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Nach dem Selbstmord einer Mitschülerin wird Normas zerrütteter Klasse eine Schulfahrt zur psychologischen Aufarbeitung nach Helgoland aufgebrummt. Mit Empathietraining und Teambuilding. Ex-Journalistin Vivian, die ebenfalls auf der Überfahrt zur Insel ist, möchte sich dort mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Doch die Fähre gerät in einen Sturm, der die Gruppe auf der Nachbarinsel Hoogenhörn stranden lässt. Hier gibt es Alpakas statt Schafe und merkwürdige Wetterphänomene. Schnell wird jeder Tag für die Neuankömmlinge zur nervlichen Zerreißprobe: Intrigen werden gesponnen, Menschen verschwinden und Vivian entdeckt ein düsteres Familiengeheimnis, als sich plötzlich unheilvolle Tentakel über den Strand schieben. Ist das alles real? Was geschieht hier – und warum?! Ein Schicksalsagent aus einer anderen Dimension könnte das Schlimmste verhindern – aber dafür benötigt er das Vertrauen von Norma. Horror, Fantasy, Jugenddrama – Cathryn C. Holister gelingt die perfekte Mischung.
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Seitenzahl: 398
periplaneta
Cathryn C. Holister wuchs nahe dem mystischen Teutoburger Wald auf, wo sie seit ihrer Kindheit skurrile Kurzgeschichten und auch erste Romanversuche verfasste.
Nach ihrem Kunstgeschichtsstudium in Hamburg und einer raschen Universitätskarriere widmete sie sich vorrangig dem Schreiben satirischer Geschichten um zwei chaotische Dämoninnen, die im gehobenen Management der Hölle arbeiten. Sie veröffentlichte diese in Form von drei Kurzgeschichtenbänden, den »Demon’s Diaries« sowie den Romanen »Inferno für Anfänger« und »Inferno, Chaos und Komplotte«.
Wie es sich für verrückte Wissenschaftler gehört, experimentiert sie gerne, u.a. mit Augmented Reality-Inhalten, Spezialeffekt-Lesungen und Erlebnishörbüchern. Ihre verrückten Ideen wurden u.a. mit der Auszeichnung zur „Autorin des Jahres 2023“ von Radioplanet Berlin belohnt.
inferno-books.com
C. C. Holister
Die Farbe
der Knochen
von Alpakas
am Strand
Roman
periplaneta
CATHRYN C. HOLISTER: „Die Farbe der Knochen von Alpakas am Strand“ 1. Auflage, Mai 2024, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege
© 2024 Periplaneta - Verlag und Medien Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig und in diesem Falle auch ziemlich problematisch - nicht nur für Helgoland.
Lektorat: Marion A. Müller Cover, Grafiken & interaktive Inhalte: Cathryn C. Holister Satz & Layout: Thomas Manegold
Buch ISBN: 978-3-95996-278-0eBook ISBN: 978-3-95996-279-7
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Ich sollte nicht hier sein. Norma starrte auf das Wasser. Eigentlich mochte sie das Meer mit seinem tiefen Blau, seiner Ruhe und dem Erhaben-Majestätischen, das es ausstrahlte. Gewöhnlich ausstrahlte – wohlgemerkt, denn die grau-braunen Fluten auf der anderen Seite der Scheibe trafen diese Vorstellung nicht mal annähernd. Vielmehr wirkten sie ebenso deprimierend wie der Gedanke, die ganze Woche mit ihrer kaputten Klasse auf einer winzigen Insel zu verbringen.
Mit einem Seufzer sank sie in ihren Sitz. Ihr Blick wanderte von den beiden leeren Plätzen neben sich zum großzügigen Innenraum der Fähre. Verdammt, wo bleibt Julia mit den Snacks? Sie fixierte den Durchgang zum Bistro, doch von der matronenhaften Gestalt ihrer Klassenkameradin war nichts zu sehen. Lediglich die zierliche Miko klammerte sich dort mit ungesund grünlicher Gesichtsfarbe an das längs der Wand verlaufende Geländer. Ihre freie Hand hielt dabei eine weiße Sofortbildkamera so fest umschlossen, als sei diese ein just geborgener Schatz.
»Ich glaube, der Boheme ist schlecht!«, tönte es aus der Sitzgruppe gegenüber. Alex, die »Boheme« vermutlich hätte nachschlagen müssen, hätte sie es nicht kürzlich bei Janet aufgeschnappt, schlürfte den letzten Schluck Cola geräuschvoll aus ihrem XXL-Pappbecher. Dieser wirkte auf dem kleinen, runden Tisch neben ihrer tragbaren Spielekonsole genauso überdimensioniert wie die massige Erscheinung von Alex dahinter.
Die restliche Tischgesellschaft reagierte nicht auf den Lästerimpuls. Viel zu sehr waren Janet und Bella mit dem Anhimmeln von »Model-Michael« beschäftigt, der gerade vom Kiosk zurückkehrte. Während Alex allein über ihren Spruch kicherte, betrachteten die beiden ihren herannahenden Mitschüler wie ein Kunstwerk im Museum.
Der untersetzte David, der in seinem ausgeblichenem World of Warcraft-T-Shirt hinter Michael herdackelte, entsprach aus Sicht der Mädels wohl eher einer Flohmarkterrungenschaft. Er wurde von der Gruppe ignoriert, was ihn sichtlich nervös machte. Verlegen umklammerte er eine Gamingzeitschrift mit beiden Händen und schien zu überlegen, ob er bleiben oder einen Rückzieher wagen sollte.
Michael glitt auf den freien Sitz neben Bella und blickte erwartungsvoll zu David hinüber, woraufhin dieser sich kurzentschlossen zu Janet und Alex auf die Bank quetschte.
»Mach dich mal nicht so breit, du Noob!«, raunzte ausgerechnet die korpulente Alex ihn an. Auf der Stelle rückte David so weit zur Seite, dass eine seiner Pobacken über die Kante ragte.
Falsche Entscheidung, Dave, dachte Norma, die es einmal mehr bereute, diese Fahrt kurzfristig angetreten zu haben. Umso wehmütiger trauerte sie der verpassten Alternative hinterher, in den kommenden Tagen stattdessen die Parallelklasse zu besuchen.
»Filterkaffee und eine große Pommes!«, erklangen Julias erlösende Worte von der Seite. Mit einem breiten Grinsen platzierte sie Normas Bestellung in der Tischmitte.
Sara, die sich zu ihr gesellt hatte, fügte zwei Limos, eine Tüte Gummikram und diverse Schokoriegel hinzu. »Hier, greift zu! Miko möchte gerade nichts davon.«
»Kann ich mir denken.« Norma schnappte sich den Kaffee, froh, sich endlich mit etwas Sinnvollem beschäftigen zu können, während sich Julia und Sara über den Süßkram hermachten. Julia hatte kaum einen Schokoriegel ausgepackt, als ein Spruch vom Tisch gegenüber kam: »He, Sara, pass auf, dass sie dich nicht frisst – du siehst so schön nach Schoki aus!«
Sara stöhnte auf und drehte sich von der Gruppe um Janet so weit weg wie möglich.
»Halt die Fresse, Rich Kid!«, flüsterte Julia und biss von ihrem Riegel ab. »Scheiß Rassistin.«
Warum sagst du es nicht laut?, durchstreifte der Gedanke für eine Sekunde Normas Kopf und verschwand angesichts des Selbsteingeständnisses, dass sie den drohenden Konflikt genauso wenig eingegangen wäre.
Nach einem kurzen, betretenen Schweigen, das die drei dafür nutzten, Janets Bemerkung zu verdrängen, stieß Julia sie von der Seite an. »Hey, No, wo ist denn dein Brüderchen? Hätte dir ja ruhig etwas Gesellschaft leisten können.« In ihrer Stimme lag eine gewisse Sehnsucht, die ihrer Schwärmerei für Normas älteren Bruder geschuldet war. Seit Nick ein Jahr zuvor in ihre Klasse gekommen war, um die Stufe zu wiederholen, klebten Julias Blicke an ihm wie Ameisen an einem Honigtopf.
»Keine Ahnung, wo der sich rumtreibt.« Norma nippte an ihrem Becher. »Ich glaube, er meidet mich seit heute Morgen. War anscheinend nicht begeistert, dass ich nun doch mitgefahren bin.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine olle Ex ihm lieber gewesen wäre!«
»Boah, Julia!« Sara blickte sie empört an. »Kassandra wäre fast gestorben und ist wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens entstellt.«
»Macht sie das etwa zu einem besseren Menschen?«
Du begreifst auch nicht, dass er mit so ziemlich allen Mädels wild rumflirtet außer mit dir. Normas Blick streifte durch den Raum und blieb an Teresa hängen, die sich einen Platz am anderen Ende des Aufenthaltsbereichs gesucht hatte. Ähnlich wie Norma war sie der Prototyp einer Einzelgängerin, mit dem Unterschied, dass Teresa Ärger und Stress förmlich anzog. Sie sah auf und ihre blassgrünen Augen streiften Normas burschikose, schwarz gekleidete Gestalt, die sich daraufhin verstohlen abwandte und den Kopf schüttelte. Julia interpretierte die Geste als spontane Zustimmung auf ihr Kassandra-Bashing.
»Nick kann happy sein, dass sie nicht mehr zusammen waren«, setzte sie ihr Gezeter fort. »Ansonsten hätte ihn die Explosion genauso erwischt.«
Sara legte naserümpfend ihre Tüte Gummikram beiseite. »Wieso das denn?«
»Na ja, Kassandras Neuer ist immerhin draufgegangen. Ist mit seinem Motorrad dem Bus in die Quere gekommen, als der in die Luft flog.«
»Von einem Motorrad stand aber gar nichts in der Zeitung.«
»Boah, Sara, dann wurde es vielleicht nicht erwähnt, was weiß ich!«, entgegnete Julia genervt. »Jedenfalls hat mir der Cousin von Pete es so erzählt.«
»Der Cousin von wem?«
»Dealer-Pete, falls dir das was sagt«, erläuterte Norma. »Saß wohl auch in dem Bus.«
»Sagt mir tatsächlich nichts.« Sara zog die Stirn in Falten. »Allerdings beunruhigt es mich, dass du jemanden kennst, der sich Dealer-Pete nennt.«
»Ich kenne … kannte ihn ja nicht, Nick kannte ihn.«
»Das sind mir zu viele dubiose Informationsquellen«, gab Sara in gespielt lehrerhaftem Tonfall zu bedenken, wobei sie demonstrativ den Zeigefinger erhob. »Denkt dran, Leute: Immer schön die Fakten prüfen!«
Julia stöhnte auf. »Ich kann es echt nicht mehr hören.«
»Wo ist unsere engagierte Lehrkraft überhaupt?«
»Ich habe ihn vorhin im Bistro gesehen«, vermeldete Sara, die sichtlich froh über den Themenwechsel war.
»Ach richtig, flirtet da mit irgendeinem Mädel.«
»Mann, Julia!«
»Jaja, die guten Fakten.« Norma leerte ihren Kaffee. Und Cay. Cay saß auch in dem Bus. Sie kniff die Augen zusammen und schob den penetranten Gedanken beiseite. Einmal mehr wünschte sie sich zurück nach Hause an ihren Rechner und den Quelltext, an dem sie gerade arbeitete. Anders als ihre Mitschüler, die sie nun die nächsten Tage rund um die Uhr ertragen durfte, ließen sich Codes einfach umschreiben … und löschen. Lustlos blickte sie aus dem Fenster und fixierte das grau-braune Wasser. Fast kam es ihr so vor, als würden Schnipsel von Befehlen und Variablen in den Wellen aufschimmern. Halluzinierte sie etwa schon? Nein, diese Fahrt war wirklich keine gute Entscheidung gewesen.
»Sie sind Lehrer, oder?« Die braungelockte Frau klappte ihr Notizbuch zu. Das Sandwich lag noch immer unberührt vor ihr auf dem Tisch.
Herr Winter sah sie mit großen Augen an. »Was hat mich verraten? Die Brille? Das Sakko?«
»Die zwei jungen Damen eben an der Kasse, die etwas füllige Blonde und ihre dunkelhäutige Freundin.« Sie grinste wissend. »Wie sie Sie angesehen haben und dann Ihre Reaktion – dieses Nicken mit einer Mischung aus Autorität und Wachsamkeit – das war so typisch Aufsichtsperson.«
»Vielleicht bin ich ein wachsamer Mensch?«
»Und die zwei dahinten gehören auch dazu, nicht wahr?« Sie deutete auf einen Tisch auf der gegenüberliegenden Seite des Bistros, an dem seine Schülerinnen Stella und Yaren saßen.
»Tja …« Herr Winter schniefte und senkte ertappt den Blick.
»Tut mir leid, ich bin manchmal zu neugierig.« Seine Tischnachbarin strich sich durchs Haar, nahm das Sandwich auf, legte es aber gleich wieder hin. »Das bringt der Journalistenberuf so mit sich.«
»Ach, schon gut. Letztlich stimmt Ihre Vermutung ja sogar.« Yarens schrilles Organ ließ ihn aufhorchen. Die Worte »Marc« und »Scheißkerl« offenbarten, dass sie sich wie üblich über ihren Ex beschwerte.
Die sonst so quirlige Stella wirkte dagegen ungewöhnlich wortkarg. »Sind Sie auf Klassenfahrt?«, kam bereits die nächste Frage von seinem Gegenüber. »Oder machen Sie nur eine Tagestour?«
Er lächelte schief. »Eine Woche ist geplant.«
»Eine Schulklasse dort eine Woche zu beschäftigen, wird nicht leicht, kann ich Ihnen sagen. Selbst jetzt im Juli.«
»Nun, es ist weniger ein Klassenausflug als eine Erziehungsmaßnahme, mit Teambuilding-Seminaren und so«, gab er die Beschreibung wieder, wie er sie von zahllosen vorangegangenen Lehrerkonferenzen kannte.
»Puh. Klingt nicht nach Spaß.«
»Klingt nach möglichst geringer Ablenkung. ›Helgoland handyfrei‹ ist das Motto.«
»Sie haben ihnen die Handys abgenommen! Das ist hart.«
»Wir hielten es für notwendig, um bestimmte … Dynamiken auszuschalten.« Erneut traf sein Blick die unglückliche Stella, die aus der Klasse vermutlich am meisten an der digitalen Entziehungskur litt. Er hatte ihr das Gerät regelrecht aus der Hand reißen müssen, nachdem sie kurz vor ihrer Abfahrt noch einen letzten Post abgesetzt hatte. Das war keine sechs Stunden her, doch Stella verhielt sich ohne ihre Social Media-Droge bereits jetzt wie nach mehreren Monaten Einzelhaft.
»Etwa Cyber-Mobbing und dergleichen?!«, kam die prompte Schlussfolgerung von der anderen Tischseite. »Darüber habe ich mal einen Artikel geschrieben, als ich noch bei …« Sie stockte, als ein greller Blitz durch den Himmel zuckte.
Verdammt, Vivian, wann hörst du endlich damit auf?, ärgerte sie sich in Gedanken über sich selbst. Warum konnte sie ihre ehemalige Arbeit nicht einfach aus ihrem Leben und ihrem Selbstverständnis streichen? Sie hatte ihre Entscheidung getroffen, die Journalistenkarriere an den Nagel zu hängen – wieso erzählte sie wildfremden Menschen davon, als sei es weiterhin ihre große Berufung?
Beiläufig biss sie eine Ecke des Sandwichs ab. Es schmeckte furchtbar. Angeekelt legte sie es beiseite, während sich das bislang moderate Schaukeln der Fähre erheblich verstärkte. Die Passagiere im Bistro hasteten zur nächstgelegenen Sitzmöglichkeit und eine freundliche Durchsage wies auf die ausliegenden Papiertüten im Falle einer anhaltenden Übelkeit hin. Diejenigen, die schon saßen, mussten ihre Getränke vor dem Absturz bewahren.
Ihr Gesprächspartner griff nach seiner Wasserflasche und stieß dabei seine Teetasse um, sodass sich deren Restinhalt über die Tischfläche ergoss.
»Oh, das tut mir leid!« Er holte eine Packung Taschentücher hervor und zupfte unbeholfen ein paar heraus, um das Malheur zu beseitigen. Vivian hob das Notizbuch vom Tisch, dessen Ränder ein wenig von der erkalteten Flüssigkeit abbekommen hatten.
»Alles gut, nichts passiert.« Sie blätterte durch die Seiten. Die meisten von ihnen waren leer und sie fragte sich, ob die nächsten Tage sie wohl füllen würden.
»Schreiben Sie einen Artikel über Helgoland?«, überspielte ihr Tischnachbar den Unfall mit einer höflichen Rückfrage.
»Äh, nein. Ich … bin privat da.« Vivian starrte an ihm vorbei zu den Fenstern, hinter denen sich der Himmel zunehmend verdunkelte. Ein Grollen näherte sich aus der Ferne und ein besorgtes Raunen durchzog den Raum. Der Lehrer schien es entweder nicht mitzubekommen oder zu ignorieren.
»Ah, richtig, Sie sagten, Sie kämen ursprünglich von dort«, meinte er, sich an den unverfänglichen Anfang ihres Gesprächs zu erinnern.
»Nicht direkt, meine Mutter ist Helgoländerin. Ich habe in meiner Kindheit oft die Ferien bei meinen Großeltern auf der Insel verbracht. Sie wohnten in einer alten Funkstation auf dem Oberland.«
»Klingt nach spannenden Kindheitserlebnissen.« Er lächelte, als erwartete er eine Anekdote oder Ähnliches.
Vivian überlegte kurz. Etwas sonderlich Unterhaltsames wollte ihr nicht einfallen. »Es ist eines der wenigen freistehenden Gebäude dort, recht nahe den Klippen«, gab sie schließlich zum Besten, doch ein Donnerschlag übertönte die Hälfte des Satzes. Die Fähre schwankte mittlerweile so stark, dass eine koordinierte Fortbewegung nicht mehr möglich war.
»Da scheint sich ja was zusammenzubrauen«, griff ihr Gegenüber den Gesprächsfaden wieder auf, als das Grollen verstummt war. »Meine Kollegin hat Glück, dass sie morgen erst anreist – die wird schon vom Kanufahren seekrank!«
»Dafür scheint sie eine gute Intuition zu besitzen.«
Er grinste. »Ja, offensichtlich! Dabei war Helgoland ihre Idee.«
Es wunderte Vivian, wie cool er für jemanden wirkte, der nicht regelmäßig auf See unterwegs war. »Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen die Tage eine kleine Inselführung geben«, schlug sie spontan vor. Sie kramte in ihrem Rucksack und zog eine leicht geknickte Visitenkarte heraus. Der Lehrer nahm sie mit hochgezogenen Brauen entgegen.
»Vivian Skott«, las er laut. »Aus Hamburg – wie schön!«
»Oh, die Adresse ist nicht aktuell«, kam sogleich der Einwurf. »Ich habe bis vor Kurzem in Hamburg für ein großes Verlagshaus gearbeitet, mich aber dann beruflich und räumlich … umorientiert.«
»Ah, okay.« Er musterte weiterhin die Karte.
»Meine Nummer ist natürlich noch dieselbe«, fügte sie rasch hinzu. »Also … rufen Sie gerne durch. Sofern Sie Ihr Handy nicht ebenfalls abgegeben haben.«
Er lächelte und holte das Gerät aus der Innentasche seines Sakkos hervor. »Mein Name ist übrigens Jon. Jon Winter, ich …« Ein erneuter Donnerschlag fiel ihm in seine restliche Antwort.
»Ja, Mann, ich geh ja schon!«, kreischte David einige Sitznischen weiter und übertönte das aufgeregte Gemurmel der Passagiere. So wie das Schiff schwankte, war Julia froh, anders als er, an ihrem Platz bleiben zu können. Sie hatte mitbekommen, dass von Janet der Wunsch nach Alkohol geäußert worden war. Der Bedarf sollte durch einen Besuch im Kiosk gedeckt werden und Janet hatte David als offiziellen Laufburschen auserkoren. Nun hielt er sich den bloßen Unterarm, in den sie just einen Zahnstocher gepikst hatte. Dieses Mistweib!
»Na los, husch, husch!«, sagte Janet in ihrem typischen Befehlston und stieß das Ding abermals in Davids Richtung, obgleich er längst aufgesprungen war.
»Und wenn ich ’nen Ausweis brauche?«, wagte er einen Einwand, den Janet mit einem lapidaren »Dir fällt schon was ein!« entgegnete.
»Du musst auf Geschick skillen!«, grölte Alex im Gamingjargon hinter ihm her, während er, begleitet vom allgemeinen Gelächter der Gruppe, über das schaukelnde Deck stakste und sich bemühte, die Haltung zu wahren.
In einer anderen Realität, dachte Julia, dürften sich die beiden eigentlich gut verstehen. Alex würde normal mit David reden und ihm sogar welche von ihren Computerspielen leihen, statt ihm auf dem Schulhof im Vorbeigehen Faustschläge zu verpassen. Alles wäre einfacher. Es gäbe keine Janet, und Nick und ich wären …
»Was … was war denn das gerade?«, raunte Sara ihr zu und holte Julia damit aus ihren abschweifenden Gedanken.
»Janet hat Dave Bierholen geschickt«, gab diese mit despektierlichem Tonfall zurück und schlang den Rest ihres dritten Schokoriegels hinunter. »Ich kapiere echt nicht, was er bei der Truppe will.«
»Seit der Sache mit Leah ist er ja quasi Janets neues Lieblingsopfer«, bemerkte Norma nachdenklich. »Ob er deswegen mit ihnen abhängt? Versteht ihr: lieber der Loser unter den Coolen als völlig außen vor.«
»Ich weiß nicht. Loser bleibt Loser.« Julia griff in die Tüte mit dem Gummikram. Das Thema Janet ließ jedes Mal ihren Puls und ihren Heißhunger rapide ansteigen. »Habt ihr eben im Zug das mit Stella mitbekommen?«, fiel ihr ein.
»Im Zug?« Sara senkte die Stimme, als befürchtete sie, dass Janet sie hören könnte. »Wieso, was war denn mit Stella?«
»Sie haben sie mit einer Klorolle beworfen.«
»Mit einer kompletten Rolle Klopapier?«, wollte Norma wissen.
»Nein, nur mit der Pappe. Bekloppt, oder? Kaum haben sie keine Handys mehr, gehen ihnen die Ideen aus.«
»Ich dachte immer, Stella sei eine der Coolen.« Sara stöhnte auf. »So als hippe Influencerin …«
»Meint ihr eigentlich, sie verdient richtig etwas damit?«
»Bei über dreißigtausend Followern? Garantiert, No! Dieser Fitnesskram ist der Shit im Moment.« Julia fischte ein paar erkaltete Pommes aus Normas Tüte. Augenscheinlich war sie die Einzige auf der Fähre, die bei dem Geschaukel an Essen denken konnte.
»Krass, schaut euch mal die Blitze an!« Norma zeigte auf das Schauspiel hinter dem Fenster.
»Ich glaube, mir wird schlecht«, vermeldete Sara mit zugekniffenen Augen, die Normas Faszination offenbar nicht teilte.
Julia deutete auf ein anderes Naturphänomen. »Um die riesige Welle da würde ich mir eher Sorgen machen.«
Sie war aus dem Nichts aufgetaucht und in der Tat gigantisch. Wie eine Wand aus schleimiggrünem Wasser bewegte sie sich auf die Fähre zu. Jene Passagiere, die soeben dieselbe Beobachtung gemacht hatten, kreischten vor Entsetzen, einige strömten angsterfüllt in das Schiffsinnere.
Julia fühlte sich dagegen wie gelähmt. Sie starrte abwechselnd auf Norma, die ihr merkwürdig fehl am Platz vorkam, und auf das Ungetüm von Welle, das keine dreißig Meter mehr vom Schiff entfernt war. Zwanzig Meter. Zehn Meter.
Der Blitz tauchte das gesamte Meer um sie herum für den Bruchteil einer Sekunde in gleißendes Licht und es erschien Vivian, als würde jeder einzelne Fahrgast an Bord die Luft anhalten. Plötzlich durchbrach ein ohrenbetäubender Knall die kurze Stille, als hätte das Schiff einen metallenen Berg gerammt. Es kippte in krasser Schräglage nach links, dann nach rechts. Vivian klammerte sich, so gut es ging, an dem Polster der Sitzbank fest. Sie beobachtete mit halbgeschlossenen Augen, wie Menschen durch den Raum glitten und an Wände und Balustraden klatschten. Alles, was gerade noch auf Tischen gestanden hatte, rutschte zu Boden. Einige der Passagiere schrien laut auf, als ein Surren und Knistern vom Durchbrennen diverser Sicherungen kündete. Ein letztes Aufflackern und die zahlreichen Lämpchen auf den Aufenthaltsdecks waren tot. Dann, mit einem Mal, als hätte das Meer sich jäh beruhigt, stoppten die Schwankungen und die Fähre lag so regungslos da wie zuletzt im Hafen. Jegliche Fahrgeräusche waren verstummt.
Ehe ein Chaos ausbrechen konnte, erklang die blechern-verzerrte Stimme des Kapitäns durch die Lautsprecher: »Liebe Passagiere! Bitte bleiben Sie ruhig! Durch das Unwetter wurde ein Teil der Elektronik an Bord beschädigt! Wir werden die Schäden prüfen und – wenn nötig – Hilfe anfordern. Bitte sammeln Sie sich in ihren jeweiligen Reisegruppen auf den zentralen Aufenthaltsdecks bei den ausgewiesenen Sammelpunkten! Das Personal wird Ihnen behilflich sein. Ich werde Sie in Kürze über weitere Schritte informieren. Bitte betreten Sie nicht die Außendecks!«
Nach der Ansage stellte sich ein halb aufgeregtes, halb erleichtertes Raunen ein. Das Bistro leerte sich schlagartig. Einige Passagiere konsultierten hektisch ihre Mobiltelefone. Vivian und ihre neue Bekanntschaft verließen mit als letzte den verwüsteten Bereich, den das Personal direkt darauf dichtmachte.
Obgleich das Unwetter sich aufgelöst hatte, bedeckten nach wie vor dicke, schwarze Wolken den Himmel, sodass es im Inneren der Fähre fast dunkel war. Allein die Notbeleuchtung und die fluoreszierenden Sicherheitsmarkierungen boten ein wenig Orientierung.
»Ich habe auf den Überfahrten ja schon viel gesehen«, bekannte Vivian, die ihre anfängliche Coolness angesichts der Situation verloren hatte. »Inklusive so manchem Sturm – aber einen, der von jetzt auf gleich vorbei ist, habe ich noch nie erlebt.«
»Besser so, als stundenlang durchgeschüttelt zu werden, oder?«, entgegnete Herr Winter lax.
Einmal mehr wunderte sie sich über seine Abgeklärtheit. Ob Lehrkräfte von heute so sein mussten?
»Ich hoffe, die Kids sind okay. Werde mal zusehen, dass ich sie zusammenbekomme«.
Zumindest schien er ein wenig besorgt zu sein. Vivian begleitete ihn bis zu dem Sammelplatz im Zentrum der Fähre, wo sich der Großteil der Passagiere bereits eingefunden hatte. Vivian erkannte die Stimmen der Mädchen aus dem Bistro, die sich mit anderen Jugendlichen um zwei Tische geschart hatten. Sie setzte sich auf eine Bank und beobachtete im Zwielicht, wie Herr Winter einen prüfenden Blick in die Runde warf.
»Gut, wo sind … Miko, Nick, Marc und … David?«, sprach er eine Gruppe Schülerinnen an.
»Miko ist auf’m Klo am Kotzen. David wollte Bier kaufen.«
»Danke, Janet!« Herr Winter ignorierte den Teil der Aussage, der eindeutig als Provokation gemeint war und wandte sich dem Durchgang zu. »Die Läden dürften inzwischen geschlossen sein. Ich schaue mal, ob ich die anderen finde. Ihr bleibt hier zusammen, und wenn ihr Miko seht, bringt sie hierher!«
»Hol du sie doch vom Pott!«, kam Janets schnodderige Rückmeldung, allerdings erst, als ihr Lehrer außer Hörweite war.
»Wir können ja Teresa schicken – zum Klotür aufbrechen«, fügte Alex hinzu, wohl in der Überzeugung, etwas Geistreiches beizusteuern, aber eine Reaktion blieb aus.
Angeblich war Teresa bereits ins Sekretariat der Schule, in die Chemiesammlung und ins Jugendzentrum eingebrochen und stand kurz davor, von der Schule zu fliegen. Norma erhaschte einen Blick auf ihre Silhouette, die auf dem Boden an einem Stapel Gepäck lehnte. Sie wirkte entspannt, spielte mit ihren blaugefärbten Haaren und hatte ihre Umgebung mittels Kopfhörer auf stumm geschaltet.
Das ganze Gelaber einfach ausblenden! – Was für ein wundervoller Gedanke!
Wie auf Kommando machte sich unheimliches Schweigen breit. Die diffuse Dunkelheit sorgte bei Norma für Unbehagen und gleichermaßen für eine gewisse Erleichterung. Die Situation glich einer Familienfeier, bei der keiner der Beteiligten den anderen leiden konnte und man nur zusammengekommen war, weil es der Anlass erforderte. Wieder einmal überkam sie das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Sie hasste ihre Klasse, ihren Körper, ihren bescheuerten Namen, der das Gegenteil von dem suggerierte, wie sie sich fühlte, nämlich alles andere als normal.
»Hallo? Seid ihr hier irgendwo?«, erklang plötzlich Nicks Stimme im Hintergrund.
»Hier drüben!« Julia hob sogleich die Hand.
War ja klar! Norma registrierte, wie jene ihrem Bruder mit übertriebener Armbewegung zuwinkte, obgleich die Geste im Zwielicht kaum zu sehen war. Marcs hünenhafte Gestalt, die Nick wie üblich das Geleit gab, war hingegen deutlich zu erkennen.
»Vorsicht, Bro, das Seeungeheuer will dich in die Tiefe zieh’n«, witzelte er angesichts der winkenden Julia.
»Ich glaube, dieses Exemplar ist harmlos«, gab Nick beschwingt zurück. Die beiden tasteten sich entlang von Hindernissen aus Sesseln, Rucksäcken und Mitschülerinnen zu der Gruppe heran.
»Na, hat Winter euch aufgegriffen?«, fragte Bella. Marc zwängte sich zu ihr auf die Bank.
»Jau, suchte wohl nach Dave.«
»War der nicht bei euch?«, fügte Nick hinzu.
»Er wollte uns eigentlich ein paar Goodies organisieren«, erklärte Janet mit zynischem Unterton. »Hat sich vielleicht auf dem Weg zum Kiosk verlaufen.«
Julia, die sich neben Norma auf einen der nahegelegenen Sessel gequetscht hatte, knuffte diese in die Hüfte. Norma begriff es als Anspielung auf die eben geführte Diskussion um Davids Status als neuer Prügelknabe.
In den zwei Monaten, seitdem Leah nicht mehr Teil ihrer Klasse war, war die Stimmung zunehmend unruhiger geworden. Vor allem unter denjenigen, die nicht zum auserwählten Kreis um Janets Clique gehörten. Im Grunde war Leah das perfekte Opfer gewesen: still, nicht besonders klug, ohne nennenswerte Sozialkontakte. Nun war sie tot und hatte in der Klassenhierarchie eine Lücke hinterlassen, die so offensichtlich war, dass sich selbst Einzelgängerin Norma um Anschluss bemühte.
Abermals knisterte es in den Lautsprechern. Die Stimme des Kapitäns klang deutlich ruhiger als zuvor, wobei er bestrebt zu sein schien, seine Informationen möglichst undramatisch zu präsentieren: »Liebe Passagiere! Durch den Sturm haben wir leider Schäden an der Elektronik und am Motor davongetragen, sodass unser Schiff derzeit nicht fahrtüchtig ist. Das braucht Sie aber nicht zu beunruhigen – es werden in Kürze Börteboote eintreffen, mit denen Sie dann ausgebootet werden, so, wie das früher nach Helgoland üblich war. Das Bordpersonal wird Sie zu den Ausstiegen begleiten und ihnen beim Umsteigen behilflich sein. Bitte bleiben Sie bis dahin zusammen und nehmen Sie Ihr gesamtes Gepäck mit von Bord!«
Ach, Mist, ging es Norma durch den Kopf, die gehofft hatte, dass die Klassenfahrt durch diesen Vorfall beendet wäre.
Normas Bruder war nie der Geduldigste gewesen. Die halbe Stunde, in der sie auf die angekündigten Boote warteten, zog sich wie Kaugummi. Als endlich die ersten Passagiere von der Crew eingesammelt wurden, legte sich seine Anspannung ein wenig, doch letztlich änderte es nichts an der lästigen Situation. Während sich das Aufenthaltsdeck mehr und mehr leerte, kehrten weder Herr Winter noch David zurück.
Was hat der Loser Dave bloß angestellt?, dachte Nick, dem jede Minute mittlerweile wie eine Ewigkeit vorkam. Oder hat sich unser ach-so-engagierter Lehrer mal wieder eine kleine Auszeit von seiner abgefuckten Klasse genommen? Nick konnte es ihm nicht mal verübeln. Ein Jahr war es her, dass er in diese kranke Truppe versetzt worden war, in der man sich die Seite, auf der man stehen wollte, sehr genau aussuchen musste. Sein persönlicher Konsum an Downern hatte sich in den letzten sechs Monaten mehr als verdreifacht. Dafür hatte er unter seinen Mitschülern einige neue Kunden gewinnen können, was ihm darüber hinaus eine gewisse Beliebtheit sicherte.
Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach dir Wodka-Lemon, so sein Motto, das er nun einmal mehr umsetzte, um dem Stillstand zu entkommen.
»Ich geh mal unsere Aufsichtsperson suchen!« Nick raffte sich hoch und schob sich an seinen Klassenkameradinnen vorbei. »Wir können uns nicht leisten, ihn zu verlieren – er ist der Einzige, der ein Handy hat.«
»He, nicht, dass du genauso verschwindest!«, kam sogleich von Julia.
»Du willst dir doch nur auf’m Klo was einwerfen!«, witzelte Marc.
»Nee, dann würde ich dich ja mitnehmen!«, entgegnete Nick schlagfertig. Bevor er die Treppe erreichte, vernahm er noch einen Kommentar von Bella: »Nick würde doch nie einfach abhauen! Schließlich ist er der erwachsenste von uns.« Der Zynismus in ihrer Stimme jagte ihm ein Kribbeln über den Rücken. Zügig setzte er seinen Weg fort und tat so, als hätte er sie nicht gehört.
Zu Nicks Leidwesen blockierten eine braungelockte Frau und eine Mitarbeiterin vom Bordpersonal in Uniform den Treppenzugang zu den unteren Decks. Die Uniformierte war ihrerseits in ein Gespräch mit ihrem Kollegen via Funkgerät vertieft, dessen Inhalt ihn aufhorchen ließ.
»Dann ist sein Lehrer bei dir … Was? – Oh, nein!«
Er näherte sich den beiden und blieb unauffällig hinter der gelockten Passagierin stehen, wobei er sich bemühte, einzelne Fetzen der Ansage aus dem Funkgerät aufzuschnappen. Irgendwas mit ›Außendeck‹, ›pitschnass‹ und ›bewusstlos‹.
»Braucht ihr einen Arzt? – Ja, das ist das Klügste. – Ich schaue mal, ob ich sein Gepäck finde. – Okay. Danke dir! – Over und out.« Die Dame von der Crew atmete tief durch.
»Das klang ja dramatisch«, kommentierte die Gelockte, die offenbar eine Bekannte der Uniformierten war.
»Ich sag es dir, Vivi! Der Junge hat noch mal Glück gehabt. Bei dem Sturm hätte er auch über Bord gespült werden können.« Sie blickte in Richtung des Aufenthaltsdecks. »Nun muss ich nur diese Schulklasse …«
»Ich, äh, schätze, das sind wir«, wagte Nick den Zwischenruf und trat aus seiner Deckung.
»Etwa die Klasse von Herrn Winter?«, entgegnete die Passagierin unvermittelt.
»Genau, kennen Sie ihn, oder wie?«
»Nun ja, ich …«
»Könnten Sie dann vielleicht den Rucksack und die Jacke von Ihrem Mitschüler hierherholen?«, unterbrach die Frau vom Bordpersonal. »Die wird er sicher brauchen.«
»Klar, mach ich!«
»Ihr Lehrer wird gleich hier sein. Dann können Sie auch aufs Boot.« Anschließend wandte sie sich nochmals an ihre Bekannte. »Das solltest du dann auch nehmen, wenn du heute noch an Land kommen willst.«
Jene zuckte mit den Schultern. »Im Zweifelsfall leiste ich dir noch etwas Gesellschaft, Cousinchen.«
»Ich, äh, geh dann mal!« Obgleich es ihn interessierte, in welchem Verhältnis die Frau zu seinem Lehrer stand, beschloss Nick, nicht weiter nachzufragen. In der Gewissheit, die Situation ohne viel Aufwand vorangebracht zu haben, kehrte er stattdessen zum Rest der Klasse zurück.
Teresa hatte sich in ihren Regenparka gehüllt und die Kapuze ins Gesicht gezogen. Sie trat auf die Luke zu, an der zwei Crewmitglieder bereitstanden, um ihnen auf das Boot zu helfen, das darunter auf sie wartete. Das war also ihr »traditionelles Börteboot«! Es erinnerte sie an ein zu groß geratenes Ruderboot oder einen zu klein geratenen Kutter. Entlang der Seiten verliefen hölzerne Sitzbänke, die Platz für schätzungsweise dreißig Passagiere mit reichlich Gepäck boten. Zwei Seemänner, die es offenbar hernavigiert hatten, nahmen routiniert die Einsteigenden in Empfang. Alles in allem wirkte das Manöver nicht wie eine Rettungsaktion.
Vor ihr stolperte Norma über die Schwelle und wurde von einem der Männer vom Bordpersonal der Fähre mittels beherzten Griffs in ihren Ärmel wieder auf Kurs gebracht. »Vorsicht, Jung!«, stieß jener aus. »Nicht, dass du gleich so nass bist wie dein Kollege!«
Teresa schmunzelte. Norma, oder No, wie viele sie nannten, wurde ständig für einen Jungen gehalten und genau genommen legte sie es darauf an. Dass ihr die Meinung anderer zu ihrem Auftreten ziemlich egal war und sie soziale Kontakte in der Klasse weitestgehend mied, machte sie Teresa schon wieder sympathisch. Jene schob sich ihrerseits aus der Öffnung und hüpfte leichtfüßig an Bord des Zubringerboots, was der vorwitzige Matrose mit einem »Alle Achtung, junge Dame, als hätten wir’s gelernt!« kommentierte.
Erstaunt stellte sie fest, dass hier draußen alles trocken war. Trotz der tiefhängenden Wolkendecke nieselte es nicht einmal. Sie zog ihre Kapuze zurück und nahm im noch unbesetzten Bug des Bootes Platz. Außer ihren Klassenkameraden, Herrn Winter und der Frau, die sie vorhin zum Ausstieg begleitet hatte, waren keine anderen Passagiere an Bord und es schienen auch keine nachzukommen. Verwundert warf Teresa einen letzten Blick auf die Luke. Jetzt, wo niemand mehr hindurchschlüpfte, wirkte diese wie eine offene Wunde im Bauch des Schiffes. Nicht mal die Crewmitglieder standen noch dort.
Als das Boot ablegte, setzte sich überraschenderweise der Matrose mit dem lockeren Mundwerk neben sie.
»Bleiben Sie gar nicht auf der Fähre?«, entfuhr ihr die Frage.
Der Mann in seinem dunkelblauen Matrosenpulli sah sich überdeutlich um. »Sieht nicht so aus, was?«
»Ich meine nur … ist immerhin so was wie Ihr Job und so.«
»Wird gerade schwierig, den auszufüllen.« Er grinste breit und deutete auf einen Seesack zu seinen Füßen. »Daher hab ich ’ne Landgang-Sondererlaubnis vom Kapitän bekommen. Kann hier gerade eh nichts ausrichten.«
»Feierabend auf Helgoland.« Sie zog belustigt eine Braue hoch.
»So ungefähr – weiß schließlich, wo man hingehen kann. Bin ja’n Helgoländer Jung.«
»Geben Sie mal ’ne Empfehlung!«
»Wenn ich nicht wüsste, dass ihr noch nicht volljährig seid, würde ich euch einen heißen Grog in Fietes Gartenlaube empfehlen. Wobei, deinem Kameraden da vorne würde ein guter Grog sicher helfen.«
»Dave?« Sie spähte zum Heck des Bootes hinüber, wo David neben Herrn Winter platzgenommen hatte. Irgendwer hatte gemeint, dass er bei dem Gewitter aufs Deck gelaufen wäre, was irgendwie nicht zu dem schüchternen Gamingfreak passte. »Was ist da überhaupt passiert?«
Der Matrose zuckte mit den Schultern. »Habe ihn vorhin klatschnass und bewusstlos unten an der Reling aufgesammelt. Keine Ahnung, wie er da hingekommen ist! Hab so was noch nicht erlebt – der Typ sah aus, als sei er über Bord und wieder zurückgespült worden!«
»Klingt ja merkwürdig.« Teresa blickte hinter sich auf das leicht wogende Wasser. Es war, als hätte das Unwetter nie stattgefunden. Dabei erinnerte sie sich allzu gut an den enormen Blitz und an den Horrortrip, den er bei ihr ausgelöst hatte. In jenem hatte sie sich hilflos in den grünen Fluten vorgefunden, ohne die Hoffnung auf Entkommen. Grauenhaft! Ob die Halluzination von den Pillen mit dem Totenkopf gekommen war, die Pete ihr verkauft hatte? Sie dachte an die Busexplosion und daran, dass sie ihn nun nicht mehr darauf ansprechen konnte.
»Wie lange fahren wir jetzt?«, kam es plötzlich von Yaren gegenüber. Statt einer Antwort wanderte die Frage durch die Bankreihe und kam in Form verschiedener Aussagen zurück, die zwischen, »Gute Stunde«, »Zehn Minuten« und »Sind schon fast auf der Insel« variierten.
»Von hier sollte das in zwanzig Minuten zu schaffen sein!«, mischte sich Teresas Sitznachbar in die Diskussion ein. »Hängt vom Wetter ab«, fügte er flüsternd hinzu, sodass nur sie es mitbekam, und kicherte leise.
Teresa wandte sich erneut um und hielt nach weiteren Booten Ausschau, von denen jedoch keine auszumachen waren. Die Aktion mit David hatte offenbar so viel Zeit gekostet, dass die übrigen Passagiere längst bei der Insel waren. Um die Fähre hatte sich inzwischen ein dichter Nebel gelegt, der jene bis auf einen Schemen geradezu verschluckte.
»Wer zu lange in den Nebel starrt, verliert den Weitblick«, kam daraufhin von der Seite. Der Matrose grinste sie an. »Du musst nach vorne kieken, min Deern, auf das, was kommt.«
»Ja toll, auf Helgoland.«
»So ist das.« Er ignorierte ihren Zynismus und nickte zufrieden. Teresa dagegen seufzte angesichts der Aussicht auf langweilige Unternehmungen mit ihrer nervigen Klasse in den kommenden Tagen. Ihr Blick fiel auf Nick, der sich trotz Bewölkung eine Sonnenbrille aufgesetzt hatte und Albernheiten mit Marc austauschte. Pete hatte ihn nicht sonderlich gemocht, da sich Nick seit einiger Zeit einen eigenen Kundenstamm aufgebaut hatte. Ob wohl ein paar Pillen in seinem Handgepäck gelandet waren? Vielleicht gab es doch Hoffnung auf ein wenig Spaß.
Am gegenüberliegenden Ende des Bootes beruhigte es Vivian, sich nach den Strapazen der letzten Stunde endlich wieder auf Kurs zu ihrem Ziel zu befinden. Bei Herrn Winter, der neben ihr saß, war ebenfalls eine Erleichterung zu spüren, was vor allem seinem geretteten Schüler galt. Jener war in eine Wolldecke gewickelt, obgleich er seine nassen Klamotten auf der Fähre längst gewechselt haben musste.
»Alles gut bei dir, David?«, wandte sich sein Lehrer an ihn und bekam ein brummendes »Hmm« zur Antwort.
»Wirklich keine Ahnung, wie du auf das abgesperrte Deck gelangt bist?«
Kopfschütteln. David setzte seine Ohrhörer ein und vergrub sich in der Decke, als versuchte er, sich unsichtbar zu machen.
»Immerhin ist nichts Schlimmeres passiert«, bemerkte Vivian nach einer Weile. »Meine Cousine von der Crew sagte vorhin, er hätte genauso gut von Bord gespült werden können.«
»Angeblich kann er sich an nichts erinnern, nur dass er durch einen Notausgang hinter dem Kiosk aufs Oberdeck gestiefelt ist.«
»Aber wieso … «
Herr Winter zeigte ihr sein schiefes Lächeln. »Die anderen haben ihn als Laufburschen losgeschickt. Als man ihm im Kiosk kein Bier verkauft hat, wollte er um keinen Preis zur Gruppe zurück.«
Vivian runzelte die Stirn. »Meinen Sie ernsthaft, dass Teambuildingübungen da reichen?«
»Keine Ahnung. Diese Anti-Mobbing-Maßnahme wurde von der Schulleitung durchgeboxt und ich werde sie irgendwie umsetzen. Nachdem sie die vorige Klassenlehrerin wegen einem Burnout beurlauben mussten, gab es nicht allzu viele Freiwillige für die neue Leitung.«
Sie warf einen Blick auf die zwischen ihrem Gepäck hockenden Jugendlichen, unter denen eine ungewöhnliche Stille herrschte.
»Ist das die gesamte Klasse?«
»Nein, bei vier Schülern haben sich die Eltern geweigert, sie mit den anderen fahren zu lassen, zwei konnten es sich nicht leisten.«
»Zwanzig also«, kombinierte sie. »Ist eigentlich nicht groß für eine normale Schulklasse.«
»Zweiund… nein, einundzwanzig«, korrigierte Herr Winter. »Eine Schülerin liegt im Krankenhaus.«
»Doch nicht wegen …« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Jugendlichen.
»Nein, das nicht. Sie haben bestimmt von dem Busanschlag letzte Woche gehört?«
Vivian nickte. »Ja, natürlich, war schwer, die omnipräsenten Schlagzeilen zu übersehen. Das war also bei Ihnen! Nicht gerade ruhmreich für eine Kleinstadt, ausgerechnet mit so etwas bekannt zu werden.« Oh, Mann, Vivian – ein bisschen mehr Feingefühl wäre nicht schlecht! »Tut mir echt leid für Ihre Schülerin«, schob sie schnell hinterher.
»Danke.« Er seufzte.
»Saß sie in dem Bus?«
»Glücklicherweise befand sie sich nur in der Nähe der Explosion. Soweit ich weiß, ist sie inzwischen aus dem Gröbsten raus.«
»Puh …« Vivian betrachtete den sich ausbreitenden Nebel, der das Meer allmählich in ein bleiernes Grau tauchte. Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach drei nachmittags. Das diffuse Licht und der verwaschene Übergang zwischen Himmel und Wellen ließen die Szenerie raum- und zeitlos erscheinen.
»Was ist mit Nummer zweiundzwanzig?«, sagte sie leise.
Die Antwort klang wie ein weit entferntes Zischen: »Suizid.«
Sara dachte ebenfalls an Leah. Sie hatte sie nicht gut gekannt. Ein paarmal hatte sie ihr die Englischhausaufgaben erklärt – als Leah sich noch getraut hatte, jemanden anzusprechen.
Am Anfang waren es Sticheleien gewesen, dann Übergriffigkeiten – Schubsen, Beinstellen – wie Sara es selbst nur zu gut kannte. Irgendwann hatte Janet die Facebookgruppe »Princess Leah« gegründet und die Sache war komplett aus dem Ruder gelaufen.
Sara, die nicht bei Facebook war, hatte sich das Gegeifer einmal auf Julias Handy angeschaut, und das hatte ihr gereicht. Hätte ich für Leah Partei ergreifen sollen? Mich für sie einsetzen? Irgendetwas, das sie davon abgehalten hätte, auf das Dach der Schule zu klettern?
Ungern gestand Sara sich ein, dass Leah wie ein Schutzschild für sie gewesen war, an dem sich all die Gehässigkeiten abgeladen hatten, die vielleicht sie sonst hätte ertragen müssen.
»Ist das da Helgoland?«, bahnte sich jäh die Frage von Julia ihren Weg durch die Reihen, die sie von ihren düsteren Überlegungen abbrachte. Sara legte die Stirn in Falten. Sie erinnerte sich an die Bilder im Internet und an die charakteristische Felsnadel, die neben den in der Ferne auftauchenden Schemen allerdings nicht auszumachen war. Sie wandte sich zum Heck, um einen Blick auf die hinter ihnen liegende Fähre zu werfen, konnte durch den dichten Nebel jedoch nicht mal mehr deren Silhouette erkennen.
Ihre Stirnfalten vertieften sich, je näher sie der Insel kamen. Zuvor nur ein schattenhafter Umriss, schälte sich der kleine Hafen allmählich aus den Nebelschwaden. Ein Betonpier führte aus einer Bucht aufs Wasser hinaus. Auf dem Platz hinter ihm lagen eine Reihe hellblauer, schiefergedeckter Häuser mit großen Schaufenstern, ein flaches Rotklinkergebäude mit durchgehender Glasfront und ein Pavillon. Waren auf den Bildern im Netz nicht bunte Holzhäuser zu sehen gewesen?
Das Boot schaukelte, als sie an dem Anleger zum Halten kamen, von dem aus man über eine Treppe zum Pier gelangte. Dort warteten zwei weitere Matrosen, um ihnen beim Ausstieg zu assistieren.
Sara knöpfte ihre Jacke auf. Die Luft hier war wärmer als auf See, obgleich der Himmel von einer gleichmäßigen Wolkendecke verhangen war, hinter der die späte Nachmittagssonne wie eine gedimmte Glühlampe schien. Die tiefdunkle Unwetterfront hatte sich vollständig verzogen.
Vom Pier aus marschierte sie mit den anderen zusammen auf den Hafenvorplatz zu, in dessen Mitte der Pavillon stand. Ein überdimensioniertes »i« auf dem Dach kennzeichnete jenen als Touristeninformation.
»Wartet hier – ich werde klären, wie es von hier weitergeht!«, erklang Herr Winters Stimme.
»Wie meint er denn das?«, folgte sogleich die Frage von Miko, die neben Sara ihr rosafarbenes Rollköfferchen über das Betonpflaster zog. Offenbar hatte sie ihre Übelkeit überwunden. »Ich dachte, wir gehen zur Herberge.«
»Ich glaube, wir sind nicht auf Helgoland.«
»Nicht? Wo denn sonst?«, entgegnet Miko fröhlich und zog ihre Jacke auf, unter der ihre Kamera zum Vorschein kam.
»Das ist eine gute Frage.« Sara sah sich stirnrunzelnd um. Ihr Blick fiel auf das langgestreckte Gebäude, das sie auf dem Weg vom Anleger just passiert hatten. Auf einer Leuchttafel hinter der Glasfront war zu lesen: ›Start Zubringerboote – Fähre Cuxhaven täglich um 15:30‹. »Eigentlich gibt es keine andere Insel in unmittelbarer Nähe«, fuhr sie nachdenklich fort.
»Cool, sieh mal das Haus da!« Mikos Begeisterung für das Fährterminal bremste Saras weitere Überlegungen aus. »Das ist ja ein klasse Motiv!«
Erst jetzt fiel Sara auf, dass sich Yaren und Stella vor dem Gebäude einen Platz abseits der Gruppe gesucht hatten. Stellas schneeweißes Sportoutfit bildete einen scharfen Kontrast vor der dunkeln Glasfront, worauf Mikos Ästhetiksinn sofort angesprungen war.
»Kannst du auf meinen Koffer aufpassen?«, bat Miko, die bereits ihre Kamera in Position brachte. Ehe Sara antworten konnte, war die eifrige Fotografin losgestürmt. Stella schien ihrerseits keine Einwände gegen das spontane Kunstprojekt zu haben und schmiss sich kurz darauf in bester Influencer-Manier in Pose. Kaum zehn Sekunden später wurde die Aktion seitens Janet lautstark kommentiert.
»Leute, Miss Sporty ist unterwegs – spürst du den kribbelnden Fame, Bella?«
»Ich glaube, das ist noch die Reiseübelkeit«, gab diese zynisch zurück.
Sara hatte nie verstanden, warum sich jemand Intelligentes wie Bella ausgerechnet mit Janet abgab. Sie war die Einzige in der Klasse, die dieser platinblonden Giftschleuder Konter geben konnte. Leider stand sie auf der falschen Seite.
»Schade, dass ihre Follower das nicht erleben können!«, geiferte Janet inzwischen weiter. »Obwohl – bei dem Setting bekommt sie eh nur Sponsoren für Bausparverträge.« Sie freute sich sichtlich über ihre Boshaftigkeit.
Ist Stella jetzt die Nächste? Sara dachte an die von Julia erwähnte Klorollenaktion, schüttelte den Kopf und trat mit nunmehr zwei Koffern im Schlepptau ein paar Schritte zurück. Zu ihrem Pech kreuzte sie dabei den Weg von Alex, die sie übertrieben heftig zur Seite schubste, sodass ihr das Gepäck aus der Hand und über den Vorplatz rutschte.
»Pass doch auf, Schokorella!«
Du fette Kuh plapperst auch nur den Mist von Janet nach!, ging es ihr durch den Kopf, dennoch sagte sie nichts, sondern sammelte verstohlen ihren und Mikos Koffer vom Boden auf.
Die Dame in dem weißen Pavillon, in dem die Touristeninformation untergebracht war, lächelte Herrn Winter freundlich an. »Willkommen auf Hoogenhörn – was kann ich für Sie tun?«
»Hoogenhörn?« Wie zur Rückversicherung musterte Frau Skott, die ihn nach wie vor begleitete, einen Postkartenständer, in dem auf malerischen Fotos der bunte Schriftzug des Inselnamens prangte. Auf manchen Karten war zusätzlich ein zwinkerndes Comic-Alpaka mit Matrosenmütze abgebildet, das »Grüße von Hoogenhörn!« via Sprechblase übermittelte.
»Ähm, ja, es ist so: Wir kommen von der Fähre, die evakuiert werden musste«, hob Herr Winter an. Der fragende Ausdruck in den Augen der Frau sagte ihm, dass die Nachricht sie noch nicht erreicht hatte. »Eigentlich waren wir auf dem Weg nach Helgoland«, begann er erneut, wobei sich die verdutzte Mimik seines Gegenübers nicht veränderte. »Äh, besteht die Möglichkeit eines Transfers dorthin, also von hier, von Hoogenhörn nach Helgoland?«
Sie blickte ihn an, als hätte er sie nach der Besichtigung des Bernsteinzimmers gefragt, bemühte sich aber, ihr Lächeln wieder aufzusetzen. »Nein, einen offiziellen Transfer dahin gibt es von hier nicht. Ich glaube, vom Festland aus können Sie so etwas buchen. Woher kommen Sie denn?«
»Wir sind heute Vormittag von Cuxhaven aus gestartet.«
»Nun, Sie können natürlich die Fähre zurück nach Cuxhaven nehmen.«
Herr Winter warf seiner Begleitung einen raschen Blick zu, deren Gesichtszüge sich kurzzeitig entspannt hatten. Angesichts all der Merkwürdigkeiten, die mit der Ankunft hier verbunden waren, war die Option der Rückreise für sie beide ein beruhigender Gedanke.
»Allerdings fährt erst morgen Nachmittag die nächste«, fügte sein Gegenüber vorsichtig hinzu.
»Wenn das so ist, bräuchten wir wohl bis morgen eine Unterkunft«, sagte er, deutlich lockerer als zuvor. Das Lächeln der Tourismusdame verlor umgehend seine Verkrampftheit. Sie griff beschwingt nach einer Broschüre, die sie auf der Theke ausbreitete.
»Ich kann Ihnen beiden zum Beispiel die Pension Sonnensicht auf der Westseite empfehlen …«
»Oh, wir gehören nicht zusammen«, intervenierte Frau Skott und Herr Winter fuhr fort: »Ich bin mit meiner Schulklasse hier. Vielleicht gibt es ja eine Jugendherberge oder Ähnliches?«
»Schulklasse? Das könnte jetzt im Sommer tatsächlich schwierig werden, das heißt … Moment …« Sie schnappte sich das Telefon auf ihrem Tresen und wählte eine Nummer. »Hallo! Hier ist Marion von der Touristeninformation. Alles gut bei euch? Wie geht’s dem Ingmar? – Wie schön! … Du, ich habe hier eine gestrandete Schulklasse, könntet ihr da spontan … – Ja. Wie viele Personen?«
»Sech… äh, fünfzehn«, erwiderte Herr Winter hastig.
»Sechzehn Personen. – Ja, in Ordnung. – Super, danke dir!« Lächelnd legte sie auf.
»Und?«
»Unsere Jugendherberge wird eigentlich derzeit renoviert, aber mit dem Erdgeschoss sind sie bereits fertig, und die Betreiberin sagt, es sei kein Problem, Ihnen die fertiggestellten Zimmer zu vermieten.«
»Das … ist wirklich sehr nett. Vielen Dank.«
»Der neue Speisesaal ist toll geworden – mit Meerblick und direktem Übergang zu den Zimmern. Zu der Herberge fährt übrigens unser Inselbus. Soll ich Ihnen ein Gruppenticket ausstellen?«
»Ja, ich denke, das ist eine gute Idee.«
Ungeachtet ihrer vorigen Aussage drückte die Dame Frau Skott einen Stapel Papiere in die Hand, die das Ticket, diverse Inselkarten und den Busfahrplan enthielten. Herr Winter hob zu einem Widerspruch an, aber sie winkte ab.
»Schon gut, ich nehme ebenfalls die Herberge. Es ist ja nur für eine Nacht.«
»Schau mal, Stella, der Bus ist total retro!«, startete Yaren einen Versuch, ihre Freundin aus der Reserve zu locken, nachdem diese nach Janets Kommentaren wieder in ihre düstere Stimmung verfallen war. »Voll das 70er-Jahre-Teil. Ich wette, das ist hier die Touristenattraktion.«
»Ja, bestimmt.« Stella betrachtete den Bus nur beiläufig. Hätte sie ihr Handy parat gehabt, wäre das ungewöhnliche Motiv mit Sicherheit Teil einer weiteren Story geworden.
»Erinnerst du dich, wie wir auf diesem Schrottplatz waren und in dem alten Schulbus rumgeklettert sind?«, fuhr Yaren fort, während sich die Tür vor ihrer Nase öffnete.
Stella antwortete mit einem Brummen. Sie ging nach hinten durch, wo sie sich wortlos einen Fensterplatz suchte und begann, die Polaroids zu betrachten, die Miko ihr überlassen hatte. Yaren setzte sich neben sie und verschränkte, enttäuscht über Stellas Kommunikationsboykott, die Arme.
Mit dieser albernen Klorollenaktion hatte es angefangen. Irgendetwas war mit dem Ding gewesen, dass Stella es nicht sofort weggeschmissen, sondern in ihrem Rucksack hatte verschwinden lassen. Allerdings wollte sie partout nicht darüber reden. Als gäbe es nichts Schlimmeres als ein dummes Stück Pappe!
Marcs Gestalke zum Beispiel! Jener bezog just die Sitzbank ihnen gegenüber. Konnte er den Scheiß nicht einmal lassen? Nie verpasste er eine Gelegenheit, irgendwo in Yarens Nähe aufzutauchen, um sie mit seinem dämlichen Grinsen zu fixieren. Außerdem verbaute er ihr mit seiner riesigen Gestalt den Blick auf Michael.
»Wer ist diese Frau eigentlich?«, erklang wie auf Kommando Michaels sanfte Stimme hinter ihm. Die Frage bezog sich offenbar auf Herrn Winters braungelockte Dauerbegleitung mit der roten Jacke, die sich vorne beim Busfahrer platziert hatte. »Ist das jetzt die Vertretung für Frau Schmidt?«
»Auf der Fähre sagte sie, dass sie Winter irgendwie kennt«, steuerte Nick seinen Wissensstand bei und grinste. »Kannst sie ja fragen.«
»Sie ist bestimmt seine neue Perle«, mutmaßte Alex aus der letzten Sitzreihe.
»Unwahrscheinlich.« Michael stand tatsächlich auf und quetschte sich an Marc vorbei, der seine Füße in den Gang gestreckt hatte und Yaren mal wieder anstarrte.
»Ey, lass das Geglotze!«, reagierte sie prompt auf die Provokation, was Marc nur umso mehr anstachelte. Sie drehte sich betont von ihm weg, nutzte aber die Gelegenheit, Michael hinterherzuschauen, der just auf den Vorderteil des Busses zusteuerte. In Höhe von Norma blieb er stehen, um etwas in den Papierkorb beim Vordereinstieg zu werfen. Danach wandte er sich an die braungelockte Frau, mit der er ein paar Worte wechselte.
»Krasser Typ! Er quatscht sie tatsächlich an«, kommentierte Janet glucksend die Aktion, die aufYaren dennoch merkwürdig wirkte. Als Michael sich zum Rückweg umdrehte, verflog ihr kritischer Blick und sie musste sich zusammenreißen, keinen sehnsüchtigen Seufzer von sich zu geben. Diese leuchtend blauen Augen! Und diese honigfarbenen, leicht gelockten Haare, die sein makelloses Gesicht einrahmten! Er erinnerte sie an den hübschen Elbenkrieger aus dem Buch, das sie gerade las, ganz im Gegensatz zu Marc, der sie in seiner derben Art eher an einen grobschlächtigen Ork denken ließ.
»Na, Mike, hast du gleich ein Date klargemacht?«, sagte der Ork, als er an seinen Platz zurückkehrte.
»Sie ist Journalistin und kennt Winter erst seit der Fähre«, erläuterte Yarens Elbenkrieger unbeeindruckt von der Stichelei, ehe er wieder aus ihrem Blickfeld verschwand.
Ein Ablenkungsmanöver, ging es Vivian durch den Kopf. Der junge Mann hatte das Gespräch mit ihr genutzt, um seinem Klassenkameraden in Schwarz mit den dunklen Haaren ein Stück Papier unter seinen Rucksack zu schieben. Eine geheime Botschaft vielleicht? Oder doch eine Gemeinheit, die angesichts fehlender Handys nun analog übermittelt werden musste? Was es auch war, der Junge hatte die Aktion nicht registriert. Gedankenversunken blickte er aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft.
Der Smalltalk zwischen Herrn Winter und dem redseligen Busfahrer lenkte Vivian von weiteren Mutmaßungen ab.
»Ganz schön was los auf der Insel, was?«, hob der Lehrer an, nachdem sie das Thema ›Oldtimer‹ beendet hatten.
»Im Sommer ist hier immer was los. Vor allem Tagestouristen, Schulklassen sind eher selten dabei.«
»Ach?«
»Na, die meisten fahren wohl lieber nach … London oder Italien oder so was.«
»Ziel unserer Fahrt ist, möglichst wenig Ablenkung zu haben.«