In den Sturm - Jan von der Bank - E-Book

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Jan von der Bank

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Beschreibung

EINE FAHRT IN DEN STURM – Dass die Offiziersausbildung auf der Gorch Fock hart würde, hatte Thies Hansen erwartet, nicht aber einen solchen Horrortrip! Nach einer Kutterregatta der „Kieler Woche“ wird ein Mädchen ermordet. Thies und die anderen Kuttersegler der Gorch Fock werden verdächtigt und tagelang von Polizei und den eigenen Offizieren verhört; die unmittelbar bevorstehende nächste Fahrt der Gorch Fock steht auf der Kippe. Schließlich darf das Schulschiff doch auslaufen. Aber der Fluch des toten Mädchens segelt mit. Im Nordatlantik kommt es zu mehreren unheimlichen Todesfällen. Thies weiß, dass es auf See kein Davonlaufen gibt. Doch erst als der aufziehende Sturm seine volle Stärke erreicht hat, erkennt er, worum es dem Mörder wirklich geht ... Die mitsegelnde Stabsärztin Vivian Berg wird zu seiner Verbündeten. Die Kapitel folgen den Windstärken – von Kapitel 1 Windstärke 1 Leiser Zug, ruhige See bis Windstärke 12 Voller Orkan, außergewöhnlich schwere See. Nach der FARBE DER SEE gelingt Jan von der Bank ein zweiter atemberaubender Thriller. Der Autor ist selbst auf der Gorch Fock gefahren und war Segelweltmeister. Als TV-Autor schreibt er für Küstenwache, Tatort und Der Alte. IN DEN STURM ist zuerst unter dem Titel HUNDEWACHE erschienen und wurde für diese Neuausgabe überarbeitet.

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Jan von der Bank

In den Sturm

Roman

Das Werk einschließlich aller seiner Teile isturheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohneZustimmung der Urheber unzulässig.Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitungin elektronischen Systemen.

Neuausgabe, März 2018

3.Auflage Oktober 2019

Copyright © 2018 Klaas Jarchow Media Buchverlag GmbH & Co. KG

Simrockstr. 9a, 22587 Hamburg

www.kjm-buchverlag.de

ebook ISBN 978-3-96194-153-7

(Zuerst erschienen 2011 unter dem Titel »Hundewache« bei Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin)

Herstellung, Satz und Gestaltung: Eberhard Delius, Berlin

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Cover unter Verwendung einer Seefotografie

von Getty Images (200564492-001)

Die Aufnahme der Gorch Fock wurde einem Foto von Ulf Neesen entnommen.

Die Kapitelfotos entstammen dem Archiv des Autors:

© Jan von der Bank, Kapitel 5, 9, 11 Presseportal der Marine,

Kapitel 7 Yvonne Knoll, Kapitel 8 P. Rücker, Kapitel 10 historisches Foto

der Bark Garthsnaid, Kapitel 12 historisches Foto der Bark Europa

Alle Rechte vorbehalten

Mehr dazu und zu den Büchern des KJM Buchverlags

www.kjm-buchverlag.de

Für meinen Vater, der mir Meerund Schiffe zeigte,für meine Mutter, die mir Bücherdarüber gab.

Inhalt

Windstärke 1

Windstärke 2

Windstärke 3

Windstärke 4

Windstärke 5

Windstärke 6

Windstärke 7

Windstärke 8

Windstärke 9

Windstärke 10

Windstärke 11

Windstärke 12

WINDSTÄRKE 1

Kleine, schuppenförmig aussehende Kräuselwellen ohne Schaumkämme.

Leiser Zug – ruhige See

Die Welle war etwa einen Meter hoch und von einem kleinen, weiß schäumenden Kamm gekrönt. Als einzelner, dunkler Rücken lief sie quer über die ansonsten spiegelglatte, gleißend helle Oberfläche der Kieler Innenförde auf sie zu. Sie war absolut perfekt und ebenmäßig, fast als wäre sie das in einem Schlepptank erzeugte Idealbild einer Welle und nicht vom unförmigen Bug eines schnöden Hochseeschleppers aufgeworfen worden.

»Augen zu, und wer zuerst die Beine wegzieht, hat verloren!«

»Du spinnst!«

Thies schüttelte grinsend den Kopf. Solche Ideen waren absolut typisch für seinen Freund Peer.

»Was ist jetzt? Sie ist gleich da!«, drängelte er.

Thies sah hinaus aufs Wasser. Die Welle würde genau im rechten Winkel auf die Spundwand des kleinen Yachthafens treffen. Wenn sie so sitzen blieben, mit nach außen baumelnden Beinen, würden sie zumindest nasse Füße bekommen, wahrscheinlich sogar einen nassen Hosenboden.

Thies’ helle blaue Augen blitzten amüsiert. »Na schön, wenn du unbedingt willst!«, sagte er und schob sich mit einer schwungvollen Geste die strubbeligen, blonden Haare aus der Stirn – oder besser das, was die militärische Ordnung und der Standortfriseur davon übriggelassen hatte.

Peer Rademacher griente zurück. Er war groß, schlaksig und hatte kurze, dunkle Haare, die er in der Kopfmitte zu einem frechen Kamm hochgebürstet trug, was ihm bereits diverse Rüffel ihrer Ausbilder eingebracht hatte. »Okay!«, sagte er. »Die hübsche Frau hier passt auf, dass du nicht bescheißt und die Augen aufmachst!«

Die »hübsche Frau«, die zwischen ihnen auf dem Steg stand, hieß Tanja Behnke. Sie war schlank, und ihr brauner Pagenkopf passte gut zu ihrer zierlichen Erscheinung. Auf den Mund gefallen war sie allerdings nicht. »Vor allem passe ich auf, dass du nicht bescheißt!«, sagte sie lachend und knuffte Peer freundschaftlich in den Rücken. »Los, rutscht zusammen und Augen zu!«

Thies und Peer gehorchten, und Tanja legte jedem von ihnen von hinten eine Hand über die Augen.

Sie waren erst vor eineinhalb Wochen als Offiziersanwärter auf das Segelschulschiff Gorch Fock versetzt worden, das dort drüben, etwa einhundert Meter entfernt, an der Außenmole des Kieler Tirpitzhafens lag. Eigentlich waren sie an diesem späten Nachmittag hierher auf die Steganlage der Seglervereinigung Kiel gekommen, um ein paar Erinnerungsfotos zu machen: Sie selber in Uniform, allein, zu zweit oder alle drei, und immer der schneeweiße, stolze Windjammer im Hintergrund.

Thies Hansen hatte Peer und Tanja bereits in der Grundausbildung kennengelernt und danach gemeinsam mit ihnen die Marineschule in Mürwik besucht. Die beiden waren ein Paar, was innerhalb einer Lehrgangscrew eher verpönt war und nur deswegen von ihren Vorgesetzten geduldet wurde, weil sie schon vor ihrer Zeit bei der Marine liiert und nach eigener Aussage »so gut wie verlobt« waren. Außerdem hatten sie der Auflage zugestimmt, sich für die Dauer ihres Aufenthalts an Bord des Schulschiffes mit offenen Zärtlichkeiten zurückzuhalten und es zu keiner Art von »körperlichen Übergriffen« kommen zu lassen.

Auf diesem Gebiet schien Peer überraschend konsequent zu sein, wohingegen er sonst kaum einen Spaß ausließ.

Thies musste nur an die Sache mit dem toten, aufgedunsenen Dorsch denken, den sie in Mürwik aus dem Hafenbecken gefischt und danach im Zierfischaquarium des Standortkommandanten zu Wasser gelassen hatten, oder an den mitternächtlichen Scheinalarm, der ihnen ein ganzes Wochenende Extra-Wachdienst eingebracht hatte, weil sie damit nicht nur ihre Kameraden, sondern auch ihre Ausbilder aus den Betten geholt hatten.

»Wie weit ist sie noch weg?«, fragte Peer hibbelig.

»Von mir erfährst du kein Wort«, antwortete Tanja lachend. »Und hör auf, durch meine Finger zu glotzen!«

Thies schmunzelte. Er selber wusste ziemlich genau, dass die Welle jetzt nur noch dreißig Meter entfernt war – ohne dass er es sehen musste.

Er konzentrierte sich. Wenige Augenblicke später setzte der minimale, von unten nach oben gerichtete Luftzug ein, den jede halbwegs steile Welle wie eine unsichtbare, gegenläufig rotierende Windwalze vor sich herschob. Als er ihn an den ausgestreckten Händen und Unterarmen spürte, riss er sofort die Beine zur Seite und sprang nach hinten zu Tanja auf den Steg.

»Verdammter Mist!«, fluchte Peer beinahe in der gleichen Sekunde.

Er war sitzen geblieben – natürlich! Er hätte sich eher den Arm amputieren lassen, bevor er eine Wette verloren gab, und sei sie auch noch so unsinnig. Jetzt hockte er mit pitschnasser Uniformhose auf der Betonbrüstung, und Thies und Tanja konnten sich nicht mehr halten vor Lachen.

»Na und?«, knurrte er und grinste schief. »Wenigstens hab ich gewonnen!«

»Ja!«, antwortet Tanja. »Und siehst dabei aus, als hättest du dir in die Hosen gepinkelt! Los, ich mach ein Foto!«

Thies und Peer stellten sich Arm in Arm nebeneinander, Letzterer mit nasser Hose und abgewinkeltem Daumen, und ließen den denkwürdigen Augenblick – denn das sollte es tatsächlich sein! – von Tanja verewigen.

Der entfernte, helle Klang der Schiffsglocke der Gorch Fock rief sie zurück an Bord.

Sie hatten den Nachmittag über freigehabt. Für diesen Abend stand die traditionelle Nachtsegelübung auf dem Ausbildungsplan.

»Wie hast du das hinbekommen?«, fragte Tanja, als sie zurück zum Stützpunkt liefen. »Du hast die Beine wirklich genau in dem Augenblick zurückgezogen, als das Ding da war!«

»Tja, weißt du«, antwortete er und gab sich Mühe, es möglichst lapidar klingen zu lassen, »die Wellen und ich, wir sind eben Freunde! Ich ... verstehe ihre Sprache!«

Tanja sah ihn überrascht an. Dann begann sie zu lachen. »So ein Quatsch! Du hast geschummelt, gib’s zu!«

Thies zuckte die Achseln. Im Grunde genommen hatte er die Wahrheit gesagt. Allerdings war diese tatsächlich reichlich bizarr.

Er hatte die Welle kommen gehört.

Nicht so wie Peer, der natürlich auch das Rauschen im Ohr gehabt hatte, sondern anders. Viel präziser. Er hatte die minimale Steigerung in der Lautstärke heraushören können, als die Welle näher und näher kam, und sogar bemerkt, wie sich der Klang der anderen Geräusche veränderte, das Plätschern des Wassers vor der Spundwand etwa oder das Rauschen des Verkehrs hinter ihnen auf dem Hindenburgufer, als sie von der herankommenden Welle reflektiert wurden.

Und dann hatte er den charakteristischen Luftzug gespürt, den sie vor sich herschob.

Thies wusste, dass er oft Dinge hören und fühlen konnte, die für andere, »normale« Menschen weit jenseits ihrer Wahrnehmungsgrenze lagen. Es war seine besondere Gabe und gleichzeitig eine unglaubliche Belastung. Manchmal nannte er es auch seine Behinderung.

Auf jeden Fall durfte niemand davon erfahren. Es war sein streng gehütetes Geheimnis.

Eine Stunde später hing Thies unterhalb der verdammten Bramsaling. Diese Stelle trieb ihm jedes Mal den blanken Schweiß aus den Poren. Mit der Höhe an sich, immerhin gute dreißig Meter über Deck, hatte er weniger Schwierigkeiten, aber dort, wo die kaum noch fußbreite Strickleiter schräg nach außen um die zweite Mastplattform herumführte, baumelte man beim Klettern zwangsläufig mit dem ganzen Körper weit nach hinten überhängend über dem Abgrund. Und beim Umgreifen zum nächsten Tritt das Ganze dann auch nur noch an einer Hand!

Jetzt bloß keinen dieser fiesen Krämpfe im Unterarm kriegen, schoss es ihm durch den Kopf. Es war schon schlimm genug, dass er offene Blasen an den Fingern hatte, die bei jedem Greifen höllisch brannten. Zudem sorgte seit zwei Tagen ein ausgewachsener Muskelkater in den Unterarmen auch noch dafür, dass er die Hände kaum noch zusammenbekam – was beim Festhalten in schwindelerregender Höhe ein ziemlich unangenehmes Gefühl in der Magengegend verursachte. Der schöne Klettergurt, den jeder von ihnen zur Sicherheit bekommen hatte, war da auch keine große Beruhigung, denn mit ihm konnte man sich ja erst einpicken, wenn man oben auf der Rah angekommen war.

Schweiß rann ihm in die Augen. Er versuchte, ihn wegzublinzeln. Abwischen ging nicht. Im Moment wagte er einfach nicht, eine Hand zu lösen, blieb einfach hängen, wo er war, und konzentrierte sich auf seine Atmung und das pulsierende Rauschen seines Blutes auf dem Trommelfell. So wie er es sich für Stresssituationen antrainiert hatte.

»Ey, du Rotarsch, penn nicht ein!«

Rotarsch war im Marineslang die allgemein übliche spöttische Titulierung eines unerfahrenen Neulings. Der Kamerad, der hinter ihm in die Wanten aufgeentert war, fuhr schon länger an Bord des Schulschiffes und wurde langsam ungeduldig.

Thies Hansen biss die Zähne zusammen und löste die rechte Hand. Sofort fühlte er sein ganzes Körpergewicht am linken Arm hängen, und die Sehnen am Gelenk waren bis zum Bersten gespannt. Hastig stieß er die Rechte nach oben und bekam das schwarz geteerte Want zu packen. Dann noch zwei weitere Kraftanstrengungen, zwei weitere Tritte in die Webleinen, wie die waagerechten Tauwerkssprossen hießen, und er hatte es endlich über die Kante der Saling geschafft. Der Rest von dort bis ganz nach oben war dagegen fast schon ein Klacks.

Kurz darauf lehnte Thies mit dem Oberkörper über der Royal, die Absätze ins unter der Rah gespannte Fußpferd gestemmt und mit den Karabinern des Klettergurtes gesichert, und begann die Befestigungslaschen des Segels zu lösen. Gleichzeitig löste sich auch seine Anspannung, und der schlimme Moment von eben war vergessen.

Hier oben hatte er seltsamerweise überhaupt keine Angst mehr. Im Gegenteil. Die Aussicht war einfach phantastisch! Ringsum glitzerte und schimmerte hell das Wasser der Kieler Förde, in dem sich der klare, rotgoldene Abendhimmel spiegelte. Weit, weit unter ihm lagen spielzeugklein das Deck der Gorch Fock, immerhin fast achtzig Meter lang und zwölf Meter breit, und daneben die breite Betonpier des Marinestützpunktes. An diesem Abend war sie für Zuschauer und Angehörige geöffnet worden. Aus dieser Höhe waren sie nichts weiter als hin und her wuselnde Ameisen, und die Befehle, die die Maate und Segeloffiziere von Deck durch ihre Flüstertüten in die Takelage hinaufbellten, kamen hier oben nur noch als ein gedämpfter, wohltuend distanzierter Singsang an.

Wenn man den Kopf nach Backbord drehte, konnte man im Süden, wo der Horizont bereits nachtblau war, die beleuchteten Türme der Stadt und die großen Portalkräne der Werft sehen. Irgendwo dort hinter dem Düsternbrooker Gehölz lagen die Kiellinie und die Hörn, an deren Uferpromenaden ab übermorgen das bunte, laute Treiben der Kieler Woche losbrechen würde. Im Norden war der Mittsommerhimmel noch taghell, und jenseits des Friedrichsorter Leuchtturmes und der Innenförde öffnete sich das Meer in seiner ganzen Weite bis zum Horizont.

Die Einzigen, die sich noch über Thies’ luftigem Standort befanden, waren ein paar Möwen, die mit gedämpftem Kreischen in der warmen Abendbrise segelten.

Thies holte tief Luft. Am liebsten hätte er die Arme ausgebreitet und wäre mit den Möwen um die Wette gesegelt.

In dieser Höhe zu stehen, die Brise im Gesicht und den Blick in die Weite gerichtet, zu wissen, dass man seine Angst überwunden und es bis hier herauf geschafft hatte, das war fast so schön wie fliegen – und im wahrsten Sinne des Wortes ein Hochgefühl!

Und dann war da noch etwas anderes, völlig Neues. Es schmeckte irgendwie berauschend und verheißungsvoll nach Ferne, Abenteuer, Freiheit. Nach etwas wirklich Großem. Ein Gefühl, das man so vielleicht nur einmal im Leben verspüren konnte, wenn man zwanzig war und den Kopf voller Träume hatte, wenn die eigene Zukunft noch hell und weit erschien wie der Horizont und einem die ganze Welt – in diesem Moment sogar buchstäblich! – zu Füßen lag.

»Na, eben noch Schiss gehabt und jetzt schon wieder abheben wollen?«, unkte einer seiner Kameraden.

Er hieß Martin Kaminski und war derjenige, der an der Bramsaling von ihm aufgehalten worden war.

»Aber mach dir nix draus, Hansen!«, fuhr er mit leicht überheblichem Tonfall fort. »Wir alle haben uns am Anfang in die Hosen gemacht, als wir neu waren!«

»Ja, und du von allen am meisten, Kaminski!«, warf ein anderer spöttisch dazwischen. »Sagt mir lieber, wie weit ihr seid! Die Bram hat längst klar gemeldet!«

Der Hauptgefreite Achim Weber war mit 26 Jahren einer der ältesten in der Segelcrew, was ihm den Posten des Vertrauensmannes der Mannschaftsdienstgrade eingebracht hatte. Hier oben auf der Rah war er außerdem die sogenannte Nummer eins, also derjenige, der den Maaten unten an Deck melden musste, wann die sechs Matrosen auf der Royal ihr Segel gelöst hatten.

Alle fünf murmelten sie ihr »Klar!«, und Weber streckte die geballte Faust nach vorne als Zeichen dafür, dass nun auch die Royal zum Setzen bereit war.

Weber, Kaminski und die anderen drei »Royalfahrer« waren aus der Segelcrew und fuhren bereits seit mehreren Monaten auf der Gorch Fock. Logisch, dass sie die Arbeitsabläufe in der Takelage und die komplexen Manöver an Deck bereits im Schlaf kannten. Für Thies Hansen hingegen, Peer, Tanja und die 76 anderen Offiziersanwärter war das alles noch ganz neu.

Gerade mal eine gute Woche waren sie jetzt an Bord. Und die war verdammt hart gewesen.

»Reise, Reise, aufstehn!« um sechs, Hängemattenmusterung – ja, sie schliefen tatsächlich in Hängematten! – kurzes Frühstück und danach den ganzen lieben langen Tag handfester Segeldrill. Unter dem schmerzhaft lauten Schrillen der Bootsmannspfeifen und den erbarmungslosen Kommentaren des Decksmeisters mühten sie sich mit dem Auf- und Abentern, wie das Klettern in den Wanten genannt wurde, mit dem Loswerfen und wieder Zusammenlegen der Segel auf den Rahen, und vor allem mit dem »Holen« der zahllosen Tampen, die es auf dem Segelschulschiff gab. Schoten, Brassen, Fallen, Geitaue, Strecker, Auf- und Niederholer und was nicht noch alles mussten wieder und wieder gezogen, gefiert, wieder geholt, belegt und in großen Buchten an Deck aufgeschossen werden. 186 verschiedene laufende Taue zur Bedienung der Segel gab es insgesamt, deren mitunter recht seltsame Namen ebenso auswendig gelernt werden mussten wie die dazugehörigen Belegnägel, auf denen sie zu finden waren. Großstengestagsegelpreventerschot – Nagelbank Steuerbord mittschiffs; Besanstengestagsegelniederholer – achtere Großtopp-Nagelbank; oberer Ausholer, unterer Besan – Nagelbank vor dem Besanmast ... oder doch dahinter, verdammt?

»In zwei Wochen haben Sie das intus!«, hatte der Decksmeister bestimmt, als er die »Flunder« verteilte, jenen berüchtigten Zettel, auf dem alle Tampen und Belegnägel verzeichnet waren. »Wenn nicht, mache ich Ihnen persönlich Feuer unterm Hintern, verlassen Sie sich darauf!«

Der Grund für diese Eile war ihnen ebenfalls bereits am ersten Tag bei der Begrüßung durch Kapitän zur See Stoppenkamp, dem Kommandanten des Schulschiffes, mitgeteilt worden. In wenigen Tagen, genauer gesagt am kommenden Samstag, sollte die Gorch Fock wieder in See gehen, und zwar als anführendes Schiff der großen Windjammerparade der Kieler Woche. Und als einer der prominentesten Teilnehmer der diesjährigen International Tall Ships Challenge, deren Start im Anschluss an die Parade draußen vor der Kieler Förde stattfinden sollte.

Es war die fünfzigste Auflage dieser traditionsreichen Regatta, und die Meldeliste, die Thies in den Kieler Nachrichten gesehen hatte, las sich wie ein »Who’s who« der Großseglerszene. Zu den Startern gehörten unter anderem die Chersones aus der Ukraine, die norwegische Statsraad Lehmkuhl und sogar die beiden russischen Schiffe Sedow und Krusenstern, die wohl größten noch segelnden Windjammer. Insgesamt waren es fünfundzwanzig größere und kleinere Traditionssegler, und natürlich wollte es sich die Bundesmarine nicht nehmen lassen, mit der Gorch Fock ihr unbestrittenes Paradepferd ins Rennen zu schicken.

Der Termin der Regatta lag nicht gerade günstig für den Geschmack der deutschen Marine, aber da es sich um das prestigeträchtige Jubiläum der Regatta handelte, hatte das Marinekommando die ansonsten so heilige Quartalseinteilung der Personalplanung gelockert. Anstatt wie sonst üblich zum ersten Juli, waren Thies und die übrigen Kadetten bereits zwei Wochen früher an Bord des Schulschiffes versetzt worden, damit sie noch rechtzeitig vor der Regatta besagte seglerische Vorausbildung absolvieren konnten. Die überwiegend aus Wehrdienstleistenden und Zeitsoldaten zusammengesetzte Segelcrew hingegen, die der Stammbesatzung zugerechnet wurde und zu der Weber und Kaminski gehörten, sollte erst zwei Wochen später im Zielhafen der Regatta auf den Azoren von Bord gehen. Zumindest soweit es ihre restliche Dienstzeit erlaubte. Damit, so das Kalkül der Schiffsführung, würden sich die unerfahrenen Lehrgangsteilnehmer nahtlos in die erfahrenere Segelcrew »einspleißen«, und die Gorch Fock müsste bei der Regatta nicht mit einer völlig unerfahrenen Mannschaft an den Start gehen.

An diesem Abend nun sollte mit dem Nachtsegelexerzieren die Segelvorausbildung der Neulinge abgeschlossen werden, und der IO, der Erste Offizier, würde dem Kommandanten Besatzung und Schiff einsatzfähig melden.

Thies blickte von oben auf die gekrümmten Rücken der anderen Rahbesatzungen unter sich. Bram, Obermars, Untermars und Fock; mittlerweile hatte der ganze Vormast, ebenso wie der Großmast hinter ihnen »klar« gemeldet, und ein langgezogenes »Rahsegel, lass fallen!« erscholl vom Achterdeck aus.

Überall, mit Ausnahme der beiden Obermarsen, wurden die eben noch aufgetuchten Segel nach vorne von den Rahen geschoben und begannen sich träge in der leichten Abendbrise zu bauschen.

»Leg ein! Enter ab! An die Schoten, Losen und Fallen!«

Dieses Kommando hieß soviel wie: runter von den Rahen, zurück an Deck klettern und dort anhand der unzähligen Taue das Trimmen der Segel in Angriff nehmen!

Befehle gellten über Deck, die Unteroffiziere scheuchten ihre Gruppen an ihre Plätze, und wer in all dem Hin-und-her-Gerenne und -Geschreie überhaupt noch den Überblick behalten sollte, war Thies auch nach mehreren Tagen Manöverdrill immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.

Wie beim Tauziehen hatte sich die Segelcrew, auch die 21 weiblichen Offiziersanwärterinnen, in die Tampen zu werfen. Zunächst mussten die drei obersten Rahen von Groß- und Vormast an ihren Fallen nach oben gezogen werden. Denn Royal, Bram und Obermars, so hatte man ihnen er klärt, wurden aus Stabilitätsgründen nur zum Segeln in ihre jeweiligen Positionen gebracht. Was durchaus nachvollziehbar war, wog doch alleine die Obermarsrah am Großmast bereits stattliche 1,6 Tonnen.

Das war die erste Lektion, die sie hier an Bord lernten, und zugleich die wichtigste von allen: Alleine hätte keiner von ihnen das Fall auch nur einen einzigen Millimeter bewegen können. Das ging nur im Team, und auch nur, wenn alle zusammen den Rhythmus einhielten, der durch das allgegenwärtige »Hol weg!« der Maaten und das für Thies’ empfindliche Ohren fast schon schmerzhafte Schrillen ihrer Pfeifen vorgegeben wurde.

Mit einem eigentümlichen Knirschen und Klicken stiegen die Rahen in ihren Führungen am Mast empor, bis endlich das »Hol steif!« den letzten, schweißtreibenden Meter ankündigte. Nachdem die Fallen belegt waren, ging es ohne Pause an die Brassen und Schoten. Mit ihnen konnten die Rahsegel um die Achse der Masten gedreht und in die richtige Stellung zum Wind gezogen werden. Auch diese Prozedur dauerte mehrere Minuten. Zum Schluss kamen die sogenannten Schratsegel an die Reihe, also alle Tücher, die nicht an den Rahen gesetzt wurden, sondern vorne am Bugspriet, zwischen den Masten oder an den Gaffeln des Besans, wie der hinterste der drei Masten der Gorch Fock hieß.

Erst als alle 23 Segel mit ihren über zweitausend Quadratmetern Fläche gesetzt und in die richtige Position getrimmt waren, war der Tanz vorbei – und die Crew schweißgebadet!

Offenbar war die Schiffsführung mit der dargebotenen Manöverleistung zufrieden, denn man gewährte ihnen großzügig eine halbe Stunde Pause. Wer Angehörige oder Freunde unten auf der Pier entdeckt hatte, durfte nun zu ihnen hinunter, und rasch bildete sich eine Schlange an der Stelling.

Dort stand auch Peer Rademacher und winkte ihm zu. »Was ist, Hansi, gehst du mit runter?«

In diesem Moment piepste Peers Handy. Er nahm es aus der Tasche und las kopfschüttelnd die eingegangene Textnachricht.

»Typisch Weiber!«, meinte er. »Madame steht unten auf der Pier und schreibt mir eine SMS, wo ich denn bleibe!«

»Na dann mal hopp!«, sagte Thies. Er hatte nicht vor, mitzukommen.

»Wahrscheinlich langweilt sie die Konversation meiner Eltern zu Tode«, setzte Peer grinsend hinzu. »Willst du nicht doch mitkommen? Ich stell dich meinem Alten vor!

Du brennst doch bestimmt darauf, den Herrn Minister in spe kennenzulernen, oder?«

Thies verzog das Gesicht und peilte über das Schanzkleid auf die Pier. Peer entstammte, soviel er wusste, einer alten Hamburger Familie, die Anteile an einem großen Pharmakonzern hielt und reich war. Stinkreich, wie Peer selber höchst salopp zu sagen pflegte. Sein »Alter« hatte, wenn nichts dazwischenkam, gute Chancen auf ein Ministeramt in Berlin. Wirtschaft oder Gesundheit, wie es hieß.

»Ich ... wollte eigentlich grade unter Deck gehen«, murmelte Thies ausweichend.

»Schon kapiert!«, sagte Rademacher lachend. »Also, bis später!« Er hob lässig die Hand und verschwand über die Stelling.

Thies atmete einmal tief durch. Tatsächlich hatte er gerade jetzt herzlich wenig Lust verspürt, sich ins Gedränge an Land zu werfen. Und das lag nur zum Teil an Rademachers Familie. Oder daran, dass von seinen eigenen Leuten niemand erschienen war.

Thies’ Familie kam zwar aus Kiel, aber seine Eltern traten zur Kieler Woche traditionell die Flucht in den Urlaub an. Sie würden erst am kommenden Samstag zum Auslaufen zurück sein. Die alten Freunde aus der Abi-Clique oder aus dem Yachtclub, die sich das Schauspiel der abendlichen Segelübung vielleicht noch hätten ansehen wollen, waren entweder studienbedingt in alle Winde verstreut oder zu irgendwelchen Partys verabredet, von denen es in Kiel im Vorfeld der Kieler Woche einige gab. Und Verena ... Nun ja, warum sie nicht hatte herkommen wollen, obwohl er sie mehrfach dazu eingeladen hatte, lag wohl auf der Hand.

Seit sechs Wochen war nun endgültig Schluss zwischen ihnen, und sie war einfach nicht der Typ, der auf das übliche Wir-können-ja-Freunde-Bleiben stand. Seltsamerweise war Thies’ anfänglicher Trennungsschmerz – immerhin waren sie über zwei Jahre zusammen gewesen – einer gewissen Erleichterung gewichen, und nüchtern betrachtet, musste er sich eingestehen, dass sie eigentlich nie so recht zusammengepasst hatten. Sie, die pragmatische, ehrgeizige und stets ein wenig spitzfindige Jurastudentin, die bei Diskussionen ständig versuchte, einem das eigene Argument im Mund umzudrehen, und er, der eher stille, auf Distanz bedachte Romantiker, der »verträumte Chaot«, wie sie ihn anfangs noch liebevoll, zuletzt aber eher abfällig genannt hatte. Wie ausgerechnet er mit seinem Problem auf die Idee hatte kommen können, eine Uniform anzuziehen, war ihr einfach unbegreiflich gewesen.

Er schauderte, wenn er an die finale Szene zurückdachte, die Verena ihm in dem schicken Kieler Restaurant an ihrem letzten gemeinsamen Abend gemacht hatte. Ihre wütenden Tränen, die bitteren Vorwürfe, der anklagende, verletzende Tonfall ... Er hatte ihr einfach nicht begreiflich machen können, wie viel ihm der Wunsch bedeutete, einmal im Leben an Bord eines Rahseglers über die Meere zu fahren.

Seine Eltern hatten das zwar auch nicht kapiert, aber die hatten wenigstens nicht mit einem halbvollen Glas Rotwein und einem Teller Tagliatelle al Salmone nach ihm geworfen. Verdammt noch mal, wieso musste er überhaupt noch so oft an sie denken? Die Sache war doch längst abgehakt!

In diesem Moment wurde die Segelbeleuchtung eingeschaltet, die von unten herauf in die Takelage strahlte. Obwohl es immer noch nicht richtig dunkel geworden war, gaben die beleuchteten Segelpyramiden vor dem blauen Abendhimmel ein beeindruckendes Bild ab, das von den Zuschauern auf der Pier mit lauten Ahs und Ohs und vereinzeltem Applaus begrüßt wurde.

Auch Thies legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf. Wie gerne wäre er jetzt noch einmal da oben, alleine für sich. In Ruhe!

Er rieb sich den Schweiß aus den Augen, der langsam kalt wurde, streckte den verspannten Rücken und stieg den steilen Niedergang zum Vordeck empor. Hier würde er am ehesten ein stilles Eckchen finden. Auf eine gewisse Art war das Segelmanöver für ihn weitaus anstrengender gewesen als für jeden anderen an Bord, und es war allerhöchste Zeit, ein paar Atemübungen zu machen!

Auch das war ein Teil seines geheimen Problems.

Es klang ein bisschen paradox. Körperlich war Thies Hansen alles andere als schwächlich. Er war 1,80 groß und sportlich durchtrainiert. Den größten Teil seiner Freizeit verbrachte er auf der clubeigenen Regattayacht seines Segelvereins, auf der er als Vorschiffsschiffsmann fungierte. Ein echter Knochenjob, zu dem das anstrengende Hantieren mit dem sperrigen Spinnakerbaum ebenso gehörte wie das Setzen, Bergen und Zusammenpacken der großen, schweren Vorsegel.

Seine Gabe, die Wellen in seinem Rücken kommen zu hören, wenn er dort vorn mit dem Gesicht nach hinten gewandt arbeitete, hatte ihm bereits gute Dienste geleistet. Vor allem im letzten Jahr, als sie bei stürmischen Bedingungen die berüchtigte Skagen-Rund-Regatta gewonnen hatten, hatte das Vorschiff quasi permanent unter Wasser gestanden. Um so etwas durchzustehen, musste man einfach fit sein!

Natürlich ging es auch hier an Bord körperlich ganz schön zur Sache. Die Schmerzen in den Armen und dem Rücken kamen nicht von ungefähr, ebenso wenig wie die Blasen an den Händen, die heute Morgen noch zaghafte Heilungsansätze gezeigt hatten, inzwischen aber längst wieder offen waren.

Nein, es war etwas ganz anderes, das Thies auf der Gorch Fock buchstäblich an die Grenzen seiner Kräfte brachte.

Es war das allgegenwärtige Gedränge, vor dem es kein Entrinnen gab, dazu die Enge und die schlechte Luft unter Deck sowie die permanente Geräuschkulisse. Ja, der Lärm war eigentlich das Schlimmste. Besonders während der Segelmanöver, bei denen die Bootsmannspfeifen schrillten und die Crew vom hektischen Stakkato der Befehle über Deck gehetzt wurde. »Tempo Tempo!«, hieß es. Alles musste im Laufschritt erledigt werden, begleitet vom unvermeidlichen Geschiebe beim Auflaufen der Taue, dem permanenten Körperkontakt mit den verschwitzten Hinter- oder Nebenmännern. Purer Stress für Thies’ Sinnesorgane, und speziell in diesen ersten Tagen, als alles noch so neu und ungewohnt war, musste er sich mit aller Kraft zusammennehmen, um halbwegs unauffällig zu bleiben.

Thies Hansen war das, was die Fachwelt eine »Highly Sensitive Person«, kurz »HSP«, nannte.

Zu Deutsch: hochsensibel.

Das jedenfalls hatte Dr. Perlmann gesagt, die Schulpsychologin, die nach einer quälend langen Reihe von Therapiesitzungen und Tests endlich dahintergekommen war, warum der ansonsten so stille, in sich gekehrte Junge auf der Klassenfahrt des neunten Jahrgangs plötzlich ausgeflippt und aus der Jugendherberge getürmt war. Warum er als Kind so oft ängstlich, überfordert und erschöpft gewirkt hatte oder einfach nur geistesabwesend und weltfremd. Warum er sich als Heranwachsender zurückzog, wenn es für seine Altersgenossen gerade erst anfing, richtig Spaß zu machen, in der Disco, auf Partys oder auch bloß beim normalen alltäglichen Herumalbern, Raufen und Lärmen auf dem Schulhof. Kurz: Warum er dieses dünnhäutige Sensibelchen war, wie sein Vater ihn so oft mit enttäuschtem Unterton genannt hatte.

»Dabei ist es eigentlich ganz simpel!«, hatte Dr. Perlmann ihm erklärt. »Dein Nervensystem ist feiner justiert als das von anderen Leuten. Deine Sinne nehmen mehr Eindrücke auf. Du hörst mehr, siehst und fühlst mehr. Und machst dir deswegen vermutlich auch mehr Gedanken über die Dinge um dich herum. Das strengt natürlich an. Es stresst dich. Verstehst du?«

Zunächst hatte Thies den Kopf geschüttelt, doch die Psychologin hatte ein simples Beispiel parat.

»Eine Schulstunde dauert fünfundvierzig Minuten, richtig? Das ist so, weil die allermeisten Menschen, egal ob Schüler oder Lehrer, nach einer gewissen Zeitspanne eine Pause brauchen, weil sie dann mit Eindrücken gesättigt sind und vorübergehend nichts mehr in den Kopf passt. Der Speicher ist voll, und der Akku ist leer.«

Dergleichen hatte Thies in der Tat schon oft gehört.

»Bei dir wird dieser Zustand aber schon nach einer halben Stunde erreicht, eventuell sogar noch früher. Das liegt daran, dass du in dem gleichen Zeitraum einfach viel mehr verarbeiten musst. Du hast mir selber erzählt, dass du nicht nur den Lehrer reden hörst, sondern auch das Tuscheln in der letzten Reihe, das Kratzen des Bleistiftes links von dir und den Streit auf dem Schulhof drei Stockwerke tiefer, richtig? Da ist es doch nur normal, dass dein Speicher schneller voll und dein Akku entsprechend leer ist. Oder, anders ausgedrückt: Fünfundvierzig Minuten durchzuhalten, kostet dich viel mehr Kraft als andere!«

Das hatte Thies irgendwie eingeleuchtet.

»Aber tröste dich, damit bist du nicht allein. Schätzungsweise zehn Prozent deiner Mitmenschen haben das gleiche Problem, und bei vielen der anderen HSPs sind die Symptome noch wesentlich stärker ausgeprägt als bei dir.«

Thies erinnerte sich noch genau, wie erleichtert er darüber gewesen war, dass es für jemanden wie ihn einen medizinischen Begriff gab und er beileibe kein Einzelfall war. Und »mehr« zu können als neunzig Prozent der restlichen Bevölkerung, mehr mitzubekommen, einfühlsamer zu sein und deswegen vielleicht sogar analytischer oder kreativer denken zu können, war ja eigentlich so schlecht nun auch wieder nicht. Mit geschlossenen Augen den Klang von heranrollenden Wellen unterscheiden zu können, das war wohl ein echtes Luxusproblem! Nur abschalten konnte man es dummerweise nicht, und manchmal waren es einfach zu viele Sinneseindrücke, die da permanent und ungefiltert auf ihn einprasselten.

Aber auch in diesem Punkt hatte Dr. Perlmann ihm mit ein paar verblüffend einfachen Tipps helfen können. Atemübungen oder, wie sie es nannte, autogenes Training zur Beruhigung gehörten dazu, die Empfehlung einer CD mit ruhiger, meditativer Musik zur Regeneration sowie der Hinweis auf simple Ohrstöpsel als Schutz gegen akute Lärmsituationen im Alltag.

Selbst bei der Marine hatte er sich mit dem autogenen Training und der Musikentspannung ganz gut behelfen können. Keiner seiner Kameraden oder Vorgesetzten ahnte, dass dahinter mehr steckte als ein simpler Meditationsspleen, wenn er seine Atemübungen machte oder sich den Kopfhörer seines Walkmans aufsetzte. Nur die Verwendung von Ohropax war ihm verboten worden, nicht nur während des Dienstes, sondern sogar auch beim Schlafen. Ein Soldat, so hatte man ihm erklärt, müsse jederzeit und unverzüglich auf die Befehle seiner Vorgesetzten oder einen etwaigen Alarm reagieren können. Seitdem benutzte Thies die Stöpsel nur noch heimlich oder in den zum Glück sehr selten gewordenen akuten Notfällen, wenn er vor lauter Lärm und Anspannung doch noch einmal die Nerven zu verlieren drohte.

Die ruhigste Stelle, die Thies an diesem Abend auf der Back der Gorch Fock finden konnte, war das Klüvernetz, das ganz vorne unter dem Bugspriet gespannt war. Als er sicher war, dass niemand, der ihm etwas anderes befehlen konnte, ihn beobachtete, schwang er die Beine über das Schanzkleid und ließ sich neben dem Bugspriet in die Maschen des dreieckigen, seitlich von zwei Stahlseilen gehaltenen Netzes hinab – auf der Wasserseite wohlgemerkt, damit ihn niemand von der Pier aus sehen konnte, aber auch um zu vermeiden, dass das Stimmengewirr von dort ihn direkt erreichte.

Genau über dem goldenen Albatros, der die Galionsfigur der Gorch Fock war, lehnte er den Rücken in das Netz, verschränkte die Beine im Yogasitz und schloss die Augen. Dann führte er beide Hände zu den Wangen hinauf, wie er es immer bei seinem autogenen Training tat, tastete mit den Fingerspitzen der Mittelfinger nach den Öffnungen des Gehörkanals und verschloss diese mit sanftem Druck. Sofort ebbten die Geräusche der Umwelt ab, und das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren trat in den Vordergrund. Dann begann er mit den Übungen, und schon nach wenigen tiefen Atemzügen registrierte er, wie sich sein Puls auf dem Trommelfell in wohltuender Weise verlangsamte.

Nach wenigen Zügen konzentrierte er sich auf nichts anderes mehr als auf dieses pulsierende Rauschen und auf die zutiefst beruhigende und entspannende Wirkung von dessen gleichmäßiger Wiederkehr.

Anfänglich hatte er sehr lange gebraucht, um diesen Effekt herbeizuführen, und fast wäre er an der Aufgabe verzweifelt, »etwas in sich selbst« zu finden, das ihn beruhigen sollte. Aber inzwischen hatte er Routine, und es gelang ihm nunmehr verblüffend schnell. Ein paar Minuten Zeit und eine ungestörte Ecke genügten, um die Verspannung seiner Muskeln, hervorgerufen durch den Lärm und die Hektik des Tages, zu lösen. Das Wissen, sein körperliches Defizit durch eigene Kraft beherrschen zu können, gab ihm Selbstbewusstsein, und im selben Maß, in dem seine Angst und seine Beklemmungen sich lösten, gewann auch sein Verstand an Kontrolle zurück.

Oft war dies ein Moment, der Thies zu besonders klaren Gedanken verhalf, zu einem Blick auf die Dinge, der detailliert und distanziert zugleich war. Und manchmal traten an dieser Stelle wie von selber Antworten auf Fragen hervor, die er sich zuvor vergeblich gestellt hatte.

Heute, nach dem für ihn in zweifacher Hinsicht so anstrengenden Manövertraining, lauteten diese Fragen einmal mehr: Warum tat er sich das alles an? Wie konnte ein Sensibelchen wie er nur auf die Idee kommen, sich dem rauen, lautstarken Kommandoton der Marine auszusetzen?

Beim Regattasegeln ging es bisweilen zwar auch recht laut und hektisch zu, vor allem wenn der Wind auffrischte und die Segel schlugen, aber eine Yacht blieb immer eine überschaubare, kompakte Umgebung, in der Thies’ Wahrnehmungsstress ausschließlich auf seinen kleinen Arbeitsbereich auf dem Vorschiff reduziert blieb. In der qualvollen, lärmgeschwängerten Enge eines Schiffes wie der Gorch Fock, auf deren gerade einmal achtzig Meter langem Rumpf nicht weniger als zweihundertzwanzig Menschen zusammengepfercht waren, sah das natürlich ganz anders aus!

Warum also? Jetzt, in der Tiefe seiner Entspannung, lag die Antwort klar und deutlich vor ihm: Natürlich tat er es primär, um sich selbst zu beweisen, dass er es tun konnte!

Aber auch, um es seinem Vater zu zeigen, der immer noch glaubte, sein Sohn sei ein verweichlichter, überempfindlicher Sonderling, ein ewiges Problemkind, nicht geeignet und fähig, es mit der harten, lauten Realität des Erwachsenenlebens aufzunehmen.

Und dann gab es da noch einen weiteren Grund, der erheblich romantischer war: seine Liebe zum Meer! Zu dessen Weite und Stille, zur ruhigen, gleichmäßigen Kraft seiner Bewegungen. Zum Klang und zur Sprache seiner Wellen, die er mit seiner Gabe tatsächlich zu verstehen glaubte.

Teil dieser Anziehungskraft, die die See auf ihn ausübte, waren von jeher auch die Segelschiffe gewesen, die elegant über deren Oberfläche glitten und dabei meist so wohltuend leise waren, dass kaum mehr als das flüsternde Schäumen ihrer Bugwelle, das geheimnisvolle Knacken ihrer Spanten und Planken und das gelegentliche Knattern eines Segels zu hören waren – allesamt Geräusche, die ihn stimulierten, und nicht zu vergleichen mit dem entnervenden Lärm an Land.

Sein Vater besaß eine kleine Segelyacht, Thies war quasi darauf groß geworden. Warme Erinnerungen an friedliche, stille Momente hingen daran, bei leichter Brise unter Segeln auf der diesigen Ostsee oder vor Anker in einer kleinen Bucht irgendwo in Dänemark, in denen selbst sein dominanter, sonst oft so polteriger alter Herr zur Ruhe hatte kommen können.

Aber was waren diese kurzen Törns gegen eine richtige Seereise, was war ein Dreißig-Fuß-Schiffchen, oder auch die größere Vereinsyacht gegen die Windjammer, die Königinnen der Meere, von denen die Gorch Fock schon immer die Schönste für ihn gewesen war? Als kleiner Junge hatte er oft auf der Blücherbrücke in Kiel gestanden, damals, als sich ihr Liegeplatz noch in unmittelbarer Nachbarschaft ihres Segelvereins befand, und hatte auf die hohen, elegant nach hinten gepfeilten Masten des großen weißen Segelschiffes geblickt, hatte der Besatzung beim Segelexerzieren zugesehen oder beim Auslaufen zu einer ihrer großen Reisen zu fernen, unbekannten Ländern mit geheimnisvollen Namen. Zu Orten, an die er sich selbst so oft geträumt hatte, wenn er still in der Ecke saß, während die »normalen« Kinder lärmend auf der Straße spielten.

Nein, auf diesem Schiff zur See zu fahren war alles andere als ein Widerspruch zu seinem Problem, es war eine mögliche Lösung! Das wurde ihm in diesem Augenblick, als er seine Atemübungen beendet und sein inneres Gleichgewicht wiederhergestellt hatte, einmal mehr bewusst. Es war die richtige Entscheidung, trotz der Enge und des Lärms. Sie würde vielleicht verdammt viel Kraft kosten, aber er würde stärker sein, wenn er zurückkam. Davon war er überzeugt.

Thies öffnete die Augen und nahm behutsam die Fingerspitzen von den Ohren. Die Umwelt kehrte zu ihm zurück, aber anders als zuvor strengten ihn ihre Eindrücke nicht mehr an. Im Gegenteil. In Momenten wie diesen konnte er seine Fähigkeit sogar genießen. Die Decksplanken hinter ihm auf der Back verströmten den angenehmen Duft von warmem Teakholz, in den sich dezent das eigentliche Parfum der weißen Lady mischte, jener so unverwechselbar schiffige Geruch nach Tauwerk, Teer und frischer Farbe. Bisweilen konnte er zu intensiv und aufdringlich sein, aber hier vorne, verdünnt mit der milden, leicht salzigen Abendluft, umschmeichelte er geradezu Thies’ empfindsame Nase.

Unter ihm war das wohltuende Plätschern und Glucksen des Wassers zu hören, das sich um den Bug der Gorch Fock hob und senkte, im langsamen Rhythmus eines weit entfernten Schwells dort draußen auf der Förde. Irgendwo über ihm in der Takelage knarrten ein paar Taue, eines der zur Übung gesetzten Segel am Großmast flappte träge in der leichten Nachtbrise, und das Stimmengewirr auf der Pier schien angenehm weit entfernt.

Das Einzige, das aus diesem Klangteppich hervorstach, waren zwei Stimmen auf dem Vorschiff, die langsam näher kamen, so dass Thies sie einfach nicht ignorieren konnte. Für normale Ohren wäre die gedämpft-vertrauliche Unterhaltung vermutlich gar nicht von den Hintergrundgeräuschen auf der Pier zu unterscheiden gewesen. Für Thies indessen hob sich das eine klar und deutlich von dem anderen ab, und er verstand jedes einzelne Wort.

Auf Höhe des Ankerspills blieben die beiden Männer an der Reling stehen. Auch das bekam Thies mit, ohne dass er über den Süllrand hinwegspähen musste. Ebenso sicher war er sich, um wen es sich handelte.

»Tut mir leid, aber diesmal krieg ich beim besten Willen keine Leute zusammen.«

Das war unverkennbar der leicht näselnde, badische Akzent des Decksmeisters, Hauptbootsmann Gierke, der ungeachtet seiner jovialen, irgendwie betulich wirkenden Rundlichkeit jederzeit so laut und ungemütlich werden konnte, dass er alleine in Sekunden problemlos eine ganze Besatzung auf Trab bringen konnte.

»Hmm. Das wird dem Kommandanten nicht gefallen.«

Diese zweite, immer ein wenig schnarrende Stimme war die von Fregattenkapitän von Doberan, dem Ersten Offizier der Gorch Fock. Er war ein großer, hagerer Mann mit tiefliegenden Raubvogelaugen, dessen disziplinarische Strenge und Humorlosigkeit ihm den bissigen und natürlich nur hinter vorgehaltener Hand gebrauchten Spitznamen »der Dobermann« eingebracht hatte.

Ausgerechnet der IO also! Von dem wollte Thies nun wahrlich nicht beim Lauschen erwischt werden. Natürlich hätte er jetzt noch schnell aus dem Netz klettern und einfach an den beiden vorbeimarschieren können, aber das würde ihm definitiv Ärger einbringen. So viel hatte er aus früheren Vorfällen gelernt, bei denen ihn seine »Gabe« in vergleichbare Situationen gebracht hatte. Nein, er würde den Kopf unten halten und hoffen, dass von Doberan und Gierke nicht noch näher kamen und über das Schanzkleid ins Bugnetz hinabblickten.

Doch auch so schon klang der Erste Offizier alles andere als begeistert. »Der Kutter der Gorch Fock hat bisher immer an dieser Regatta teilgenommen, wenn wir zur Kieler Woche hier waren. Das ist Tradition. Außerdem schicken die anderen Tallships garantiert auch ihre Boote ins Rennen.«

Darum ging es also: die Regatta der Marine- und Jugendkutter, die alljährlich am ersten Wochenende der Kieler Woche auf der Innenförde ausgetragen wurde.

Obwohl bei dieser Veranstaltung nicht mehr mit eigenen Kuttern der Gorch Fock gesegelt wurde – diese waren längst abgeschafft und durch zwei sehr viel leichtere und schnellere Motorschlauchboote ersetzt worden –, fiel das Segeln mit einem Kutter traditionell in den »seemännischen Abschnitt«, also den Aufgabenbereich des Decksmeisters.

»Außer Ihnen und dem Kommandanten habe ich alle Offiziere und Unteroffiziere gefragt. Die meisten wollen das freie Wochenende vor der Reise natürlich bei ihrer Familie verbringen statt auf einem Kutter.«

»Natürlich, das war abzusehen«, brummte der IO missmutig.

»Wenn Sie mich fragen, ist diese bekloppte Reiseplanung schuld. In einem normalen Jahr hab ich nie Schwierigkeiten, eine Crew zusammenzubekommen!«

»Hmm. Und wenn Sie ausnahmsweise ein paar Mann aus der Crew oder dem Lehrgang nehmen? Die wollen doch bestimmt!«

»Aber Herr Kap’tän!« Der Decksmeister klang ehrlich empört, als habe von Doberan ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. »Der Kutter der Gorch Fock war immer ein reiner Offizierskutter! Außerdem, die OAs lernen das heute doch gar nicht mehr richtig. Die können vielleicht noch einen Kutter pullen, aber nicht segeln! Und bei den Mannschaften sieht’s noch schlechter aus. Mit denen würden wir uns glattweg blamieren!«

»Vielleicht haben sie recht, Decksmeister. Dann muss die Regatta übermorgen wohl ohne uns stattfinden ... Schade, aber nicht zu ändern! Pfeifen Sie die Besatzung zurück an Deck und lassen Sie die Segel wegnehmen! Und vergessen Sie nicht, die verdammte Christbaumbeleuchtung auszuschalten! Das soll schließlich eine Nachtübung werden!«

Eine knappe Stunde später, als alle Segel im Dunkeln geborgen und verzurrt worden waren, ließ der Kommandant, Kapitän zur See Stoppenkamp, die gesamte Crew noch einmal antreten, was bei knapp zweihundert Mann für reichlich Gedränge unter dem Großtopp sorgte.

Stoppenkamp, ein durchtrainierter Mittfünfziger mit kurzem grauem Haar und sorgsam getrimmtem Vollbart, hielt eine kurze Ansprache, die sich erwartungsgemäß um die erfolgreich beendete Segelvorausbildung, die bevorstehende Reise und das Tallships-Race drehte. Das kleine Problem mit der Kutterregatta erwähnte er natürlich nicht, was Thies auch nicht weiter verwunderte. Schließlich betraf diese Angelegenheit nur die Offiziere und Unteroffiziere.

Dann hieß es »Wegtreten!«, »Hängematten zurren!«, »Pfeifen und Lunten aus!« und schließlich »Ruhe im Schiff!«.

Die räumliche Aufteilung der Gorch Fock war einfach. Es gab vier Decks, die das Schiff in der Horizontalen teilten wie Geschosse eines Hauses. Ganz oben lag, daher der Name, das Oberdeck, dessen Mittelteil rund um den Großmast nach oben hin offen war und dessen vorne und hinten erhöhte Bereiche Vorschiff und Achterdeck hießen. Unter dem Oberdeck befand sich das Zwischendeck, das den größten Teil der Besatzung beherbergte. Noch eine Etage tiefer lag das Plattformdeck, in dem sich die meisten der Last genannten Lager- und Vorratsräume des Schiffes befanden. Ganz zuunterst befand sich die sogenannte Stauung, die mit dem Maschinenraum, den Wassertanks und einigen weiteren technischen Aggregaten bestückt war und quasi den Keller des Schiffes darstellte. In der Vertikalen war das Schiff von hinten nach vorne in sieben Abteilungen unterteilt. Diese orientierten sich an den aus der Schiffskonstruktion resultierenden durchgehenden Querschotten, die den Rumpf des Schiffes aussteiften und in wasserdicht verschließbare Sektionen trennten, so dass bei einer Leckage nicht das ganze Schiff voll Wasser laufen konnte, sondern eben nur eine Sektion.

Was nun die Unterbringung der Besatzung anging, so gab es an Bord der Gorch Fock ebenfalls eine klare Trennung.

Im überdachten hinteren Teil des Oberdecks in Abteilung 1 und 2 hatten der Kommandant und seine Offiziere ihre in Anbetracht der allgemeinen Platzverhältnisse recht komfortablen Kabinen. Es gab eine gediegene holzgetäfelte Messe, und die Kommandantenkammer ganz im Heck war beinahe so etwas wie eine kleine Suite mit einem eigenen Salon, einem Büro und einer Schlafkammer, deren Bad sogar mit einer Badewanne ausgestattet war.

Auch die Portepee-Unteroffiziere, Feldwebeldienstgrade, die bei der Marine Bootsleute hießen, bewohnten den traditionell als nobler geltenden hinteren Teil des Schiffes, allerdings eine Etage tiefer im Zwischendeck, wo sie sich jeweils zu zweit eine Kammer teilen mussten. Die übrigen Unteroffiziere, also Maate und Obermaate, sowie ein Teil der Stammbesatzung hatten ihre Unterkünfte und ihre eigene Messe in den Abteilungen 5 und 6 im Bug.

Dazwischen waren die Offiziersanwärter und die Segelcrew untergebracht. Der Mannschaftsbereich im Zwischendeck war unterteilt in eine relativ geräumige Messe mit fest am Boden verschraubten Tischen und Bänken, die gleichzeitig Lehrsaal, Aufenthaltsraum und Kantine war, sowie in sechs kleinere, durch massive Schotten voneinander getrennte Wohndecks, drei an Backbord und drei an Steuerbord. Wobei das Wort »wohnen« eigentlich nicht wirklich zutreffend war, denn tagsüber waren die etwa fünf mal fünf Meter großen Räume unpersönlich und leer. Eine Wohneinrichtung im eigentlichen Sinne gab es nicht. Wer sitzen wollte, fand lediglich eine schmale Bank unter den nach außen zeigenden Bullaugen vor oder musste gleich mit den nackten Holzplanken des Bodens vorliebnehmen. Die Wände waren größtenteils mit eckigen Edelstahlspinden verbaut, die gerade eben groß genug waren, um den Inhalt des bei der Marine üblichen Seesacks hineinquetschen zu können.

Abends wurden horizontale Ketten durch den Raum gespannt, an denen die Hängematten zum Schlafen festgezurrt werden konnten. Und damit wurde es dann ganz schnell richtig eng!

Da sich bis zu fünfundzwanzig Mann ein Deck teilten, war nicht einmal genug Platz, um alle Hängematten nebeneinander unterzubekommen. Diese mussten in zwei »Etagen« übereinandergezurrt werden, wobei es meist zu einem heillosen Gedränge kam.

Überflüssig zu erwähnen, dass frische Luft hier unten ebenso Mangelware war wie Privatsphäre.

Die einzige Konzession, die man in Bezug auf Letzteres gemacht hatte, war die Trennung der Geschlechter. Tanja und die anderen weiblichen OAs schliefen in zwei »Mädchendecks«, die sich in den hinteren beiden Räumen befanden. Sie verfügten über eigene Sanitärräume und waren durch einen Vorhang abgegrenzt, der spöttisch »Spannersegel« genannt wurde.

Aus dem gleichen schweren, rostroten Segeltuch, aus dem dieser Sichtschutz geschneidert war, bestanden auch die Hängematten. Sie mussten jeden Morgen nach dem Wecken abgetakelt und mit den aufgenähten Bändseln zu einer runden Wurst zusammengeschnürt werden, was bei der anschließenden Hängemattenmusterung an Oberdeck von den Maaten peinlich genau überprüft wurde. Erst dann durften sie über Tag in einer unter den Wohndecks liegenden Last, der »Matratzengruft«, verstaut werden.

Die Tatsache, dass zwischen Wecken und Hängemattenmusterung meist keine fünfzehn Minuten vergingen, sorgte dafür, dass die maritime Bettstatt nebst den dazugehörigen Laken weitestgehend ungelüftet und mitsamt aller ihnen anhaftenden nächtlichen Körperausdünstungen verschnürt und verstaut wurde.

So stellte das abendliche Öffnen und Aufzurren der Hängematten für Thies’ überempfindliche Nase eine wahre Tortur dar, weswegen er es sich schon in den ersten Tagen auf der Gorch Fock zur Angewohnheit gemacht hatte, so lange wie möglich an Deck herumzutrödeln. Erst wenn er den zweiten oder dritten »Anpfiff« des Wachhabenden kassiert hatte, endlich unter Deck zu verschwinden, ging er hinunter.

Dies ersparte ihm außer dem allerschlimmsten Teil der Gerüche auch die lästige Suche nach der richtigen Hängematte, die mit einer aufgemalten Nummer ihrem jeweiligen Nutzer zugeordnet war. Meistens lag, wenn Thies eintraf, nur noch seine eigene am Boden.

Allerdings war dann, um sie aufzuspannen, nur noch ein Platz am Gang zu bekommen, wo einem die nie erlöschende Notbeleuchtung ins Gesicht schien und beim Wachwechsel reger Durchgangsverkehr herrschte. Immerhin war hier, zumindest theoretisch, auch etwas bessere Luft zu erwarten als hinten in der Ecke, weil die Bullaugen nur im Hafen geöffnet werden durften.

Thies Hansen und Peer Rademacher waren zu Beginn ihres Lehrganges auf dem Schulschiff in die Backbord-Wachhälfte der 1. Division und in die Untergruppe der 6. Korporalschaft eingeteilt worden. Das bedeutete, dass sie ebenfalls gemeinsam im mittleren der drei Backborddecks untergebracht waren.

Als Thies an diesem Abend dort ankam, turnte Peer gerade in seine Hängematte. Auch er schien einen Platz am Gang zu bevorzugen, obwohl er immer einer der Ersten war, die ihre Matten aufspannten, vielleicht weil er aus alter Gewohnheit die Nachbarschaft seines Freundes suchte.

»Sag mal, was treibst du abends eigentlich immer noch so lange?«, fragte er auch prompt.

»Hab noch ein bisschen frische Luft geschnappt«, antwortete Thies und war froh, damit halbwegs bei der Wahrheit bleiben zu können.

Rasch kniete er sich auf den Boden und rollte seine Matte auseinander, darauf bedacht, nicht allzu viel von dem beißenden Schweißgeruch einzuatmen, der ihm aus seinem eigenen Bettzeug entgegenschlug. Trotzdem bekam er einen halben Hustenanfall. Verdammtes Weichei, schalt er sich selber, reiß dich gefälligst zusammen!

»Jedenfalls schade, dass du vorhin nicht auf der Pier warst«, fuhr Rademacher fort und gähnte herzhaft. »Tanja war ganz heiß drauf, dich meinem Vater vorzustellen!«

Thies zuckte die Achseln und wollte gerade etwas antworten, als von weiter hinten im Deck die genervte Stimme eines ihrer Kameraden zu hören war. »Ey, ihr Penner!«, grummelte er. »Da war Ruhe im Schiff!«

»Genau!«, schaltete sich nun auch Martin Kaminski ein, der ebenfalls in ihre Korporalschaft eingeteilt war. »Es sei denn natürlich, wir kriegen zu hören, was die OA Behnke sonst noch so heiß macht.« Sein grinsendes Gesicht tauchte über der Kante seiner Hängematte auf. »Jetzt sag schon, Rademacher? Will sie’s mehr auf die Harte, oder steht sie bloß auf Blümchensex?«

Kaminski stammte aus dem tiefsten St. Pauli, was man nicht nur an seiner Art zu sprechen merkte, sondern auch ein wenig an seinem Aussehen. Seine linke Schulter und der linke Arm waren mit einem flächendeckenden Tribal tätowiert, und die schwarzen Haare hatte er in bester Kiez-Manier nach hinten gegelt. Das sollte eigentlich cool wirken, sah aber auch ein wenig schmierig aus, vor allem dann, wenn er wie in diesem Moment seine erschreckend schlechten Zähne entblößte.

»Pass gut auf, was du sagst, Meister!«, knurrte Peer und richtete sich bedrohlich in der Hängematte auf. »Sonst komm ich rüber!«

Rademacher und Kaminski, das passte überhaupt nicht! Kiez und Elbchaussee prallten da aufeinander, und es war nicht das erste Mal, dass Kaminski eine anzügliche Bemerkung über Peer und Tanja vom Stapel gelassen hatte.

Auch was die Stimmungslagen seiner Mitmenschen anging, hatte Thies hierfür feinere Antennen. Manchmal war das recht aufschlussreich, meistens jedoch hätte er herzlich gerne auf dieses Extra verzichtet. Die Emotionen und Konflikte anderer so klar und deutlich mitzuempfinden machte es verdammt schwer, sich nicht mit reinziehen zu lassen. Sich davon abzugrenzen kostete noch einmal zusätzlich Kraft.

»Ach Jungs, jetzt kommt mal wieder runter!«, seufzte er daher müde und hängte, ohne großartig darüber nachzudenken, an: »Oder hat der Decksmeister recht, dass man sich mit euch nur blamieren kann?«

»Wieso blamieren?«, fragte Kaminski.

»Hat er gesagt.« Thies zuckte die Achseln und begann, den Fußgurt seiner Hängematte strammzuzurren. »Allerdings hat er das wohl mehr in Bezug auf die Kutterregatta an diesem Wochenende gemeint.«

»Hä? Wieso? Die Kieler-Woche-Regatta ist doch eh nur ein Spaß für Römer? Was genau hat der Schmadding gesagt?«

Im Seemannsjargon war Schmadding die inoffizielle Bezeichnung für einen Decksmeister, und als Römer wurden im Mannschaftsslang die Offiziere tituliert.

»Scheiße! Könnt ihr das nicht morgen bequatschen?«, quengelte der Kamerad von weiter hinten.

»Piss dich nicht an, Alter!«, knurrte Kaminski. »Ich will das jetzt wissen! Schieß los, Hansen!«

Thies zuckte die Achseln. Eigentlich hatte er die Sache nicht für weiter erwähnenswert gehalten, aber jetzt konnte er genauso gut auch noch den Rest erzählen. »Also, wenn ich das richtig verstanden habe, hat bisher immer ein Gorch-Fock-Kutter an der Regatta teilgenommen, wenn dieser Dampfer zur Kieler Woche hier war. Aber dieses Jahr kriegt der Decksmeister nicht genug Offiziere und Portepees zusammen, weil die meisten von denen vor der Reise noch mal ein freies Wochenende haben wollen.«

Mehrere andere neugierige Gesichter tauchten nun aus der Horizontalen auf, darunter auch das von Achim Weber, dem Vertrauensmann.

»Also hat ihm der IO vorgeschlagen, doch ein paar Mannschaften oder OAs dazuzunehmen ... Und da hat er gesagt, dass er das nicht macht, weil er sich mit uns blamieren würde.«

»Was für ein Arschloch!«, entfuhr es Kaminski. »Da lassen wir uns monatelang von ihm übers Deck hetzen, und dann sind wir ihm nicht mal gut genug, um einen Scheißkutter zu segeln! Hast du das gehört, Opa?«

»Opa« war Webers Spitzname, was wohl damit zusammenhing, dass er der Decksälteste war, vielleicht aber auch mit seiner veritablen Stirnglatze, von der er durch eine millimeterkurze Rasur des verbliebenen Haarkranzes abzulenken versuchte.

»Nun mach mal halblang«, brummte Weber missmutig. »Jeder weiß doch, wie der Schmadding tickt. Was willst du dagegen tun?«

»Ihm das verdammte Gegenteil beweisen!«, fauchte Kaminski zurück, der nun richtig in Rage zu kommen schien. »Indem wir bei der Kutterregatta mitmachen und gewinnen!«

»Superidee, Kaminski. Hat bloß zwei klitzekleine Schönheitsfehler«, stichelte Peer. »Erstens ist die Regatta schon morgen, und zweitens ... Wenn Gierke derjenige ist, der die Kuttercrew auswählt und er dich nicht haben will, hast du dummerweise schon verschissen!«

»Und du Heißdüse hast dummerweise null Ahnung, wie’s hier an Bord abläuft!«, fauchte Kaminski zurück. »Ich wette mit dir um deine verdammte Bordzulage, dass ich den Schmadding rumkriege.«

Diese Behauptung löste ein erstauntes Murmeln im Deck aus. Die monatliche Bordzulage betrug immerhin knapp zweihundert Euro. Kaminski musste sich seiner Sache also ziemlich sicher sein.

»Das ist ’ne Menge Holz«, gab Peer zu bedenken. »Ich meine eher für dich und weniger für mich!«

»Scheiß drauf, ich verliere eh nicht!«, entgegnete Kaminski, und setzte cool hinzu: »Sonst würde ich ja wohl kaum wetten wollen, oder? Also, was ist jetzt?«

Peer überlegte. Dann begann er zu grinsen und streckte die Hand aus. »Na schön, gemacht! Aber wenn ich blechen muss, will ich mit in dem ollen Kutter sitzen, kapiert? Und mein Kumpel Hansen auch!«

»Hör mal, Peer ...«, sagte Thies. Er war weder scharf darauf, in die Sache hineingezogen zu werden, noch in einem für seinen Geschmack kreuzlangsamen, völlig antiquierten Boot wie einem Marinekutter eine Regatta segeln zu müssen.

»Doch, doch!«, antwortete Peer bestimmt. »Du hast die Sache schließlich aufgerissen! Außerdem bist du vermutlich der Einzige auf diesem Kahn, der halbwegs Ahnung vom Wettsegeln hat.«

Dem konnte Thies allerdings schlecht widersprechen. Na schön, dachte er und zuckte die Achseln. Fragend sah er zu Kaminski hinüber.

»Von mir aus, wenn ich gewinne, seid ihr dabei!«, erklärte der und schlug ein. »Hast du gehört, Opa? Eine Monatszulage vom Millionärssöhnchen ... Du bist mein Zeuge!«

»Schon klar!«, sagte Weber und nickte. »Aber jetzt verrat mal, wie du den alten Gierke rumkriegen willst?«

Zufrieden kämmte Kaminski sich mit der Hand das Haar nach hinten. »Das werdet ihr sehen! Gleich morgen früh!«

*

Wenn um sechs Uhr früh das Locken der Bootsmannspfeifen die Mannschaft der Gorch Fock aus den Kojen rief, war es beinahe so, als erwachte ein eigenes, kleines Dorf zum Leben, mit Bewohnern, die unterschiedlichen Gewerken und Berufen nachgingen.

Da waren zum Beispiel die Handwerker wie der Schiffszimmermann und seine Gehilfen, der Segelmacher, ein Friseur, der Bäcker, der um diese Zeit bereits sein Tagewerk erledigt hatte, und natürlich die sechs Köche, die in der winzigen Kombüse mehrmals täglich Essen für zweihundertzwanzig hungrige Mäuler zuzubereiten hatten.

Es gab die Mechaniker und Elektroniker, die unter der Leitung des Schiffstechnischen Offiziers, kurz StO, die Maschine, die Generatoren, die Pumpen, Wasserbereiter und die sonstigen mechanischen und elektrischen Anlagen der Gorch Fock warteten, und natürlich die seemännischen Gewerke, zu denen die Decksmeisterei von Hauptbootsmann Gierke gehörte, aber auch die Navigation oder die Funkerei.

Es gab den Schiffsarzt im Rang eines Oberstabsarztes, der in seiner kleinen Praxis mit der angeschlossenen Krankenstation alle Arten von Krankheiten und Verletzungen behandelte. Bei Bedarf waren er und seine beiden Sanitätsgehilfen sogar in der Lage, kleinere Operationen an Bord durchzuführen.

Dann war da natürlich die »Schule«, der das Schiff seinen Namenszusatz verdankte, deren Lehrer aus den Reihen der Offiziere und Unteroffiziere stammten, und ihre Schüler, die Kadetten, die hier in einem Dutzend unterschiedlicher Fächer unterwiesen wurden.

Wie anderswo an Land musste es auch an Bord der Gorch Fock Buchhalter und Kaufleute geben. Der Zahlmeister war zuständig für sämtliche finanziellen Belange des Schiffes. Der Proviantmeister, dem auch die Kombüse unterstand, hatte durch umsichtige Vorratshaltung und unter Berücksichtigung der Speisepläne dafür zu sorgen, dass stets alle Lebensmittellasten gefüllt waren und die Besatzung auch auf der längsten Seereise genug zu essen und zu trinken bekam.

---ENDE DER LESEPROBE---