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Gold glitzert unter Wasser besonders verlockend. Alaska. In die raue Schönheit und die unberührte Natur dieses Landes hat sich Hazels Vater verliebt. Sie selbst fliegt nach seinem unerwarteten Tod hingegen nur unfreiwillig dorthin. Doch Land und Leute überraschen sie, und vor allem ihr neuer Nachbar Owen ist ihr in ihrer Trauer eine echte Stütze. Von ihm lässt sich Hazel sogar mit dem allgegenwärtigen Goldfieber anstecken. Zu zweit suchen sie in der wunderschönen Beringsee nach dem begehrten Edelmetall. Und je tiefer die beiden tauchen, desto näher kommen sie sich …
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Seitenzahl: 304
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Drachenmond Verlag GmbH
Auf der Weide 6
50354 Hürth
https://www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Mira Manger – Herzgestein
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlagdesign: Annika Hanke
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-640-0
Alle Rechte vorbehalten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Drachenpost
Für Nicole
Im rauen Alaska freut sich jeder
über eine helfende Hand.
Danke, dass du mir deine gegeben hast.
Hazel legte für einen Moment den Kopf in den Nacken und genoss den Fahrtwind, der in ihrem braunen, langen Haar wühlte wie ein leidenschaftlicher Liebhaber. Der wolkenlose Himmel versprach einen farbenfrohen Tauchgang, und statt einer Gruppe würden sie lediglich ein Pärchen am La Jolla Cove treffen. Entspannte Stunden lagen vor ihr, und wie immer konnte sie es kaum erwarten, ins Wasser zu hüpfen. Mit Mike zusammen als Tauchguides zu arbeiten, war ihr wahr gewordener Traum.
Einen solch perfekten Tag würde sie sich selbst durch Claire nicht verderben lassen. Sie öffnete die Augen hinter ihrer Sonnenbrille und warf einen kurzen Blick auf die zierliche junge Frau, die Mikes alten Wrangler souverän durch den dichter werdenden Verkehr manövrierte. Demonstrativ hatte Hazel sich auf den Beifahrersitz fallen lassen, und Mike war schmunzelnd nach hinten in den Fond geklettert. Nun lächelte Claire in regelmäßigen Abständen kokett in den Rückspiegel. Hazel rollte unbemerkt mit den Augen. Wären Verkehr und Parkplatzsuche hier am La Jolla Cove nicht so nervtötend, hätte sie Claires Anwesenheit niemals zugestimmt. Doch manchmal musste man eben Kompromisse eingehen. Und wenn das klare Nass des Ozeans Mike und sie gleich willkommen heißen würde, würde Claire sich weiter zwischen hupenden und drängelnden Autos hindurchkämpfen müssen. Der Gedanke zauberte ein zufriedenes Lächeln auf Hazels Gesicht. La Jollas Schönheit schlug ihr zusammen mit dem unverkennbaren salzigen Geruch entgegen. Obwohl sie mittlerweile dreimal pro Woche hier tauchten, war Hazels Begeisterung für den Sport und diese wunderbare Bucht an der Küste ihrer Heimatstadt San Diego nach wie vor ungebrochen.
Sie ließen Claire am Coast Boulevard zurück, und mit jeder Stufe, die Hazel in Richtung Strand hinunterlief, hob sich im Gegenzug ihre Laune. Das Gewicht der Sauerstofflasche verflüchtigte sich in der lauen Brise, die pure Vorfreude vom Meer heraufwehte.
»Ich glaube, irgendwas ist da schiefgelaufen. Vermutlich hättest du ursprünglich ein Fisch werden sollen«, zog Mike sie lachend auf.
»Oder ein Seelöwe!« Hazel versuchte das grimmige Gesicht eines Raubtieres aufzusetzen, was ihr aber nur schlecht gelang und sich in ihrem Lachen auflöste.
Ihre Kundschaft, ein braun gebranntes Pärchen aus Australien, erwartete die beiden am Strand. Sie stellten sich als Poppy und Tevin vor und waren sichtlich angetan von La Jolla und dem bevorstehenden Tauchgang, was sie Hazel sofort sympathisch machte. Poppys Locken hüpften aufgeregt um ihr Gesicht und verliehen ihr einen fast kindlichen Charme. Die Tour war bereits bezahlt, und Mike hatte sich im Vorfeld auch schon Kopien der Tauchscheine mailen lassen, sodass alle Bürokratie bereits erledigt war und sie sofort starten konnten. Nicht nur die Vorfreude trieb Hazel in das kühle Nass, auch war es inzwischen in ihrem Neoprenanzug unangenehm warm geworden.
Das Meer empfing sie wie die Umarmung einer Freundin. Gemeinsam entfernten sie sich gemächlich vom Strand. Poppy und Tevin hatten es nicht eilig, ließen sich im seichten Wasser treiben, beobachteten erfreut die leuchtend orangen Garibaldifische, die vereinzelt und in kleineren Schwärmen auftauchten, als wollten sie die Besucher begrüßen. Das Meer gewann schnell an Tiefe, aber die Sicht war aufgrund der niedrigen Unterwasservegetation noch immer klar wie in einem Aquarium. Hazel erspähte einen Adlerrochen unter sich im Sand und machte Poppy auf das Tier aufmerksam. Das Grinsen der Australierin strahlte trotz Tauchermaske unverkennbar durch das Wasser.
Als sie nach wenigen Hundert Yards den Kelpwald mit seinen langen senkrechten Algenstängeln erreichten, folgte Hazel Poppy, während Mike sich auf Tevin konzentrierte. Zwar waren beide erfahrene Taucher, doch war die Sicht hier durch die großen Tangpflanzen, die an der Wasseroberfläche baumkronenartig auffächerten, etwas getrübt. Nicht umsonst wurden Kelpwälder oft als das nautische Pendant zu den Regenwäldern bezeichnet, und Hazel konnte dem nur zustimmen. Die einzigartige Flora und Fauna hier zog sie stets aufs Neue in ihren Bann.
Dem Tangwald wohnte ein ganz eigener, beinahe mystischer Charme inne. Die in bläuliches Licht getauchten riesigen Algenpflanzen schienen aus einer märchenhaften fremden Welt zu stammen. Sanft wiegten sie sich im leichten Wellengang.
Plötzlich ruderte Poppy fahrig zurück, sodass Hazel beinahe in sie hineingeschwommen wäre. Direkt vor den beiden Frauen war ein riesiger Hai aufgetaucht. Zwar war Hazel nicht bekannt, dass hier in La Jolla und dem angrenzenden Kelpwald je ein Mensch von einem Hai verletzt worden wäre, doch bemühte sie sich dennoch, Ruhe auszustrahlen. Besänftigend legte sie der Australierin die Hand auf den Rücken, denn auch der Hai war durch ihre abrupten Bewegungen in Alarmbereitschaft versetzt worden. Und schließlich hatten sie es trotz allem mit einem Raubtier zu tun, und einem recht stattlichen Exemplar noch dazu. Hazel schätzte seine Länge auf zweieinhalb bis drei Yards. Das Tier musste an die zweihundert Pounds wiegen. Seine platte, breite Schnauze verlieh ihm ein archaisches Aussehen. Poppy bewegte sich nun kaum noch. Sie starrte den Hai nur an, und Hazel war sich nicht sicher, ob es Angst oder Faszination war, die sie lähmte. Nach ihrem erschrockenen Gezappel war der Hai kurz auf die beiden zugeschnellt, als wollte er sie anstupsen. Doch nun hatte er sie wieder aus den Augen gelassen und schwamm in fließenden Bewegungen um sie herum. Hätte Hazel die Hand nach ihm ausgestreckt, sie hätte das stolze Tier im Vorbeiziehen streicheln können, doch das wagte sie nicht. Trotz des schummrigen Lichts sah sie genau seine sieben Kiemen, die wie tiefe Schnitte vor seiner vordersten Flosse saßen und denen er seinen Namen verdankte. Es war ohne Zweifel ein Breitnasen-Siebenkiemerhai gewesen, der Poppy so in Aufregung versetzt hatte und nun majestätisch zwischen den Kelpbäumen verschwand.
Zögerlich drehte Poppy sich um und blickte ihm nach. Dann fasste sie sich mit der rechten Hand an die Brust. Eine Geste, die selbst im trüben Licht des Tangwaldes eindeutig war, und auch Hazel fühlte sich erleichtert. Sie tauchten weiter durch die langen, buschigen Algenstiele hindurch und stießen wieder zu den Männern, denen der Hai anscheinend entgangen war. Hazel war sich jedoch sicher, dass Poppy ihnen später lebhaft von der Begegnung erzählen würde.
Sie hatten sich bereits wieder auf den Rückweg gemacht und den Kelpwald hinter sich gelassen, da schossen erneut mehrere große Tiere auf sie zu. Diesmal gab es jedoch keinen Grund zu Sorge. Die Seelöwen flitzten fröhlich durch das Wasser und umkreisten die Taucher, als wollten sie mit ihnen Fangen spielen. Hazel konnte sich nicht daran erinnern, jemals hier gewesen zu sein, ohne wenigstens einem dieser quirligen Meeressäuger zu begegnen. Ihre Kolonie lebte direkt in der Bucht, und sie gehörten zu La Jolla wie die Flossen zum Tauchen.
Kaum wurde das Wasser seichter, tauchten sie auf und Poppy riss sich die Maske vom Kopf. Sprudelnd erzählte sie Tevin von ihrer Begegnung mit dem Hai. Hazel ließ sich noch eine Weile im Wasser treiben. Mike schloss zu ihr auf und nahm ihre Hand. Wenn sie Kundschaft hatten, verzichteten sie grundsätzlich auf Zärtlichkeiten, doch die beiden Australier waren gerade so in ihr Gespräch vertieft, dass sie ohnehin nichts mitbekamen. Hazel atmete ein, als wollte sie diesen perfekten Moment in sich aufsaugen und für immer in ihrem Inneren bewahren.
Als sie aus dem Wasser stieg, war der Zauber augenblicklich verflogen. Oben an der Treppe stand Claire und winkte ihnen überschwänglich zu. Hazel unterdrückte ein Seufzen. Sie verabschiedeten sich von Poppy und Tevin, die noch länger am Strand bleiben wollten. Diesmal nahm Hazel die Stufen nicht so leichtfüßig wie noch bei ihrer Ankunft am La Jolla Cove. Eher widerwillig stapfte sie hinauf in Richtung des Parkplatzes.
»Wir brauchen einen anderen Fahrer«, murrte sie. Doch Mikes Reaktion nahm ihr den Wind aus den Segeln.
Mit gespielter Überraschung rief er: »Jetzt hast du es! Du kannst ja doch gucken wie ein gefährlicher Löwe!«
Lachend boxte sie ihn in die Seite.
Claire reichte ihnen ihre Sporttaschen, die sie am Morgen gepackt hatten. Mike dankte es ihr mit seinem schönsten Lächeln. Kein Wunder, dass die Kleine total auf ihn abfuhr. Doch Hazel war es, die dann mit ihm in die Umkleide verschwand. Plötzlich kam sie sich dumm vor. Sollte Claire sie doch fahren und unterstützen, wenn sie unbedingt wollte. Sie verstand selbst nicht, warum diese Schwärmerei sie so in Rage brachte. Hazel wusste schließlich, dass Mike sie liebte. Sie sollte wirklich gelassener werden, schalt sie sich, während sie seine Küsse auf ihrer feuchten Haut genoss.
Kurze Zeit später schlenderten Mike und Hazel gut gelaunt zum Wagen. Claire hatte, während sie tauchen gewesen waren, einen der begehrten Parkplätze ergattert und die Zeit mit einem Buch am Strand verbracht. Wäre Claires Schwärmerei ihr nicht dermaßen zuwider, hätte Hazel Mitleid mit ihr gehabt. Mike ließ sie am langen Arm verhungern und nutzte sie für Fahrdienste aus. Zwar redete er sich damit heraus, dass die Kleine sich sowieso gern am Strand aufhielt, aber wie sie nun so in dem alten Wrangler saß und bereitwillig ihre Zeit damit vergeudete, auf sie zu warten, rührte Hazel.
»Vielen Dank, Claire, du bist uns eine große Hilfe. In Zukunft wirst du natürlich Geld für deine Fahrten bekommen. Entschuldige bitte, dass wir das bisher versäumt haben«, sagte Hazel, als sie sich auf den Beifahrersitz schwang. Sie ignorierte Mikes fragenden Seitenblick. Auch Claire sah kurz verdutzt von einem zum anderen. Schließlich lächelte sie und beteuerte, dass sie das doch gern tue. Ob Mike ihr diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte? Mit seiner charmanten, aber unverbindlichen Art konnte er einen durchaus leicht um den Finger wickeln. Auch bei Hazel zog er sich immer wieder lächelnd und scherzend aus Konflikten heraus, sodass sie ihm nie lange böse sein konnte.
Ein Blick auf ihr Handy, das sie im Handschuhfach des Geländewagens zurückgelassen hatte, drückte ihr den Brustkorb zusammen. Claires und Mikes Geplänkel drang nur noch gedämpft zu ihr durch, während all ihre Sinne sich auf den kleinen Smartphone-Bildschirm fokussierten. Sechs entgangene Anrufe vom Anschluss ihrer Mom. Hazel schluckte. Seit Moms Herzinfarkt war sie immer ebenfalls einem solchen nahe, wenn sie sie unerwartet anrief. Die Angst, dieser Schock könnte sich wiederholen, steckte Hazel tief in den Knochen. Ihr Atem ging schneller, während sie versuchte, ihre Mom zurückzurufen. Doch sie ging nicht ans Telefon. Verdammt. Sechs entgangene Anrufe – das konnte nichts Gutes bedeuten.
Claire war gerade im Begriff gewesen, den Zündschlüssel umzudrehen. Sie japste erschrocken nach Luft, als Hazel unvermittelt ihren Arm packte und sie zurückhielt.
»Ich fahre.«
Ihr Ton duldete keine Widerrede. Noch bevor jemand nachfragen konnte, war Hazel bereits aus dem Wrangler gesprungen und rannte um den Wagen herum auf die Fahrerseite. Sie scheuchte Claire über die Mittelkonsole und startete den Motor.
»Es ist was mit Mom«, erklärte sie knapp und jagte wenige Minuten später auf der Interstate 5 Richtung Süden.
Das Haus ihrer Mom Betty war schon recht in die Jahre gekommen, doch seine unmittelbare Nähe zum Meer in Ocean Beach machte es dennoch zu einer kleinen Perle. Hazel raste die Brighton Ave in Richtung Strand, während Mike und Claire sich sichtlich besorgt in ihre Sitze drückten. Die Häuser standen hier dicht an dicht, als wollten sie sich zum Ozean hindrängen. Da vor ihrem Elternhaus die Seitenstreifen bereits mit Autos gesäumt waren, stoppte Hazel direkt auf der Straße und stürzte hinaus.
Das Haus hatte in etwa die Farbe der Straße. Nur das Geländer der Veranda, das in frischem Weiß leuchtete, zeigte, dass es nicht völlig dem Verfall preisgegeben war. Auf der Bank neben der Tür saß eine zusammengesunkene Gestalt.
Voller Angst sprang Hazel die wenigen Stufen zur Veranda hinauf. Betty hob müde den Kopf. Ihr Gesicht war ebenso fahl wie die Holzlatten des Hauses in ihrem Rücken. Aus verquollenen, rot geränderten Augen sah sie sie an.
»Hazel.« Ihre Stimme klang traurig und überrascht zugleich. Doch ihr Gesicht war ausdruckslos, als hätte sie sämtliche Emotion bereits herausgeweint. Sogleich legte Hazel besorgt den Arm um ihre schmalen Schultern. Sie fröstelte, trotz der warmen Temperaturen. Mit den Händen umklammerte sie ein zerknülltes Papiertaschentuch.
»Was ist denn, Mom? Soll ich einen Arzt rufen?« Hazel bemühte sich, die Panik aus ihrer Stimme zu verbannen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Betty schüttelte den Kopf, was Hazel aber nur wenig beruhigen konnte.
Hilflos versuchte sie zu verstehen, was geschehen war. Betty ließ sich Zeit damit, sie aufzuklären. Es war, als müsste sie Kraft sammeln für die Worte, die nur zögerlich und stockend aus ihrem Mund kommen wollten. Sie hielt ihren Blick starr auf das Taschentuch gerichtet, das sich langsam aufzulösen begann. Einzelne kleine Fetzen rieselten zu Boden, und Hazel musste an sich halten, ihre Mom nicht zu schütteln, so aufgewühlt war sie.
»Es geht nicht um mich, es geht um deinen Dad.« Ihre Worte, so leise sie auch waren, trafen Hazel wie eine schallende Ohrfeige. Plötzlich merkte sie, dass sie schwitzte und ihr Shirt ihr unangenehm am Körper klebte. Nervös fing sie an, daran herumzuzupfen.
»Hat er eine neue Frau gefunden, da oben in Alaska?« Obwohl sie sich immer davor gefürchtet hatte, dass er auf seine alten Tage eine neue Familie gründen könnte, hoffte sie in diesem Moment regelrecht, dass es eine neue Liebe war, die ihre Mom so aus dem Konzept brachte.
»Ach, Schatz«, schluchzte Betty mit gequältem Gesichtsausdruck und griff nach ihrer Hand. Sie drückte sie so fest, dass es schmerzte.
Da tauchte Mike auf der Veranda auf. Unbeholfen trat er von einem Fuß auf den anderen.
»Fahrt ohne mich zurück. Ich komme nach«, sagte Hazel zu ihm. Er fragte nicht nach. Sichtlich erleichtert drehte er sich auf dem Absatz um und lief fluchtartig zum Wagen zurück. Mit Tränen konnte er noch weniger umgehen als mit Streit. Doch Hazel nahm es ihm nicht übel. Sie musste erst einmal selbst mit dieser unerwarteten Situation hier klarkommen.
»Was ist denn nun?«
Betty seufzte. »Du dachtest, ich hätte wieder einen Herzinfarkt gehabt, oder?«
Hazel nickte beklommen. »Zum Glück geht es dir gut«, flüsterte sie, während Betty angespannt die Lippen aufeinanderpresste. Hazel wusste nicht, ob sie Tränen oder Worte zurückhielt. Gerade wollte sie ihre Mom wieder ermutigen, endlich mit der Sprache herauszurücken, da platzte die Bombe.
»Nicht ich hatte einen, Hazel, sondern er. Dein Dad ist heute Morgen gestorben.« Bettys Worte brachen über sie herein wie eine Flutwelle. Sie hatte das Schlimmste befürchtet, doch gegen eine solche Nachricht konnte man sich nicht wappnen. Wie betäubt starrte nun auch sie auf das Taschentuch, das nur noch aus Krümeln und Fetzen bestand. Sie sah das verschmitzte Lächeln ihres Dads vor ihrem geistigen Auge. Erinnerte sich, wie er lebendig und vor Tatendrang strotzend vor einigen Jahren das Bad eigenhändig renoviert hatte. Dachte an seine Briefe, die in der Schublade ihres Nachtkästchens lagen. Und als ihr bewusst wurde, dass all jene Briefe nun für immer unbeantwortet bleiben würden, dass sie es verpasst hatte, sich mit ihm zu versöhnen, da spürte sie einen Schmerz in der Brust, von dem sie sich nicht vorstellen konnte, dass er jemals wieder vergehen würde. Tränen liefen ihr über die Wangen, und sie weinte um all die verlorenen Stunden, Begegnungen und Worte, die der Tod ihr geraubt hatte.
Wie dumm war sie gewesen, aufzuschieben, was so wichtig gewesen wäre. Wie eitel, dass sie ihm die Suche nach seinem Glück in der Ferne nicht hatte gönnen können. Nun war es zu spät, für immer zu spät.
Trübsinnig saß Hazel auf ihrem Bett und blätterte durch die alten Briefe ihres Dads. Inzwischen kannte sie jedes einzelne Wort auswendig, und doch konnte sie nicht aufhören, in ihnen zu lesen. Mike hatte ihr eine heiße Schokolade gebracht und seinen Bruder Leo angerufen, damit er für sie einspringen solle. So gern sie auch tauchte, sie war froh, an diesem Freitagmorgen einfach ihren Gedanken nachhängen zu können. Claire hatte er bis auf Weiteres nach Hause geschickt. Vermutlich wollte er so ihre bis zum Zerreißen gespannten Nerven etwas entlasten.
Zärtlich streichelte er ihr über den Rücken, und sie lehnte sich an ihn.
»Hätte ich doch nur wenigstens einen dieser Briefe beantwortet«, schluchzte sie.
»Er hat dir immer wieder geschrieben, Schatz, auch ohne eine Antwort. Das zeigt doch, dass er dich verstanden hat und dir nicht böse war.«
Hazel runzelte skeptisch die Stirn. »Er hat mir das Tauchen beigebracht, so oft haben wir gemeinsam das Meer erkundet. Und plötzlich war es ihm nicht mehr genug. Wir waren ihm nicht mehr genug.« Verbittert biss sie die Zähne aufeinander.
Mike hielt sie an den Schultern vor sich fest und wartete, bis sie ihn ansah.
»Er hat sich einen Traum erfüllt. Du weißt selbst, dass er Betty und dich liebend gern mitgenommen hätte, obwohl deine Eltern schon länger kein Paar mehr waren.«
Mikes Worte schmerzten sie, weil sie wusste, dass er die Wahrheit sagte. Missmutig wand sie sich aus seiner Berührung und wischte sich über die nass geweinten Wangen. Mike strich ihr eine Haarsträhne zurück, als es klingelte.
»Das ist Leo.« Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Ich komme nach dem Tauchgang direkt wieder her.«
Sie rang um ein Lächeln und streckte sich nach ihrer dampfenden Tasse, während er das Schlafzimmer verließ.
Hazel hörte die beiden Brüder noch kurz im Flur miteinander reden, dann fiel die Tür ins Schloss.
Sie fühlte sich allein, und doch war sie froh über die Auszeit. Wieder fiel ihr Blick auf die Briefe. Noch eine ganze Weile blieb sie auf ihrem Bett sitzen, ließ die Minuten verstreichen und nippte lediglich ab und zu an ihrer heißen Schokolade. Schließlich fegte sie die Briefe in einem Anflug von Trotz von der Decke und gönnte sich eine ausgiebige Dusche.
Das Prasseln des Wassers erschien ihr ungewöhnlich laut. Natürlich konnte es ihre Trauer nicht wegspülen, aber frisch geduscht fühlte sie sich trotzdem etwas besser. Sie zog sich einen Stuhl an das offene Fenster. Der Straßenlärm waberte zu ihr herauf und beruhigte sie. Vor einem knappen Jahr waren Mike und sie hier in Little Italy zusammengezogen, und Hazel liebte das Viertel. Es war einfach ein bisschen bunter und lauter als der Rest der Stadt und bildete so den perfekten Kontrast zur Ruhe und Natur des Meeres. Aus der Pizzeria gegenüber wehte ein verlockender Duft zu ihr herüber und ließ ihren Magen knurren. Sie brauchte noch eine weitere gute Stunde, bis sie es schließlich schaffte, sich aufzuraffen und etwas zu essen zu bestellen.
Gerade als Hazel in das erste Stück ihrer Sardellenpizza beißen wollte, stand ihre Mom vor der Tür. Sie holte einen zweiten Teller aus der Küche, während Betty zeterte, sie habe keinen Hunger. Unter anderen Umständen hätte Hazel es amüsiert, wie schnell die kleine Frau das Pizzastück dennoch verdrückte.
»Owen hat mich noch mal angerufen«, sagte Betty dann. Nur wenige Stunden zuvor hatte Hazel in den Briefen von Owen gelesen. Er war der beste Freund ihres Dads gewesen, dort oben in Alaska. Der Extrakäse ballte sich plötzlich zu einem unangenehmen Klumpen in ihrem Mund, den sie nur mit Mühe hinunterwürgte. Sie sah ihre Mom fragend an.
»Die Beerdigung ist am Montag.«
Hazel schob ihren Teller von sich. »Ich will da nicht hin.«
»Das weiß ich.« Ihre Mom betrachtete ausgiebig einen Krümel, der auf den Tisch gefallen war, bevor sie leise weitersprach. »Ich war heute Morgen bei meinem Kardiologen. Er hält es für keine gute Idee, dass ich nach Alaska reise. Es ist immerhin ein Achtstundenflug.«
»Natürlich wirst du da nicht hinfliegen«, gab Hazel zurück.
»Aber wenigstens einer muss doch!« Betty hob aufgebracht beide Hände in die Luft. »Er kann doch nicht beerdigt werden, dort oben im Niemandsland, ganz ohne seine Familie!«
Angespannt kaute Hazel auf ihrer Unterlippe herum, während ihre Mom anfing zu schluchzen. Sie verkniff sich, sie daran zu erinnern, dass dieses Niemandsland Dads Wahlheimat gewesen und er dort viele Monate lang sehr gut ohne seine Familie ausgekommen war.
»Was soll ich da denn jetzt?« Ihre Stimme wurde brüchig. »Ich hätte ihn dort besuchen sollen, als er noch lebte. Jetzt ist es zu spät.« Sie drückte ihre Finger auf die Augen, als könnte sie damit die Tränen zurückhalten, die schon wieder gegen die geschlossenen Lider drängten.
»Außerdem kann ich gar nicht so einfach hier weg, selbst wenn ich wollte. Wir haben Termine, die Tauchgänge müssen weiterlaufen. So ist das eben, wenn man selbstständig ist.« Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Plötzlich hörte sie Mikes Schlüssel in der Wohnungstür. Hazel war erleichtert über die Unterbrechung. Sie lauschte den Stimmen im Flur, bis die beiden endlich in die Küche kamen.
Ein Lächeln huschte über Leos Gesicht, als er die Pizzareste auf dem Tisch erspähte. Trotz seiner drahtigen Figur war Mikes kleiner Bruder immer hungrig. Hazel schob ihm den halb vollen Karton hin, den er freudig entgegennahm. Mike küsste sie auf die Wange und ließ sich ebenfalls nieder, während Betty die Karaffe mit Wasser auffüllte und zwei frische Gläser auf den Tisch stellte.
»Am Montag ist die Beerdigung«, sagte sie, während sie Mike einschenkte. »Aber Hazel meint, sie kann nicht hin wegen eurer Tauchtermine.«
Noch bevor Hazel etwas einwerfen konnte, hörte sie schon, wie das Schicksal seinen Lauf nahm.
»Quatsch!«, antwortete Mike. »Natürlich kannst du zur Beerdigung fliegen. Das ist doch selbstverständlich.«
Hazel rang nach Worten, doch was sollte sie nur sagen?
Mike deutete ihre überrumpelte Miene falsch und fuhr mit seinen Beschwichtigungen fort.
»Das ist wirklich kein Problem, Hazel. Leo springt gern für ein paar Tage ein, nicht wahr?« Zu allem Überfluss nickte Mikes Bruder kauend und quetschte ein undeutliches, aber für alle gut verständliches »Klaro!« zwischen Käse und Sardellen hervor. Hazel war nicht ganz klar, wie das nun hatte passieren können. Was sie jedoch spätestens begriff, als sie Bettys unterdrücktes Schmunzeln sah, war, dass sie verloren hatte. Sie würde wohl doch nach Alaska fliegen, ob sie wollte oder nicht.
Es stellte sich heraus, dass es mit einem Achtstundenflug bei Weitem nicht getan war. Als Betty sie am Samstagabend zum Lindbergh Field gebracht und dort am Flughafen herzlich und ausgiebig verabschiedet hatte, war sie vielmehr zu einer langwierigen Prozedur mit Zwischenstopps in Los Angeles und Anchorage aufgebrochen. Nun, ganze siebzehn Stunden später, befand sich Hazel erschöpft und gut achthundert Dollar ärmer im Landeanflug auf Nome, der Stadt, in der ihr Dad gelebt hatte.
Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Wenn man von einem aus der Luft wenig einladend aussehenden, zerpflückten Areal weiter nördlich im Landesinneren absah, dann war Nome gerade so groß wie sein Flughafen. Das Städtchen schien an der Küste zu kleben. Hazel seufzte und schloss für einen Moment die Augen. Wie konnte man nur in ein Kaff am Ende der Welt auswandern, in dem Glauben, dort sein Glück zu finden? Sie würde ihren Dad wohl niemals verstehen.
Nachdem sie äußerst holprig gelandet waren und Hazel ihren Koffer durch das winzige Flughafengebäude Richtung Ausgang zog, näherte sich ihre Laune einem neuen Tiefpunkt. Suchend blickte sie sich nach Owen um. Betty hatte mit ihm ausgemacht, dass er sie hier abholen würde.
»Hazel?« Hörte sie plötzlich eine Stimme direkt neben sich. Sie zuckte zusammen und sah sich überrascht um. Die Stimme gehörte zu einem jungen Mann in dicker Winterjacke, aus der oben der Kragen eines blauen Hemdes hervorspitzte. Sein dunkelbraunes Haar wirkte leicht zerzaust, als ob ein Windstoß hineingefahren und es etwas in Unordnung gebracht hätte. Die verstrubbelte Frisur stand ihm außerordentlich gut, genauso wie sein Dreitagebart.
»Du bist es doch, oder? Dein Dad hat mir Fotos von dir gezeigt«, sagte der Fremde. Sie nickte langsam.
»Dann bist du etwa Owen?« Hazel hatte einen kauzigen alten Kerl erwartet. Dabei war Owen kaum älter als sie und sah verdammt gut aus. Es fiel ihr schwer, ihre Überraschung zu verbergen. Endlich ergriff sie seine Hand, die er ihr geduldig entgegengestreckt hatte.
»Das bin ich. Es tut mir sehr leid, Hazel. Charlie war ein guter Mann.«
Charlie. Zu Hause sprachen sie immer von Dad. Sein Name klang fremd in ihren Ohren. Wie viel von ihm hatte sie überhaupt gekannt? In der letzten Zeit war es sicher immer weniger geworden.
»Ich übernehme deinen Koffer, wenn es dir recht ist«, unterbrach Owen ihre trüben Gedanken. »Der ist aber leicht«, stellte er verwundert fest.
»Ja. Für zwei Tage braucht man ja auch nicht viel.«
»Zwei Tage? Na, das wird nicht ganz reichen.«
»Aber ich dachte, die Beerdigung sei schon morgen?« Hazel wollte auf keinen Fall länger als unbedingt notwendig hierbleiben.
»Ja, das stimmt schon. Aber …« Owen kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Ich zeige es dir am besten einfach. Komm mit.«
Irritiert trottete Hazel hinter ihm her. Hier war doch irgendetwas im Gange, was sie nicht wusste. Hatte Betty ihr etwas verheimlicht? Hatte sie ihr womöglich deshalb dazu geraten, erst einmal nur den Hinflug zu buchen? Im Nachhinein kam ihr das Argument, sie könne so eventuell direkt nach der Beerdigung noch am selben Tag einen Last-Minute-Flug ergattern, recht abwegig vor. Bei der Buchung war sie noch zu überrumpelt gewesen, um genauer darüber nachzudenken. Möglicherweise früher zurückzufliegen hatte sich zu gut angehört, um es zu hinterfragen.
Als sie das flache Flughafengebäude verließ, fuhr ihr der Wind in die Kleidung, sodass sie am liebsten gleich wieder umgekehrt wäre. Fröstelnd stellte sie den Kragen ihrer dünnen Jacke auf. Hier war es im Mai ja kälter als in San Diego zu Weihnachten!
Owen steuerte einen großen dunkelblauen Pick-up an und packte ihren Koffer auf die Rückbank. Im Wagen stellte er ihr ein paar der üblichen Fragen, die man Reisende eben fragte: Ob sie einen guten Flug gehabt habe, wie das Essen in der Maschine gewesen sei und welchen Film sie sich angesehen habe. Hazel kam nicht umhin, ihn immer wieder möglichst unauffällig zu mustern. Meine Güte, sie hatte sich Dads Freund und Tauchpartner wirklich völlig anders vorgestellt.
Sie fuhren auf einer breiten Straße in den Ort hinein. Obwohl das Städtchen aus der Luft so ordentlich ausgesehen hatte, wirkte es nun plötzlich durcheinander. Die Bauweise ähnelte grundsätzlich der ihrer Heimat. Aber die Häuser schienen schmucklos und lieblos platziert. Auch war an vielen Ecken nur allzu deutlich, dass die meisten Gebäude ihre besten Zeiten längst hinter sich gelassen hatten. Das Einzige, was man hier anscheinend im Überfluss hatte, war Platz.
Die Straßenschilder hatten dasselbe Grün wie zu Hause, doch während sie im bunten und lebendigen San Diego mit seinen Tausenden von Palmen in den Gärten und an den Straßenrändern kaum auffielen, stachen sie in Nome geradezu ins Auge. Im Vergleich zu ihrer Heimat war es hier kahl und grau, und der wolkenverhangene Himmel tat sein Übriges.
Sie fuhren die West 2nd Ave entlang. Die Bebauung schien hier regelmäßiger und die Häuser besser in Schuss. Hazel vermutete daher, dass sie sich dem Meer näherten. Zumindest kannte sie es so von zu Hause in Ocean Beach. Obwohl man das arktische Beringmeer wohl nicht wirklich mit den sonnenverwöhnten Stränden Kaliforniens vergleichen konnte.
Owen hielt vor einem kleinen rotbraunen Haus an. Die Fensterrahmen und das Geländer der Veranda waren weiß gestrichen wie daheim bei Betty. Ein hübsches Häuschen.
»Wohnst du hier?« fragte sie.
»Nein, ich nicht. Aber du.«
Verwundert wanderte ihr Blick zurück zum Haus. Das Gebäude war eindeutig kein Hotel, dafür war es viel zu klein, zumal es auch kein Obergeschoss besaß. Hatte Owen ihr eine Ferienwohnung gebucht?
»Das ist dein Haus«, sagte er, um ihre Überraschung komplett zu machen.
»Mein Haus?« Hazel bemerkte, dass ihr der Mund offen stand, und sie klappte ihn peinlich berührt zu.
»Na ja, noch nicht offiziell. Das Haus gehörte Charlie, aber er hat entschieden, dass du es bekommen sollst.«
Sofort stiegen Hazel Tränen in die Augen. Trauer und Rührung drückten ihr die Kehle zu, sodass sie nicht fähig war, etwas zu erwidern.
»Davon hat Betty wohl nichts gepfiffen, was?« Er schmunzelte. »Sie scheint wirklich genauso zu sein, wie Charlie sie mir beschrieben hat.«
Nun musste auch Hazel trotz der Tränen grinsen. Was für ein Wechselbad der Gefühle.
»Die Hütte da an der Seite gehört übrigens auch dazu«, sagte Owen und deutete mit dem Zeigefinger an Hazels Gesicht vorbei zum Seitenfenster hinaus. Dort stand ein zweites kleines Haus, ein Schuppen eher. Hazel vermutete, dass er aus nur einem Raum bestand. Es war ebenfalls rotbraun-weiß gestrichen. Über der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift Scubadoo, wobei die beiden O aussahen wie Augen. Rechts unter dem Wort war ein roter gebogener Strich, der zusammen mit den O-Augen ein grinsendes Gesicht ergab.
»Na, komm schon, wir gehen ins Haus. Ich habe extra aufgeräumt.« Owen zwinkerte ihr zu und stieg aus.
Auch Hazel kletterte aus dem Pick-up. Sie atmete tief durch und genoss die klare, kühle Frühlingsluft, die in ihre Lunge strömte, auch wenn es ihr für die Jahreszeit entschieden zu kalt war.
Neben der Haustür hing ein altmodisches Thermometer. Seine dicke Quecksilberleiste zeigte fast 40 Grad Fahrenheit.
»Ganz schön mild heute«, murmelte Owen mit Blick auf die Anzeige.
»Ach ja?« Hazel schnaubte. Selbst wenn ihr Plan aufging und sie in wenigen Tagen wieder abreiste, würde sie in der Zwischenzeit wahrscheinlich erfrieren.
Owen ignorierte ihren Einwurf und griff nach dem Thermometer. Er nahm es von der Wand und ein Schlüssel kam zum Vorschein. Er hing am selben Nagel und war von der Platte des Thermometers verdeckt gewesen. Unbehaglich sah Hazel sich um. Zwar hätte sie selbst den Hausschlüssel dort nicht vermutet, aber sie war ja auch keine Einbrecherin, und ihre kriminelle Energie hielt sich in Grenzen.
Owen öffnete die Tür und bat sie mit einer einladenden Geste einzutreten. Heimelige Wärme schlug ihr entgegen, anscheinend hatte er bereits vorsorglich eingeheizt. Schnell ging sie hinein, froh, den milden 40 Grad Fahrenheit zu entfliehen.
Vom Eingangsbereich aus landete man direkt im Wohnzimmer, während nach rechts eine kleine Nische abzweigte, die mit einer Garderobe ausgestattet war. Gedeckte Farben dominierten den Raum. Vor allem ein tannengrüner Ohrenbackensessel fiel ins Auge, auf dem zusammengefaltet eine bordeauxrote Decke lag. Auf den ersten Blick konnte Hazel keinen Fernseher ausmachen, dafür aber ein großes, massives Holzregal, das bis zum Zerbersten vollgestopft war mit Büchern. Romane und Sachbücher lagen und standen unordentlich in den dunkelbraunen Reihen. Ja, dieses Wohnzimmer sah voll und ganz nach ihrem Dad aus. Gedankenverloren strich Hazel über das dunkle Holz des Regals.
Nur ein einziger Sessel und keine Deko, bemerkte das eifersüchtige Kind in ihr beruhigt die Abwesenheit einer weiblichen Note. Doch gleichzeitig rührte sie der einsame Anblick.
»War er denn sehr allein?«, fragte sie Owen deshalb mit belegter Stimme.
Die Überraschung in seinem Gesicht war echt. »Allein? Charlie?« Owen schien diese Idee geradezu lächerlich zu finden, und Hazel musterte überfordert ihre Fingernägel. Einer war ihr während der Reise abgebrochen.
Im Esszimmer sah es auch prompt geselliger aus. Hier stand ein runder heller Holztisch, an dem bequem mindestens sechs Leute Platz finden konnten, und eine mit altmodischem Blümchenstoff bezogene Bank, die etwa zwei Drittel des Tisches umrahmte. In der einen Ecke standen verschiedene angebrochene Schnapsflaschen, in der anderen ein Bild. Hazel schluckte. Sie kannte das Foto. Betty hatte es an ihrem letzten gemeinsamen Tauchgang geschossen: Vater und Tochter in Neoprenanzügen und mit strahlenden Gesichtern. An diesem Tag hatten gut ein halbes Dutzend Delfine den Kelpwald vor La Jolla erobert und waren mit ihnen geschwommen, fast so, als wollten sie sie als ihresgleichen akzeptieren. Hazel lächelte wehmütig.
Die offene Küche war nur durch eine Theke vom Esszimmer getrennt. Außerdem gab es noch ein kleines Bad und ein Schlafzimmer, das gerade so groß war, dass Bett und Schrank darin Platz fanden.
Nach dieser Hausführung ließ Hazel sich auf die Bank im Esszimmer fallen. Sie fühlte sich erschöpft, und das war wohl nicht nur der langen Reise geschuldet. Seufzend stützte sie ihren Kopf in beide Handflächen und schloss die Augen, um nicht wieder das fröhliche Foto gegenüber in der Ecke ansehen zu müssen, dessen Anblick ihr im Herzen schmerzte.
Sie öffnete die Augen erst wieder, als Owen sich neben sie setzte.
»Das ist alles ein bisschen viel auf einmal, oder?«
Sie nickte. Am liebsten hätte sie sich von ihm in den Arm nehmen und trösten lassen. Hazel schob den Gedanken beiseite. Ihre Mom hatte schon immer gesagt, sie sei zu emotional. Wüsste sie von Hazels Wunsch, sich einem Wildfremden in die Arme zu werfen, würde sie wohl die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.
Owen holte zwei Gläser aus der Küche nebenan und schraubte nun eine der Flaschen auf, die als stumme Seelentröster hinter Hazel auf ihren Einsatz gewartet hatten. Die Flüssigkeit leuchtete golden, und Hazel bemerkte irritiert, dass es große Softdrinkgläser waren, doch zum Glück schenkte er nur wenig ein.
»Und das soll mir helfen?«, fragte sie müde.
Owen sah nachdenklich das Etikett an, das eine schwarz gezeichnete Männergestalt zeigte, als könnte der dunkle Geselle ihnen antworten.
»Manchmal tut es das«, sagte er dann mit einem wehmütigen Blick. Plötzlich wirkte er traurig. Hazel hatte in ihrem eigenen Schmerz gar nicht daran gedacht, dass ja auch er Charlie verloren hatte.
So lieblich das Getränk nach Honig und Vanille geduftet hatte, so erbarmungslos brannte es nun Hazels Kehle hinunter. Erschrocken japste sie nach Luft und starrte auf die 50%-Angabe auf dem Flaschenetikett. Wenn ein Likör hier bereits so stark war, dann würde ein Schnaps sie vermutlich sofort erblinden lassen.
Owen klopfte ihr auf den Rücken, doch sie meinte, eher Belustigung statt Mitleid in seinen Zügen zu lesen.
»Fühlst du dich jetzt gestärkt, um den Rest deines Erbes zu sehen?«
»Was meinst du damit?« krächzte sie und unterdrückte ein Husten.
»Trink erst mal aus, dann zeige ich es dir.«
In einem Anflug verzweifelten Trotzes kippte Hazel den restlichen Whiskylikör hinunter. »Also los.«
Owen stand auf, und Hazel folgte ihm. Als er die Tür abgesperrt hatte, drückte er ihr den Schlüssel in die Hand.
»Ab heute werde ich anklopfen«, sagte er lächelnd. Dann stapfte er in Richtung des Pick-ups.
»Du willst nach diesem Höllenwasser jetzt doch wohl nicht Auto fahren!« Hazels Stimme klang schrill in ihren eigenen Ohren.
»Keine Bange. Es ist nicht weit, und ein kleiner Spaziergang wird uns guttun. In der Nähe gibt es außerdem ein Geschäft, wo du dir eine anständige Jacke kaufen kannst.«
Sie schlenderten die Straße entlang. Hazel fror erbärmlich. Verstohlen warf sie einen Seitenblick auf ihren Begleiter. Owen hatte die Hände in den Taschen vergraben und den Kragen seines Parkas hochgestellt. Anscheinend bemerkte er ihren Blick, denn plötzlich wandte er sich ihr grinsend zu.
»Komm schon her«, sagte er und zog den Reißverschluss seiner Jacke auf. Er schlüpfte heraus und legte ihr den Parka um die Schultern. »Bevor du mich im Überlebensmodus niederschlägst, um an eine warme Jacke zu kommen, gebe ich sie dir lieber freiwillig.«
Hazel kam sich reichlich blöd vor. Er musste sie für ein kalifornisches Püppchen halten, das nicht mal in der Lage war, sich den Temperaturen entsprechend anzuziehen. Nun ja, im Grunde traf das im Moment ja leider wirklich auf sie zu. Sie schob ihren verletzten Stolz beiseite, schlüpfte ganz in die Jacke und schloss den Reißverschluss. Owens Körperwärme hing noch im Stoff, und Hazel fühlte sich sofort besser und ein bisschen weniger verloren.
»Danke«, sagte sie verlegen. »Ich hoffe, das Geschäft ist nicht mehr weit weg? Nicht dass du den Spieß umdrehst und selbst irgendwann den Überlebensmodus startest.«
Owen lachte auf. »Keine Bange, es geht schon. Außerdem sind es nur noch ein paar Minuten.«
Die West 2nd Ave endete in einer T-Kreuzung mit einem hellblauen Haus. Mehrere Elchgeweihe hingen an der Fassade. Owen deutete nach links, und sie spazierten weiter. Bald steuerte er ein Haus an, das ebenso grau und unscheinbar aussah wie die anderen daneben. Kein Schild, keine Leuchtreklame deutete darauf hin, dass es ein Geschäft war. Erst als sie die Straße überquerten und näher kamen, erkannte Hazel durch die Fenster Kleiderständer.
»Guten Abend, Margret«, begrüßte Owen die ältere Dame hinter dem Verkaufstresen. Sie hatte die für Hazel asiatisch anmutenden Züge einer arktischen Ureinwohnerin. Ihr halblanges schwarzes Haar war gleichmäßig mit grauen Strähnchen durchzogen. Hazel vermutete, dass sich in diesem kleinen Städtchen wohl alle beim Namen kannten. War es das gewesen, was ihrem Dad hier so gut gefallen hatte? Nach allem, was sie bisher gesehen hatte, konnte es wohl nicht der Charme der Nomer Straßen und Häuser gewesen sein, der ihm ans Herz gewachsen war.
»Owen, wie schön, dich zu sehen!«, flötete die Dame. »Was kann ich für dich tun?«