsprobleme gewesen, die noch nicht vollständig gelöst waren, obwohl die Programme bereits täglich genutzt wurden.

Wie vermutet stand noch nichts zu der Thematik in Hedys Vertrag. Valerie schmunzelte in sich hinein. Da hatte sie also doch etwas gefunden, was nicht bereits erledigt war. Sogleich fing sie an zu recherchieren. Sie fand viele Einträge und Artikel im Internet, in denen der Einsatz von KI seitens der Künstler verteufelt wurde. Aber es gab durchaus auch andere Stimmen, und Valerie hatte selbst auch eher das Gefühl, dass die neuen Möglichkeiten menschliche Kunst nicht unbedingt verdrängten, sondern den Schaffensprozess erleichtern und vielleicht sogar erweitern konnten.

Nach einiger Zeit rauchte ihr der Kopf, und Valerie hatte das dringende Bedürfnis, eine Runde zu joggen. Das war das Einzige, was ihr am Leben auf hoher See wirklich gefehlt hatte. Zwar waren moderne Kreuzfahrtschiffe groß genug, dass man auch dort ein paar Runden drehen konnte, und es gab Fitnessräume mit Laufbändern, doch das war nicht annähernd vergleichbar damit, durch die quirligen Münchner Straßen zu traben.

Sie zog sich um und joggte kurze Zeit später durch ihr Viertel. Valerie war nach ihrer Rückkehr in eine hübsche kleine Altbauwohnung gezogen. Gerne hätte sie es etwas größer gehabt, aber angesichts der Mietpreise war das schlichtweg nicht möglich. Dafür mochte sie die Gegend, die nun ihr Zuhause war, sehr. Früher hatten hier im Glockenbachviertel verschiedene Handwerksbetriebe die Wasserkraft der Stadtbäche genutzt. Die waren zum großen Teil inzwischen zubetoniert, und auch die namensgebende Glockengießerei gab es längst nicht mehr. Stattdessen luden heute zahlreiche Cafés, Restaurants und Kneipen dazu ein, die Abende außer Haus zu verbringen. Das war genau nach ihrem Geschmack. Sie liebte es, mit Freunden auszugehen und München bei Nacht zu erkunden. Leider kannte sie durch ihre lange Abwesenheit nicht mehr sehr viele Leute hier.

Als wäre dieser Gedanke sein Stichwort, ließ in diesem Moment eine Nachricht von Alessandro das Handy in ihrer Tasche vibrieren. Sie hatten eine eher lose, aber harmonische Beziehung an Bord des Kreuzfahrtschiffes gehabt, auf dem Valerie das letzte Jahr verbracht hatte. Der gut aussehende Italiener meldete sich noch ab und an mit einem virtuellen Küsschen bei ihr, obwohl er ebenso gut wusste wie sie, dass ihre Verbindung keine Zukunft hatte. Es war schön gewesen mit ihm, doch Valerie trauerte dem Ganzen nicht nach. Sie war weitergezogen, und das war gut so. Sie schoss ein Selfie von sich und der belebten spätsommerlichen Stadt im Hintergrund und schickte es ihm mit vielen Grüßen.

Nachdenklich schob Valerie das Handy zurück in ihre Tasche. Komisch, dass ihre Mutter sich noch nicht gemeldet hatte. Nun, einerseits war es gut, denn würde Hedy ihr mit einem Anruf zuvorkommen, legte sie sicherlich einen vorwurfsvollen Ton an den Tag. Andererseits musste Valerie immer wieder an die Verabschiedung gestern denken. Soweit sie wusste, war ihre Mutter noch nie operiert worden. Und auch wenn sie es nicht offen zugegeben hatte, war ihr doch deutlich anzusehen gewesen, dass sie ziemlichen Bammel vor der OP hatte. Und das war etwas, was Valerie an ihrer Mutter überhaupt nicht kannte. Hedy war furchtlos, das war sie immer gewesen. Oder zumindest hatte sie stets so auf Valerie gewirkt. Vielleicht lag das auch ein bisschen an ihrer Geschichte. Sie hatte Valerie ohne einen Ehemann bekommen und aufgezogen, damals eine Seltenheit. Dabei hatte sie trotz aller Hürden und Probleme nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie dem gewachsen war.

Kaum hatte Valerie die Stufen zu ihrer Wohnung erklommen, rief sie noch einmal im Krankenhaus an. Es klingelte eine ganze Weile, dann meldete sich eine Frau, deren forscher Ton durchaus mit Hedys mithalten konnte, sie war es jedoch nicht selbst.

»Guten Tag, ich würde gerne mit Hedwig Gschwendt sprechen. Ich bin ihre Tochter Valerie.«

»Hallo, da müssen Sie sich noch ein bisschen gedulden. Die Operation hat Ihre Mutter etwas geschlaucht, das ist ganz normal. Sie war schon wach, und es ist alles wie geplant verlaufen, aber jetzt schläft sie wieder. Am besten warten Sie mit Telefonaten oder Besuchen bis morgen. Da haben alle Beteiligten mehr davon.«

Valerie war froh zu hören, dass es Hedy den Umständen entsprechend gut ging. Sie wollte die Krankenpflegerin gerade bitten, ihrer Mutter auszurichten, dass sie angerufen hatte, da sagte diese in geschäftsmäßigem Ton: »Also, bis morgen dann, gell? Tschüss derweil!«, und legte auf. Valerie klappte den Mund also wieder zu und legte das Telefon zur Seite. Na, da hatten sich anscheinend zwei gefunden. Entweder Hedy und diese Schwester wurden beste Freundinnen, oder sie kratzten sich die Augen aus. Die Chancen standen gemäß Valeries Einschätzung fifty-fifty. Sie würde es morgen ja sehen.

3

»Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, du hättest mich vergessen«, rief Hedy, als Valerie ihr Krankenzimmer betrat. Schmunzelnd schloss Valerie die Tür hinter sich. Ihre Mutter war manchmal so berechenbar wie der Reigen der Jahreszeiten. Sie überging den Vorwurf und reichte ihr die mitgebrachten Nougatpralinen.

»Hier, wenn du isst, sprichst du weniger«, neckte sie sie. Lächelnd nahm Hedy die Schachtel entgegen. Valerie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. »Die Schwester meinte am Telefon, alles sei gut verlaufen. Das ist toll.«

Nickend schob Hedy sich sogleich eine Praline in den Mund. Sie hielt Valerie die Schachtel hin. Einträchtig kauend schwiegen sie kurz.

»Hat jemand in der Agentur angerufen?«, wollte ihre Mutter dann wissen. Als Valerie verneinte, wirkte sie erleichtert.

Meine Güte, Hedy hatte ja anscheinend richtig Angst davor, dass sie mit einem ihrer Künstler sprechen könnte. Ihre Reaktion hinterließ einen leicht bitteren Geschmack auf Valeries Zunge.

»Ich habe übrigens eine Idee für eine Ergänzung zu deinem Standardvertrag«, meinte sie und erzählte von den neuen Möglichkeiten und Risiken, die künstliche Intelligenz für die Kunstbranche mit sich bringen konnte. Leider hatte sie das Gefühl, dass das Thema Hedy nur mäßig interessierte. Zwar hörte sie ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, aber sie wirkte recht gleichgültig, und am Ende von Valeries Ausführungen war die Pralinenschachtel halb leer. »Was hältst du davon?«, fragte sie deshalb direkt nach.

»Klar, mach das.« Hedys Worte wurden von einem Wedeln ihrer rechten Hand begleitet. Dabei blieb unklar, ob sie eine Fliege verscheuchen wollte oder ihre Gleichgültigkeit damit unterstrich. »Den Entwurf kannst du mir dann ja zeigen, wenn ich wieder daheim bin. Möchtest du noch eine Praline?«

Valerie seufzte resigniert, steckte sich dann aber doch ein kleines Nougatbömbchen in den Mund. Sie musste endlich aufhören, ihrer Mutter gefallen zu wollen. Sie wusste das seit Langem, und doch rutschte sie immer wieder in die Rolle des kleinen Mädchens, das für ihr Bastelwerk oder eine gute Note im Diktat gelobt werden wollte. Dabei war sie bei Weitem kein kleines Mädchen mehr, sondern Mitte dreißig.

Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Sie würde den Teufel tun und Hedy erzählen, dass sie versucht hatte, Konstantin Brauer zu erreichen. Überhaupt war es vielleicht besser, ihr in den nächsten Tagen und Wochen nicht zu detailliert Bericht zu erstatten. Diese unangenehmen Gespräche, in denen ja doch immer wieder nur offensichtlich wurde, dass ihre Mutter sie in der Agentur eigentlich gar nicht haben wollte und ihr die Arbeit dort nicht wirklich zutraute, konnte sie sich ersparen. Am Ende würde Hedy schon sehen, dass es Valerie problemlos gelungen war, alles zu managen.

Als das Schweigen unangenehm zu werden drohte, erkundigte sie sich nach der Qualität des Krankenhausessens und fragte, ob Hedy schon wisse, wann sie in die Rehaklinik überstellt werden würde. So plauderten sie noch eine Weile über Belanglosigkeiten. Als um die Mittagszeit eine Krankenschwester mit einem Tablett hereinkam, nutzte Valerie die Gelegenheit, um sich zu verabschieden. Die Pflegerin wirkte ruhig, fast schüchtern. Sie war es bestimmt nicht gewesen, mit der Valerie telefoniert hatte.

Als sie über den Parkplatz auf ihr Auto zulief, probierte sie es aus reinem Trotz noch einmal bei Konstantin Brauer. Wieder ohne Erfolg. Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen und schloss für einen Moment die Augen. Dann fasste sie einen etwas irrationalen Entschluss, den ihre Mutter hassen würde. Doch genau das machte ihn so verlockend: Sie würde Brauer einen Besuch abstatten. Valerie hatte ohnehin mit dem Gedanken gespielt, am Wochenende zum Tegernsee zu fahren. Laut der Kartei ihrer Mutter wohnte der Maler dort ganz in der Nähe, der See lag quasi auf dem Weg. Und wenn sie heute schon fuhr, konnte sie den Pendlerverkehr am morgigen Freitag elegant umgehen. Hinzu kam, dass Hedy vorhin erzählt hatte, Archie habe sich das ganze Wochenende frei gehalten, um sie im Krankenhaus zu besuchen. Mit ihrem acht Jahre jüngeren Lebensabschnittsgefährten an ihrer Seite würde sie ihre Tochter gewiss nicht vermissen. Valerie hatte einige Männer in Hedys Leben kommen und gehen sehen, doch keiner hatte so gut zu ihr gepasst wie Archie – trotz des Altersunterschiedes oder vielleicht gerade deshalb. Die beiden waren nun schon seit fast zehn Jahren zusammen, und manchmal wirkten sie tatsächlich wie ein altes Ehepaar, eine Tatsache, die Hedy natürlich stets vehement zurückwies.

Alle Zeichen standen also günstig für Valeries Vorhaben. Auch das Hotel, das sie anrief, hatte trotz Hauptsaison ein Zimmer für sie frei. Und so machte sie sich wenig später mit einem kleinen Trolley auf der Rückbank ihres Fiats 500 auf den Weg in Richtung Süden. Auch eine Umhängetasche, in der Hedys Laptop steckte, hatte sie vorsichtshalber mitgenommen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob sie den während ihres Kurztrips aufklappen würde. Sie war motiviert und vertrat ihre Mutter gern, doch ihre Wochenenden waren Valerie heilig. Auf dem Schiff war ihr Tagesablauf vorgegeben gewesen, dort hatte sie gelernt, freie Zeiten als solche einzuhalten. Und genau das hatte sie auch in den nächsten Tagen vor.

Ihre Hoffnung, gut durchzukommen, erfüllte sich, und so erreichte sie schon eineinhalb Stunden später das kleine Dörfchen, in dem Brauer wohnte. Auch wenn die höchsten Gipfel der Alpen noch ein gutes Stück entfernt lagen, begrenzten rings um den abgeschiedenen Ort Berge den Horizont. In Kombination mit den rustikalen Häusern und ihren hölzernen Giebeln und Balkonen ergab das ein idyllisches Bild.

Da hatte sich Brauer ja ein hübsches Fleckchen ausgesucht, um sich von der Muse küssen zu lassen.

Valerie brauchte eine Weile, bis sie die richtige Hausnummer fand. Das Gebäude war im Vergleich zu manchen Nachbaranwesen recht schlicht. Die Fassade war beige, wodurch die weißen Fensterfaschen hübsch zur Geltung kamen. Das Haus wirkte gepflegt, was man jedoch vom Garten nicht unbedingt behaupten konnte. Rosen, Wiesenblumen, hohes Gras und Rotkohl wuchsen dort in einem wildromantischen Durcheinander. Zwei etwa mannshohe Apfelbäume standen mittendrin und sahen aus, als versuchten sie angestrengt, sich gegen den Wildwuchs um sie herum zu behaupten. Eine Hummel taumelte laut brummend an Valeries Ohr vorbei. Ja, für die Insekten war diese kleine Wildnis hier sicherlich ein Traum. Vielleicht war Brauer ja ein Tierfreund.

Sie stieg die beiden Stufen zur Haustür hinauf und klingelte. Den Ton konnte man auch von draußen gut hören, trotzdem rührte sich drinnen nichts. So ein Mist, war Brauer womöglich verreist und deshalb nicht ans Telefon gegangen? Sie trat ein paar Schritte zurück und ließ ihren Blick über Fassade und Fenster schweifen. Keinerlei Bewegung, alles blieb still.

Valerie ging rechts um das Haus herum, wo sich die Garage befand. Sie hatte ein kleines Sprossenfenster, durch das sie hineinspähen konnte. Da die Sonne auf der anderen Seite stand, fiel nur wenig Licht hinein, doch Valerie erkannte zweifelsfrei, dass ein Auto in der Garage parkte, ein Geländewagen. Hieß das vielleicht, dass Brauer nur zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen war? Sollte sie hier warten? Im schlechtesten Fall konnte das ja ziemlich lange dauern.

»Grüß Gott!« Die laute Stimme in ihrem Rücken ließ sie erschrocken herumfahren. Ein älterer Herr hatte sich neugierig dem Haus genähert. War das Brauer? Valerie wurde bewusst, dass sie, obgleich ihr der Name des Malers und seine Kunst natürlich ein Begriff waren, keine Ahnung hatte, wie er aussah. Sie musterte ihr Gegenüber vom karierten Hemd mit Hirschhornknöpfen über die knielange Lederhose bis hinunter zu den Haferlschuhen. Mit seiner bayrischen Tracht passte er ganz ausgezeichnet zu Dorf und Landschaft, und das stimmige Bild aus Kulisse und Mensch ergab beinahe selbst ein Kunstwerk.

»Hallo! Sind Sie Herr Brauer?«, wagte sie sich vor.

Der Mann schüttelte den Kopf. Ein aufmerksamer Nachbar vielleicht. Womöglich hielt er sie für eine Einbrecherin und wollte nach dem Rechten sehen. »Was woll’n S’ ’n von dem?«

»Wir haben beruflich miteinander zu tun«, erklärte Valerie vage. »Wissen Sie, wo ich ihn finden kann?«

Er musterte sie noch einen Moment mit schief gelegtem Kopf, entschied sich dann aber glücklicherweise dafür, ihr zu helfen. »In seiner Hütt’n wird er sein.«

»Und ist diese Hütte weit weg?«

Der Mann schüttelte erneut den Kopf, und Valerie lächelte. Vielleicht war sie ja doch nicht umsonst hergekommen.

4

»Bloß den Berg da a Stück aufi, dann sehn S’ es scho bald auf der linken Seiten«, hatte der Mann gesagt. Doch die Wegbeschreibung entpuppte sich als durchaus dehnbar. Der befahrbare Weg hörte jedenfalls nach etwa einem Kilometer auf und ging in einen schmalen Wanderpfad über, ohne dass eine Hütte in Sicht gekommen war. Valerie ließ das Auto also am Rand stehen und ging zu Fuß weiter. Sie hatte kurz überlegt, ob sie in ihre Joggingschuhe schlüpfen sollte, die sie im Trolley dabeihatte, sich jedoch dagegen entschieden. Ein Fehler. Ihre flachen Sandalen waren zwar bequem, trotzdem dauerte es nicht lange, bis sie sie abstreifte und barfuß weiterging, um sich keine Blasen zu laufen. Gegenüber grasten einige weiß-braun gescheckte Kühe auf einer Weide. Hin und wieder hob eine von ihnen den Kopf und betrachtete sie gleichmütig kauend. Sonst begegnete sie niemandem.

Aus dem »bald« wurde ein fast eineinhalbstündiger Fußmarsch, der sie kontinuierlich bergauf führte. Wenigstens war es nicht mehr so heiß. In der Mittagssonne wäre sie ganz schön ins Schwitzen gekommen. Trotzdem dachte sie immer öfter sehnsüchtig an die Wasserflasche in ihrem Auto. Dann war sie endlich am Ziel.

Besagte Hütte war ganz aus Holz und hatte grün lackierte Fenster und Läden. Zwei große Nadelbäume und ein Brunnen standen daneben, und jemand von leidlich handwerklicher Begabung hatte aus etwas schief zusammengenagelten Holzlatten einen Zaun um das Häuschen gezogen. Hinter der Hütte ragte schroffer Fels auf.

Valerie blieb stehen und streckte den Rücken durch. Hätte sie sich nicht unerwarteterweise so abmühen müssen, um hierherzukommen, hätte sie das Ganze vielleicht schön finden können. So aber fragte sie sich, ob an dem Mythos vom verschrobenen Künstler wohl doch etwas dran war. Brauer war sehr erfolgreich. Vielleicht war mit dem Erfolg auch eine gute Portion Eigenwilligkeit hinzugekommen.

Der Weg führte an der Hütte vorbei in Richtung der Felsen. Valerie verließ ihn also und überquerte die kleine Wiese, die sie von dem Häuschen trennte. Das Gras kitzelte ihre nackten Füße.

Der Zaun hatte kein Gartentürchen, sondern einfach einen offenen Durchgang gegenüber dem Hütteneingang. Neben der ebenfalls grün gestrichenen Haustür erblickte Valerie eine Holzbank. Sollte sie Brauer wieder nicht antreffen, konnte sie sich wenigstens etwas ausruhen, bevor sie sich auf den Rückweg machte. Ob das Wasser des Brunnens wohl trinkbar war? Jetzt erst fiel ihr auf, dass ein paar der Fensterläden geschlossen waren.

Mangels einer Klingel oder dergleichen klopfte sie beherzt an die Holztür. Als wie schon zuvor im Dorf alles still blieb, wollte Valerie es nicht wahrhaben. Sie klopfte erneut, energisch und polternd. Und tatsächlich hörte sie daraufhin etwas in der Hütte. Ein undefinierbares Rumpeln nur, aber immerhin ein Lebenszeichen. Sie lauschte und meinte, leise Schritte zu vernehmen. Es dauerte etwas, bis sie sich näherten. Valerie setzte ihr schönstes Lächeln auf und spielte zum wiederholten Mal in Gedanken durch, wie sie sich dem Ausnahmekünstler gleich vorstellen wollte. Da wurde die Tür geöffnet, und ihr Lächeln fiel im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen.

Für seinen hohen Bekanntheitsgrad erschien er Valerie überraschend jung, obwohl man das durch den ungepflegten, wenn auch nicht sehr langen Vollbart und die verstrubbelten Locken nicht ganz genau erkennen konnte. Da er aber nur an den Schläfen ein paar graue Strähnchen im dunklen Haar hatte, schätzte sie ihn auf Ende dreißig. Als wolle er das Klischee des Künstlers strapazieren, trug er doch tatsächlich einen Bademantel über einem vorne zugeknöpften Pyjama. Dabei sah er aus, als hätte er schon länger kein Badezimmer mehr von innen gesehen. Er kniff die Augen zusammen, als sei es ihm zu hell. Nun hob er auch noch eine Hand, um seine Augen abzuschirmen, und musterte Valerie mit fragendem Blick. Dabei wurde ihr unangenehm bewusst, dass sie ihn mit offenem Mund anstarrte. Doch wer wollte ihr das bei diesem Auftritt verübeln?

»Was woll’n Sie?«, fragte er so mürrisch, wie er aussah.

»Sind Sie Konstantin Brauer?«

»Leibhaftig.« Er breitete die Arme aus, als wollte er sich ihr präsentieren. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm offensichtlich nicht. Dann ließ er die Arme abrupt fallen und schaute sie wieder an, mit einem Blick, aus dem sie eindeutig herauslesen konnte, dass ihr Besuch ihm zuwider war. Hatte sie ihn gestört? Arbeitete er vielleicht gerade an einem neuen Kunstwerk?

»Ich bin Valerie Gschwendt, die Tochter von Hedy, Ihrer Agentin.«

»Ich weiß, wer Hedy ist. Und nun weiß ich auch, wer Sie sind. Das beantwortet aber nicht die Frage, die ich Ihnen gestellt habe: Was woll’n Sie?«

Plötzlich war Valerie sich gar nicht mehr so sicher, ob ihr spontaner Besuch wirklich so eine gute Idee war. Sie hatte befürchtet, Brauer womöglich nicht anzutreffen. Dass sie ihn finden und er sich als schwieriger, wenn nicht gar unfreundlicher Gesprächspartner entpuppen könnte, damit hatte sie nicht gerechnet.

»Ich wollte mal nach Ihnen sehen. Wir haben länger nichts von Ihnen gehört, und auch telefonisch konnte ich Sie nicht erreichen. Da haben wir uns Sorgen gemacht.« Damit blieb sie nah an der Wahrheit, auch wenn ihre Sorge nicht in erster Linie ihm persönlich, sondern eher der eingeschlafenen Geschäftsbeziehung galt.

»Wie Sie sehen, lebe ich noch.«

»Ja. Schön.« Sie rang sich ein Lächeln ab. Wollte er sie etwa hier draußen vor der Tür stehen lassen? Valerie trat unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, was dazu führte, dass sein Blick zuerst zu ihren nackten Füßen hinabwanderte und dann wieder hinauf zu den Sandalen in ihrer Linken.

»Haben Sie Durst?«, fragte er schließlich.

Valerie nickte.

»Na, dann kommen S’ halt mal rein.«

Erleichtert folgte sie ihm in die Hütte und fand sich in einer Wohnstube mit einer kleinen Küchenzeile und einer rustikalen Sitzecke wieder. Auf der hölzernen Eckbank lag eine Decke, ein benutztes Glas stand auf dem Tisch, daneben lag eine zusammengefaltete Tageszeitung. Die Luft roch etwas abgestanden. Alles deutete darauf hin, dass Brauer hier gerade ein Nickerchen gemacht hatte. Vielleicht war das der Grund, warum seine Begrüßung nicht gerade herzlich ausgefallen war.

Valerie verzichtete darauf, die Tür hinter sich zu schließen, um etwas Luft und Licht hereinzulassen. Brauer verschwand kurz im Nebenzimmer und kam mit einer frischen Flasche Mineralwasser zurück. Zusammen mit einem Glas aus einem der Hängeschränke stellte er sie auf den Tisch, schob ein wenig schwerfällig die Decke beiseite und ließ sich auf die Eckbank fallen. Valerie wertete sein Verhalten als Einladung, sich zu setzen, und zog den Stuhl neben der Eckbank unter dem Tisch hervor. Brauer hatte inzwischen die Flasche geöffnet und erst ihr, dann sich selbst eingeschenkt, obwohl sein Glas aussah, als wäre vorher etwas anderes, Dunkleres darin gewesen.

»Haben Sie die Agentur von Hedy übernommen?«, fragte Brauer, nachdem er sein Wasser in einem Zug ausgetrunken hatte. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich dazu entschließt, die Zügel aus der Hand zu geben.«

Auch Valerie trank in großen Schlucken. Der Aufstieg in Verbindung mit den warmen Temperaturen hatte ihr schon ein bisschen zugesetzt. »Sie kennen meine Mutter gut, wie ich sehe. Nein, ich habe die Agentur nicht vollständig übernommen. Im Augenblick vertrete ich sie nur, während sie sich nach einer geplanten OP erholt.«

»Ich hoffe, es ist nichts Ernstes?«

»Zum Glück nicht, sie wird bald wieder auf dem Damm sein.«

»Schön.«

Er griff erneut zur Flasche und schenkte beide Gläser noch einmal voll, obwohl in Valeries noch ein kleiner Rest Wasser war. Womöglich hatte er gemerkt, wie durstig sie war und dass sie es nur anstandshalber nicht sofort ausgetrunken hatte.

»Wie läuft es mit der Kunst?«, fragte sie im Plauderton. »Woran arbeiten Sie denn gerade? Ist diese Hütte hier oben etwa Ihr Atelier?« Valerie ließ den Blick durch die Wohnstube schweifen. Es lagen nirgends Pinsel oder Farben herum.

»Ich male nicht mehr.«

Sie verschluckte sich beinahe an ihrem Wasser. Abrupt setzte sie das Glas ab und sah Brauer überrascht an. Der wich ihrem Blick aus.

»Sie malen zurzeit also gar nicht? Was machen Sie denn dann den ganzen Tag hier oben in der Einsamkeit?«

Er legte den Kopf schief und sah sie forschend an. Valerie war natürlich klar, dass er nicht etwa gesagt hatte, er lege gerade ein Päuschen ein, sondern dass er das Malen aufgegeben hatte. Und ihm war ebenso klar, dass Valerie ihn richtig verstanden hatte, auch wenn sie versuchte, es zu überspielen.

»Ich bin hier oben, um genau das zu genießen: die Einsamkeit«, antwortete er. »Wenn man mich lässt, heißt das.«

Autsch. Valerie war mittlerweile zwar bewusst, dass Brauer ihr die Tür am liebsten gar nicht erst aufgemacht hätte. Trotzdem musste er ihr das nicht auch noch ins Gesicht sagen. Sie trank einen Schluck Wasser, um Zeit zu schinden. Was sollte das überhaupt heißen, er male nicht mehr? Was war passiert?

5

Valerie überlegte noch, wie sie das Gespräch in zielführende Bahnen lenken konnte, ohne womöglich in einen Fettnapf zu stolpern, da ließ eine plötzliche Berührung an ihrem Fuß sie aufschrecken. Etwas Warmes, Felliges streifte ihre nackte Haut. Ihr entfuhr ein überraschtes Quietschen. Sie warf einen vorsichtigen Blick unter den Tisch, wo ihr ein Beagle aus dunklen Augen treuherzig entgegenschaute.

»Das ist Fee. Als Wachhund taugt sie nicht besonders viel, wie Sie sehen. Sie mussten sie nicht einmal mit einem Leckerli bestechen.«

Sie beugte sich zu der Hündin hinunter, und Fee kam sogleich schwanzwedelnd angetapst, um sich von ihr streicheln zu lassen.

»Sie haben mich ja hereingelassen. So weiß sie, dass sie mich nicht abwehren muss.«

Brauer schüttelte langsam den Kopf, sagte aber nichts.

Dank Fee, die Valerie für einen Moment ganz in Beschlag nahm und sich ausgiebig kraulen ließ, wurde das Schweigen zwischen ihnen nicht unangenehm. Im Gegensatz zu Brauer schien der Hund sich über Valeries Besuch zu freuen. Als die Kleine sich endlich etwas beruhigt hatte, ergriff Brauer unerwartet das Wort.

»Hören Sie, mir ist schon klar, dass Sie gerne mal wieder ein Bild von mir verkaufen würden. Aber wie gesagt, ich kann damit nicht dienen.«

Valerie war zu neugierig, um sich wegen der Entlarvung ihres profanen Interesses ertappt zu fühlen. »Was ist passiert? Wieso wollen Sie denn plötzlich nicht mehr malen?«

Er seufzte ausgiebig. »Nun gut, wie ich Sie einschätze, werden Sie ja doch keine Ruhe geben«, sagte er mehr zu sich selbst. Dann erklärte er, obwohl er dabei immer wieder wegsah und mehr Blickkontakt mit der Tischplatte vor sich hatte als mit ihr: »Es ist nicht so, dass ich nicht mehr malen möchte. Es geht einfach nicht. Meine Muse hat mich verlassen. Ich habe keine Ideen, und wenn ich trotzdem irgendetwas male, nur um zu malen, dann gefällt es mir hinterher nicht, und ich zünde es an.«

Valerie musterte ihn mit skeptisch zusammengekniffenen Augen. Ob er seine Werke tatsächlich in Brand steckte? Oder war das nur bildlich gesprochen? So oder so, was sie da hörte, gefiel ihr ganz und gar nicht. Brauer war ein absolutes Ausnahmetalent, so etwas warf man doch nicht einfach weg.

»Ich glaube nicht, dass man die Kunst von irgendwoher bekommt, von einer Muse oder so. Sie wohnt in einem. Und Ihre ist sicherlich auch noch da, tief drinnen. Sie müssen sie wieder aufwecken.«

»Ach, was wissen Sie schon.« Auf einmal wirkte er ablehnend, fast ärgerlich. Der kurze Moment des Vertrauens war dahin.

»Ich weiß, dass Sie wunderbare Bilder gemalt haben. Das kann doch nicht alles von gestern auf heute verschwunden sein.«

»Sie sollten jetzt gehen, wenn Sie es noch vor Einbruch der Dunkelheit zurück ins Dorf schaffen wollen.«

Valerie biss sich auf die Unterlippe. Das wollte sie zweifelsohne. Aber sie wollte auch Brauer wieder malen sehen. »Sie können sich hier nicht ewig verkriechen. Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen, das wieder auf die Reihe zu kriegen.«

Nun umspielte ein süffisanter Zug seine Lippen. »Sie laufen barfuß einen Berg hinauf, um sich einem Mann aufzudrängen, der Sie nicht hierhaben will. Sollten Sie sich nicht erst mal selbst auf die Reihe kriegen?«

Valerie lehnte sich zurück und straffte sich. »Werden Sie jetzt also gehässig, um mich loszuwerden?«

»Nein, ich spreche nur aus, was ich denke.«

Als Antwort verschränkte sie die Arme vor der Brust. Was war dieser Brauer doch für ein arroganter Mistkerl!

Da klopfte er plötzlich neben sich auf die Holzbank, und sofort tauchte Fee auf, die sich zwischenzeitlich ins Nebenzimmer verzogen hatte, sprang hoch und setzte sich artig neben ihn. »Sie können jetzt bei Tageslicht gehen oder später in der Dunkelheit. Auf jeden Fall gehen Sie.«

Fee musste Brauers bestimmtem, fast barschem Tonfall entnommen haben, dass ein Konflikt in der Luft lag. Wie auf Kommando fixierte sie Valerie und knurrte leise. Vielleicht war sie doch ein besserer Wachhund, als Brauer behauptete. Valerie jedenfalls erkannte, dass sie hier auf verlorenem Posten saß. Sie schnappte sich ihre Sandalen und stand auf. »Tschüss, Fee!«, sagte sie, ohne Brauer anzusehen, und verließ die Hütte.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, stieß sie die Luft aus, die sie unweigerlich angehalten hatte. Na, das war ja nicht gerade gut gelaufen.