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EINE FAHRT IN DEN STURM – Dass die Offiziersausbildung auf der Gorch Fock hart würde, hatte Thies Hansen erwartet, nicht aber einen solchen Horrortrip! Nach einer Kutterregatta der „Kieler Woche“ wird ein Mädchen ermordet. Thies und die anderen Kuttersegler der Gorch Fock werden verdächtigt und tagelang von Polizei und den eigenen Offizieren verhört; die unmittelbar bevorstehende nächste Fahrt der Gorch Fock steht auf der Kippe. Schließlich darf das Schulschiff doch auslaufen. Aber der Fluch des toten Mädchens segelt mit. Im Nordatlantik kommt es zu mehreren unheimlichen Todesfällen. Thies weiß, dass es auf See kein Davonlaufen gibt. Doch erst als der aufziehende Sturm seine volle Stärke erreicht hat, erkennt er, worum es dem Mörder wirklich geht ... Die mitsegelnde Stabsärztin Vivian Berg wird zu seiner Verbündeten. Die Kapitel folgen den Windstärken – von Kapitel 1 Windstärke 1 Leiser Zug, ruhige See bis Windstärke 12 Voller Orkan, außergewöhnlich schwere See. Nach der FARBE DER SEE gelingt Jan von der Bank ein zweiter atemberaubender Thriller. Der Autor ist selbst auf der Gorch Fock gefahren und war Segelweltmeister. Als TV-Autor schreibt er für Küstenwache, Tatort und Der Alte. IN DEN STURM ist zuerst unter dem Titel HUNDEWACHE erschienen und wurde für diese Neuausgabe überarbeitet.
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Jan von der Bank
Roman
Die Reihe
wird herausgegeben von Klaas Jarchow
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Urheber unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Neuausgabe, März 2017
E-Book-Ausgabe Februar 2020
Copyright © 2017 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG
Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg
www.kjm-buchverlag.de
ISBN 978-3-96194-152-0
(Zuerst erschienen 2010 bei Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin)
Herstellung, Satz und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin
Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg
Cover unter Verwendung einer Fotografie von Nico Krauss, Hamburg
Karten Reiseverlauf: Wilhelm Ihlenfeld, HEUREKA! DESIGN, Kiel
Die historischen Kartenausschnitte enstammen dem Archiv des Autors; der historische Zeitraum der Abbildungen ist unterschiedlich.
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Für Katja, Kaya, Flora und Janika, die mit mir segeln.
An diesem Morgen hatte die See die Farbe von purem Gold. Eine gleißende Fläche aus Abermillionen glitzernder und tanzender Lichtreflexe. Ole Storm hatte es schon von Weitem durch die Bäume leuchten gesehen, als er mit dem alten Damenrad von Tante Elfi die steile und holprige Abkürzung durchs Düsternbrooker Gehölz heruntergekommen war. Nun stand er unten am Uferweg der Kieler Förde und kniff die Augen gegen die noch niedrig stehende Sonne zusammen. Die Luft schmeckte frisch nach Salz und Fischernetz und dem Gewitter der vergangenen Nacht, und über ihm segelten ein paar kreischende Möwen im Wind. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Wind. Endlich wieder Wind!
An den vergangenen beiden Tagen war die See der graue, ölige Spiegel eines bleiernen, völlig unbewegten Himmels gewesen. Die Fahnen am Mast vor dem ehrwürdigen Kaiserlichen Yachtclub, der jetzt Yachtclub von Deutschland genannt werden musste, hatten schlaff in der Flaute gehangen, und die 21 Starboote, die hier in Kiel ihre Weltmeisterschaft aussegeln wollten, standen tatenlos auf ihrer »Bühne« an Land. Die Nadel des Barometers am Takelschuppen schien unverrückbar am oberen Ende der Skala festgenagelt und Vadder Preuß, der alte Hafenmeister, hatte düster angemerkt, die Luft sei ebenso erdrückend wie die politische Lage. Und ein reinigendes Gewitter ebenso unausweichlich wie der heraufziehende Krieg.
Tatsächlich hätte sich die Vereinigung der internationalen Starbootklasse kaum einen dramatischeren Zeitpunkt für ihre Weltmeisterschaft aussuchen können als diese letzte Woche im August des Jahres 1939.
Den ganzen Sommer über schon hatten sich die territorialen Spannungen zwischen Hitlers neuem Großdeutschland und Polen verschärft. England und der »Erbfeind« Frankreich hatten sich genötigt gesehen, den Polen militärischen Beistand zu garantieren, und im Osten stellte die unberechenbare Haltung Stalins eine zusätzliche Bedrohung dar. Hektische Diplomatie und lautes Säbelrasseln hüben wie drüben lösten einander in rascher Reihenfolge ab, und vieles erinnerte in fataler Weise an einen anderen schwülen Sommer vor nunmehr 25 Jahren, als Europa schon einmal auf den Abgrund zugetaumelt war.
Ole Storm war neunzehn. Krieg war für ihn ein fremdartiges Schreckgespenst, das er nur aus widersprüchlichen Erzählungen kannte. Die einen sehnten ihn so glühend herbei, als verspräche er ihnen die Erfüllung all ihrer Träume oder auch nur die Wiedergutmachung erlittener Schmach, während die anderen ihn als düstere Bedrohung empfanden. Das Ende der Welt. Wem sollte er glauben? Er hatte sich noch nicht entschieden. Vorerst.
»Politik geht uns nichts an!«
Das hatte Konteradmiral von Wellersdorff bei seiner Ansprache zur Eröffnung der Regatta als Rear-Commodore der Starbootvereinigung gesagt - in Anwesenheit des Reichssportführers und einiger anderer Größen der Nationalsozialistischen Partei, ein mutiger, wenn nicht gar törichter Ausspruch für einen so ranghohen deutschen Offizier. Aber von Wellersdorff war in erster Linie Segler und daher fest entschlossen, dem Segeln den Vorzug vor der Propaganda zu geben.
Auch der ausrichtende Club und die Wettfahrtleitung mühten sich redlich, eine entspannte und freundschaftliche Atmosphäre für die Wettkämpfe zu schaffen. Oberflächlich betrachtet war dies mit einem international stark besetzen Feld auch gelungen. Doch bei näherem Hinsehen lag auf allem bereits deutlich der Schatten des Kommenden.
Zu sehr hatten sich in den letzten Tagen die schlechten Nachrichten überschlagen und die Flaute, wegen der nicht gesegelt, dafür aber umso ausgiebiger debattiert werden konnte, tat ein Übriges. Kleine, resignierende Gesten und ein fatalistischer Unterton mischten sich in die Gespräche, und vielen wurde langsam bewusst, dass Segler unterschiedlicher Nationen, die seit Jahren eng befreundet waren, im Strudel der Ereignisse über Nacht auf verfeindete Seiten gerissen würden. Ein Hauch von Abschied war allgegenwärtig. Vor allem die zahlreich angetretenen deutschen und englischen Marineoffiziere waren sich im Klaren darüber, dass sie sich nur allzu bald als Feinde auf Leben und Tod gegenüberstehen würden.
Ole nahm diese Stimmung wahr, ließ sich aber nicht von ihr anstecken. Seine eigene, überschaubare Welt war noch in Ordnung. Die politischen und ideologischen Verwicklungen schienen ihm fern und unwirklich, besonders an einem strahlend klaren Morgen wie diesem. Graubärtige Gespenster, die verschwinden, wenn die erste Brise den dünnen Morgennebel von der Wasseroberfläche weht.
Gut gelaunt schwang er sich in den Sattel und trat in die Pedale.
Ole Storm war durchschnittlich groß, jedoch recht sportlich gebaut. Den vollen, dunklen Haarschopf, dessen widerspenstige Strähnen sich beharrlich in die Stirn mogelten, hatte er seiner Mutter zu danken. So sagte man. Sie war bei seiner Geburt gestorben. Die auffallend klaren blauen Augen waren die seines Vaters. Der war Fischer, drüben auf Amrum. Von ihm hatte er auch den friesischen Dickschädel geerbt, sowie die mangelnde Bereitschaft, mehr Worte zu machen als unbedingt notwendig. Das jedenfalls behauptete Vaters jüngere Schwester Elfi, bei der Ole in Kiel wohnen durfte.
Ole fand beides nicht weiter schlimm. Seine Wortkargheit wurde von Tante Elfis chronischem Mitteilungsbedürfnis mehr als aufgewogen. Zudem war er Segelmacher geworden und nicht Dichter. Oder gar Politiker. Und was den Dickschädel anging, so sorgte der immerhin dafür, dass er noch selber entscheiden konnte, was er wollte und was nicht. Die bereitwillige Selbstaufgabe zum Beispiel, mit der sich viele seiner Freunde aus der Yachtschule den neuen Riten und Regeln des Nationalsozialismus unterwarfen, widersprach zutiefst seinem für einen Friesen so typischen Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit. Die Rigorosität, mit der beinahe das gesamte öffentliche Leben, auch hier im Club, gleichgeschaltet und »auf Linie« gebracht worden war, erschreckte ihn. Und die glühende Verehrung des Führers, die bei vielen inzwischen fast religiöse Züge annahm, war ihm fremd und unbegreiflich. Es gab schließlich nur einen Gott. Und der hieß bestimmt nicht Adolf Hitler.
Dass Ole Storm seinen eigenen Kopf bewahrte, bedeutete aber nicht, dass er keine Helden kannte. Seine hießen Schlimbach und von Hütschler und waren die besten Segler ihrer Zeit.
Schlimbach hatte mit seiner »Störtebeker III« einhand den Nordatlantik bezwungen. Und dem Hamburger Walter »Pimm« von Hütschler sagte man nach, er steuere jedes Schiff zum Sieg, das man ihm unter den Hintern schiebe. Egal, ob Jolle oder Krupp'-scher 12er. Letztes Jahr hatte er in den USA souverän die Weltmeisterschaft der Starboote gewonnen. Und nun, nach seinem ersten Platz im Lauf vom Montag, schickte er sich an, vor Kiel seinen Titel zu verteidigen. Hätte Ole Geld zu verwetten gehabt, er hätte alles bis auf den letzten Pfennig auf von Hütschler gesetzt. Wenngleich mit dem amerikanischen Exweltmeister Wegeforth und dem amtierenden Europameister Straulino aus Italien härteste Konkurrenz zugegen war.
Zu gerne hätte Ole sich diesen Dreikampf aus der Nähe angesehen, aus dem Feld der Verfolger heraus. Aber dieser Wunsch war utopisch. Zwar hatte er sich durch die Teilnahme an diversen Clubregatten und einigen Langfahrten inzwischen selber zu einem ganz passablen Segler gemausert, aber die Teilnahme an einer so hochrangigen Serie wie einer Weltmeisterschaft im Star lag für ihn dennoch in unerreichbarer Ferne.
Ganz im Gegensatz zu Oles gleichaltrigem Clubkameraden Richard Korfmann. Mensch, was hatte der für einen unverschämten Dusel gehabt!
Als vor einigen Wochen bekannt geworden war, dass von Hütsch-lers regulärer Vorschoter Egon Beyn erkrankt war, hatte der wortgewandte, schwungvolle Blondschopf alles daran gesetzt, um sich in die Reihen der möglichen Ersatzvorschoter hineinzuschmuggeln. Die Tatsache, dass Richards Vater eng mit von Hütschlers Förderer, dem Hamburger Reeder Laeisz, befreundet war, mochte ein Übriges getan haben. Jedenfalls hatte von Hütschler Korfmann ausgewählt, bei dieser Veranstaltung mit ihm zu segeln.
Ole selber hingegen war, um überhaupt dabei sein zu können, nichts anderes übrig geblieben, als die weitaus bescheidenere Rolle eines Helfers in der Landorganisation der Regatta anzunehmen.
Richard Korfmann war nicht direkt das, was Ole einen Freund genannt hätte. Dafür waren der Fischersohn und der Spross aus einer der einflussreichsten Kieler Familien ihrer Herkunft nach einfach zu weit voneinander entfernt. Doch Ole war bisher ganz gut mit ihm ausgekommen. Bis jetzt, da von Hütschler Richard quasi seglerisch geadelt hatte und er Oles Sphäre endgültig entstiegen war. Seit Wochen hatten sie kein vernünftiges Wort mehr miteinander gewechselt, und Oles Segelmachermeister Heribert Rausch nannte Richard inzwischen nur noch den »Schnösel«.
Aber das alles war jetzt egal! Heute gab es eine gute Brise und es würde endlich wieder gesegelt werden. Das war das Wichtigste!
Zwei Minuten später war er beim Club. Der Schuppen mit der Segelmacherei lag hinter dem Clubhaus. Drei Satz Starbootsegel waren umzuändern. Von Hütschler, das Erfindergenie der Bootsklasse, hatte sich wieder einmal einen neuartigen, noch tieferen Segelschnitt ausgedacht, und in der Müßigkeit der beiden Flautentage hatten zwei englische und der algerische Teilnehmer kurzerhand beschlossen, ihre Ersatzsegel auf die neue Façon ändern zu lassen. Ole hielt nicht viel von dieser Idee.
Von Hütschlers Holzmast war viel dünner und biegsamer als die englischen. Wie aber sollte ein tieferes Segel an einem harten Mast flach getrimmt werden, wenn der Wind aufbriste? Ein Ding der Unmöglichkeit. Aber Ole behielt seine Weisheit lieber für sich, um seinem Chef, dem Segelmacher Heribert Rausch, nicht die zahlende Kundschaft zu verprellen.
Es war immer noch sehr früh und Ole hatte noch ein bisschen Zeit, bevor er an die Arbeit musste. Weder Segler noch Landhelfer waren zu sehen, erst recht nicht die hohen Herren der Regattaleitung oder der Jury. Nur in der Küche unter den Clubsälen rumorte es bereits. Kurz fühlte er sich versucht, dem anheimelnden Geruch von frischem Brot und Kaffee nachzugehen, der ihm in die Nase stieg. Aber dann wandte er sich dem Hafen zu.
Wie jeden Tag vor der Arbeit hatte er einen Besuch abzustatten. Ole Storm hatte eine heimliche Geliebte. Lydia.
Auch an diesem Morgen setzte sein Herz einen Schlag lang aus, als er sie sah. Sie streckte ihm ihr knackiges kleines Hinterteil entgegen, und ihr schlanker, anmutiger Körper bewegte sich scheinbar federleicht auf und ab. In der Morgensonne schien sie von innen heraus zu leuchten. Lydia war aus spiegelklar lackiertem Mahagoni erbaut und ein schneidiger Seefahrtskreuzer der neuen, modernen 50-qm-Klasse. Im Frühjahr hatten Ole und Meister Rausch einen neuen Satz Segel für sie gefertigt und waren kurz darauf von ihrem Eigner eingeladen worden, eine Clubregatta mit ihm zu segeln. Weil Rausch und der Eigner sich mehr für den Trimm der neuen Tücher interessierten, war Ole die Arbeit an der Pinne zugefallen.
Sie hatten die Wettfahrt haushoch gewonnen, und seitdem war Ole der Lydia hoffnungslos verfallen.
Versonnen setzte er sich auf den Steg, ließ die Beine baumeln und betrachtete »sein Schiff«, wie er sie insgeheim nannte. Ein 50er war gute zwölf Meter lang und eine echte Yacht. Groß genug, um auch mit rauem Wetter zurecht zu kommen und um über eine bescheidene Kajüte mit vier Kojen, kleiner Kombüse und Navigationsecke zu verfügen. Jedoch nicht so groß und unhandlich wie ein 8er oder 12er oder einer dieser gewaltigen neuen 100er-Seefahrtskreuzer, bei denen ein lauschiger kleiner Segelschlag wegen der für diese Boote benötigten Besatzungsstärke leicht mit einem Truppentransport verwechselt werden konnte. Kurzum, in Oles Augen war ein 50er das ideale Schiff.
Ob Ole Storm jemals genug Reichtümer würde anhäufen können, um sich ein solches Prachtstück leisten zu können, stand auf einem ganz anderen Blatt. Die Lydia gehörte einem wohlhabenden Physiker namens Hülsmeyer, der angeblich mit einer geheimnisvollen Erfindung reich geworden war. Selbst für ihn waren die 18.000 Reichsmark, die er bei Abeking & Rasmussen in Lemwerder für die Lydia hatte hinblättern müssen, kein Pappenstiel gewesen. Für Ole jedoch war es ein Betrag, den er bei seinem gegenwärtigen Lohn in fünfzig Jahren nicht zusammensparen könnte.
Nichtsdestoweniger träumte er davon, ein solches Schiff zu besitzen und damit auf Fahrt zu gehen. Die Ostsee hinauf durchs Skagerrak, vielleicht nach England hinüber. Oder noch weiter, wie Schlimbach, allein über den Atlantik.
Ein lauter, lang anhaltender Schrei zerriss Oles Tagtraum. Dem Schrei folgte ein dumpfer Schlag und ein lästerlicher Fluch, in den sich schallendes Gelächter mischte.
Der Lärm war von dem Teil des Clubgebäudes gekommen, in dessen oberem Stockwerk sich einige Gästekammern für die ausländischen Regattateilnehmer befanden. Als Ole um die Ecke gelaufen kam, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick. Zwei Männer schütteten sich schier aus vor Lachen. Sie zeigten auf einen dritten, der mit blutiger Nase unter einer langen, offensichtlich umgestürzten Leiter am Boden lag und sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein hielt. Wo die Leiter an der Wand gelehnt haben mochte, stand ein Fenster offen.
Ein überaus attraktives Mädchen in Oles Alter sah daraus hervor.
Lina.
Sie war die Tochter des schwedischen Starbootseglers Fredrik Sønstebye aus Stockholm. So viel wusste Ole. Sie trug ein seidenes, nachlässig zugeknöpftes Pyjamahemd, das einen delikaten Blick in ihr Dekollete erlaubte, als sie sich nach vorne aus dem Fenster beugte. Ihre langen, dunkelblond gelockten Haare wehten offen um ihr Gesicht, und ihre Augen hatten die Farbe von sehr tiefem grünem Meerwasser - gerade eben noch von einem Grün, bevor es sich in ein dunkles, bodenloses Schwarzblau verlor.
Im Moment blitzten diese Augen gleichermaßen angriffslustig wie amüsiert, was wohl daran lag, dass Lina just in diesem Augenblick den Inhalt eines Nachttopfs über die Kompagnons des gescheiterten Fensterstürmers ausschüttete. Sie hatte exzellent gezielt und das Lachen der beiden verstummte sofort.
Ole konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er fragte sich, ob es nur Wasser gewesen war, das die beiden so abrupt zum Schweigen gebracht hatte, oder eine andere, pikantere Flüssigkeit, als er sah, dass Linas Blick an ihm hängen geblieben war.
»Die Vorstellung ist beendet!«, fauchte sie kühl und raffte ihren Pyjamakragen vor der Brust zusammen. »Du kannst jetzt auch verschwinden!«
Ole bemerkte den skandinavischen Akzent in ihrer Stimme.
Dann bemerkte er noch etwas.
Es sauste auf ihn zu und verfehlte seinen Kopf nur um Zentimeter, bevor es hinter ihm in tausend Stücke zersplitterte. Er drehte sich um und sah die Reste des Nachttopfes auf dem Pflaster.
Gleichzeitig knallten oben die Fensterläden zu.
Ole Storm blinzelte. Das Mädchen war definitiv das aufregendste weibliche Wesen, das er je gesehen hatte.
~
Die Segelmacherei hinter dem Clubhaus stand im Schatten der mächtigen Buchen des Düsternbrooker Gehölzes. Dennoch war der Innenraum dank großer Sprossenfenster an beiden Längsseiten überraschend hell. Die hintere Schmalseite des flachen Schuppens war mit tiefen, offenen Regalborden versehen, in denen sich zusammengelegte Segel, Tuchrollen, Tauwerke und Bootsbeschläge aller Art stapelten. Dort, wo die Werkstatt an das Clubgebäude anstieß, befanden sich der Eingang, das kleine Büro des Meisters, sowie ein frei im Raum stehender gusseiserner Ofen mit der Aufschrift »Ätna«. Der »kleine Vulkan« war im Winter die einzige Wärmequelle im Schuppen. Oft, wenn die Stege und Dalben draußen im Olympiahafen weiße Manschetten und Stehkragen aus Eis trugen, setzte sich Ole mit seiner Arbeit vor Ätnas offene Feuerklappe, damit seine Finger im Umgang mit Takelnadel oder Marlspiker nicht allzu klamm und ungeschickt wurden. Den restlichen Raum der Werkstatt nahm der große, wie eine Bühne erhöhte Schnürboden ein.
Auf ihm wurden mit Hilfe von straff gespannten Schnüren und biegsamen Straklatten die Tuchbahnen für ein neues Segel in die gewünschte Form geschnitten, bevor sie an der schweren, in den Boden eingelassenen Nähmaschine zusammengefügt wurden. Der Schnürboden war das Allerheiligste einer jeden Segelmacherei, und es war strengstens verboten, ihn mit Schuhen zu betreten. Normalerweise.
Konteradmiral Paul Freiherr von Wellersdorff scherte sich nicht darum, und Oles Chef, der Segelmachermeister Heribert Rausch, war klug genug, ihn im Moment nicht darauf aufmerksam zu machen.
»Dieser gottverfluchte Vollidiot!«, bellte von Wellersdorff ungehalten und tigerte mit schweren Schritten auf dem Schnürboden auf und ab.
Ole seufzte. Nachher würde es an ihm hängen bleiben, die kleinen Steinchen, die der Marineoffizier zwangsläufig unter seinen Schuhen mit hereingebracht hatte, aus den rohen Holzdielen herauszupicken. Nichts war schädlicher für das empfindliche, leichte Baumwollgewebe, aus dem die Regattasegel gemacht waren, als Steinsplitter und andere scharfkantige Dreckpartikel.
»Nicht genug, dass er den schwedischen Sportsfreund kompromittiert, indem er bei dessen Tochter einzusteigen versucht. Nein, er stellt sich dabei auch noch so hundserbärmlich dumm an, dass er sich das Bein bricht!«
Von Wellersdorff blieb stehen und starrte aus einem der Fenster.
»Und mit solchem Personal will der Führer einen Krieg vom Zaun brechen! Zum Totlachen.«
Als Kommandeur der Marineschule in Flensburg-Mürwik, hieß es, war er ein strenger, aber gerechter Vorgesetzter. Er stammte aus einer alten holsteinischen Adelsfamilie, die eine ganze Reihe von erstklassigen Seefahrern und Offizieren hervorgebracht hatte, was man bei einem Blick in seine kühlen grauen Augen sofort zu glauben bereit war. Gleichzeitig aber hatte er auch den Ruf »exzentrisch« zu sein, was in diesen Tagen eine vorsichtige Umschreibung dafür war, dass er bei der Ausbildung seiner Kadetten mehr Gewicht auf die nautische als auf die ideologische Erziehung legte und deswegen bereits mehrere Male bei seinem Vorgesetzten Admiral Raeder und der obersten Heeresleitung in Berlin angeeckt war. Dass er es abgelehnt hatte, sich zu irgendeinem Zeitpunkt dieser Regatta in der Uniform der Kriegsmarine zu präsentieren - auch jetzt trug er einfache Knickerbocker, Wollpullunder und ein schlichtes weißes Hemd -, war ein weiterer Beleg dafür, dass ihm weniger an großdeutscher Etikette, als an der internationalen Kameradschaft der Starbootsegler gelegen war. Von Wellersdorff war knappe fünfzig und sein streng nach hinten gekämmtes Haar wurde bereits grau und schütter. Er war eher klein und erst recht nicht athletisch, aber seine Ausstrahlung machte ihn zu einem beeindruckenden Mann.
Und mit dem Brass, den er im Moment vor sich herschob, dachte Ole Storm, hätte er problemlos jeden 200-Pfund-Kerl aus dem Weg gerammt. Was er wohl dazu zu sagen hätte, dass auch Ole in den anstößigen morgendlichen Vorfall hineingeschlittert war? Kurz huschte das Bild von schlafzerzausten blonden Locken und der Verheißung weicher weiblicher Formen unter Seide vor Oles innerem Auge vorbei, und sicherheitshalber ging er etwas tiefer hinter der wuchtigen Nähmaschine in Deckung.
»Hab gehört, das Fräulein Sønstebye hat ihm noch ordentlich eins auf die Nase gegeben, bevor sie die Leiter umgestoßen hat«, sagte Rausch beiläufig.
Oles Chef war ein kräftiger, untersetzter Mann Ende vierzig mit tätowierten Unterarmen, kahlem Kopf und kleinen, klugen Augen, der sich auch von einem aufgebrachten Marineoffizier auf seinem Schnürboden nicht aus der Ruhe bringen ließ.
»Allerdings. Sein Nasenbein ist genauso in Stücke gegangen wie sein Unterschenkel!«, schnaubte von Wellersdorff, und zum ersten Mal sah er wieder etwas zufriedener aus. »Das spricht sich ja verdammt schnell rum. Woher wissen Sie das denn schon wieder?«
Oles Meister und der Konteradmiral kannten und schätzten sich seit vielen Jahren, seit Rausch unter von Wellersdorff als Takelmeister und Ausbilder auf einem Segelschulschiff der Kriegsmarine zur See gefahren war.
»Können Sie sich doch denken, Herr Konteradmiral. Von einem der beiden Italiener, die mit von der Partie waren. Dem Vorschoter von Straulino. Der konnte natürlich nicht die Klappe halten.«
»Die Brüder werde ich mir auch noch vorknöpfen«, brummte von Wellersdorf. »Die haben ihn schließlich abgefüllt und zu dieser unseligen Wette angestachelt!«
Zu Oles Erleichterung sprang er jetzt endlich vom Schnürboden, ließ sich schnaufend auf einem großen Ballen Segeltuch nieder und sah nachdenklich aus dem Fenster.
Das Tackern von Oles Nähmaschine war einen Moment lang das einzige Geräusch im Raum.
Rausch zog ein Taschenmesser hervor und begann angelegentlich an einem Stück Kautabak herumzusäbeln.
»Und was machen Sie jetzt?«, fragte er.
Ein rechtschaffen großer Priem verschwand in seinem Mund.
»Was denken Sie wohl?«, knurrte von Wellersdorff. »Sowie er transportfähig ist, schicke ich ihn zurück nach Mürwik. Da kann er meinetwegen Unkraut zupfen oder Rost klopfen, bis ich zurück bin und mir überlegt habe, ob ich ihn degradiere oder zu den Gebirgsjägern versetze. Damit er bei denen klettern lernt, verdammt noch eins! An meine Vorschot jedenfalls lass ich den nicht mehr!«
»Ich meine nicht Leutnant Heikell«, sagte Rausch langsam und kratzte sich bedächtig an der Glatze. »Ich meine die Regatta. Heute wird doch bestimmt gesegelt, bei dem netten Windchen da draußen.«
»Hmm. Allerdings. Zwei Läufe sogar. Um den Flautenausfall aufzuholen.«
Oles Nähmaschine tackerte jetzt nur noch sehr langsam. Auch wenn er nicht wagte, den Kopf zu heben und hinüberzusehen, so wollte er doch auf keinen Fall irgendetwas von dem verpassen, was jetzt gesprochen wurde.
»Und das ist genau das Fatale«, fuhr der Konteradmiral fort. »Ich habe versucht, einen Ersatzmann zu bekommen. Koppenhagen oder Leutnant Brokstedt von der Ausbildungskompanie oder irgendeinen Hauptbootsmann, der halbwegs segeln kann. Aber die sind inzwischen alle auf Alarm gesetzt und können nicht raus.« Er seufzte inbrünstig. »Dagegen kann selbst ich nichts machen. Und wenn ich zehnmal der Leiter der Offiziersschule bin.«
»Muss es denn einer von Ihren Jungs sein?«
»Nein. Aber bei der Luftwaffe sieht es genauso aus. Und die vom Heer ... na ja, Sie wissen schon. Die sollte man wirklich nur fragen, wenn es um Pferde geht.«
»Ich dachte eher an einen Zivilisten. Oder widerspricht das irgendwelchen Vorschriften?«
Von Wellersdorff überlegte. Der Gedanke war ihm offensichtlich noch gar nicht gekommen.
»Nein … im Grunde genommen nicht. Hätten Sie denn wen?« Heribert Rausch antwortete nicht.
Ole hielt unwillkürlich die Luft an. Es war jetzt plötzlich mucksmäuschen still. Verdammt, er hatte ja auch vergessen, das Pedal seiner Nähmaschine weiter zu treten.
Dann bemerkte er, dass sowohl der Meister als auch von Wellersdorff zu ihm herübersahen. Rasch senkte er den Blick. Verflucht und zugenäht! Musste er in solchen Situationen immer rot anlaufen wie ein Backfisch beim ersten Stelldichein?
»Na, jetzt komm schon raus aus dem Karnickelloch, Junge!«, brummte der bullige Segelmacher und spuckte geräuschvoll seinen Priem aus. »Du willst doch nicht kneifen, wenn die See dich ruft?«
~
Ein Starboot war eine kleine, kantige Kiste von Segelboot, sehr schmal und nur wenig mehr als sieben Meter lang. Außerdem völlig übertakelt und daher überaus sportlich zu segeln. Das Cockpit war ein enges Loch, in dem sich die Beine verhedderten, wenn zwei normal gebaute Männer darin saßen. Auf dem langen Schlepp zur Außenförde begannen Oles angezogene Oberschenkel bereits ab Höhe Möltenort höllisch zu schmerzen, weil er dem strengen Herrn Konteradmiral nur ja nicht auf die Füße treten wollte.
Von Wellersdorff war bei dieser Regatta nicht nur der ranghöchste Offizier der deutschen Kriegsmarine, er war zugleich auch deren bester Segler. Bei den vergangenen Nationalen Meisterschaften und Kieler Wochen hatte er im Starboot ohne Ausnahme vordere Plätze belegt. Und bei den internen Pokalwettfahrten des Marine-Regatta-Vereins war er schon seit Jahren quasi ungeschlagen.
Aber das anfängliche Unbehagen, das Ole seit seiner überraschenden »Shangheiung« empfunden hatte, löste sich zusehends auf. Von Wellersdorff hatte ihn umgänglich nach seiner bisherigen Regattaerfahrung gefragt und ihm dann einige wichtige Trimmeinrichtungen auf seinem Star erklärt. Dabei war er zwar nicht ganz so redselig gewesen wie Tante Elfi, aber immerhin machte er auch nicht den Eindruck, als wolle er dieses Boot im straffen Marinekommandoton befehligen.
»Wenn du was siehst, einen Winddreher oder eine Bö, dann sag mir das ruhig«, hatte er sogar gesagt. »Vier Augen sehen mehr als zwei.«
»Ja, Herr Konteradmiral.«
»Und hör bloß auf, mich so zu nennen. Das kannst du dir für nachher aufsparen, wenn wir wieder an Land sind. Wenn ich an der Pinne sitze, bin ich der Paul, klar?«
»Jawohl, Herr … Paul.«
Spätestens als der Schleppzug der 21 Stare neben der Undine angekommen war, dem Startschiff, das die Kriegsmarine zur Verfügung gestellt hatte, war Oles Unsicherheit vollends verflogen und der Dankbarkeit darüber gewichen, dass er nun doch noch zum Mitsegeln gekommen war. Und als die Segel gesetzt waren und im Wind zu schlagen begannen, stellte sich auch die vertraute, für Ole wie selbstverständlich zu einem Regattastart gehörende Anspannung ein, die den Puls schneller schlagen ließ und alle seine Sinne schärfte.
Die Bedingungen in der Strander Bucht waren nahezu ideal.
Drei Beaufort, moderate Welle und strahlende Sonne. Die Minuten bis zum Start vergingen wie im Fluge. Von Wellersdorff hatte eine Position ganz links an der Startboje für sie ausgekuckt, nachdem sie gemeinsam festgestellt hatten, dass die Linie auf dieser Seite vom Wind begünstigt zu sein schien.
Von Meister Rausch hatte Ole eine Segeluhr geliehen bekommen. Nun sagte er die Zeit an.
»Fünfzehn Sekunden … zehn … von oben kommt Weise …«
»Gesehen!«, knurrte von Wellersdorff und luvte leicht an, um den eigenen Startplatz und damit den freien Wind zu verteidigen.
»Sechs … fünf … vier …«
Oles Anspannung war kurz vor dem Siedepunkt.
Von Wellersdorff zog die Großschot an. Ole tat es ihm mit der Vorschot gleich. Das Boot nahm Fahrt auf und passierte unbedrängt bei »Null« die Starttonne.
»Einzelrückruf?«, fragte von Wellersdorff.
Ole drehte sich zur Undine um. Durch die Wand von startenden Booten hindurch war es nicht einfach, aber dann konnte er kurz durch eine Lücke den Signalmast auf dem Startschiff sehen.
»Keine Flagge oben!«, rief er und ein heißer Schuss Adrenalin fuhr durch seine Adern. Sie hatten einen exzellenten Start gefahren.
Für den Konteradmiral schien dies jedoch nichts weniger zu sein, als er erwartet hatte. Konzentriert steuerte er weiter.
»Kannst du Pimm sehen?«
»Ist in der Mitte gestartet.«
Von Wellersdorff grunzte abfällig.
»Macht er immer. Geht kein Risiko ein, der Lump. Verlässt sich ganz auf seine Bootsgeschwindigkeit.«
Über ihnen, jedoch leicht achteraus, lag Weises Star. Darüber folgten der Europameister Straulino und dicht an dicht die schaumbenetzten Nasen von zehn oder zwölf anderen Booten. Von Hütsch-ler in der Mitte hatte sich bereits einige Meter aus dem Feld herausgearbeitet.
Kurz darauf sah auch von Wellersdorff über die Schulter. Er schien zu überlegen. »Wird schön eng werden …«, murmelte er. »Aber den Gegner verblüffen ist immer eine gute Taktik!«
Dann sagte er laut: »Wir nehmen die Parade ab! Klar zum …?« Ole schluckte.
»Die Parade abnehmen« hieß so viel wie: wenden und vor den nachfolgenden Booten hindurchkreuzen, obwohl diese allesamt auf vorfahrtsberechtigtem Backbord-Bug sein würden. Wenn es gelang, hatte man freien Wind und einen frühen Vorteil errungen.
Wenn nicht, musste man nicht nur einem Boot ausweichen, sondern allen!
»Wir … wenden?«, fragte er ungläubig.
»Natürlich. Der Wind dreht doch weg hier drüben!«
Das hatte Ole zwar auch bemerkt, aber er wäre in dieser Situation lieber so lange weitergefahren, bis die Boote über ihnen zuerst den Bug gewechselt hätten.
»Wenn du mir die Wende versaust, schmeiß ich dich über Bord«, schnarrte von Wellersdorff. »Hast du verstanden, Junge?«
»Wende ist klar!«, krächzte Ole. Dass gleich alles vom ersten Manöver abhängen sollte, war nicht besonders vielversprechend.
»Re!«
Von Wellersdorff stieß die Pinne von sich und tauchte unter dem überkommenden Großbaum hindurch. Als er drüben ankam, war Ole schon auf der neuen Luvkante, holte die Fock dicht und hängte sich weit nach außen, um das Krängen des Bootes auszugleichen. Wasser gurgelte unten über das leewärtige Seitendeck, aber dann richtete sich der Star sofort wieder auf und beschleunigte. Einen bangen Moment lang konnte Ole wegen des Großsegels keinen Blick auf ihre Widersacher erhaschen. Aber dann schäumte eineinhalb Meter hinter ihrem Heck der Bug von Weise hindurch und Sekunden danach der des Italieners.
»Gut gemacht!«, lobte von Wellersdorff. »Und jetzt häng dich rein!«
Schulbuchmäßig legte sich Ole der Länge nach mit seinem Körper außen auf die schräge Bordwand. Sein Gewicht sollte sich so weit es ging in Luv befinden, um möglichst effektiv dem Druck des Segels entgegenzuwirken. Er war ziemlich erstaunt, als er bemerkte, dass auch von Wellersdorff die gleiche Haltung einnahm und mit langem Arm am Pinnenausleger steuerte. Für einen Mann seines Alters eine ungemein athletische Art zu segeln.
Auch die anderen Boote, die auf Backbord-Bug herankamen, gingen ohne Probleme hinter ihnen durch. Einzig von Hütschler mussten sie ausweichen.
Das hatte jedoch zur Folge, dass sie bei ihrem nächsten Zusammentreffen, nachdem jedes der beiden Boote eine weitere Wende gefahren hatte, ihrerseits Vorfahrt reklamieren konnten. Diesmal musste der Titelverteidiger seine Schoten fieren, hinter ihnen passieren und ihnen den ehrenvollen Vortritt um die erste Tonne lassen.
Auch wenn man ihm dies kaum ansah, war Ole völlig aus dem Häuschen. Nie, nicht in seinen kühnsten Träumen hatte er sich vorgestellt, einmal einem seiner Segelidole derartig den Schneid abzukaufen. Und sei es auch nur für einen kurzen Moment.
Denn dass sie diese Position nicht auf Dauer würden halten können, davon war er fest überzeugt. Von Wellersdorff jedoch sah auch das anders.
»Nerven behalten«, knurrte er. »Die andern kochen auch nur mit Wasser!«
Zwar mussten sie auf den folgenden Bahnschenkeln von Hütschler, Straulino und auch den Ex-Weltmeister Wegeforth ziehen lassen, aber als es auf die Zielkreuz ging, waren sie immer noch an vierter Position. Ein überaus befriedigendes Ergebnis, wenn es denn so blieb.
Zu Beginn dieser letzten Runde fiel Ole eine leichte Veränderung auf. War zuvor das Blau der Wasseroberfläche noch etwas dunkler und die Wellen steiler gewesen, wirkten sie nun flacher und ihre Farbe war heller und matter. Ole wusste, was das bedeutete. Die Strömung war gekippt und kam nun mit dem Wind von vorne.
Unterschiedliche, ihren Ort verändernde Strömungen waren für die Kieler Außenförde nichts Ungewöhnliches. Besonders nicht, wenn man in der Nähe der tieferen Fahrrinne segelte. Ole sah sich um. 100 Meter Backbord querab, wo es flacher wurde, durchzog ein dunkles, von kleinen Wirbeln durchzogenes Band die Oberfläche. Eine Strömungskante. Dahinter hatte das Wasser noch das gleiche Aussehen wie zuvor. Also würde dort auch der Strom noch aus der alten Richtung setzen. Und das Boot auch weiterhin anschieben, anstatt zu bremsen.
»Wir sollten da rüber wenden«, sagte er, ohne großartig darüber nachzudenken.
Von Wellersdorff richtete sich aus seiner Ausreitposition auf und starrte ihn an. »Blödsinn! Zum Angreifen sind wir viel zu weit weg. Wir müssen den Hintermann decken.«
Tatsächlich waren von Hütschler, Straulino und Wegeforth bereits sechzig oder siebzig Meter voraus, wogegen ihr ärgster Konkurrent Weise nur zwei Bootslängen hinter ihnen die Leetonne gerundet hatte.
»Aber die Strömung ist gekippt!«
Darauf zu insistieren war vorlaut, doch vermutlich war es das Wort »Blödsinn« gewesen, dass Ole zu seinem Widerspruch veranlasst hatte.
»Du behauptest also, wir haben jetzt den Strom von vorne?«, fragte von Wellersdorff. Es klang gereizt.
»Nur hier. Da drüben unter Land gibt es einen Neerstrom, der uns schieben würde.«
»Woher, verdammt und zugenäht, willst du das wissen?«
Ole wusste sich nicht anders zu behelfen als mit der schlichten Wahrheit.
»Ich kann es sehen«, antwortete er leise. »An der Farbe des Wassers.«
Es klang so unsäglich dumm, dass er sich am liebsten sofort die Zunge abgebissen und über Bord gespuckt hätte. Seiner Aussage nach segelten voraus ein amtierender und ein Ex-Weltmeister sowie der Europameister blindlings in die falsche Richtung und nur er, der Verlegenheitsvorschoter Ole Storm, kannte den richtigen Weg.
Ole duckte sich tiefer auf die Kante, um dem stechenden Blick seines Steuermanns zu entgehen. Aber von Wellersdorff sah über ihn hinweg und beobachtete konzentriert die Wellen. Erst voraus, dann querab in der von Ole angezeigten Richtung.
»Ich kann keinen Unterschied erkennen«, brummte er. Dann fügte er jedoch zu Oles grenzenloser Überraschung hinzu: »Aber sei's drum. Wer nicht wagt … Klar zur Wende!«
Als kurz darauf die Undine den Salutschuss für das »first ship home« abfeuerte, nickte von Wellersdorff Ole Storm nur einmal knapp zu. Aber in seinen kühlen grauen Augen lag Anerkennnung.
Sie hatten einhundert Meter Vorsprung auf von Hütschler herausgefahren und einhundertfünfzig auf Straulino und Wegenforth.
~
Auch im zweiten Lauf des Tages hatten sie nahezu perfekt gesegelt. Sie beendeten ihn als Zweite hinter dem amerikanischen Boot von Wegeforth, nicht zuletzt, weil Ole auf der zweiten Kreuz einen Winddreher angesagt und von Wellersdorff ihm diesmal ohne zu zögern geglaubt hatte.
Die eigentliche Sensation dieses Rennens war jedoch, dass der favorisierte Pimm von Hütschler und sein Vorschoter Richard Korfmann durch eben diesen Dreher am Ende nicht über einen sechsten Platz hinausgekommen waren und sich in der Gesamtwertung völlig überraschend den ersten Platz mit von Wellersdorff teilen mussten. Und mit einem allseits unbekannten jungen Segelmacher namens Ole Storm.
Auf dem Weg zurück in den Hafen war Ole so stolz und glücklich wie noch nie zuvor. Sie rauschten mit weit aufgefierten Schoten und schäumender Bugwelle die grünen Ufer der Förde entlang. Wegeforth dreißig Meter querab winkte ihnen anerkennend zu und ihre übrigen Kontrahenten reihten sich brav in ihrem Kielwasser ein.
»Übernimm mal!«, sagte von Wellersdorff, als sie den Friedrichs-orter Leuchtturm passierten. Ole ließ sich das nicht zweimal sagen und setzte sich an die Pinne. Der Konteradmiral lehnte sich entspannt gegen den Großbaum und genoss, wie er es formulierte, den »erhebenden Blick« auf die nachfolgende Flottille. Er zog ein goldenes Zigarettenetui hervor und steckte sich eine seltsame, aus dunklem Papier gewickelte Zigarette an.
»Maisblatt«, sagte er. »Auch eine?«
Ole schüttelte den Kopf.
»Kluge Entscheidung. Eine von denen wird mich eines Tages umbringen ...« sagte von Wellersdorff leise und ließ das Etui zuschnappen. Er inhalierte und lehnte sich genießerisch zurück. Scheinbar gedankenverloren wanderte sein Blick über die Wellen achteraus. Doch dann sah er Ole unvermittelt in die Augen.
»Du kannst dem Wasser also ansehen, ob ein Strom setzt oder wohin der Wind dreht?«
Ole war ein wenig überrascht.
»Ja, manchmal.«
»Und du siehst es an der Farbe?«
Der Konteradmiral ließ den Qualm seiner Zigarette aus der Nase strömen und überlegte. Dann machte er eine vage Geste übers Wasser.
»Also für mich sehen die Wellen alle irgendwie gleich aus. Alle sind Blau.«
Ole zuckte die Achseln.
Natürlich waren die Wellen blau. Aber gleich? Niemals!
Das Meer hielt so unendlich viele Nuancen dieser Farbe Blau parat, dass Ole nicht einmal einen Bruchteil davon hätte mit Namen benennen können. Außerdem, wo hörte Blau auf und wo fing Grün an? Oder Türkis? Grau, Braun, Weiß?
Tiefes Wasser hatte ein anderes Blau als flaches. Salziges ein anderes als frisches oder brackiges oder schaumiges. Der Farbverlauf einer langen Welle sah für Ole völlig anders aus als der einer kurzen oder jener, die quer zur Strömung lief. Wie der Himmel und das Licht von oben, so spiegelten sich auch von unten herauf die Farben des Meeresgrundes in die der Oberfläche hinein. Sandgrund, Kraut, Felsen, Schlick mischten deren Blau ihre eigenen matten Grün- und Gelb- und Brauntöne bei. An der Intensität dieser Reflektion konnte Ole in etwa ausmachen, wie tief der entsprechende Grund unter Wasser lag. Einmal hatte Ole ein versunkenes Wrack im Farbenspiel der Oberfläche erkannt. Schwarz und grün und rostrot. Ein andermal das blitzende Silber eines Heringsschwarms.
Auch die wechselhaften Spuren des Windes und der Strömung veränderten die Farbe der See. Ein leichter Lufthauch, der silbrig eine glatte Oberfläche kräuselt. Eine kräftige Sturmbö, die in unheilvollem Schwarz über das Wasser fährt. Eine Unterströmung, vom ansteigenden Verlauf des Meeresbodens an die Oberfläche geleitet, die einen flachen, blanken Kegel hinterlässt. Wind gegen Tide, deren dunkle, steile Seen mit giftig grauen Schaumkämmen auf der Stelle zu stampfen scheinen. Sie alle zeichneten ihr eigenes Bild in die Oberfläche und veränderten die Farben des Wasser und dessen Stimmung. Friedvoll. Heiter. Gereizt. Wütend. Heimtückisch.
Ole spürte den Blick aus von Wellersdorffs Augen. Ein kühles Blaugrau. Ruhiges, winterklares Salzwasser über hartem Fels. Der Konteradmiral wartete geduldig auf eine Erklärung.
Ole überlegte angestrengt. Er hatte sich nie viele Gedanken über seine Fähigkeit gemacht, die Farben der See unterscheiden zu können. Ihre Bedeutung zu erkennen. Stundenlang dasitzen und zusehen und sich später in aller Klarheit daran erinnern zu können. Er war damit aufgewachsen. Seit er mit seinem Vater als kleiner Junge zum ersten Mal durch die engen, lehm- und ockerfarbigen Priele Nordfrieslands zum Fischen hinausgefahren war.
»Meistens ist es die Farbe«, sagte Ole zögerlich. »Manchmal auch nur die Helligkeit oder die Bewegung und die Art wie die Wasseroberfläche beschaffen ist. Oder alles zusammen.«
Er verstummte. Konnte es einfach nicht besser erklären.
»Ich sehe es eben«, sagte er knapp.
Der Konteradmiral schwieg einen Moment, dann nickte er.
»Du siehst ein Schema aus Farbe und Form und erkennst, ob es richtig aussieht oder sich verändert hat?«
»Ja, so ungefähr.«
Ole war erleichtert, dass diese Erklärung den Konteradmiral zufriedenzustellen schien.
»Du musst ein außergewöhnliches Erinnerungsvermögen haben«, stellte von Wellersdorff fest und schnippte seine Zigarette über Bord. »Wie ein indianischer Fährtenleser.«
Ole war sich nicht sicher, ob Anerkennung in diesem letzten Satz mitgeschwungen hatte oder Spott.
Eine Weile herrschte Schweigen.
Dann fragte der Konteradmiral unvermittelt: »Hast du ein weißes Hemd?«
Ole zwinkerte irritiert.
»Du brauchst ein sauberes weißes Hemd, wenn du mit mir und Pimm und den anderen im Club zu Abend essen willst!«
Oles Herz tat einen Sprung.
»Ach, und waschen und kämmen solltest du dich vielleicht auch noch ein bisschen! Es könnten schließlich Damen anwesend sein.«
~
Als um Punkt sieben das Essen im ehrwürdigen Kommodore-Saal des Clubs aufgetragen wurde, war nur eine Dame anwesend - Lina! - und Ole Storm konnte unmöglich sagen, wann sie bezaubernder ausgesehen hatte: am Morgen, im Pyjama, mit offenen, schlafzerzausten Locken und mit vor Angriffslust blitzenden Augen, oder jetzt, mit nach hinten zusammengebundenem Haar, im eleganten Kleid und einem strahlenden Lächeln, das ein Paar reizende Grübchen auf ihre Wangen zauberte.
Ihre Augen waren nicht einfach nur grün, wie Ole bisher geglaubt hatte. Jetzt, da er ihr genau gegenübersaß, sah er, dass sich ihre Farbe und Helligkeit in einem atemberaubenden Verlauf änderte. Vom tiefdunklen Blaugrün der äußeren Iris über jenes intensive Grün, das Ole am Morgen auf zwanzig Schritt Entfernung hatte blitzen sehen, bis hin zu einem hellen, fast türkis leuchtenden Ring, in dem feine silberne Strahlen auf das Schwarz ihrer Pupillen zuliefen. Silber und Türkis. Wellen einer Brandung über einem Sandstrand.
Eigentlich hätte dieser Anblick mehr als genug sein können, um Oles Glück an diesem Tag komplett zu machen. Aber leider schien Lina eben diese Augen nur für Richard Korfmann zu haben.
Als sei es nicht schon unverschämtes Glück genug gewesen, den Platz an Pimms Vorschot zu ergattern, jetzt hatte Richard sich in seiner unnachahmlichen Selbstsicherheit auch noch den Stuhl neben Lina unter den Nagel gerissen. Und während Ole, obwohl er ihr beinahe direkt gegenübersaß, kaum von ihr beachtet wurde, lachte und scherzte sie mit Korfmann und hing buchstäblich an seinen Lippen.
Richard war hoch gewachsenen und wurde wegen seiner strubbeligen blonden Haare, dem ebenmäßigen Gesicht und den hellblauen Augen von allen Mädchen im Umfeld des Segelclubs angehimmelt. Lina schien da leider keine Ausnahme zu machen, und Ole spürte einen kalten Klumpen im Magen. Eifersucht?
Richard Korfmann selber schien, seinem charmanten Plauderton zum Trotz, Linas lebhafter Konversation nur mit halbem Ohr zu folgen. Mit dem anderen, so kam es Ole jedenfalls vor, versuchte er dem Gespräch zu lauschen, das Linas Vater Fredrik Sønstebye ein paar Plätze weiter führte.
Der Universitätsprofessor aus Stockholm unterhielt sich mit dem amerikanischen Starbootsegler Alfred Lee Loomis, einem schweren, rotgesichtigen Mann Mitte Vierzig, der angeblich so reich war, dass er dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt das Geld für dessen Wahlkampf spendiert hatte. Bei ihnen saß Christian Hülsmeyer, der Eigner der Lydia.
Die Anwesenheit des hageren, nervösen Physikers mit der Nickelbrille hatte Ole anfangs ein wenig verwundert, denn Hüls-meyer hatte keinerlei Verbindungen zur Starbootklasse. Vielleicht lehrte Sønstebye an der Universität in Stockholm das gleiche Fach, in dem Hülsmeyer seine Forschungen betrieb, und möglicherweise drehte sich das Gespräch um eine von Hülsmeyers geheime Erfindungen. Was wiederum den leisen und vertraulichen Tonfall des auf Englisch geführten Gespräches erklären mochte, der es Freund Korfmann so schwer machte, etwas von dem Gesagten zu verstehen.
Dieser Idiot, dachte Ole und sah verstohlen zu seinem Clubkameraden herüber. Der sollte sich lieber um Lina kümmern, wenn die ihn schon so anhimmelt.
Richard schien den Blick bemerkt zu haben, denn plötzlich hob er den Kopf und sah Ole direkt an. Erst nach einem langen Augenblick, in dem Ole das unangenehme Gefühl hatte, als Gegner taxiert und gewogen zu werden, trat das altbekannte jungenhafte Grinsen auf Korfmanns Gesicht. Vertraulich beugte er sich vor und sagte:
»Na, Storm? Wer hätte das gedacht: Du bei einer Weltmeisterschaft. Und dann auch noch ziemlich weit oben auf der Ergebnisliste.«
»Wir sind Erste«, entfuhr es Ole. »Genau wie ihr.«
»Oh, natürlich«, antwortete Richard. »Entschuldigung. Ich vergaß.«
Das Grinsen wurde noch eine Spur breiter und der Blick spöttisch.
»Allerdings könnte es nachträglich Probleme geben …«
»Was für Probleme?«, fragte Ole steif.
»Na ja«, antwortete Richard und betrachtete beiläufig seine Fingernägel. »Du stehst ja nicht auf der Meldeliste, und ich habe auch keinen ordnungsgemäßen Aushang der Jury gesehen, der deine Teilnahme nachträglich erlaubt. Es könnte jemand Protest einreichen …«
Das verschlug Ole die Sprache.
»He, war doch nur ein Scherz!«, sagte Richard und lachte. »Drangekriegt!«
Verdammt, wieso kam Ole sich in Richards Gegenwart so oft wie ein dummer Schuljunge vor? Andererseits - er war sich nicht vollends sicher, ob in Korfmanns Ausdruck nicht doch noch etwas anderes als Schalk gelegen hatte. Feindseligkeit?
Zum Glück klopfte in diesem Augenblick jemand am anderen Ende des Tisches gegen sein Glas und zog so die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Es war kein geringerer als der amtierende Weltmeister.
»Paul, jetzt erklären Sie uns allen mal, warum Sie auf einmal so verdammt schneidig segeln?«, fragte von Hütschler und prostete dem Konteradmiral gutgelaunt zu. »Sie wollen mir doch nicht etwa den Titel wegschnappen, an den ich mich gerade so schön gewöhnt habe?«
Alles lachte.
»Um ehrlich zu sein, Pimm«, antwortete von Wellersdorf, »mir schwebte schon so etwas vor!«
»Und deswegen haben Sie sich zusätzlichen Sachverstand ins Boot geholt?«, fuhr von Hütschler fort und nickte Ole anerkennend zu.
»In der Tat«, antwortete von Wellersdorff und klopfte Ole jovial auf die Schulter. »Storm hat den Dreher im zweiten Rennen vorhergesagt!«
Von mehreren Seiten kam anerkennendes Gemurmel und auch Lina sah nun zum ersten Mal mit etwas mehr Interesse in seine Richtung. Ole fühlte die altbekannte, lästige Hitze in seine Wangen steigen. In wenigen Augenblicken würde er auf beiden Seiten Backbordposition gesetzt haben.
»Ich würde das eher verdammtes Glück nennen«, sagte Richard leise, aber deutlich genug, dass jeder es hatte hören können.
Die Gespräche verstummten. Was hatte Richard vor? Wollte er von Wellersdorff provozieren? Der Konteradmiral taxierte den Jüngeren mit kühlem Blick und überlegte einen Moment.
»In gewisser Weise haben Sie Recht, Korfmann!«, erwiderte er dann leichthin. »Es war pures Glück. Der eine Mann fällt von einer Leiter, der andere landet in meinem Cockpit - und sagt den entscheidenden Winddreher an! Vielleicht sollte ich mich bei Ihrer bezaubernden Tischnachbarin dafür bedanken, dass sie dieser glücklichen Fügung ein wenig auf die Sprünge geholfen hat?«
Unter herzlichem Lachen für dieses elegante Bonmot stand von Wellersdorff auf und hob sein Glas in Linas Richtung.
»Meine Herren!«, rief er. »Auf das Wohl von Fräulein Sønstebye aus Stockholm! Auf ihre Schönheit und ihre glückliche Hand bei der Wahl des rechten Mannes!«
Die übrigen Segler folgten seinem Beispiel und tranken Lina zu. Diese quittierte den Trinkspruch, indem sie nun ihrerseits das Glas hob. »Was die Schönheit angeht, lieber Herr Konteradmiral, so fühle ich mich natürlich sehr geschmeichelt«, sagte sie mokant. »Was die glückliche Hand betrifft, so möchte ich Sie doch bitten, mir das nächste Mal einfach jemanden zu schicken, der - wie sagt man auf Deutsch? - schwindelfrei ist.«
Damit hatte sie unbestritten die Lacher auf ihrer Seite, und wer von den ausländischen Seglern den Wortwechsel in Deutsch nicht hatte verstehen können, ließ ihn sich eilig von seinem Sitznachbarn ins Englische oder Holländische übersetzen.
In diesem Augenblick, da Lina der strahlende Mittelpunkt der illustren Regattagesellschaft war, blickte sie Ole unvermittelt an und lächelte ihm verschwörerisch zu. Ihm allein!
Plötzlich lag ein goldenes Glitzern über allem. Das gleiche goldene Glitzern, das Ole an diesem Morgen auf dem Wasser der Förde gesehen hatte. Es war der Augenblick, in dem Ole sich unsterblich in Lina verliebte.
Und es sollte für lange Zeit der letzte helle, unbeschwerte Moment sein. In Oles Leben, aber ebenso in dem aller anderen.
Noch bevor die allgemeine Heiterkeit abgeklungen war und sich die Gespräche wieder anderen Dingen zuwandten, betrat ein Marineoffizier in Uniform den Saal. Er sah sich unsicher um, entdeckte den Konteradmiral und ging auf ihn zu. Von Wellersdorff hörte sich aufmerksam an, was ihm der andere ins Ohr flüsterte. Sein Gesicht verriet dabei kaum etwas, aber Ole schien es, als wäre es plötzlich eine Nuance bleicher geworden. Der Konteradmiral sah auf die Uhr. Dann stand er auf und klopfte abermals an sein Glas.
»Meine Herren, meine Dame, ich fürchte, ich muss Sie noch einmal um Aufmerksamkeit bitten! Es ist ... es scheint etwas von absoluter Wichtigkeit vorgefallen zu sein.«
Alle verstummten. Auf einer Anrichte in der Nähe des Tisches befand sich ein großer Volksempfänger, der hier selten benutzt wurde. Von Wellersdorff ging hinüber, schaltete ihn ein und drehte an der Frequenz, bis er den Großdeutschen Rundfunk gefunden hatte. Dann stellte er die Lautstärke hoch, bis jeder im Raum die Stimme des Sprechers erkannte. Sie gehörte unverkennbar Joseph Goebbels.
Unwillkürlich hielt Ole die Luft an. Wenn der Propagandaminister persönlich im Radio zu hören war, musste es tatsächlich um etwas Wichtiges gehen.
»... liegt es im natürlichen Interesse des Deutschen Reiches«, rollte es im sattsam bekannten Goebbels'schen Tonfall aus dem Lautsprecher, »jene uns verbundenen Völker, allen voran Italien und Japan, in wahrer Freundschaft und aufrichtiger Brüderlichkeit um uns zu scharen. Nun aber ist es durch den nimmermüden Einsatz und das große diplomatische Geschick unseres Führers Adolf Hitler gelungen, jenen außenpolitischen Freunden ein weiteres starkes Mitglied hinzuzugewinnen.«
Die rhetorische Kunstpause, die Goebbels - ein ausgewiesener Meister seines Fachs - an dieser Stelle einlegte, verfehlte auch im Kommodoresaal des Yachtclubs seine Wirkung nicht. In der angespannten Stille schien sich das Knistern des Äthers auf die Luft im Raum zu übertragen.
»Geleitet vom Wunsche, die Sache des Friedens in Europa zu festigen und zu befördern«, fuhr Goebbels fort, »unterzeichnete heute, am späten Nachmittag des 23. August, die deutsche Reichsregierung, vertreten durch unseren Außenminister Joachim von Ribbentrop, einen gemeinsamen Vertrag zur nachbarschaftlichen Freundschaft und zur künftigen Vermeidung jeglicher kriegerischer Handlungen und Angriffe unserer beiden Völker gegeneinander mit der Regierung der Union der sozialistischen Sowjet- republiken.«
Ein Pakt mit Stalin!
Das Raunen, das dieser Enthüllung folgte, glich bei vielen einem schmerzhaften Aufstöhnen und steigerte sich in wenigen Momenten zu einem regelrechten Tumult, der die weitere Radioübertragung übertönte. Besonders die englischen Segler waren hellauf entsetzt, hatten sich doch Frankreich und Großbritannien bereits seit einem Jahr erfolglos um den Abschluss eines derartigen Paktes mit der Sowjetführung bemüht. Und nun war es Hitler scheinbar im Handstreich gelungen, ihnen zuvorzukommen!
»Jetzt kann nicht mal mehr der liebe Gott die Polen retten!«, hörte Ole jemanden neben sich sagen. Es war Frederik Sønstebye. Linas Vater.
Mehr als der Tumult oder die Nachricht selber, deren ganze Tragweite ihm erst später dämmern sollte, erschreckte Ole die Reaktion des Konteradmirals.
Von Wellersdorff stand reglos neben dem Radioempfänger, sein Gesicht bleich wie das Tischtuch und seine Hand im Kragen seines Hemdes zusammengekrampft, als müsse er sich in einem plötzlichen Anfall von Übelkeit Luft verschaffen. Dann ging er hinaus.
In dieser Nacht war das Wasser der Förde von einem undurchdringlichen Schwarz. Schwärzer als in anderen Nächten. Kein Grund zu sehen, keine auch noch so kleine Bewegung in der Oberfläche. Nicht einmal sein eigenes Spiegelbild konnte Ole darin finden, als er draußen auf dem Steg saß und nach unten starrte. Und dennoch sagte ihm die Schwärze des Wassers etwas. Sie war die perfekte Spiegelung seiner inneren Stimmung. Und der dort draußen in der Welt.
Wie es zu dieser völlig unwahrscheinlichen Annäherung der ideologischen Feinde Deutschland und Russland hatte kommen können, war zunächst niemandem so recht klar. Gerüchte um einen geheimen Zusatz jenes Freundschaftsvertrages machten die Runde, in dem sich der Führer Stalins Einwilligung angeblich durch territoriale Zugeständnisse im Osten erkauft haben sollte. Fest stand jedoch, dass die deutsche Führung mit diesem unerwarteten Coup die Erzrivalen Frankreich und England nicht nur überrumpelt, sondern regelrecht gedemütigt hatte. Und ebenso fest stand, dass es bei diesem Nichtangriffspakt nicht um den darin beschworenen Frieden, sondern um den kommenden Krieg ging. Den Krieg, den Hitler zur Klärung der deutschen Gebietsansprüche gegen Polen zu führen gedachte, und in den England und Frankreich wegen ihrer Garantieerklärungen für Warschau zwangsläufig mit hineingezogen würden.
Die meisten Teilnehmer der Regatta - deutsche wie ausländische - teilten von Wellersdorffs Einschätzung, dass der Ausbruch der Kampfhandlungen nun nur noch eine Frage von Tagen sein würde. Entsprechend niedergeschlagen war die Stimmung.
Die drei holländischen Starbootmannschaften beschlossen, noch in der Nacht ihre Schiffe abzubauen und so früh es ging am nächsten Morgen abzureisen. Die übrigen anwesenden Teilnehmer, die Wettfahrtleitung und die Vertreter des Clubs trafen sich eine knappe Stunde später im Rauchsalon zu einer Art Krisensitzung, deren Leitung von Wellersdorff als Rear Commodore der Starbootklasse übernahm.
Nachdem sich die Gemüter etwas beruhigt hatten und die gegenwärtige politische und militärische Aufstellung Deutschlands sorgsam erörtert worden war, einigte man sich darauf, die Regatta nicht gänzlich abzubrechen, sondern lediglich abzukürzen, indem man das für Samstag geplante fünfte Rennen und die anschließende Preisverteilung auf den morgigen Freitag vorzog. Sodann sollten die ausländischen Teilnehmer aus den nicht mit Deutschland verbündeten Staaten, also vor allem die Engländer und Amerikaner, mitsamt ihren Booten möglichst schnell und »geräuschlos« über Dänemark außer Landes gebracht werden.
Auch Professor Sønstebye würde auf diesem Wege nach Stockholm zurückkehren. Und mit ihm Lina, so wurde Ole schlagartig klar.
Die Organisation des heiklen Transportes wollte von Wellersdorf am kommenden Tag persönlich in die Hand nehmen.
Ole hatte sofort verstanden, was dies zu bedeuten hatte: Sie würden nicht weiter an der Regatta teilnehmen. Und wenn sie zehnmal in Führung lägen.
Von Wellersdorff sah die Enttäuschung in Oles Augen.
»Mir bleibt keine andere Wahl. Ich bin vermutlich der Einzige, der in dieser Situation und in der Kürze der Zeit ein geeignetes Schiff für den Transport auftreiben kann«, erklärte er.
Dann legte er die Hand auf Oles Schulter und fuhr fort: »Nimm's nicht so schwer, Storm. Mit ein bisschen Glück wird diese Krise nicht lange andauern und du wirst bald wieder bei einer Weltmeisterschaft vorne mitmischen. Vielleicht sogar als Steuermann.«
Ole nickte. Das unerwartete Lob war nur ein schwacher Trost. Plötzlich hatte er das Gefühl gehabt, dringend frische Luft zu benötigen und war hinunter ans Wasser gegangen. Da saß er nun und verglich die Schwärze des Wassers mit der Stimmung seines Herzens.
Ein Weltmeistertitel, völlig unverhofft in greifbare Nähe gerückt und dann doch wieder außerhalb jeder Reichweite. Ein strahlend schönes Mädchen, das mit kaum mehr als einem Lächeln und ein paar Blicken seine Gefühle auf den Kopf gestellt hatte, nur um gleich darauf auf nimmer Wiedersehen aus seinem Leben zu verschwinden. Und dies alles vor dem Hintergrund einer politischen Krise, die die ganze Welt aus der Bahn zu stürzen drohte.
Zwischen diesen drei Dingen sprangen Oles Gedanken vor und zurück. Immer wieder, knirschend wie die Nadel eines Grammophons auf einer zerkratzten Schelllackplatte.
Ole schüttelte sich unwillkürlich und stand auf. Wie von selbst gingen seine Schritte hinüber zum Liegeplatz der Lydia. Sie war noch da, wo sie hingehörte. Wenigstens das!
Ohne lange zu überlegen, kletterte er an Bord und setzte sich ins Cockpit an die geschwungene Holzpinne. Die mondlose Dunkelheit, das sachte Wiegen des Bootes und die kühle Nachtluft in seinen Lungen taten ihren Teil und ließen seine Sinne zur Ruhe kommen. Dann merkte Ole auf einmal, wie müde er war. Das frühe Aufstehen und die beiden ebenso aufregenden wie anstrengenden Regattaläufe forderten ihren Tribut, und es dauerte nicht lange, bis er eingenickt war.
Ole Storm schreckte aus dem Schlaf, als er Schritte und leise Stimmen auf den Bohlen des Steges hörte. Es waren zwei Männer. Sie blieben keine zehn Meter von der Lydia entfernt stehen, offensichtlich um auf zwei weitere Personen zu warten, die vom Land aus herüberkamen. Die Silhouette des Kleineren der beiden war trotz der Dunkelheit unverkennbar: von Wellersdorff.
Die Lydia lag mit dem Heck zum Steg. Rasch duckte Ole sich tiefer ins Cockpit, um nicht entdeckt zu werden. Ohne Erlaubnis ein fremdes Schiff zu betreten, so etwas wurde im ungeschriebenen nautischen Knigge des ehrwürdigen Yachtclubs als Delikt knapp unterhalb von Piraterie oder Jungfrauenraub geführt. Und wie der bekanntermaßen strenge von Wellersdorff auf einen solchen Fauxpas reagieren würde, wollte sich Ole lieber erst gar nicht vorstellen. Andererseits war es bereits zu spät, um noch unbemerkt auf den Steg springen zu können. Und wenn die Herren ihren nächtlichen Spaziergang in diese Richtung fortsetzten, würden sie ihn zwangsläufig entdecken.
Da kam es Ole ganz gut zupass, dass der Niedergang der Lydia offen stand. Vermutlich war er zum Lüften aufgelassen worden. Oder Hülsmeyer war, bevor er sich zum Abendessen mit Linas Vater getroffen hatte, an Bord gewesen und hatte vergessen, die beiden kleinen Türen wieder zuzuschließen. Doch das war Ole jetzt einerlei. Mit einem schnellen Satz sprang er unbemerkt den Niedergang hinunter.
Nur Sekunden später jedoch hätte er sich dafür bereits ohrfeigen können.
»Da ist sie«, sagte eine Stimme auf dem Steg.
Oh nein, dachte Ole. Hülsmeyer!
»Kommen Sie an Bord, meine Herren!«
Ole merkte, wie sich das schmale Heck des Seekreuzers senkte und die vier Männer nacheinander über das Achterdeck an Bord kletterten. Am liebsten hätte er laut geflucht. Wie hatte er sich nur wieder in diese unmögliche Lage manövrieren können? Vorsichtig tastete er sich in der stockdunklen Kajüte nach vorne, möglichst weit vom hellen Rechteck des Niedergangs weg, bis er mit dem Rücken ans Vorschott anstieß.
Das erste Paar Stiefel stieg bereits ins Cockpit hinab, und das Schiebeluk über dem Niedergang wurde aufgeschoben.
Rasch öffnete Ole die Türe zum Vorschiff und drückte sich in die niedrige Vorpiek hinein. Im selben Augenblick, als er die Tür zuzog, erhellte ein Streichholz den Salon und eine Öllampe wurde entzündet. Ihr schwacher Lichtschein fiel durch die Ritzen der Tür. Instinktiv sah Ole sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Über der breiten Doppelkoje, die zum Bug hin V-förmig zulief und gleichzeitig als Stauraum für diverse Segelsäcke diente, befand sich das Vorluk. Wenn es nicht mit einem Schloss gesichert war, konnte er vielleicht hinausklettern, bevor sie ihn erwischten?
»Nice boat, Christian!«, hörte Ole den Vierten im Bunde sagen. Der Amerikaner, Loomis.
»Thank you, Alfred«, antwortete Hülsmeyer. »Please, take a seat.«
Die Männer schienen es sich um den kleinen Kajüttisch gemütlich zu machen. Sie hatten ihn also nicht bemerkt!
Ole atmete erleichtert auf. Sie würden nicht nach vorne sehen. Vorsichtig setzte er sich auf das Kopfende der Koje. Vermutlich war es das Beste, wenn er sich nicht rührte und einfach abwartete, bis sie wieder verschwanden.
Nebenan wurde ein Schapp geöffnet, Gläser klirrten, eine Flasche wurde entkorkt. In den Geruch von klammem Holz und Leinölfirnis mischte sich das zarte Aroma von Sherry, und wenige Momente später der kräftige Qualm von Tabak. Eigentlich angenehm. Wenn nicht seine Lage so verdammt prekär gewesen wäre.
»Professor Sønstebye, Herr Konteradmiral«, sagte Hülsmeyer. »Ich bin Ihnen zutiefst dankbar, dass Sie mir und Mr. Loomis mit dem Transport helfen wollen. Dennoch muss ich Sie nochmals darauf hinweisen, dass, sollte irgendwer davon Wind bekommen, speziell die Heeresversuchsanstalt, wir alle vier wegen Hochverrats an die Wand gestellt werden. Zuallererst Sie und ich, von Wellersdorff.«
Ole merkte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten.
»Darüber sind wir uns durchaus im Klaren«, antwortete der Konteradmiral. »But we should continue in your language, Mr. Loomis.«
Alles Weitere wurde auf Englisch besprochen, von dem Ole nur ein paar einfache Brocken beherrschte und deswegen kaum etwas von dem Gesagten verstand. Ob ihn das allerdings retten würde, wenn man ihn hier vorne entdeckte, war zu bezweifeln. Also wagte er kaum, sich zu bewegen, auch wenn die harte Kante des Schlingerbretts der Koje inzwischen ein unangenehmes, taubes Gefühl in seinem Hintern verursachte.
Eine halbe Stunde später beendeten die vier Männer ihr Gespräch und verließen die Lydia wieder. Ole entschied, noch ein Weilchen zu warten, bevor er selber an Land ging. Sicherheitshalber.
Er ließ sich nach hinten gegen einen der Segelsäcke plumpsen und atmete tief durch. Was hatte er da gehört? Ein Transport? Vermutlich doch der, den der Konteradmiral zu organisieren hatte. Aber was hatte Hülsmeyer damit zu schaffen, der doch mit der Starbootregatta gar nichts zu tun hatte? Und was sollte dieser Transport, so heikel er auch sein mochte, mit Hochverrat zu tun haben?
Ole wurde kalt. Und das lag nicht daran, dass er lediglich sein weißes Sonntagshemd anhatte. Zwei Dinge hallten in seinem Kopf nach: Hochverrat. An die Wand gestellt.
~
Hätte Ole Storm tatsächlich Geld auf den Ausgang der Weltmeisterschaft verwettet, wie er es sich noch gestern Morgen gewünscht hatte, so hätte er nun einen schönen Gewinn eingestrichen.
Walter von Hütschler, für den er sich durchaus freute, und Richard Korfmann, dem er es weit weniger gönnte, ersegelten in beiden Läufen am Freitag einen ersten Platz und sicherten sich so den Weltmeistertitel.