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Ein spannungsgeladenes Verwirrspiel mit einer starken Ermittlerin. Dem Bayreuther Politiker Märker wird das Leben schwer gemacht: Erst vergiftet jemand in seinem Namen die Mitglieder des Stadtrats, dann wird er Opfer von Vandalismus. Haben es die Umweltschützer, mit denen er in der Vergangenheit heftig aneinandergeriet, auf ihn abgesehen? Ein Mord in Märkers Umfeld bringt ihn endgültig in Erklärungsnot, doch er beteuert seine Unschuld. Sagt er die Wahrheit, oder versucht er die Polizei hinters Licht zu führen? Hauptkommissarin Mira Streitberg muss viele Fäden in diesem undurchsichtigen Fall entwirren, um herauszufinden, wer Täter und wer Opfer ist.
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Seitenzahl: 331
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Nach ihrem Studium zur Diplom-Kauffrau promovierte Christina Wermescher in England und arbeitete bei verschiedenen Unternehmen. Die Geburt ihres Sohnes bewog sie jedoch dazu, sich voll und ganz ihren Geschichten zu widmen. Christina Wermescher liebt es zu reisen – sowohl in ihren Büchern als auch in der Realität.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: arcangel.com/Magdalena Wasiczek
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-128-7
Originalausgabe
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Für André
Wie es aussieht,
mache ich dich doch noch
zum Krimileser :-)
1
Nur nicht zur Kamera sehen, sagte sich Märker im Stillen. Mit einem leichten Lächeln, das er extra noch einmal vor dem Spiegel geübt hatte, blickte er in die Runde, nickte dem ein oder anderen freundlich zu. Er hatte sich pudern und frisieren lassen, schließlich war das Licht hier eine Katastrophe. Am liebsten hätte er ein Spotlight installiert, doch das wäre wohl etwas zu viel des Guten gewesen. Er musste mit dem arbeiten, was er hatte.
Jemand putzte sich geräuschvoll die Nase. Zum Glück lief der Stream noch nicht. Die meisten Stadträte kümmerten sich nicht darum, dass der öffentliche Teil der Sitzungen online live übertragen wurde. Aber sie saßen ja auch mit dem Rücken zur Kamera und waren die meiste Zeit überhaupt nicht zu sehen. Und wenn man mal ehrlich war, kam es auf die auch nicht an. Er war die Hauptfigur.
Einer glücklichen Fügung des Schicksals war es zu verdanken, dass der Oberbürgermeister gerade krankheitsbedingt ausfiel. So konnte er dessen Platz einnehmen. Jetzt noch als Detlefs Vertreter, nach den Wahlen dann ganz. Dem Bierhoff als offiziellem ersten Stellvertreter hatte das gar nicht gefallen, doch schließlich hatte er sich gefügt und war heute nicht einmal aufgetaucht, um ihm ans Bein zu pinkeln.
Märker hatte sich wie so oft mit den richtigen Leuten gut gestellt, und bei der nächsten Wahl würde der OBM nicht mehr antreten und stattdessen ihn als Nachfolger vorschlagen. Seit er das eingefädelt hatte, war jeder öffentliche Auftritt im Grunde schon Wahlkampf, auch wenn die bevorstehende Sitzung eher langweilig werden würde. Seine Hauptaufgabe bestand darin, nach Gegenstimmen zu fragen, die es nicht gab.
Weiter hinten hatte sich ein Grüppchen um Fritz Hebelmeier und Mona Kist zusammengefunden. Sie wirkten gut gelaunt, fast friedlich. Bei der letzten Sitzung hatten sich die beiden etwas auf ihn eingeschossen, aber nach einer Wiederholung sah es im Moment nicht aus. Auch die Themen waren heute eher belanglos, und Märker vermutete, dass die beiden sich gut in Schach halten lassen würden. Obwohl es auch ein schlechtes Zeichen sein konnte, dass sie sich wie Verschwörer leise unterhielten. Bisher hatten sie dabei allerdings nicht zu ihm herübergesehen, und so aufmüpfig die beiden auch waren, besonders diskret waren sie nicht. Die Chancen, dass es eine ruhige Versammlung werden würde, standen also trotz ihres Getuschels gut. Mehr Bauchschmerzen bereitete ihm da eher die Bauausschusssitzung nach der sommerlichen Sitzungspause. Aber auch das würde er irgendwie hinkriegen. Er war schließlich nicht irgendjemand, er war Karl-Heinz Märker.
Der Kameramann gab ihm ein Zeichen, dass er bereit war.
Märker schaute auf seine Armbanduhr und nickte. »Ich wünsche allen einen guten Tag, bitte nehmen Sie Platz.«
Im Schneckentempo setzten sich die Umstehenden in Bewegung, während Märker versuchte, seine Ungeduld hinter seinem einstudierten Lächeln zu verbergen. Es zog ihn hinaus aus diesem mausgrauen Sitzungssaal. Heute war ein wunderbarer Sommertag, da hatte er weiß Gott Besseres zu tun, als ewig hier herumzuhocken. Zumal in der Nacht Regen aufziehen und die Temperaturen fallen sollten. Sobald die Sitzung beendet war, würde er eine Runde Golf spielen. Der Gedanke munterte ihn ein wenig auf. Stühle wurden gerückt, dann kehrte endlich Stille ein.
Märker begrüßte alle Anwesenden, stellte fest, dass die Ladung form- und fristgerecht erfolgt war, und erteilte Verwaltungsdirektorin Schulmeister das Wort. Der Name war bei ihr Programm: Mit ihrem anthrazitfarbenen Kostüm und der schwarzen Lesebrille wirkte sie wie eine strenge Lehrerin. Heiß sah sie aus. Bei der würde er gern mal Nachhilfeunterricht nehmen.
Ihm wurde bewusst, dass er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Zum Glück war die Kamera auf die Verwaltungsdirektorin gerichtet. Heutzutage musste man vorsichtig sein, sonst hatte man schneller Sexismusvorwürfe an der Backe, als man gucken konnte. Dabei war Gucken doch nichts Schlimmes und die Schulmeister nun mal ein echter Hingucker. Wie auch immer, er konzentrierte sich lieber mal auf die Agenda, die vor ihm auf dem Tisch lag. Ihm reichte schon das Tamtam, das die Umweltschützer veranstalteten, da musste er nicht auch noch unbedacht irgendwelche Emanzen auf den Plan rufen. Wobei, manche von denen zogen sich ja für die gute Sache aus. Er grinste in sich hinein. Diese Art von Protest würde er sich schon gefallen lassen.
Ein Rascheln zog seine Aufmerksamkeit auf sich. In der letzten Reihe wurde von einem Tisch zum nächsten eine große Schachtel weitergereicht. Stadträtin Krauß klappte den Deckel auf und nahm ein bunt verziertes Gebäckstück heraus.
Was sollte das denn? Das machte ja einen ganz tollen Eindruck, wenn sie hier während der Sitzung Krapfen futterten. Hoffentlich war aus dem Blickwinkel der Kamera nichts davon zu sehen.
Märkers grimmiger Gesichtsausdruck wich Verwunderung, als die Krauß ihn auf einmal anlächelte und das Teilchen in die Höhe hielt, als wollte sie ihm damit zuprosten. Machte sie sich etwa lustig über ihn? Nun nahm sie tatsächlich noch ein zweites Gebäckstück aus dem Karton, ehe sie ihn an ihren Nebenmann weiterreichte. Ganz schön gefräßig.
Da stupste ihn die Schulmeister auffordernd unter dem Tisch an. Auch das noch, jetzt hatte er seinen Einsatz verpasst. Pflichtergeben fragte er nach Gegenstimmen, niemand meldete sich, und er setzte einen Haken unter den ersten Tagesordnungspunkt. Dann atmete er tief durch und moderierte das nächste Thema an. Inzwischen war der Karton weitergewandert. Märker bemühte sich, den Störenfried und die Unruhe, die er verbreitete, zu ignorieren. Wo kam das blöde Ding überhaupt her?
Er richtete den Blick auf die Kamera. Mist, jetzt hatte er doch hingesehen. Na ja, einmal war keinmal. Er straffte sich und übergab das Wort an den nächsten Redner. Dass die Hälfte der Stadträte vor ihm mit vollen Backen kaute, machte ihn rasend. Doch er ließ sich davon nichts anmerken. Vielleicht sollte er gar hoffen, dass die Kamera sie einfing? Schließlich disqualifizierten sie sich dadurch womöglich selbst bei den Zuschauern.
Er lehnte sich etwas zurück und konzentrierte sich auf die Seidenstrümpfe der Verwaltungsdirektorin. Der Anblick ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und war ihm tausendmal lieber als irgendwelche Krapfen.
Die Sitzung zog sich heute wie Kaugummi. Im Saal hatten sich nur eine Handvoll Zuschauer eingefunden. Ohne die Kamera vor und die Schulmeister neben sich wäre Märker wahrscheinlich eingeschlafen.
Jetzt landete der Karton doch tatsächlich hier vorne in seiner Reihe. Die Schulmeister schaute das Ding in etwa so irritiert an wie er selbst. Nachdem sie einen vorsichtigen Blick hineingeworfen hatte, nahm sie sich jedoch allen Ernstes ein Teilchen heraus und schob den Karton mit einem unsicheren Lächeln zu ihm weiter. Kurz vergewisserte er sich, dass die Kamera auf den Sprechenden gerichtet war. Dann klappte er den Karton auf. Er enthielt Krapfen, die mit buntem Zuckerguss so dekoriert waren, dass sie kleinen Weltkugeln glichen. Innen im Deckel klebte eine Notiz: »Liebe Freund*innen, lasst es euch schmecken. Euer Karl-Heinz Märker«.
Er blinzelte und las noch einmal. Sein Gehirn weigerte sich für einen Moment zu glauben, was dort stand. »Euer Karl-Heinz Märker«, was sollte das? Hatte die Krauß ihn deshalb angegrinst wie ein Honigkuchenpferd, weil sie dachte, er sei der Sponsor dieser Schachtel?
Ratlos fuhr er sich über die glatt rasierte Oberlippe. Das war nicht seine Handschrift, und jeder wusste, dass er sich diesem neumodischen Genderwahnsinn nicht beugte. Und erst der bunte Zuckerguss! Angesichts anhaltender Konflikte mit den hiesigen Umweltschützern käme er niemals auf die Idee, Krapfen im Weltkugeldesign zu verteilen. Irgendjemand machte sich hier lustig über ihn.
Aufmerksam sah er von einem zum anderen. Alle wirkten sie ganz unbedarft. Sein Blick blieb an Stadträtin Krauß hängen. Ihr Grinsen hatte sie zusammen mit dem Gebäck längst runtergeschluckt. Nun starrte sie ihn an. In ihrer Nähe hatte er den Karton zuerst bemerkt. Ob sie womöglich hinter dieser Farce steckte? Bisher hatte er sie in ihrer Unscheinbarkeit nicht als ernst zu nehmende Widersacherin in Betracht gezogen. Ein Fehler womöglich. Er fixierte sie, und sie hielt seinem Blick stur stand. Dann entglitten ihr auf einmal die Gesichtszüge, und sie erbrach sich direkt auf den Tisch.
2
»Hast du schon die Zeitung gelesen?«
Mira hatte Sylvia bereits im Gang gackern hören. Nun betrat sie die Kaffeeküche, wo ihre Kollegin mit Philipp stand und aufgeregt die Tageszeitung schwenkte. Mira fühlte sich, als wäre sie eben erst aufgestanden. Lediglich wegen der Aussicht auf Koffein war sie in Richtung Kaffeemaschine gelaufen. Doch Sylvias Augen leuchteten, und es war allzu offensichtlich, dass sie Neuigkeiten hatte, die sie loswerden wollte.
»Morgen erst mal.« Mira nickte Sylvia und Philipp zu, der ihr eine gefüllte Kaffeetasse in die Hand drückte. »Danke, Lieblingspraktikant.« Dann wandte sie sich an Sylvia. »Nein, wieso? Ist etwas Spannendes passiert?«
»Das kannst du aber laut sagen! Der Stadtrat ist vergiftet worden.«
»Welcher?«
»Alle! Na ja, fast alle. Und die Referenten und zwei Dienststellenleiter noch dazu.« Sylvia hielt ihr die Zeitung unter die Nase und tippte auf den betreffenden Artikel: »Giftanschlag auf Bayreuther Politiker«.
Mira nahm die Zeitung und überflog die Zeilen.
»Krass, oder?«, kommentierte Philipp. »Ich hab’s heute früh im Radio gehört. Die Story schlägt ziemliche Wellen.«
Kein Wunder. Mira konnte sich nicht erinnern, dass so etwas hier in Oberfranken schon einmal passiert wäre. Dem Artikel zufolge hatte jemand Krapfen, die mutmaßlich vergiftet gewesen waren, in die Stadtratssitzung geschmuggelt. Dabei wartete die Geschichte mit zwei Besonderheiten auf: Der Täter hatte seine Opfer mit einer handschriftlichen Notiz nicht nur glauben gemacht, edler Spender des Gebäcks sei Karl-Heinz Märker, berufsmäßiger Stadtrat, der als nächster Oberbürgermeister gehandelt wurde. Die Krapfen waren auch so verziert gewesen, dass sie wie kleine Weltkugeln aussahen. Deshalb hatte der eifrige Reporter am Ende seines Artikels direkt ein paar Umweltschützer zu Wort kommen lassen. »So einen Anschlag kann man natürlich nicht gutheißen«, wurde eine Dame zitiert. »Aber das Bild, das hier gemalt wird, ist schon bezeichnend. Sie konsumieren, ja fressen unsere Erde und schaden sich damit am Ende selbst. Wollen wir hoffen, dass der Vorfall den Stadträten nicht nur auf den Magen, sondern auch aufs Hirn schlägt und sie endlich erkennen, dass eine Umweltpolitik nicht erst auf Bundesebene beginnen darf.«
Mira seufzte. Ein paar Stadträte, allen voran Märker, hatten sich in der Vergangenheit beim umweltbewussten Teil der Stadtbevölkerung nicht gerade beliebt gemacht. Sie erinnerte sich zum Beispiel noch gut an das leidige Thema um die sogenannte »Monstertrasse«. Der Streit um die Leitungen des SüdOstLinks, die Strom aus erneuerbaren Energien von Nord- und Ostdeutschland nach Bayern transportieren und dabei womöglich auch an Bayreuth vorbeiführen sollten, lag schon ein paar Jahre zurück. Inzwischen war geplant, die Leitungen unterirdisch und weiter östlich zu verlegen, doch die Diskussion war nach wie vor präsent. So hingen in einigen Orten rund um Bayreuth noch immer Schilder, die gegen die Trasse wetterten, und auch Märker hatte erst vor Kurzem wieder bei einem öffentlichen Termin betont, dass er eine oberirdische »Monstertrasse« im Bayreuther Raum niemals zugelassen hätte. Ob er mit solchen Aussagen provozieren oder einfach Aufmerksamkeit erregen wollte, wusste Mira nicht. Außerdem bezweifelte sie, dass er die Macht gehabt hätte, das Projekt maßgeblich zu beeinflussen. Er war auch nicht der Einzige im Bayreuther Stadtrat, dem Umweltthemen lästig statt wichtig waren. Aber keiner ließ das so heraushängen wie er. Darum betrachtete Mira es durchaus als eine Art tragische Ironie, dass gemäß dem Zeitungsartikel ausgerechnet Märker keinen der womöglich läuternden Krapfen verspeist hatte. Die Hoffnung der Zitierten würde in seinem Fall wohl verpuffen.
»Stadträtin Monika Krauß musste sogar ins Krankenhaus«, bemerkte Sylvia mit gewichtiger Miene.
»Was war das denn eigentlich für ein Gift?«, fragte Philipp. »Vielleicht kann man darüber den Täter ermitteln.«
Mira zuckte mit den Schultern. »Dazu steht hier nichts. Wahrscheinlich ist der Giftstoff noch nicht analysiert. Das Ganze ist ja erst gestern Abend passiert. Ist eh eine Leistung, dass sie so schnell mit einem so ausführlichen Artikel reagiert haben. Da war jemand auf Zack.«
»Die waren bestimmt froh, dass endlich mal wieder was Interessantes passiert ist. Zurzeit ist ja wirklich gar nichts los. Das Sommerloch zieht sich dieses Jahr ganz schön in die Länge«, stellte Philipp fest.
»Sag so was nicht«, murrte Mira. »Keine Nachrichten sind meistens gute Nachrichten. Frag die Stadträte. Nach der gestrigen Sitzung werden sie mir bestimmt recht geben.«
Sylvia unterbrach das Geplänkel, indem sie grinsend eine Mappe zwischen Philipp und Mira hielt. »Ich hab hier den kriminaltechnischen Bericht zu den Krapfen«, verkündete sie triumphierend.
»Wieso erzählst du uns das nicht gleich?« Mira griff nach der Mappe, doch Sylvia zog sie weg und gab ihr einen Klaps auf die Finger, als sei sie ein unartiges Kind.
»Nichts da! Den kriegt erst mal der Chef.«
Mira verdrehte genervt die Augen. »Was lungerst du dann noch hier in der Kaffeeküche herum? Ab in sein Büro, husch, husch!«
»Da war ich schon, aber er telefoniert gerade.« Sylvia fächerte sich mit der Mappe kokett Luft zu.
Mira winkte lachend ab. Nichts brachte Sylvia so in Fahrt wie Tratsch und Geheimnisse. Doch sie würde ihr nicht den Gefallen tun und weiter nach dem Bericht fragen. Was drinstand, würde sie noch früh genug erfahren.
»Ich habe vorhin extra auf der städtischen Internetseite nachgesehen«, plapperte Sylvia weiter. »Den Livestream der Stadtratssitzungen kann man sich da ja auch im Nachgang immer noch angucken. Diesmal allerdings nicht.«
»Das wäre auch ziemlich makaber«, gab Mira zu bedenken.
Sylvia kniff die Lippen zusammen. Ob das an ihrer Enttäuschung über Miras Zurückhaltung lag oder daran, dass der Chef in diesem Moment hereinkam, war nicht ganz klar.
»Guten Morgen«, grüßte Nils die Runde. Als er sich einen Kaffee nahm, streifte er mit der Hand wie zufällig Miras Arm und lächelte sie an. Mira spürte ein leichtes Kribbeln an der Stelle, die er berührt hatte, und lächelte zurück. Sie würden den Kollegen bald sagen müssen, dass sie zusammen waren, bevor die von selbst drauf kamen. »Ihr seid schon informiert, wie ich sehe.« Nils deutete auf die Zeitung.
»Über die gestrige Stadtratssitzung?« Sylvia nahm den Faden freudig auf. »Ich habe den Bericht dabei. Das ist ja ’n Ding, oder?«
»Ist es.« Nils nickte. »Mira, Philipp, würdet ihr den Fall bitte übernehmen?«
»Klar«, kam es von Philipp in seiner gewohnt entspannten Art, obwohl ihm der Stolz darüber, als Praktikant so mit eingebunden zu werden, anzusehen war. Für ihn war es ein Glücksfall, dass Mira gerade keinen Partner hatte. Aber sicher würde Nils sich zum Ausgleich etwas mehr in den Fall einbringen.
Auch Mira nickte. Sie fragte sich, welches Motiv hinter diesem Krapfenanschlag stecken mochte. Im Vergleich zu ihren letzten Ermittlungen kam ihr die Angelegenheit eher vor wie ein Dummejungenstreich.
Nils schien ihr ihre Gedanken an der Nasenspitze anzusehen. Wie so oft war sie ein offenes Buch für ihn. »Es ist zwar gestern für alle noch mal glimpflich ausgegangen, aber solange wir nicht wissen, was dahintersteckt, stufen wir die Sache als potenziellen Mordversuch ein. Und so oder so war es natürlich Körperverletzung. Hinzu kommt das öffentliche Interesse und nicht zuletzt Märker. Der macht Druck, weil er sich übel verarscht fühlt.«
Soso, Karl-Heinz Märker war in seiner Ehre gekränkt. Wie dem auch sei, Nils hatte völlig recht: Eines der Opfer war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Ganz ohne war die Sache also nicht gewesen.
Mira nahm Sylvia nun doch die Mappe mit dem Bericht aus der Hand und grinste sie dabei frech an. »Ich mache für Nils eine Kopie. – Alles klar«, ergänzte sie an Philipp gewandt. »Du kannst ja wieder eine Wand aufstellen, um dich auszutoben und eine Übersicht zum Fall zu basteln. Die Lösung hat uns das zwar letztes Mal nicht gebracht, aber ich will mal nicht so sein. Ich weiß ja, wie gerne du amerikanische Crime-Serien nachspielst«, stichelte sie, und Philipp bekam prompt rote Ohren.
3
Der Karton, in dem man die Krapfen herumgereicht hatte, war von Fingerabdrücken übersät gewesen, schließlich war er durch die Hände des gesamten Stadtrates gegangen. Die Kriminaltechniker würden für den Abgleich mit allen Sitzungsteilnehmern wohl ein paar Tage brauchen. Mira schaute sich kurz das Foto vom Karton an. Auch ohne den Schriftzug »Konditorei Klemm« hätte sie ihn anhand der goldenen Schnörkel zweifelsfrei zuordnen können. Ein Foto von der handschriftlichen Notiz, von der in dem Zeitungsartikel die Rede gewesen war, fand sie in dem Bericht jedoch nicht, nicht einmal erwähnt wurde er hier.
Sie blätterte weiter. Was die Forensiker über das Gift herausgefunden hatten, würde sicherlich weitaus erhellender sein. Ob die Konditoren womöglich mit Hygiene oder Haltbarkeit geschlampt hatten? Voreilig ausschließen durfte sie nichts.
Muscarin. In Miras Kopf ploppten Fragezeichen auf. Hatte sie das Wort nicht schon einmal in Zusammenhang mit dem Gift des Fliegenpilzes gehört?
Sie öffnete eine Suchmaschine und gab den Begriff ein. Da, tatsächlich: »Muscarin ist ein toxisches Alkaloid, das in geringer Menge im Fliegenpilz, aber vor allem bei bestimmten Risspilz- und Trichterling-Arten vorkommt. Typische Symptome einer Muscarinvergiftung sind Magen-Darm-Krämpfe, Erbrechen, erhöhter Speichelfluss, Pupillenverengung, Muskelzittern und Tod durch Herzlähmung.«
Was, um Himmels willen, hatte das in einem Krapfen zu suchen?
Gifte waren leider ganz und gar nicht Miras Spezialgebiet. So oder so, eine zufällige Verunreinigung konnte sie sich kaum vorstellen. Allem Anschein nach hatte das Gift in der Füllung gesteckt oder war im Nachhinein in die Krapfen gespritzt worden.
Mira lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück und starrte an die Decke. Sie musste mehr über dieses Gift herausfinden. Sylvia hatte den Bericht zwar vorbeigebracht, aber der Abschnitt, in dem es um das Gift ging, wies Hubert Kranich als Ansprechpartner für Rückfragen aus. Mira griff zum Telefonhörer und rief den Kollegen an.
»Guten Tag, Streitberg hier. Ich lese gerade den Bericht zu den Stadtratskrapfen und hätte da noch ein paar Fragen.«
»Was möchten S’ denn wissen?«
Mira kannte Kranich nur vom Sehen und hatte vorher nie mit ihm gesprochen. Seine tiefe Stimme und der leichte Dialekt passten allerdings sehr gut zu dem Bild, das sie von dem gemütlichen Mittfünfziger hatte. »Muscarin. Das ist das Gift, das man in Pilzen findet, nicht wahr?«
»Ja, da liegen Sie richtig. In unserem Fall wurden aber keine Schwammerl verwendet. Das Gift ist synthetisch hergestellt worden. Soll ich Ihnen ein Datenblatt dazu schicken?«
»Das wäre sehr nett, vielen Dank.« Mira war sich nicht sicher, ob dieses Datenblatt sie wirklich weiterbringen würde, aber einen Versuch war es wert. Außerdem wollte sie Kranich nicht vor den Kopf stoßen. Bisher hatte sie es noch nie mit einem Mord oder Mordversuch zu tun gehabt, bei dem Gift zum Einsatz gekommen war. Und da der Mann sich mit der Materie auszukennen schien, würde Mira ihn vielleicht noch brauchen. »Und wo bekommt man das her? Kann man synthetisches Muscarin einfach im Internet bestellen?«
»Das Datenblatt, das ich hier habe, stammt von einem großen deutschen Pharmabetrieb. Erwerben kann man es also grundsätzlich schon, aber ich würde meinen, dass es nur im Forschungsbereich vertrieben wird.«
Mira notierte »Uni?« und »Krankenhaus?« auf ihrem Schmierzettel. Sie bedankte sich für die Auskünfte, legte auf und las den Absatz über die Dosierung des Giftes. Die Menge pro Krapfen war demnach zu gering gewesen, um Menschen ernsthaft zu gefährden. Laut Bericht lag die für Erwachsene letale Dosis bei mindestens der drei- bis vierfachen Menge. Die Analyse der übrig gebliebenen Krapfen deutete also darauf hin, dass es sich hier nicht um einen Mordanschlag handelte.
»Philipp, kommst du mal bitte?«
Er tauchte sogleich in der offenen Tür zum Nebenzimmer auf und trat mit fragender Miene an Miras Schreibtisch heran.
»Der Stadtrat hat so etwas Ähnliches wie eine Pilzvergiftung.«
»Ich dachte, es wäre eine Krapfenvergiftung.«
»Na ja, es ist wohl eine Mischung aus beidem.«
Philipp setzte sich an den Schreibtisch gegenüber von Miras, der zurzeit unbenutzt war. Nils hatte die freie Stelle gerade erst ausgeschrieben. »Erzähl mir mehr«, forderte er interessiert.
Sie schob ihm den Bericht rüber und tippte mit dem Zeigefinger auf die betreffende Stelle. »Das Gift, das in den Krapfen verwendet wurde, heißt Muscarin. Man findet es in verschiedenen Giftpilzen, für Forschungszwecke wird es aber wohl auch synthetisch hergestellt. Wir bekommen gleich noch ein Datenblatt dazu. Die große Frage ist nun, wie man an das Zeug rankommt. Und da dachte ich an dich.«
»Du willst mich jetzt aber nicht Pilze suchen schicken, oder?«
»Ein bisschen Bewegung würde dir sicherlich guttun, aber nein, keine Bange.« Sie ignorierte schmunzelnd das empörte Luftschnappen ihres keinesfalls unsportlichen Praktikanten und fuhr fort: »Schau doch bitte mal, was du im Netz dazu findest.«
»Alles klar, ich kopier mir die Seite aus dem Bericht und lege direkt los.«
»Lass uns erst zur Konditorei Klemm fahren. In der Zwischenzeit kommt dann wahrscheinlich auch das Datenblatt bei uns an.«
»Dort wurden die Krapfen gebacken?«
»Genau. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass die Klemms für so eine Aktion ihren guten Ruf aufs Spiel setzen würden, aber vielleicht steckt ja ein Mitarbeiter dahinter, wer weiß. Außerdem ist es momentan unsere einzige Spur. Ich bin gespannt, wo sie uns hinführt. Vielleicht bekommen wir die Kontaktdaten des Käufers der Gebäckstücke.«
»Na, du bist heute ja ganz schön optimistisch«, erwiderte Philipp.
Mira ignorierte seinen Einwurf, schnappte sich die Schlüssel zu dem Audi, der noch den ganzen Tag frei war, und verließ mit Philipp im Schlepptau das Büro.
Im Gang kam ihnen Sylvia entgegen, die neugierig nachfragte, wo die beiden hinwollten.
»Zur Konditorei«, antwortete Mira knapp und fragte sich, ob das Sommerloch, von dem sie gesprochen hatten, wohl auch die Kriminaltechnik erfasst hatte. Besonders gestresst wirkte Sylvia jedenfalls nicht, doch Mira würde sich hüten, das auszusprechen. Es gab Kolleginnen, da überlegte selbst sie es sich zweimal, ob ein dummer Spruch unbedingt sein musste.
»Dachte ich mir«, murmelte Sylvia interessiert. »Habt ihr schon eine Spur?«
»Ja, die Konditorei.«
Sylvia strafte Mira mit einem tadelnden Blick.
»Wie weit seid ihr denn mit den Fingerabdrücken? Vielleicht ergibt sich da ein zusätzlicher Ansatz«, sagte Mira schließlich doch, auch auf die Gefahr hin, dass Sylvia sich auf den Schlips getreten fühlte.
»Deshalb bin ich hier. Ich wollte mir Philipp ausleihen. Wir müssen ja sämtliche Teilnehmer der gestrigen Sitzung abklappern.« Sylvia machte ein leidendes Gesicht.
»Tut mir leid, bei uns ist immer noch eine Stelle vakant. Deshalb ist Philipp in diesem Fall quasi mein Partner.«
Der Praktikant streckte den Rücken durch und grinste stolz.
Mira klopfte Sylvia aufmunternd auf die Schulter. »Du schaffst das schon. Bei der Gelegenheit könntest du auch gleich mal nachhören, ob einer der Stadträte weiß, wer die Krapfen mitgebracht hat.«
Sie drehte sich um und steuerte den Ausgang an, bevor Sylvia sich beschweren konnte. Philipp folgte ihr mit federnden Schritten.
4
Die Konditorei Klemm war eine der ersten Adressen in Bayreuth, wenn es um süße Leckereien ging. Philipp machte ein beinahe ehrfürchtiges Gesicht, als sie vor dem Laden mit angrenzendem Café ankamen. Passend zum schnörkeligen Metallschild über der Tür waren an den Fenstern goldglänzende Aufkleber angebracht, sodass die Torten hinter der Scheibe wirkten, als seien sie Kunstwerke in einem prunkvollen Gemälderahmen. Als sie die Tür öffneten, stieß diese gegen ein altmodisches Glockenspiel. Auch das restliche Ambiente vermittelte einen Charme, als sei hier die Zeit stehen geblieben. Alles wirkte verspielt und gleichzeitig edel. Die Verkäuferin hinter der Theke trug ein Häubchen auf ihren hochgesteckten Haaren und eine weiße Rüschenschürze. Mira tat es fast leid, die Idylle zu stören.
Sie trat an die Theke, wies sich aus und stellte sich vor.
»Sie sind wegen der vergifteten Stadträte hier, nicht wahr?«, fragte die junge Frau nervös, noch ehe Mira ihr Anliegen vorgebracht hatte.
»Genau, können Sie mir dazu ein paar Fragen beantworten?«
Die Verkäuferin nestelte mit leidender Miene an ihrer Schürze herum. »Die Chefin war außer sich heut Morgen, als sie von dem Debakel in der Zeitung gelesen hat«, flüsterte sie.
Der Laden wirkte absolut perfekt in Szene gesetzt. Dass Frau Klemm über solch eine Publicity nicht erfreut gewesen war, konnte Mira sich gut vorstellen. Aber es war ja kein Name in dem Artikel genannt worden.
»Ist sie denn da, Ihre Chefin?«
»Sie ist nur kurz weg.« Die Verkäuferin blickte hilfesuchend auf ihre Armbanduhr. Selbst das filigrane goldfarbene Schmuckstück sah aus, als wäre es passend zur Einrichtung ausgesucht worden. »In einer knappen halben Stunde müsste sie wieder da sein. Es wär mir schon sehr recht, wenn Sie direkt mit ihr reden würden.«
Mira hatte überhaupt keine Lust, so lange zu warten. Um zurück in die Dienststelle zu fahren, war die Zeit wiederum zu knapp.
»Wir könnten uns derweil ins Café setzen«, schlug Philipp vor.
Die Verkäuferin nickte eifrig. »Ich bring Ihnen auch gern einen Kaffee, geht aufs Haus.«
Mira nickte ergeben, Sie war anscheinend überstimmt.
»Und ich hätte gern ein Stück von der Sachertorte.« Philipp deutete auf das Schokoladenbömbchen hinter der Thekenscheibe.
»Sehr gerne. Darf es für Sie auch was zu essen sein?« Schon war die Verkäuferin wieder ganz in ihrem Element. Sie machte eine einladende Handbewegung, um Miras Blick auf die verschiedenen Kuchen, Torten und Teilchen zu lenken.
»Nein danke.« Fast erwartete sie, dass Philipp auf die Idee kommen könnte, ihr verschmähtes Stück für sich zu beanspruchen. Doch er folgte ihr kommentarlos in das angrenzende Café, in dem nur ein weiterer Tisch besetzt war. Mira wählte einen Platz am Fenster und schaute hinaus in den trüben Spätsommermorgen. Ob Philipp und sie im Goldrahmen ein schönes Bild für die Passanten abgaben?
»Toll hier!« Er sah sich zufrieden um.
Mira musste ihm recht geben. Man hatte beinahe das Gefühl, in einem Wiener Caféhaus zu sitzen.
»Wie lange bist du jetzt eigentlich schon bei uns?«, wollte sie wissen.
»Ich hab ungefähr Halbzeit.«
Wahnsinn, wie schnell die Zeit doch verging. Mira erinnerte sich genau an Philipps ersten Tag bei ihnen im K1. Das Erste, was ihr an ihm aufgefallen war, war sein zauseliger Bart gewesen. Inzwischen war der Bart etwas länger und dafür ein bisschen weniger zauselig geworden. Mit der silbernen Perle, die da neuerdings an seinem Kinn baumelte, hatte sie sich allerdings noch nicht anfreunden können. »Und wie gefällt es dir?«
»Super! Am liebsten würde ich hierher zurückkommen, wenn ich mit dem Studium fertig bin.« Er blickte vorsichtig zu ihr auf. Anscheinend war das nicht nur so dahingesagt, und ihn interessierten ihre Reaktion und Meinung dazu.
Mira fühlte sich etwas zwiegespalten. Sie mochte Philipp und kam gut mit ihm aus. Allerdings hatte sie bis vor ein paar Monaten einen erfahrenen Partner an ihrer Seite gehabt. Nachdem dieser in den Ruhestand gegangen war, war Mira erst aufgefallen, wie sehr sie sich immer auf ihn verlassen hatte. Und dieses Gefühl der Sicherheit vermisste sie. Doch vielleicht täte es ihr ja gerade deshalb gut, mit Philipp einen Neuling an die Seite gestellt zu bekommen. Sie wusste schließlich, was sie konnte, und sollte in der Lage sein, sich auf sich selbst zu verlassen. Allerdings war die Stelle jetzt vakant und nicht erst, wenn Philipp irgendwann einmal mit dem Studium fertig sein würde.
»Na, wir werden ja sehen, wie du dich in unserem neuen Fall machst. Bei unserer letzten gemeinsamen Befragung hast du dich ausschließlich auf die Gummibärchen konzentriert, die uns dort angeboten wurden«, entgegnete sie, um die Ernsthaftigkeit aus dem Gespräch zu nehmen.
In diesem Moment trat die Verkäuferin mit einem Tablett zu ihnen und stellte Kaffee und Kuchen auf den Tisch.
»Und jetzt Sachertorte«, bemerkte Mira, als sie wieder fort war. »Ich erkenne da ein Muster.«
Philipp winkte mit pikiertem Gesichtsausdruck ab und machte sich über das Schokostück her.
Kurz nachdem der leere Teller wenig später wieder abgetragen worden war, trat eine Frau an ihren Tisch. Sie trug das braune Haar mit blonden Strähnchen aufgehellt. Es reichte ihr in einem modischen Schnitt bis zu den Ohrläppchen, an denen große, bunte Ohrringe baumelten. Um die Schultern hatte sie sich einen ebenso bunten Schal geworfen. Auf den ersten Blick hätte sie auch eine Filmdiva sein können. »Guten Tag, Sie wollten zu mir?«
»Heide Klemm?«
Sie nickte. »Ich hab Sie schon erwartet. Lassen S’ uns bitte nach hinten gehen.« Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt, und sie blickte sich unwohl nach etwaigen anderen Gästen um.
»Natürlich.« Mira trank noch schnell ihren Kaffee aus, dann folgten sie der Konditorin aus dem Café in den Verkaufsraum.
Heide Klemm führte sie seitlich um die Theke herum, wo die Verkäuferin nun wieder ein recht betretenes Gesicht machte, und durch eine durch ein hohes Regal verdeckte Tür. Über den dahinterliegenden, etwas verwinkelten Durchgang erreichten sie die Backstube, die von der Chefin mit schnellen, energischen Schritten durchquert wurde. Hier herrschte emsige Betriebsamkeit. Bis auf ein paar verstohlene Blicke, die ihnen zugeworfen wurden, achteten die Angestellten nicht auf sie, sondern gingen weiter ihren Arbeiten an Kuchen und Torten nach. Erst als sie das Büro erreicht und die Tür hinter sich geschlossen hatten, hielt Heide Klemm inne und atmete tief durch. Sie erweckte den Anschein, als hätte sie einen Spießrutenlauf hinter sich, und wahrscheinlich war es genau das, was sie auch empfand.
5
»Wie geht es Ihnen?«, fragte Mira die gestresste Konditorei-Chefin.
Heide Klemm zögerte einen Augenblick, dann sackte sie etwas in sich zusammen und fasste sich in einer theatralischen Geste an die Stirn. »Es ist eine Katastrophe«, murmelte sie matt, ging um den Schreibtisch herum, ließ sich in den ausladenden Chefsessel fallen und deutete auf die Besucherstühle, die etwas abseits auf der anderen Seite standen. Mira und Philipp zogen sich jeder einen heran und setzten sich. »Zum Glück stand in der Zeitung nicht unser Name, aber die Leute können sich anscheinend denken, wo die vergifteten Krapfen herkamen. Sie haben ja gesehen, wie leer das Café ist. Ich bin ruiniert, Sie haben sich bestimmt auch nicht getraut, etwas zu essen, oder?«
»Doch, Sachertorte. Und sie war sehr lecker.« Philipp rieb sich lächelnd den Bauch, und ein Hauch von Erleichterung erhellte Heide Klemms Gesicht.
Der Karton, in dem die Krapfen gewesen waren, hatte Mira und Philipp zur Konditorei Klemm geführt. Und so, wie die Chefin nun sprach, war die Werbung auf der Verpackung kein Ablenkungsmanöver gewesen. Die Krapfen stammten tatsächlich von hier.
»Können Sie nachvollziehen, welcher Ihrer Mitarbeiter die Krapfen hergestellt hat?«, wollte Mira wissen.
Sofort erschien eine steile Falte auf Heide Klemms Stirn. »Sie nehmen doch wohl nicht an, dass diese Krapfen bereits vergiftet waren, als sie unser Haus verlassen haben? Wir haben mit dieser schrecklichen Geschichte nichts zu tun!«
»Das glaube ich Ihnen.« Mira bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. Heide Klemm war schon aufgebracht genug, und sie wollte nicht ihren Groll, sondern ihre Zuarbeit. »Aber wir müssen uns an die Fakten halten. Und je eher wir in der Lage sind, die Herstellung zurückzuverfolgen, desto schneller kann Ihr Name reingewaschen werden.«
Heide Klemm starrte sie noch einen Moment aus schmalen Augen an, nickte dann aber zackig. »Gebacken hat sie der Fritz. Der ist noch im ersten Lehrjahr und bekommt deshalb oft die etwas einfacheren Sachen. Da haben sich die Krapfen natürlich angeboten. Die Verzierung hat meine Tochter Stefanie übernommen.«
»Sind die beiden hier? Ich würde gerne kurz mit ihnen sprechen.«
Wieder nickte Heide Klemm, diesmal jedoch längst nicht mehr so zackig, sondern eher schwerfällig. Ihr gequälter Gesichtsausdruck ließ sie auf einmal älter wirken.
»Außerdem bräuchten wir natürlich Infos zu der Person, die die Bestellung bei Ihnen aufgegeben hat.«
Augenblicklich kehrte wieder Leben in die Konditorin. Sie streifte ihre Resignation ab und nahm ein Blatt in die Hand, das seitlich auf ihrem Schreibtisch lag. »Ich habe gleich heute Morgen, nachdem ich den Artikel in der Zeitung gelesen hatte, nachgesehen. Name und Telefonnummer der Kundin wurden für eventuelle Rückfragen notiert. Eine Adresse habe ich allerdings nicht, weil sie meinte, sie bräuchte keine Rechnung.« Sie schob den Zettel mit den Informationen über den Schreibtisch. »Camilla Schönberger«, stand darauf. »Ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe. Die Bestellung war ja durchaus ungewöhnlich. Wer kauft schon im August Krapfen? Ich dachte: Ja, ist denn schon wieder Fasching?« Heide Klemm ließ ein freudloses Lachen hören. »Ich kann Ihnen die Frau beschreiben, wenn Sie möchten.«
Mira horchte auf. Auf eine Personenbeschreibung hatte sie gar nicht zu hoffen gewagt. »Aber natürlich, schießen Sie los!«
»Sie war noch recht jung, vielleicht um die zwanzig oder knapp darunter. Nicht allzu groß, leger angezogen mit Jeans und T-Shirt. Ihre Haare waren braun, an die Augenfarbe erinnere ich mich nicht. Aber die Frisur war auffällig, sie hatte einen ungewöhnlichen Schnitt.« Heide Klemm überlegte kurz, ehe sie fortfuhr: »Also, sie waren glatt und in etwa so lang.« Sie markierte mit beiden Händen eine Linie oberhalb ihrer Schultern. »Und sie hatte einen Pony. Der war das Komische an der Frisur, denn der war sehr kurz. Ich weiß nicht, vielleicht trägt man das ja heute so.«
»Danke, das hilft uns weiter. Ist Ihnen sonst noch irgendetwas aufgefallen?«
»Na ja, das gewünschte Erdkugeldesign war natürlich etwas Besonderes. Deshalb ist sie wahrscheinlich auch zu uns gekommen. Ich meine, einen Krapfen kriegt ja jeder hin, aber so eine filigrane Zuckergussbemalung erfordert schon ein bisserl Geschick.«
»Gut, dann bringen Sie uns mal zu Ihren Mitarbeitern, bitte.«
Heide Klemm ging zur Tür. Anstatt in die Backstube zu gehen, rief sie von hier aus nach Stefanie und Fritz, die nur Sekunden später im Büro auftauchten. Beide gaben sich jedoch recht wortkarg. Mit bleichen Gesichtern standen sie Mira zögerlich Rede und Antwort und blickten immer wieder furchtsam zu ihrer Chefin. Heide Klemm hielt die Zügel in ihrer Konditorei allem Anschein nach straff in den Händen.
Im Grunde nahm Mira nicht an, dass einer der beiden oder gar Heide Klemm hinter dem Anschlag steckte. Die einzige Möglichkeit, die Mira hier in Betracht gezogen hätte, wäre eine versehentliche Vergiftung durch verunreinigte Zutaten, was beim verwendeten Gift jedoch eher unwahrscheinlich erschien. Trotzdem befragte sie die Mitarbeiter auch zu Themen wie Lagerung und Kühlung, ohne jedoch auch nur auf den geringsten Ansatzpunkt zu stoßen.
»Wie es aussieht, handelt es sich nicht um eine Vergiftung durch verdorbene oder verunreinigte Lebensmittel«, murmelte Mira an Philipp gerichtet.
»Also, das verbitte ich mir!«, rief Heide Klemm empört.
»Keine Sorge, davon ging ich ohnehin nicht aus, der Bericht der kriminaltechnischen Abteilung scheint Sie diesbezüglich zu entlasten.«
»Das habe ich auch nicht anders erwartet.«
Mira ließ den aufgebrachten Tonfall an sich abprallen. Dass Heide Klemm gerade auf Hochtouren lief, war ja in gewisser Weise verständlich. »Trotzdem wurde Gift in den Krapfen nachgewiesen«, stellte sie fest.
Die Konditorin zog scharf die Luft ein.
»Danke, Stefanie, Sie können gehen«, sagte Mira zu Heide Klemms Tochter, was zur Folge hatte, dass Fritz’ große, ängstliche Augen noch ein bisschen größer wurden. Beinahe tat der junge Kerl ihr leid. Hätte sie in dieser Konditorei einen potenziellen Täter kategorisch ausschließen müssen, sie hätte sich für ihn entschieden. Er wirkte unglaublich jung und sah aus, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Mira schlug daher einen bewusst freundlichen Ton an, als sie sich nun wieder an ihn wandte. »Im Bericht stand, die Krapfen seien mit Hagebuttenmarmelade gefüllt gewesen?«
Er nickte ernst.
»Und Sie sagten, die meisten Zutaten würden im Kühlraum aufbewahrt. Diese Marmelade auch?«
»Ja«, flüsterte er heiser.
»Ist noch etwas davon übrig?«
Er bejahte erneut.
»Zeigen Sie es mir bitte.«
Fritz blickte zu seiner Chefin und wartete ab, bis sie nickend ihr Okay gab. Dann setzte er sich an die Spitze des kleinen Trupps. Sie durchquerten die Backstube. Stefanie stand tuschelnd mit einer Kollegin zusammen. Als sie sie erblickten, stoben die beiden jungen Frauen auseinander und widmeten sich mit geschäftigen Mienen wieder ihren Arbeiten.
Nacheinander betraten Fritz, Mira, Philipp und Heide Klemm den Kühlraum, der so groß war, dass sie alle vier bequem darin Platz fanden. Fritz deutete auf einen kleinen weißen Plastikeimer mit der Aufschrift »Hiffenmark«.
Mira zog ihn zu sich heran. Die Versiegelung war aufgebrochen. »Ist das genau der Eimer, aus dem Sie die Marmelade für die Krapfen entnommen haben?«
»Ja, er ist nicht ganz leer geworden.«
»Sehr gut. Wir werden ihn mitnehmen und untersuchen lassen, ja?«
»Tun Sie das«, sagte Heide Klemm. »Wir haben uns nichts vorzuwerfen.«
»Ich brauche bitte außerdem eine Liste mit den Namen aller Personen, die Zugang zu den Krapfen und der Marmelade hatten, vor, während und nach der Fertigung. Denn wie ich das hier so sehe, konnte grundsätzlich jeder an die Zutaten und das Gebäck heran, der Zutritt zur Backstube hat.«
Heide Klemm schaute zwar wenig begeistert, nickte aber. »Wenn es hilft, dieses leidige Thema aus der Welt zu schaffen, sollen Sie alles bekommen. Ich stelle Ihnen die Informationen gleich zusammen.«
6
»Wir haben dir etwas mitgebracht!«, rief Mira und stellte das Eimerchen mit der Hagebuttenmarmelade vor Sylvia auf deren Schreibtisch.
»Na, da habt ihr aber Glück gehabt, dass ihr mich antrefft. Ich bin nur kurz zur Mittagspause hier. Den ganzen Vormittag war ich unterwegs, um Fingerabdrücke einzusammeln, und damit geht es auch gleich wieder weiter.«
»Sehr löblich. Jeder Abdruck, den wir zuordnen können, bringt uns der Täterin hoffentlich näher.«
Sylvia nickte kauend.
»Warst du auch bei Frau Krauß? Wie geht es ihr?«, wollte Philipp wissen.
»Sie ist wohl stabil, aber noch nicht vernehmungsfähig. Der Arzt hat uns jedenfalls gebeten, mit dem Besuch bei ihr noch etwas zu warten, wenn möglich. Deshalb ist sie die Letzte auf unserer Liste.« Sie hielt inne. »Du sagtest ›Täterin‹. Gibt es neue Erkenntnisse?«
»Die Krapfen wurden von einer Frau bestellt.« Mira zog den Zettel aus der Tasche, den sie von Heide Klemm bekommen hatte. »Camilla Schönberger. Wir wissen noch nicht, ob das ihr richtiger Name ist, aber darum werde ich mich gleich kümmern.«
»Halt mich auf dem Laufenden«, meinte Sylvia wenig überraschend. Jeder in der ganzen Dienststelle wusste schließlich, dass sie die Neugier in Person war. Genüsslich biss sie von ihrem Wrap ab.
»Was hast du denn da dabei? Das sieht ja lecker aus«, bemerkte Philipp prompt.
»Ja, nicht?« Sylvia schien nur darauf gewartet zu haben, dass man sie auf ihre Pausenmahlzeit ansprach. »Das hat Frieder mir gemacht.«
»Frieder?«, hakte Mira nach.
»Mein Ex-Mann. Ich habe dir doch erzählt, dass wir uns wieder besser verstehen.«
Mira erinnerte sich dunkel.
»In zweiunddreißig Ehejahren hat er in Haushalt und Küche nie einen Finger gerührt«, erzählte Sylvia.
»Und jetzt, wo ihr geschieden seid, macht er dir Wraps für die Mittagspause?«, fragte Philipp ungläubig nach. »Wie hast du das denn hingekriegt?«
Sylvia lachte auf. »Wenn ich das wüsste, hätte ich den Trick ein paar Jahrzehnte früher angewendet!«
Mira schmunzelte, deutete dann aber auf den mitgebrachten Eimer. »Das ist Hiffenmark aus dem Kühlraum der Konditorei Klemm. Es wurde zum Backen der Krapfen für den Stadtrat verwendet. Ich bräuchte eine Analyse, ob das Gift hier im Eimer auch schon drin ist.«
»Okay, geht klar. Ich bringe ihn zu Hubert, bevor ich wieder losziehe«, versprach Sylvia.
Mira und Philipp bedankten und verabschiedeten sich. Als sie den Gang zu ihren Büros betraten, kam ihnen Nils entgegen. »Gut, dass ihr da seid! Könntet ihr bitte mal bei Karl-Heinz Märker vorbeischauen? Seine Sekretärin ruft halbstündlich an, um sich über den Ermittlungsfortschritt zu erkundigen.«
»Kann ich erst was essen?«, fragte Philipp.
»Geh schon. Ich sammle dich später an deinem Schreibtisch ein«, sagte Mira und wandte sich an Nils. »Wir haben einen Namen, eine Telefonnummer und sogar eine Personenbeschreibung der Kundin, die die Krapfen gekauft hat. Darum möchte ich mich noch kümmern, bevor wir zu Märker fahren.«
»Sehr gut.« Erleichtert fuhr er sich durch das kurze braune Haar. »Setz alles in Bewegung, damit wir diese Frau schnell finden. Bei mir läuft das Telefon heiß.«
Mitfühlend strich sie ihm über den Arm und nickte ihm aufmunternd zu, ehe sie zu ihrem Schreibtisch eilte.