Schatten über Kreta - Christina Wermescher - E-Book

Schatten über Kreta E-Book

Christina Wermescher

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  • Herausgeber: Midnight
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Eine gefährliche Jagd unter der Sonne Griechenlands Kriminalkommissarin Anne Brandt wollte eigentlich auf Kreta eine Auszeit genießen, nachdem ihr letzter Einsatz ein dramatisches Ende nahm. Doch schon nach ein paar Tagen auf der griechischen Insel bekommt sie mit, dass vermehrt Touristen in dem sonst so friedlichen Urlaubsort überfallen und ausgeraubt werden. Annes Ermittlerinstinkt ist sofort geweckt. Gemeinsam mit ihrer neuen Freundin, der Halbgriechin Melina, nimmt sie die Spur der Verbrecher auf. Doch die wollen sich ihre Geschäfte nicht von einer neugierigen Polizistin aus Deutschland vermiesen lassen, und es dauert nicht lange bis Anne selbst ins Visier der Bande gerät…

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Schatten über Kreta

Die Autorin

Nach ihrem Studium zur Diplom-Kauffrau entdeckte Christina durch ein Auslandspraktikum ihre Liebe zu England, wo sie später auch promovierte. Bevor sie Schriftstellerin wurde, arbeitete sie bei verschiedenen Unternehmen in den Bereichen Einkauf und Qualitätsmanagement. Christina reist nicht nur gerne mittels Geschichten, sondern auch in der Realität und fühlt sich auf der ganzen Welt zu Hause, solange ihr Mann und ihr Sohn dabei sind. Wer mehr über sie erfahren möchte, ist herzlich eingeladen, sie bei Facebook oder Instagram zu besuchen.

Das Buch

Kriminalkommissarin Anne Brandt wollte eigentlich auf Kreta eine Auszeit genießen, nachdem ihr letzter Einsatz ein dramatisches Ende nahm. Doch schon nach ein paar Tagen auf der griechischen Insel bekommt sie mit, dass vermehrt Touristen in dem sonst so friedlichen Urlaubsort überfallen und ausgeraubt werden. Annes Ermittlerinstinkt ist sofort geweckt. Gemeinsam mit ihrer neuen Freundin, der Halbgriechin Melina, nimmt sie die Spur der Verbrecher auf. Doch die wollen sich ihre Geschäfte nicht von einer neugierigen Polizistin aus Deutschland vermiesen lassen, und es dauert nicht lange bis Anne selbst ins Visier der Bande gerät…

Christina Wermescher

Schatten über Kreta

Kriminalroman

Midnight by Ullsteinmidnight.ullstein.de

Originalausgabe bei MidnightMidnight ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinFebruar 2021 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © privatE-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95819-302-4

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 1

Als Anne frisch geduscht in die Nachmittagssonne hinaustrat, waren die Strapazen der Anreise bereits vergessen. Der weitläufige Garten des Hotel-Resorts empfing sie mit einer lauen Brise und Blütenduft. Sie hielt inne und atmete tief ein. Kreta im Frühling war noch schöner, als sie es in Erinnerung gehabt hatte.

Das noch recht neue Hotel bestach dadurch, dass es nicht aus einem großen, klotzigen Gebäudekomplex bestand. Vielmehr ähnelte es mit seinen weiß getünchten Häusern, die in der großzügigen Parkanlage verteilt waren, einem gepflegten griechischen Dorf. Einem Dorf mit riesigem Pool und direktem Zugang zum Strand wohlgemerkt.

Gut gelaunt schlenderte sie durch den Garten. Große blühende Stauden verströmten einen süßlichen Duft, der sie in der Nase kitzelte. Schließlich passierte sie einen ausladenden Feigenbaum, der seine belaubten Äste Schatten spendend über den schmalen Weg streckte. Zu Hause in ihrer Wohnung hatte sie auch einen Feigenbaum, der allerdings neben diesem Exemplar hier eher wirken mochte wie ein zartes Blümchen. Es war die einzige Pflanze, die sie besaß, und selbst wäre sie auch niemals auf die Idee gekommen, sich eine zuzulegen. Ihr Bruder Benni hatte sie ihr zum zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt, um ihr unter die Nase zu reiben, dass sie beziehungsunfähig sei. Großspurig hatte er sie herausgefordert und behauptet, die Tage der armen Pflanze seien nun gezählt, da sie nicht in der Lage sei, sich um irgendein Lebewesen zu kümmern. Das war jetzt fast ein Jahr her, und das Bäumchen lebte noch. Pah! Nun, während ihrer Abwesenheit, hatte sie es in die Obhut ihres Bruders zurückgegeben. Wenn es jetzt starb, hätte das durchaus eine bittersüße, ironische Note.

Sie lächelte in sich hinein, spazierte weiter und gelangte schließlich zum Swimmingpool. Nur etwa die Hälfte der Liegestühle war besetzt. Zwar war es hier Mitte Mai auch schon schön warm und sonnig, aber die Hauptsaison würde erst nächsten Monat beginnen. Kurz überlegte sie, sich einen Drink an der Poolbar zu holen. Doch sie war ja nicht im Urlaub, und wenn sie gleich zum ersten Mal ihren neuen Chef traf, wäre es wohl besser, keinen Cocktail in der Hand zu haben. Zwar würde sie es hier genauso halten wie in Deutschland und sich gewiss nicht verbiegen lassen, doch angesichts ihrer Suspendierung wollte sie den Neustart hier dann doch nicht unnötig verkomplizieren. Der Cocktail würde wohl noch etwas warten können.

Während sie den Pool umrundete, blickte sie sich suchend nach ihrem neuen Chef um. Man hatte ihr an der Rezeption gesagt, dass er sie hier treffen würde. Da winkte ihr schon prompt ein Mann zu. Er kam aus der Richtung, in der der Strand liegen musste, auf sie zugelaufen. Sein königsblaues Poloshirt, auf dem in Weiß das Logo des Hotels prangte, zerstreute auch den letzten Zweifel. Sie ging ihm ein paar Meter entgegen und reichte ihm die Hand, die er energisch schüttelte.

»Hallo, Anne! Mein Name ist Marcel.«

»Hallo.«

Anstatt ein Gespräch zu beginnen, trat er einen Schritt zurück und musterte sie ausgiebig von oben bis unten. Anne legte den Kopf schief und wartete auf eine Erklärung, was sein komisches Gehabe bedeuten sollte. Die blond gefärbte Igelfrisur war nicht ihr Fall. Aber sie musste den Kerl ja zum Glück nicht heiraten.

»Als ich erfahren habe, dass eine deutsche Kommissarin bei mir als Animateurin arbeiten will, dachte ich zuerst, das sei ein Witz.«

Anne unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte befürchtet, dass ihr Lebenslauf ein paar Fragen aufwerfen würde. Doch sie würde den Teufel tun und ihm von ihrer Suspendierung erzählen. Sie rang um ein Lächeln.

»Was verschafft uns denn diese Ehre?«, bohrte er nach, als sie nicht reagierte.

»Ich war, bevor ich zur Polizei ging, schon einmal als Animateurin auf Kreta. Es war eine schöne Zeit, und ich dachte, warum sollte ich das nicht wiederholen? So einfach ist das. Außerdem treibe ich gerne Sport.«

Er nickte nachdenklich.

»Ja, das sieht man. Hast dich gut gehalten.« Was ein Kompliment hätte sein können, klang aus seinem Mund, als sei sie steinalt. Sie ignorierte den Kommentar mit Mühe. Marcels Alter konnte sie schlecht einschätzen. Sein Gesicht schien etwas verquollen, und er hatte Schatten unter den Augen. Vermutlich war er am Abend zuvor feiern gewesen. Trotz seines angeschlagenen Aussehens war klar, dass er wohl gut zehn Jahre jünger war als Anne.

Nachdem er sie noch einmal ausgiebig gemustert hatte, bat er sie, ihm zu folgen. Er führte sie zum nächstgelegenen der weißen Häuser. Über eine schmale Treppe gelangten sie in einen Kellerraum, in dem sich von Hula-Hoop-Reifen über Schwimm-Nudeln bis hin zu Pfeilen und Bögen alles Mögliche fand, was das Animateursherz begehrte.

»Das hier ist unsere Zentrale«, sprach Marcel das Offensichtliche aus und ging zu einem kleinen Schreibtisch, auf dem ein einzelnes Blatt bereitlag.

»Ich habe die Kurse markiert, die du halten wirst. Bei den Abendveranstaltungen erwarte ich die Anwesenheit des ganzen Teams. Wer mal ausnahmsweise nicht kann, muss sich bitte abmelden. Wäre schön, wenn du deine Kurse dann ab übermorgen halten könntest. In dem Ordner dort findest du Anleitungen zu den einzelnen Themen, falls du dir ein paar Anregungen holen möchtest. Keine Bange, die Unterlagen sind auf Deutsch. Das ist nämlich die Sprache, die hier alle können, denn über 90 Prozent unserer Urlauber sind aus Deutschland.«

Er reichte ihr das Blatt. Es enthielt einen Stundenplan für die sieben Wochentage. Das gesamte Animationsprogramm schien darin eingetragen zu sein. Einige Veranstaltungen waren mit gelbem Textmarker angestrichen. Anne überflog die markierten Aktivitäten, für die sie nun verantwortlich sein sollte: Boule-Spiel, Rückenfit, Aqua-Gymnastik für Silver Ager, Zumba für Silver Ager.

»Silver Ager?« Stirnrunzelnd sah sie auf und fixierte ihren neuen Chef. »Das sind ja lauter Rentnerkurse.« Sie bemühte sich erst gar nicht, ihren Unmut zu verschleiern. So hatte sie sich das nicht vorgestellt.

»Natürlich«, gab Marcel zurück und zuckte irritiert mit den Achseln. »Was meinst du denn, wieso wir dich in deinem Alter eingestellt haben?«

Er schien nicht die Absicht zu haben, sie zu beleidigen, und wirkte eher unbedarft. Anne jedoch fühlte sich, als hätte er ihr ins Gesicht geschlagen. Sie schluckte trocken. Ihr Psychologe hatte ihr geraten, in solchen Situationen leise bis zehn zu zählen, bevor sie reagierte. Verbissen starrte sie auf das Blatt Papier in ihren Händen. Kurz kam ihr in den Sinn, dass es für ihr Wohlbefinden wahrscheinlich mehr brachte, Marcel zu verprügeln, anstatt im Stillen zu zählen.

»Ich dachte einfach, die älteren Herrschaften würden sich von dir leichter motivieren lassen als von einer Zwanzigjährigen. Mit dir können sie sich vielleicht besser identifizieren.« Er hatte einen versöhnlichen Tonfall angeschlagen, was die Situation jedoch nicht besser machte. Konnte er nicht einfach die Klappe halten? Marcel zu verprügeln erschien ihr mit jedem seiner Worte attraktiver – und wahrscheinlicher. Hilflos schnappte sie nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

»Außerdem ist das ja nur der Anfang. Wir haben im Moment noch nicht so viele Gäste, in der Hauptsaison dann sieht das anders aus. Dann halten wir ungefähr doppelt so viele Kurse ab.« Er schien ehrlich bemüht, die Wogen ihres Unmuts wieder zu glätten. »Und wenn du Ideen für zusätzliche Themen hast, die du gerne anbieten möchtest, bin ich dafür völlig offen.« Er lächelte sie aufmunternd an. Anne hielt sich an dem Stundenplan fest, als wäre er ihr Anker in stürmischer See. Und wirklich hatte sie das Gefühl, ihre Hand würde sich augenblicklich zur Faust formen und in Marcels Gesicht streben, wenn sie das Papier losließe.

Nach einigen unangenehmen Sekunden des Schweigens nickte sie kurz, ohne ihn anzusehen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ fluchtartig den Kellerraum, der ihr plötzlich nicht mehr interessant und farbenfroh, sondern muffig und eng vorkam. Ihre wütenden Schritte führten sie geradewegs zur Poolbar. Den Cocktail hatte sie sich nach diesem Gespräch nun wirklich verdient.

Kapitel 2

Skeptisch musterte Anne ihr Spiegelbild. Natürlich sah sie nicht mehr aus wie zwanzig, doch sie war durchaus zufrieden mit dem, was sie sah. Ihr Körper war drahtig und durchtrainiert, ohne maskulin zu wirken. Das obligatorische blaue Shirt, das hier alle in der Animation trugen, harmonierte gut mit ihren blonden Haaren, die sie sich zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Zwar hatte sich bereits die eine oder andere graue Strähne eingeschlichen, doch bei ihrem hellen Haar musste man schon sehr genau hinschauen, um den Unterschied zu erkennen. So nah würde sie heute wohl niemandem kommen. Weiße Shorts rundeten das sportliche Erscheinungsbild ab. Kämpferisch klatschte sie in die Hände und wandte sich vom Spiegel ab, um in ihre Turnschuhe zu schlüpfen.

Nach dem zweiten Cocktail hatte sie am Vorabend beschlossen, dass Angriff die beste Verteidigung war. Sie würde Marcel schon zeigen, dass sie noch längst nicht zu seinen Silver Agern gehörte. Und hatte er nicht selbst gesagt, sie könne gerne weitere Aktivitäten anbieten, solange sie das vorgegebene Grundprogramm absolvierte? Gesagt – getan!

Im Fitnessstudio ihres Bruders hatte sie zwei Kurse gegeben. Damit sie nicht unnötig Zeit mit Vorbereitungen verschwendete, würde sie mit genau diesen beiden Kursen anfangen und sie den Gästen zusätzlich anbieten: Selbstverteidigung und Body Drill – beides hip, beides herausfordernd und beides nicht fürs Silver-Ager-Programm.

Die alten Stundenpläne an den Infotafeln hatte sie bereits aktualisiert. Und im Animations-Rumpelkeller war sie auf eine Tafel gestoßen, die sie mit der Ankündigung »Heute 10 Uhr Body Drill – Treffpunkt hier« unübersehbar neben der Poolbar platziert hatte.

Voller Energie machte Anne sich kurz vor zehn auf den Weg und drehte eine Runde durch den Hotelgarten. Als sie den Feigenbaum passierte, musste sie wieder an ihren Bruder und ihre vermeintliche Beziehungsunfähigkeit denken. Der Baum schien die einzige Pflanze in Sichtweite zu sein, die nicht in voller Blüte stand. Doch das täuschte. Anne hatte sich ein bisschen informiert. Schließlich wollte sie Benni nicht den Gefallen tun und ihr Bäumchen aus Unwissenheit falsch behandeln und töten.

Der chinesische Name der Feige hieß übersetzt sogar so etwas wie »Frucht ohne Blüte«. Dabei bildeten sie durchaus Blüten, die jedoch nach außen hin nicht ohne Weiteres als solche erkennbar waren. Sie saßen in den kugeligen Trieben, die später zu den Feigenfrüchten heranwuchsen. Anne hatte ihrem Bruder dieses unnütze Wissen nur zu gerne an den Kopf geworfen, als dieser den Mangel an Blüten gleich als erstes Zeichen eines qualvollen Feigenbaumsterbens interpretiert hatte.

Als Anne den Pool erreichte, sah sie sich suchend um. Doch keine Menschenseele stand an der Tafel. Einige Gäste hatten sich jedoch bereits am Pool niedergelassen, die würde sie mit Vergnügen wieder aufscheuchen. Sie alle sahen aus, als könnten sie ein bisschen Sport gut vertragen. Energisch blies Anne in ihre Trillerpfeife, bis sie die Aufmerksamkeit aller Gäste hatte. Zumindest schauten sämtliche Augenpaare in einer Mischung aus Angst und Überraschung zu ihr. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck aus dem Fitnessstudio. Manche Menschen musste man antreiben wie störrisches Vieh. Doch nachdem sie ihren inneren Schweinehund überwunden hatten, würden sie sich großartig fühlen.

»Boooodyyyy Driiiillll!!!«, brüllte sie quer über die Liegewiese und ließ erneut ihre Trillerpfeife aufkreischen. »Alle knackigen Ärsche und solche, die es werden wollen, folgen mir!« Keiner bewegte sich. Der Anblick hatte etwas von verschüchterten Kaninchen, die im Angesicht der Speikobra in Angststarre verfallen waren. »Hopp, hopp, hopp!«, schrie Anne und ging auf den nächstbesten Liegestuhl zu. »Los, der Herr, das Mittagsbüfett will sich heute verdient werden!«

Der angesprochene Mann starrte sie an, dann folgte er ihrem Blick zu seinem stattlichen Bauch. Ein resignierter Seufzer schlich über seine halb geöffneten Lippen, und da wusste Anne, dass sie ihren ersten Teilnehmer gefunden hatte. Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er etwas zögerlich ergriff, und zerrte ihn mit einem Ruck auf die Beine.

Gemeinsam gingen sie zum nächsten Liegestuhl. Die ältere Dame, die dort saß, hob ihre Illustrierte etwas an, als wolle sie sich dahinter verstecken – netter Versuch. Anne stellte sich vor sie und blies in ihre Trillerpfeife, bis auch sie aufstand und ihr folgte. Dabei lachte sie, was Anne beruhigte.

Ein paar Gäste flohen von der Liegewiese, bevor Anne sie einsammeln konnte, doch trotzdem hatte sie durch ihren Rundgang ein gutes Grüppchen zusammenbekommen. Sie klopften sich gegenseitig aufmunternd auf die Schultern. Der unerwartete Stress schweißte sie anscheinend zusammen.

»So, es kann losgehen!«, rief Anne und klatschte in die Hände. »Ihr folgt mir und macht bitte einfach alles nach!« Die meisten Teilnehmer murmelten zustimmend, einer kratzte sich ratlos am Kopf, und eine rothaarige Frau schien sich etwas unwohl nach einem Fluchtweg umzusehen. Nun gut, ein bisschen Schwund gab es immer.

Anne blies die Trillerpfeife und joggte los. Auf dem Pflaster hörte sie das Tappen ihrer Teilnehmer hinter sich. Da sie alle barfuß oder in Badelatschen waren, konnte sie sie nicht lange laufen lassen. So steuerte sie auf direktem Wege eine kurz getrimmte Grünfläche an. Als sie sich umdrehte, stellte sie erfreut fest, dass keiner sich hinter ihrem Rücken heimlich aus dem Staub gemacht hatte. Sogar die Rothaarige mit dem skeptischen Blick war noch da.

Glücklich begann Anne mit Kniebeugen, während die Urlauber sich auf der Rasenfläche verteilten und nach und nach mitmachten. Es folgten ein paar Hampelmannsprünge, die die Herrschaften bereits erstaunlich zum Keuchen brachten.

»Keine Müdigkeit vortäuschen!«, rief sie und ließ die Pfeife unerbittlich trillern. Dann warf sie sich in den Liegestütz. Nach zwanzig Wiederholungen sprang sie wieder auf und stellte fest, dass die Gesichtsfarbe der meisten Teilnehmer sich rötlich verfärbt hatte. Zwei blieben liegen. Erst mehrmaliges Ermahnen mit der Trillerpfeife half ihnen auf. Zwar hatte sie in ihrem Enthusiasmus vergessen, für Gewichte zu sorgen, doch die Urlauber waren mit dem Russian Twist auch so völlig ausgelastet. Ein paar Sit-ups noch und einen Seitstütz, dann setzte Anne an, die Abfolge der Übungen zu wiederholen. Trotz geröteter, leidender Mienen hielten ihre Teilnehmer sich wacker. Eine weitere Wiederholung verkniff sie sich, da sie sie augenscheinlich bereits weit über ihre Grenzen hinausgebracht hatte.

»Das habt ihr toll gemacht, ihr habt es geschafft!«, rief sie. Die leidenden Mienen verwandelten sich in Lächeln. Und sie schienen so stolz auf sich zu sein. Anne konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Selbst die beiden, bei denen sie ernsthafte Bedenken hatte, ob sie es allein wieder zu ihrem Liegestuhl zurückschaffen würden, sahen glücklich aus. Sie klatschte sie alle ab und lobte sie noch ein bisschen. Das Zurückjoggen zum Pool war eher ein erschöpftes Gehumpel, zwei Urlauber hielten sich sogar aneinander fest, doch Anne war zufrieden – mit ihren Teilnehmern und vor allem mit sich selbst.

Sie klappte die Tafel ein und trug sie die Stufen in die Zentrale im Keller hinunter. Marcel saß dort am Schreibtisch, doch schien er nicht zu arbeiten, denn er war der Tür zugewandt. Vielmehr schien es so, als hätte er auf sie gewartet. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und sein Blick war eisig. Ein unwohles Gefühl krabbelte Anne den Rücken hinauf, doch sie gab sich unbedarft. Sie begrüßte ihn freundlich, wischte die Tafel ab und verstaute sie da, wo sie sie am Morgen gefunden hatte. Dabei spürte sie unangenehm, dass Marcel sie nicht aus den Augen ließ. Es war nur zu offensichtlich, dass er sauer war. Wahrscheinlich fand er ihre neuen Kurse nicht so toll wie sie selbst. Hatte sie es etwa schon an ihrem ersten Arbeitstag geschafft, zu weit zu gehen?

»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Was sollte das?!«, schnauzte er sie an.

»Wieso bist du so aufgebracht? Du sagtest doch, ich dürfte mir zusätzliche Angebote überlegen.« Sie biss sich auf die Lippe, da sie merkte, dass ihre Antwort trotziger geraten war, als sie es beabsichtigt hatte.

»Ja, du kannst dir überlegen, was du willst! Aber du musst das mit mir absprechen. Ich dachte, in deinem Alter würde man wissen, wie man sich gegenüber seinem Chef benimmt!«

Nun war es an ihr, die Arme vor der Brust zu verschränken.

»Bringst du schon wieder mein Alter aufs Tablett? Hast du nen Sprung in der Schallplatte, oder was?«

Marcels linkes Auge zuckte gefährlich. »Pass auf, wie du mit mir sprichst!«, knurrte er. »Außerdem geht es hier gerade gar nicht um dein Alter, sondern darum, wie du dich aufführst. Ich habe dein Schreien und Pfeifen bis hierher gehört – wir sind doch kein verdammtes Bootcamp!«

»Der Name ›Body Drill‹ klingt auch nicht nach Kuscheleinheit. Man sollte liefern, was das Etikett verspricht. Marketinganfängerwissen.« Sie musste dringend einen Gang zurückschalten. Doch dieser Kerl brachte sie so in Rage, dass es ihr gerade unmöglich war. An der Art, wie er die Augen zusammenkniff, erkannte sie, dass sie zu weit gegangen war. Sie würde wohl ihren Koffer, den sie gestern erst ausgeräumt hatte, gleich wieder packen dürfen.

»Ich denke, es ist besser, du gehst wieder dahin, wo du hergekommen bist. Anscheinend bist du ja nicht in der Lage, friedlich zusammenzuarbeiten.« Etwas schwang in seiner Stimme mit. Anne wusste nicht genau, was es war. Wollte er eine Entschuldigung? Dass sie Besserung gelobte und ihn anbettelte, bleiben zu dürfen?

Ein Klopfen lenkte ihre Aufmerksamkeit von ihm ab. Sie wandte sich um, der Hoteldirektor stand plötzlich im Türrahmen. Oh je, nun folgte wohl noch eine Standpauke von ganz oben. Doch wider Erwarten grinste er Marcel und Anne abwechselnd an. Er ging schnellen Schrittes auf Anne zu und streckte ihr die Hand entgegen.

»Herzlichen Glückwunsch, liebe Frau Brandt!«, trötete er, und Anne ließ sich verdutzt durchschütteln. »Unsere Gäste sind ja ganz begeistert von Ihnen!«

Wollte er sie verarschen?

»Gerade ist mir ein Grüppchen in der Lobby begegnet und hat Sie in höchsten Tönen gelobt!«

»Ach.«

»Ja, erfrischend anders sei Ihr Kurs gewesen, erzählten sie, und wie gut sie sich nun fühlten. Sie lassen fragen, ob Sie diese Sporteinheit nicht jeden zweiten Tag anbieten könnten. Hach, ich hatte gleich ein gutes Gefühl bei Ihnen.« Er strahlte sie an, und Anne fiel kein einziges Wort ein, das sie hätte erwidern können, so verdutzt war sie. Das schien den Direktor jedoch nicht zu stören. Immer noch lächelnd wandte er sich an Marcel und schüttelte auch ihm die Hand.

»Danke, dass Sie das neue Angebot mit Frau Brandt so schnell umgesetzt haben. Super gemacht!« Marcel nickte irritiert. Als er Anne einen hilflosen Blick über die Schulter des Direktors zuwarf, hätte sie beinahe laut losgelacht. Grinsend ging sie zu den beiden Männern und klopfte ihrem Chef kumpelhaft auf den Rücken.

»Ja, wir sind schon ein tolles Team, nicht wahr, Marcel?«

Kapitel 3

Beinahe wäre ihr trotziger Vorstoß ins Auge gegangen, doch im Nachhinein betrachtet, hatte sie alles richtig gemacht – wer hätte das gedacht! Beschwingt lief Anne zu ihrem Zimmer, um sich frisch zu machen, ehe sie zum Mittagessen ging.

Als sie den großen Speisesaal betrat, winkte ihr eine junge Frau zu, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Verdutzt schaute Anne kurz hinter sich, ob sie überhaupt gemeint war. Dann bemerkte sie die Häufung königsblauer Shirts an ihrem Tisch. Anscheinend saßen dort ihre Kollegen zusammen. Sie ging hinüber, stellte sich vor und wurde von allen herzlich begrüßt. Die Namen der Kollegen hatte Anne bereits vergessen, als sie mit dem Händeschütteln durch war. Das war schon immer ihre Schwäche gewesen. Ein Gesicht vergaß sie so schnell nicht wieder, doch Namen konnte sie sich einfach nicht merken.

Die junge Frau, die gewunken hatte, stellte sich als Melina vor. Zumindest ihren Namen würde Anne versuchen zu behalten, denn sie unterhielten sich das ganze Essen über angeregt miteinander. Melina war Halbgriechin und in Deutschland aufgewachsen. Seit Kurzem arbeitete sie nun hier in der Heimat ihres Vaters als Animateurin. Ihre schwarzen Locken hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebändigt. Einzelne dünne Strähnen hatten sich daraus befreit und tanzten um ihr Gesicht, während sie sprach.

»Deine erste Kursstunde heute hat sich ja interessant angehört«, meinte sie schließlich grinsend. »Marcels Gesicht war in etwa so rot wie das deiner Teilnehmer, aber wohl aus anderen Gründen.« Plötzlich spürte Anne die Blicke aller Kollegen auf sich. Etwas unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl herum und war unschlüssig, ob sie ihren Chef in die Pfanne hauen oder den neuen Frieden wahren sollte.

»Ja, ich glaube, er war etwas nervös, wie das neue Konzept ankommen würde«, gab sie sich diplomatisch.

Melina lachte laut los, und auch die Augen des gut aussehenden Typs schräg gegenüber blitzten belustigt auf. Anne konzentrierte sich auf ihren Meeresfrüchtesalat, bis die brenzlige Situation sich verflüchtigt hatte.

Als sie sich nach dem Essen verabschieden wollte, hielt Melina sie am Arm zurück.

»Nicht so eilig. Hast du heute Nachmittag schon was vor?«

Verdutzt schüttelte Anne den Kopf.

»Ein paar von uns wollen nach Agios Nikolaos fahren und dort ein bisschen bummeln. Hast du Lust, mitzukommen? Wir hätten noch einen Platz im Auto frei.«

Im Grunde reichte Anne die Dosis an Gesellschaft, die sie hier unerwarteterweise zum Essen gehabt hatte, für den ganzen Tag. Andererseits war Melina wirklich nett, und wenn sie an Marcels Worte dachte, konnte sie wohl froh sein, dass sie sie als Animateursoma überhaupt dabeihaben wollten. Sie war tatsächlich mit Abstand die Älteste hier am Tisch. Außerdem würde es nicht leicht werden, Anschluss zu finden, wenn sie es sich mit ihren Kollegen gleich zu Beginn verdarb. Anne bemerkte, dass sie schon viel zu lange überlegte, und nickte hastig.

»Klar, gerne!«

»Super! Dann treffen wir uns um eins in der Lobby.« Melina schien sich ehrlich zu freuen. Hatte die Kleine irgendwie einen Narren an ihr gefressen? Vielleicht hatte sie ja einen Mutterkomplex.

Zurück in ihrem Zimmer, schlüpfte Anne in ein luftiges Kleid und warf sich auf ihr Bett. Dann tippte sie Nachrichten an ihre Eltern und ihren Bruder ins Handy. Die ganze Familie war von ihrer Idee, als Animateurin nach Kreta zu gehen, sehr überrascht gewesen. Sie waren zwar nicht wagemutig genug gewesen, ihr zu sagen, dass sie das in ihrem Alter für unangemessen hielten, doch die verdutzten Reaktionen hatten Bände gesprochen. Andererseits waren sie froh gewesen, Anne aus der Schusslinie zu wissen.

Nun gut, dass die ganze Situation etwas ungewöhnlich war, wusste sie selbst auch. Doch mit der räumlichen Distanz war es ihr gelungen, auch emotional etwas Abstand zu ihrer Suspendierung zu bekommen und zu dem ganzen Schlamassel, der ihr diese Suspendierung überhaupt erst eingebracht hatte. Allein dafür hatte sich die Reise schon gelohnt.

Einige Minuten zu früh spazierte Anne in Richtung Lobby. Die Zimmer der Angestellten waren in einem schlichten Seitentrakt untergebracht. Die Fenster gingen hinaus zur Straße statt zur blühenden Idylle des Hotelgartens. Aber ansonsten war Anne mit der Unterbringung zufrieden. Sie hatte ein Bett, Schrank, Schreibtisch, einen Fernseher und ein eigenes kleines Bad. Mehr brauchte sie nicht.

Die Lobby war in strahlendem Weiß und Blautönen gehalten. Sonnenlicht flutete durch ein großes kreisrundes Fenster in der Decke, und ein plätschernder Springbrunnen verbreitete mediterranes Flair. Anne ließ sich in einen der Lounge-Sessel sinken. Von den Kollegen war noch keine Spur zu entdecken. Da zog ein Pärchen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie waren teuer gekleidet, und an den Ohren der Frau funkelte es sternengleich. Was Anne jedoch am beachtlichsten fand, waren die Golftaschen, die sie zur Rezeption trugen.

Anne hatte sich im Winter ein bisschen mit der Thematik beschäftigt, da ihr Vater auf die Idee gekommen war, einen Platzreifekurs zu machen. Benni und sie hatten die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihm eine Golftasche zu Weihnachten geschenkt. Ein solches Exemplar wie die riesige Tourbag, die der braun gebrannte Mann dort gerade an der Rezeption abstellte, hatten sie sich jedoch nicht leisten können. Seine grasgrüne Limited Edition von Callaway musste mindestens 600 Euro gekostet haben – und das ohne einen einzigen Schläger. Anne würde wetten, dass die beiden eine der Luxussuiten bewohnten.

Sie wechselten einige Worte mit der Rezeptionistin. Anne saß zu weit weg, um etwas zu verstehen, doch dass die beiden wohl zu einem Golfplatz fahren wollten, war auch ohne Worte zu erkennen. Die Rezeptionistin holte eine Karte hervor, vermutlich erklärte sie ihnen den Weg.

Anne streckte sich in ihrem Sessel aus und ließ den Blick durch die Lobby streifen. Die Kollegen waren bereits drei Minuten zu spät und noch immer nicht in Sicht. Sie seufzte. Anne würde ihre deutsche Pünktlichkeit ablegen müssen, wenn sie sich nicht unnötig stressen lassen wollte.

Das Golfer-Pärchen ging gerade zum Haupteingang hinaus. Anne sah ihnen gedankenversunken nach und dachte an ihr Versprechen, ihren Vater auf den Golfplatz zu begleiten, das sie mit ihrer Abreise nach Kreta gebrochen hatte.

Im Augenwinkel tauchte eine weitere Person auf. Doch es war wieder nicht Melina oder einer ihrer Kollegen. Ein Mann schlenderte durch die Lobby, als würde er hier wohnen, doch irgendwie passte er nicht in dieses noble Hotel. Das Hemd hing ihm auf einer Seite nachlässig aus der Hose, seine welligen, dunklen Haare hatten einen Schnitt nötig und wirkten ungepflegt. Vielleicht arbeitete er hier?

Kurz bevor er die Rezeption erreichte, kam plötzlich Bewegung in die Dame, die gerade noch das Golfer-Pärchen betreut hatte. Sie legte etwas Kleines an den vorderen Rand der Theke, wandte sich dann ab und schaute gebannt in den Bildschirm ihres Computers. Ohne sie anzusehen, griff sich der Mann den kleinen Gegenstand im Vorbeigehen und steckte ihn in die Brusttasche seines Hemdes. Was sollte das denn?

Alarmiert setzte Anne sich auf. Angestrengt überlegte sie, was die Rezeptionistin dem Mann gegeben haben könnte. Ein Briefchen? Nein, wie ein geheimes Liebespärchen hatten die beiden nun wirklich nicht gewirkt. Einen zusammengefalteten Geldschein? War der Typ vielleicht ein Drogendealer?

Anne beobachtete die Frau hinter der Theke. Sie schien sich absichtlich unbedarft zu geben. Kurz überlegte Anne, ob hier womöglich gerade kriminalistische Fantasien mit ihr durchgingen. Doch da hob die Frau den Blick und sah dem Mann nach, wie er durch die große Eingangstür verschwand. Sie wirkte angespannt.

»Hi, kann̕s losgehen?« Melinas grinsendes Gesicht schob sich in Annes Blickfeld. »Auf nach Agios Nikolaos!«

Kapitel 4

Eine Stunde später spazierten sie an der Promenade des Voulismeni-Sees entlang. Vor über 150 Jahren hatten türkische Besatzer den See durch einen etwa zwanzig Meter langen Kanal mit dem Meer verbunden. Nun schwankten Fischerbote beschaulich zu Annes Rechten, während auf der anderen Seite Souvenirläden, Tavernen und Cafés um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Idylle und Kommerz verbanden sich hier zu einer interessanten Mischung.

Anne war froh, dass sie sich einen Ruck gegeben hatte und mitgekommen war. Melina war sehr nett, auch wenn sie zu viel plapperte. In ihrer Leichtigkeit erinnerte sie Anne wehmütig an ihr jüngeres Selbst. Ob sie ein bisschen von dieser Leichtigkeit hier auf Kreta wiederfinden würde? Sie hoffte es.

Auch die beiden Männer entpuppten sich als angenehme Zeitgenossen. Adrian musste wohl ungefähr in Melinas Alter oder unwesentlich älter sein. Im Vergleich zu ihr wirkte er geradezu lautlos. Doch er war nicht etwa schüchtern, sondern er redete einfach nur dann, wenn er etwas zu sagen hatte. Anne fand, dass dies eine wunderbare und viel zu seltene Eigenschaft war.

Der Vierte im Bunde war Toni. Er war im Hotel für die Tenniskurse zuständig. Beim Mittagessen hatte er Anne schräg gegenübergesessen und war ihr dort schon aufgefallen, denn er sah verdammt gut aus. Und so, wie er sich gab, wusste er das auch ganz genau. Das dunkelbraune, kinnlange Haar trug er zurückgegelt, und eine Sonnenbrille saß ihm oben auf dem Kopf. Seine dunklen Augen schienen darauf spezialisiert zu sein, Frauenblicke einzufangen. Er flirtete so sympathisch und selbstverständlich, als sei es einfach seine Natur, das Leben leichtzunehmen und zu genießen. Zum Glück war er ein ganzes Stück jünger als Anne, denn er war die Sorte Mann, die ihr gefährlich werden konnte. Wie emanzipiert sie auch war, dieser Charme, der eine Frau sich fühlen ließ, als sei sie eine Königin, hatte sie schon so manches Mal unvernünftig sein lassen. Denn im Grunde wusste sie doch ganz genau, dass es in solchen Fällen sehr wahrscheinlich war, dass schon am nächsten Tag eine andere Frau zur Königin gekrönt wurde. Aber sie stand eben auf solche Typen, was wohl auch einer der Gründe dafür war, dass sie mit zweiundvierzig Jahren immer noch Single war, aber sicher nicht der einzige. Vielleicht hatte ihr Bruder in manchen Dingen gar nicht so unrecht.

»Was ist denn das für eine kleine weiße Kapelle da vorne?« Anne zeigte mit dem Finger an den sachte schaukelnden Fischerbötchen vorbei.

»Das ist irgendwie eine Mischung aus Kirche und Miniseefahrtsmuseum oder so. Echt creepy da drinnen!« Melina schüttelte sich, als würde sie sich gruseln, und versumpfte dann in der Auslage eines Souvenirladens. Sie verlangsamten ihren Schritt, um sie nicht abzuhängen. Anne ließ den Blick über den See schweifen. Ihre Gedanken glitten zurück zu ihrer seltsamen Beobachtung in der Lobby, auf die sie sich noch immer keinen Reim machen konnte. Toni trat neben sie, während Adrian Melina in das Geschäft folgte.

»Worüber denkst du denn so angestrengt nach?«, fragte er sie und folgte ihrem Blick über den See.

Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. »Sag mal, gibt es auf Kreta eigentlich viele Drogen?«

Toni runzelte überrascht die Stirn. »So hätte ich dich jetzt gar nicht eingeschätzt. Was willst du denn? Reicht ein bisschen Gras, oder suchst du was Stärkeres?«

Irritiert löste Anne den Blick vom See und schaute Toni an. »Quatsch, doch nicht für mich!«

Toni grinste breit. »Ja, klar, du fragst für eine Freundin, ich verstehe.«

Unwirsch schüttelte Anne den Kopf. Mann, hätte sie bloß die Klappe gehalten. Aber wie kam sie nun aus dieser Zwickmühle wieder heraus? Sie konnte ihm ja schlecht erzählen, dass sie etwas im Grunde völlig Harmloses beobachtet hatte, was ihr aber nicht mehr aus dem Kopf ging und die Ermittlerin in ihr anstachelte. Sie hatte sich immer auf ihr Bauchgefühl verlassen können, doch sie wusste auch, dass sie in fremden Ohren klingen würde wie eine Irre.

Zum Glück tauchten Melina und Adrian in diesem Moment wieder auf. Melina war gerade dabei, sich ein neues Armband aus Leder und kleinen Muscheln anzulegen. Anne nutzte die willkommene Ablenkung und half ihr dabei. Dann hakte sie sich kurzerhand bei ihr ein und zog sie weiter die Promenade entlang. Im Augenwinkel meinte sie, Toni grinsen zu sehen.

Bis sie bei der ›creepy‹ Kapelle angekommen waren, hatte Melina ihr sämtliche Mythen erzählt, die sich um den Voulismeni-See rankten. Schon die Göttin Athene soll einst darin gebadet haben, und er sei so tief, dass der Meeresforscher Jacques Cousteau bei einem Tauchversuch den Grund des Sees nie erreicht habe. Außerdem wurde wohl erzählt, deutsche Soldaten hätten gegen Ende des Zweiten Weltkrieges Kanonen und sogar Panzer hier versenkt, die man jedoch nie wiedergefunden hatte.