Die Felsenstadt - Michael Kocher - E-Book

Die Felsenstadt E-Book

Michael Kocher

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Beschreibung

Ein neues Kapitel im rhubischen Reich öffnet sich: Nachdem Nhadijah den Thron von Medeenah erobern konnte und Königin des Reiches wurde, werden die Karten um die Herrschaft des Reiches vierzehn Jahre später neu gemischt. Der Bastard Prinz Luzian von Aureen versucht gemeinsam mit seiner Mutter Valeryah seinen Anspruch auf den Thron durchzusetzen. Dabei ist ihnen fast jedes Mittel recht. In einem ausgeklügelten Plan entführen sie die Tochter der Königin, um sie so zur Herausgabe ihrer Macht zu zwingen. Womit sie nicht gerechnet haben: Ihre Handlanger begehen bei der nächtlichen Entführung der Prinzessin einen folgenschweren Fehler, der die Felsenstadt Aureen in eine heikle Lage bringen wird. Es beginnt ein waghalsiges Spiel um Macht, Ehre, Stolz und Liebe, das die drei Halbgeschwister zu erbitterten Rivalen werden lässt und letztlich den einen oder anderen Kopf kosten wird.

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Inhalt

Kapitel I Der Mond

Kapitel II Eine ungewollte Reise

Kapitel III Der Abschied

Kapitel IV Der Trostpreis

Kapitel V Sherinah

Kapitel VI Der Traum

Kapitel VII Geschwisterliebe

Kapitel VIII Akhdir-Qaleah

Kapitel IX Die Prinzregentin

Kapitel X Minah-Veskar

Kapitel XI Die Fähre

Kapitel XII Vergebung

Kapitel XIII Der Bote

Kapitel XIV Die Wasserwüste

Kapitel XV Verrat

Kapitel XVI Der Sklavenmarkt

Kapitel XVII Die finstere Verlobung

Kapitel XVIII Minah-Rhezijah

Kapitel XIX Zwiespalt

Kapitel XX Der Irre

Kapitel XXI Das Urteil von Medeenah

Kapitel XXII Die Bürgschaft

Kapitel XXIII Die Mission

Kapitel XXIV Das Schicksal der Felsenstadt

Kapitel XXV Die Fürstin

Kapitel XXVI Getrennte Wege

Kapitel XXVII Im Ab Anbar

Kapitel XXVIII Heimkehr

Kapitel XXIX Rhubijah

Kapitel XXX Das Tor

Kapitel XXXI Die Schlacht um Medeenah

Kapitel XXXII Die künftige Königin

Kapitel XXXIII Nacht über Aureen

Personenverzeichnis

Erläuterungen zur Aussprache

Begriffserklärung

Kapitel I

Der Mond

Der Mond stand heute besonders schön am nächtlichen Himmelszelt über Medeenah. Er bildete eine schmale auf dem Rücken liegende Sichel, die ihren silbernen Schein wie einen Schleier über Lhenijahs nachtschlafende Heimat und über die große Düne vor den Toren der Königsstadt legte. Die junge Prinzessin liebte den Mond über alles. Darum setzte sie sich jede Nacht in ihrem Schlafgemach auf die Fensterbank und erfreute sich an seinem mystischen Anblick. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich angewöhnt, diesem geheimnisvollen Begleiter ihren Tag zu erzählen, und wenngleich eine so kindliche Angewohnheit ihrem jetzigen Alter von nunmehr vierzehn Jahren wohl kaum mehr würdig war, so hatte es die Prinzessin bisher nicht über ihr Herz gebracht, dieses lieb gewordene Ritual abzulegen.

»Weißt du, ich habe wirklich große Angst davor, was nun alles geschehen könnte«, flüsterte Lhenijah dem Mond entgegen. »Mama war tapfer. Sie hat nicht geweint. Jedenfalls nicht, bis die Masten der Königin von Rhubijah hinter dem Horizont verschwunden waren. Aber danach … Das, was sie danach getan hat, macht mir Sorgen. Ich hatte gedacht, wenn die Flotte außer Sichtweite ist, würde sie in den Thronsaal zurückkehren und ihre tägliche Audienz halten, einfach um auf andere Gedanken zu kommen. Aber das hat sie nicht getan. Nein, sie hat sich zu uns umgedreht, Rhanijah ihre Hand auf die Schulter gelegt und zu ihr gesagt: ›Rhanijah, du bist die Kronprinzessin. Die nächsten Tage musst du an meiner statt regieren.‹ Danach ging sie hinüber zum Tempel und seither habe ich sie nicht wiedergesehen.

Ich bin gewiss nicht neidisch auf Rhanijah oder ich versuche es jedenfalls nicht zu sein. Es ist wohl gut und richtig, die Geschicke des Reiches in die Hände der Thronfolgerin zu legen, wenn der Kronmarschall abwesend ist und die Königin sich außerstande fühlt, zu herrschen. Aber was wird Rhanijah tun, jetzt, wo sie endlich die lang ersehnte Gelegenheit erhält, von der Süße der Macht zu kosten? Ich fürchte, es wird ihr schwerfallen, sie wieder herzugeben.«

Nachdenklich blickte Lhenijah über die Stadt. Es war bei Weitem nicht das erste Mal, dass Königin Nhadijahs Verfassung sie am Regieren hinderte. Nein, obwohl all die Geschehnisse, die Lhenijah nur aus Erzählungen kannte, inzwischen anderthalb Jahrzehnte zurücklagen, gab es fast jeden Monat den Zeitpunkt, an dem der Königin die Last der Krone zu viel wurde, sie sich zurückzog und alles ihrem Gatten überließ. Lhenijahs Vater, Kronmarschall Fürst Miħael von Medeenah, übernahm dann jeweils für die nächsten Tage die Aufgaben der Königin, bis sie sich wieder erholt hatte, und legte die Geschicke des Reiches sodann wieder in ihre Hände. Aber dieses Mal war alles anders. Lhenijahs Vater würde nicht bloß zwei oder drei Tage fort sein. Morteqħaï, der zweite Ehemann von Lhenijahs Großmutter Jelenah, der lange Jahre wichtigster Berater der Königin gewesen war, hatte von Wochen oder gar Monaten gesprochen, die es dauern könnte, um den Rhezijah-Archipel zurückzuerobern. Die Prinzessin hatte da schon Bedenken gehabt, was in dieser Zeit wohl geschehen würde, wenn Königin Nhadijah wieder einen dieser Tage haben würde. Aber sie hatte darauf vertraut, dass der Hofstaat ihrer Mutter ein paar wenige Tage auch führungslos überstehen würde, ohne gleich in sich zusammenzubrechen. Doch damit, was heute geschehen war, hatte wohl weder Lhenijah noch irgendjemand sonst in Medeenah gerechnet.

»Glaubst du, mein Vater hätte das Kommando über die Flotte jemand anderem anvertraut, wenn er es gewusst hätte?« Die Prinzessin hielt inne und blickte eine Weile traurig zum Mond hinauf. »Ich vermisse ihn so sehr. Manchmal denke ich, er allein ist es, der uns alle zusammenhält. Das Reich, die Stadt und unsere Familie. Er ist es, der uns alle verbindet. Ich weiß nicht, was Rhanijah damals getan hätte, wenn er nicht dabei gewesen wäre, als Mama uns von den Schatten erzählte.«

Die beiden Schwestern wussten schon seit einigen Jahren von den Schatten der Vergangenheit, welche ihre Mutter immer wieder heimsuchten. Aber erst als Rhanijah dreizehn wurde, erfuhren sie auch, welche Ereignisse diese Schatten warfen:

Nhadijahs Weg zur Königswürde war beschwerlich, entbehrungsreich und bisweilen erniedrigend gewesen. Sie hatte ihren Töchtern von der öffentlichen Auspeitschung berichtet, mit der sie sich die Treue ihrer Königsstadt wiederverdient hatte. Danach schilderte sie ihnen ihre Verschleppung aus Melaħandria und wie ihr die Flucht gelungen war, weil sie ihrer Peinigerin, der rhubischen Prinzessin Ezmeh, einen glühenden Krummdolch in die Kehle gerammt hatte, nur um bald darauf erneut verraten zu werden.

Mit jedem Stein, den ihre Mutter an jenem Tag zu diesem Mosaik hinzufügte, verstanden die beiden Prinzessinnen besser, welche Albträume ihre Mutter des Nachts immer wieder im Schlafe quälten. Sie verstanden auch Nhadijahs Enttäuschung darüber, sich selbst jetzt immer wieder aufs Neue mit Verrätern arrangieren zu müssen, und sie mussten erstaunt feststellen, dass selbst eine Krone nicht gegen die Macht der Verräter ankam.

Königin Nhadijahs Erzählungen enthielten durchaus auch berührende Momente, wie jene von Kheijrah, deren Tapferkeit Nhadijah letztlich ihre Rettung verdankte, oder wie sie ihre Kinder abends in den Armen gehalten hatte, um sie singend in den Schlaf zu wiegen.

Doch der Augenblick, an den sich Lhenijah bis heute erinnerte, als wäre er gestern gewesen, war jener, der ihre Familie beinahe zerstört hatte: Als Rhanijah erfuhr, dass Königin Nhadijah nicht ihre leibliche Mutter war. Miħael von Medeenah war zwar Rhanijahs und Lhenijahs Vater, Rhanijah hatte er aber auf Nhadijahs Wunsch hin oder vielmehr in ihrem Auftrag mit der Schwester der Königin gezeugt, die auf den Thron verzichtet hatte. Nhadijah hatte fest daran geglaubt, selbst unfruchtbar zu sein, und hätte sie ihren Gatten nicht dazu überredet, mit Vhesnijah zu schlafen, hätte der rhubische Königsthron in die Hand der Felsenstadt Aureen fallen können. Fürstin Valeryah von Aureen hatte sich seinerzeit die Rettung der Königin und ihres Heeres vom Aureenpass in Form eines Schäferstündchens mit dem medeenischen Fürsten bezahlen lassen und aufgrund dieser Abstammung wäre ihr daraus hervorgegangener Sohn am Ende zum Thronfolger avanciert.

So nachvollziehbar diese Erklärung auch gewesen war, Lhenijah hatte förmlich spüren können, wie in diesem Moment etwas in der Seele ihrer Schwester für immer zerbrach. Wutentbrannt hatte Rhanijah sich auf ihre Mutter gestürzt, die in Wirklichkeit also ihre Tante war, und Lhenijah wusste nicht, was sie getan hätte, wenn ihr Vater nicht eingegriffen hätte. Von diesem Tag an hatte Rhanijah monatelang kein Wort mehr mit der Königin und mit Lhenijah gesprochen und auch heute noch war das Verhältnis zwischen den dreien äußerst fragil. Ihr Vater dagegen war danach zur wichtigsten Bezugsperson für die Kronprinzessin und zum Mittelpunkt und Vermittler zwischen den Halbschwestern und der Königin geworden.

Auch Lhenijah war wütend gewesen. Wütend auf Rhanijah und noch viel wütender auf ihre Mutter. Denn hätte Königin Nhadijah nicht an Fürstin Valeryahs Worte über ihre Unfruchtbarkeit geglaubt, wäre Lhenijah die künftige Herrscherin des rhubischen Königreiches geworden! Doch je älter sie wurde, desto mehr erfüllte es sie mit Dankbarkeit, dereinst »nur« für das Wohl Medeenahs verantwortlich sein und die vielen Intrigen außerhalb ihrer geliebten Heimatstadt dem Geschick ihrer Schwester überlassen zu können, die sich mit derlei Dingen von Natur aus besser zurechtfand.

Überhaupt hatte Prinzessin Lhenijah viel lieber die friedvollen Stunden im Garten ihrer Tante Vhesnijah genossen, als sich jetzt schon mit ihrer fernen Zukunft zu befassen. Wie gerne lauschte sie doch Vhesnijahs Harfenspiel und bewunderte all die schönen Dinge, die es in deren kleinem Reich im Innenhof des Fürstenpalastes gab.

Im Gegensatz zu Rhanijah war es Lhenijah bereits als kleines Mädchen gelungen, Zugang zu Vhesnijahs entrückter Gedankenwelt zu finden, weshalb diese sie am liebsten stets um sich gehabt hätte. Das allerdings erregte den Neid ihrer Mutter und der Kronprinzessin und machte die Familienverhältnisse ganz gewiss nicht einfacher.

»Irgendjemand muss sie doch auf den rechten Pfad zurückgeleiten. Und wem sollte diese Aufgabe wohl eher zufallen als mir?«, sinnierte Lhenijah weiter.

»Doch wird Rhanijah auf mich hören? Werde ich dazu überhaupt imstande sein? Wie weit wird Rhanijah gehen, um sich ihre Macht zu erhalten?«

Lhenijah gähnte. Es hatte gutgetan, all ihre Fragen und Sorgen vor dem Mond auszubreiten. Wie immer hatte der zwar nicht geantwortet, dafür aber umso geduldiger zugehört und die Prinzessin mit seinem sanften silbernen Licht beruhigt. Der Mond schien stets zu wissen, dass alles immer irgendwie weiterging und wieder gut werden würde.

»Gute Nacht, lieber Mond.« Die Prinzessin stand auf, um zu ihrem Bett zu gehen. Dabei glaubte sie plötzlich, neben der Tür einen Schatten gesehen zu haben. Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, verspürte sie einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf. Der Raum um sie herum drehte sich. Alles wurde schwarz.

Kapitel II

Eine ungewollte Reise

Aua, dachte Lhenijah bloß, als sie aufwachte. Ihr Körper wurde hin und her geschüttelt, der Kopf tat höllisch weh und sie musste sich übergeben, sobald sie den ersten halbwegs klaren Gedanken fassen konnte. Das war die erschreckende Erkenntnis, an Händen und Füssen gefesselt über einen schaukelnden Pferderücken gebunden zu sein. Die sengende Sonne brannte unerbittlich auf ihren Rücken nieder und wurde zudem auch noch vom sandigen Boden unter ihr auf ihr Gesicht zurückgeworfen. Es fühlte sich an, als hätte sie die ganze Nacht über aus nächster Nähe in ein loderndes Feuer gestarrt.

Lhenijah war dem Mann dankbar, der sie vom Pferd hob, sie in den Sand setzte, ihr das Gesicht wusch und sie Wasser aus einem Lederbeutel trinken ließ. Es dauerte einige Zeit, bis sie begriff, dass er gerade dabei war, sie zu entführen, und sich ihre Dankbarkeit in Angst verwandelte. Sie sagte kein Wort und folgte brav dem Befehl, sich am Sattel festzuhalten, nachdem der zweite Entführer ihre Fußfesseln durchgeschnitten und sie wieder auf den Rücken des Pferdes gehievt hatte. Er legte ihr einen Umhang über Schultern und Kopf, um sie vor der Sonne zu schützen. Sowohl an diesem Stoff als auch an Haut und Kleidung ihrer Entführer erkannte Lhenijah sofort, dass die beiden Männer Ħaliten sein mussten.

Diese Erkenntnis ließ sie beinahe wieder in Ohnmacht fallen, denn dieses Wüstenvolk war für alles andere als einen zartfühlenden Umgang mit Frauen bekannt. Auch wenn es selbst für Ħaliten ungewöhnlich dreist war, sich mitten in der Königsstadt und dazu noch am Fürstenhof eine Prinzessin als Sklavin zu besorgen, war Lhenijah tatsächlich nicht die erste Adlige, die dieses Schicksal ereilte. Die zweifelhafte Tradition, reisende Adlige zu überfallen, um deren Töchter zu versklaven, hatten ħalitische Clanführer noch vor kaum einer Generation regelmäßig praktiziert. Doch seit Medeenah wieder Königsstadt geworden war und sehr viel mehr Karawanen durch die große Wüste unterwegs waren, kam das eigentlich nicht mehr vor. Aber weshalb sonst sollte Lhenijah sich in dieser misslichen Lage befinden?

Ihre Entführer sprachen untereinander wenig und mit ihr kein Wort, während sie durch den flimmernden Sand ritten. Die Reise durch die große Wüste ging fast ohne Unterbruch bis in die Abenddämmerung hinein weiter. Ihre Entführer schienen es überaus eilig zu haben. Erst, als sich die Sonne hinter den Dünen senkte, hielten sie an. Hastig breitete der jüngere der beiden Ħaliten eine schwere wollene Decke auf dem Sand aus, während der ältere Lhenijah behutsam aus dem Sattel half. Dabei vermied er jeglichen direkten Blickkontakt und hielt sein Haupt stets ehrfürchtig gesenkt. Trotzdem fesselte er ihre Füße sofort wieder, sobald sie die Decke erreicht hatten. Lhenijahs Entführer entfachten ein Feuer, kochten Tee und teilten ihre Speisen bereitwillig und großzügig mit der Prinzessin, und das, obwohl die Ħaliten Medeener seit jeher – gelinde gesagt – nicht besonders mochten. Sie waren stets um eine angemessene Distanz bemüht, so wie die Männer des Wüstenvolks sie gegenüber den Ehefrauen und Töchtern höhergestellter Clanführer zu halten pflegten.

Umso unangenehmer war es Lhenijah deshalb, ihre Entführer nun auf den inzwischen unerträglich gewordenen Druck in ihrer Blase hinweisen zu müssen. Für die beiden Männer jedoch war diese Situation offenbar noch peinlicher als für die Prinzessin selbst. Eiligst lösten sie ihr die Fußfesseln, geleiteten sie ein paar Dutzend Fuß vom Lager weg und halfen ihr, das Gewand zu raffen, damit sie es nicht beschmutzte. Anschließend wendeten sie sich beschämt von ihr ab, während sie im Sand kauerte. Wie es der Prinzessin schien, hatten ihre Entführer also nicht vor, ihre Ehre zu beflecken. Das verblüffte Lhenijah gleichermaßen, wie es sie beruhigte. Sollte sie am Ende doch nicht als Ħalitensklavin enden?

Nachdem sie Lhenijah anschließend auf ihr Nachtlager gebettet hatten, setzten sich die beiden Ħaliten ans Feuer und begannen, auf ihren Instrumenten zu musizieren. Auch wenn die ħalitische Musiktradition verglichen mit der medeenischen bestenfalls bescheiden war, beruhigten die Schalmeienklänge Lhenijah wenigstens so weit, dass sie einschlafen konnte.

In dieser Nacht sprach die Prinzessin zum allerersten Mal nicht zum Mond, obwohl er auch heute wieder atemberaubend schön am Himmel stand.

Am darauffolgenden Tag brach die kleine Gruppe schon im Morgengrauen auf. Beim Frühstückstee versuchte Lhenijah vorsichtig den Grund für ihre Entführung herauszufinden: »Was ist denn das Ziel unserer Reise?«, fragte sie ganz unverfänglich.

»Das werdet Ihr erfahren, wenn die Zeit dafür gekommen ist, Prinzessin«, antwortete der ältere der beiden Männer schroff. Da er sie dennoch in gewisser Weise ehrfürchtig mit ihrem Adelstitel ansprach, wagte Lhenijah weiterzusprechen: »Unser Weg führt nicht ins Tal der Ħaliten, sondern nach Norden. Neqirah ist eurem Volk nicht besonders wohlgesonnen und Hamroon …«

»Fürst Zaħir ist ein ehrenwerter Mann …«, unterbrach sie der jüngere der beiden Entführer brüsk, womit er jedoch den Zorn seines Begleiters auf sich zog: »Halt verdammt noch mal deinen Mund!«, herrschte der ihn an.

Das hätte ich mir ja denken können! Natürlich war es Zaħir von Hamroon, der die beiden beauftragt hat. Wer außer ihm käme auch sonst infrage. Aber warum nur?

Sicher war einzig, dass Zaħir in irgendeiner Form einen Vorteil aus Lhenijahs Entführung ziehen konnte. Aber welchen? Und warum ging der Fürst von Hamroon ein derartiges Risiko ein? Die Handelsstadt Hamroon wurde von Reisenden aus dem gesamten rhubischen Königreich besucht. Würde auch nur einer dieser Reisenden dem Fürstenhaus von Medeenah von Lhenijahs Anwesenheit in der Oase am Fuße des Aureengebirges berichten, könnte Zaħir gewiss sein, sich sehr bald einem medeenischen Heer gegenüberzusehen. Auch wenn Hamroon schwer einzunehmen und ein Großteil der medeenischen Streitkräfte momentan auf See war, lag diese Konfrontation ganz gewiss nicht in Zaħirs Interesse. Es würde die Machtverhältnisse im Reich destabilisieren, mit Hamroon als Zentrum aller möglichen Zerwürfnisse. Darüber hinaus war es nicht die Art des hamroonischen Fürsten, aus eigenem Antrieb zu handeln.

Natürlich! Plötzlich fiel es Lhenijah wie Schuppen von den Augen und ihr Herz setzte vor Schreck einen Moment aus, als sie begriff: Rhanijah muss die wahre Auftraggeberin sein!

Es war kaum zu glauben, aber es war die einzig logische Erklärung: Ihre eigene Schwester hatte die Gunst der Stunde genutzt, um sie aus dem Weg zu räumen und sich dadurch vorzeitig den Thron ihrer armen Mutter anzueignen! Vielleicht hatte sie auch befürchtet, Lhenijah könnte ihr früher oder später doch noch die Krone streitig machen wollen. Wie hatten sie alle nur so naiv sein können? Trotz ihres schwierigen Verhältnisses zu Rhanijah hätte Lhenijah niemals gedacht, dass die Kronprinzessin ihr und der Königin so etwas antun würde. War ihre Machtbesessenheit derart grenzenlos?

Ein wahrhaft teuflischer Plan, liebe Schwester! Meine Mutter wird nach meiner Entführung nie wieder in der Lage sein, auf den Thron zurückzukehren, und wenn Rhanijah zu einer solchen Schandtat fähig ist, wird sie keinerlei Skrupel haben, nach mir auch noch unseren Vater zu beseitigen, um sich den Thron vorzeitig zu sichern.

Ob sie dafür auch den Angriff auf den Rhezijah-Archipel inszeniert hat? Zaħir hat Beziehungen in jeden Winkel des Reiches und weit über das Meer hinaus bis ans Ende der bekannten Welt. Wenn einer eine Flotte kaufen kann, dann er. Sich mit ihm zu verbünden, ist brillant. Es ist der Gipfel der Niedertracht, aber brillant.

Lhenijah versuchte sich nichts anmerken zu lassen, obwohl sie ihre Tränen nur mit größter Mühe zurückhalten konnte. Nein, ich darf nicht weinen! Nicht jetzt! Das muss warten bis zur Nacht. Ich darf vor meinen Entführern keine Schwäche zeigen.

Lhenijah atmete tief durch und ergab sich in ihr Schicksal.

Eine ganze Woche verging erfüllt von endlosen Ritten unter einer sengenden Sonne und von Nächten unter einem kalten Sternenzelt in den unendlichen Weiten der großen Wüste. Verborgen unter ihrer Decke weinte die Prinzessin Nacht für Nacht bittere Tränen, doch zum Mond sprach sie nicht mehr. Sie fühlte sich von ihm verraten. Warum hatte er sie nicht gewarnt? Auch wenn er nie zu ihr gesprochen hatte, hatte er sie doch stets geleitet, wenn sie seine Hilfe brauchte.

Am achten Tag schließlich erreichten sie die Oasenstadt Hamroon. Lhenijah war trotz aller Ungewissheit froh, endlich anzukommen. Der Prinzessin war es furchtbar unangenehm, sich nicht waschen zu können, weshalb sie Reisen nicht mochte. Die Einsamkeit in der Wüste war schrecklich gewesen und nur zwei Menschen um sich zu haben, mit denen sie sich kaum unterhalten konnte, hatte sie mehrmals an den Rand eines Zusammenbruchs geführt. So war sie nun seltsam erleichtert, als sie unter dem Stadttor von Hamroon hindurchritt. Die Erleichterung wich allerdings einer unangenehmen Anspannung, als sie den Fürstenpalast im Zentrum der Stadt erreichten, der inmitten riesiger Palmenhaine ins warme Licht der Abendsonne getaucht war.

Entgegen ihrer Befürchtung wurde Prinzessin Lhenijah jedoch nicht von Fürst Zaħir selbst empfangen, sondern von einer jungen Frau aus dessen Harem: »Seid willkommen in Hamroon, Prinzessin Rhanijah. Ich bin Mhyrijam, Fürst Zaħirs jüngste Nebenfrau. Mein Gemahl hat mich mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, Euch Euren Aufenthalt in unserer wunderbaren Stadt so angenehm wie möglich zu gestalten.«

Lhenijah war verblüfft. Hat sie mich soeben tatsächlich Rhanijah genannt? Aber …

»Stimmt etwas nicht, verehrte Prinzessin?«, fuhr das Mädchen unsicher und ängstlich fort, als Lhenijah auf ihre Begrüßung nichts erwiderte.

»Doch, doch, es ist alles … gut …«

Mhyrijam errötete, denn sie hatte sicher erkannt, wie unangebracht ihre Frage gewesen war. Aus Sicht der Prinzessin konnte ganz gewiss überhaupt nichts stimmen und gut sein konnte es schon gar nicht. »Ich … verzeiht mir, meine Prinzessin, aber …«

»Entschuldigen kannst du dich später!«, herrschte sie der jüngere von Lhenijahs Entführern an. »Hilf ihr lieber vom Pferd herunter!«

Sofort eilte das zierliche Mädchen an Lhenijahs Seite, um ihr aus dem Sattel zu helfen. Doch sobald die Prinzessin beide Beine auf derselben Seite des Pferdes hatte, sank Mhyrijam plötzlich vor ihr auf ihre Knie und bot ihr ihren Rücken als Stufe zum Absteigen an.

Lhenijah war gleichermaßen entsetzt wie erstaunt ob dieses Verhaltens und blickte fragend zu ihren Entführern hinüber, die keinerlei Anstalten machten, aus ihren Sätteln zu steigen, um den beiden jungen Frauen zu helfen.

»Es ist Männern an diesem Ort nicht erlaubt, eine Frau zu berühren, nicht einmal ihre Füße«, erklärte der ältere der beiden Ħaliten gelassen. »Wir überlassen Euch nun der Obhut des Harems, Prinzessin.« Damit wandten sich die beiden Männer von ihr ab und ritten durch den Palmenhain davon.

Lhenijah atmete auf, während sie sich vorsichtig auf Mhyrijams Rücken hinuntergleiten ließ. Sie hat mich ganz sicher Rhanijah genannt! Hat sie sich bloß im Namen vertan oder … Was um alles in der Welt geht hier eigentlich vor?

Rasch sprang die Prinzessin vom Rücken ihrer Dienerin herunter, die sich behände wieder erhob.

Obwohl Mhyrijam kaum älter war als Lhenijah und sie freundlichst anlächelte, fürchtete die medeenische Prinzessin, der für seine Ränkespiele berüchtigte Fürst Zaħir könnte sich lediglich ein zynisches Spiel mit ihr erlauben. Doch zu ihrem Erstaunen führte Mhyrijam sie nun nicht in einen Kerker, sondern in den Haremsbereich, der ausschließlich

Frauen vorbehalten war. Dort nahm sie ihr die Fesseln ab, nachdem die Wachen von außen die Tore der umgebenden hohen Ringmauer geschlossen hatten, und führte sie zu einem großen Wasserbecken. Lhenijah hatte Mühe, den ausschließlich von hamroonischen Frauen gesprochenen eigenwilligen Dialekt zu verstehen, den Mhyrijam sprach, verstand aber letztlich, dass das Haremsmädchen ihr die Gelegenheit für ein Bad geben wollte. Nachdem die Prinzessin mit einem Nicken ihr Einverständnis gegeben hatte, zog Mhyrijam ihr behutsam das Kleid aus, legte danach ihr eigenes Gewand ab und geleitete Lhenijah ins Wasser, wo sie sofort begann, die Haut der Prinzessin mit einem in wohlriechendes Öl getauchten Schwamm vom Dreck der vergangenen Tage zu reinigen.

Als Lhenijah danach dem Wasser entstieg, behandelte das Mädchen ihr die wundgescheuerten Hand- und Fußgelenke mit einer heilenden Salbe, zog ihr ein traditionelles, gelbes Seidengewand an und brachte sie daraufhin in einen kleinen Palmenhain, in dessen Zentrum sich ein riesiger Teppich mit etwa zwei Dutzend Kissen befand. Dazwischen herrschte ein emsiges Treiben. Überall wuselten junge und ein wenig ältere Frauen durcheinander, um die köstlichsten Speisen aufzutragen, welche die Oasenstadt zu bieten hatte. Als Lhenijahs Ankunft bemerkt wurde, hielten alle inne und verneigten sich vor der medeenischen Prinzessin. Mhyrijam bedeutete Lhenijah, ihr zu den beiden Kissen im Zentrum des Teppichs zu folgen. Sobald sie sich auf das ihr zugewiesene dunkelrote Samtkissen niedergelassen hatte, setzten sich auch alle anderen Frauen und das Mahl begann, begleitet von einem zwar leisen, aber dennoch wilden Stimmengewirr.

Lhenijah fühlte sich unwohl damit, dass Mhyrijam höchst bemüht war, ihr jeglichen Wunsch von den Lippen abzulesen, und es machte sie noch nervöser, dass die hübsche junge Frau mit den dunkelbraunen Haaren und den noch dunkleren, sanften Augen dabei überaus angespannt wirkte.

»Eure Hand ist ja eiskalt!«, stellte Lhenijah fest, als sie kurz Mhyrijams Hand berührte, während diese ihr hastig die Schale mit den gefüllten Weinblättern reichte, die sie zuvor nur für den Bruchteil eines Augenblicks angeschaut hatte.

»Ich … bin etwas aufgewühlt beim Gedanken, der künftigen Königin gegenüberzusitzen.« Lhenijah musste sich bemühen, die Worte zu verstehen. Nicht bloß des Dialekts wegen, sondern weil Mhyrijam so leise sprach. So begriff sie erst einen Augenblick später, dass das Mädchen sie offenbar tatsächlich für die rhubische Thronfolgerin hielt. »Ich bin nur ein einfaches Mädchen und … und ich fürchte mich davor, mich unangemessen zu verhalten oder etwas falsch zu machen oder …«

Lhenijah fasste sanft Mhyrijams Hand und erwiderte ruhig: »Ihr braucht euch gewiss nicht zu grämen. Ihr seid immerhin die Gemahlin des Fürsten von Hamroon. Ich dagegen … Ich bin bloß seine Gefangene.«

Mhyrijam wurde bleich. »Nein, bitte, das dürft Ihr nicht sagen! Bitte, sagt das nie, nie wieder! Ihr seid Gast im Harem von Fürst Zaħir und niemand außer mir weiß, wer Ihr seid. Darum bin ich auch die Einzige, die mit Euch sprechen darf. Und sollte irgendjemand sonst irgendetwas über Euch erfahren, dann … dann … wird Fürst Zaħir mir zur Strafe die Zunge herausreißen lassen!« Sie starrte zu Boden. Lhenijah wusste nicht, was sie erwidern sollte, und so wartete sie ab, bis Mhyrijam weitersprach: »Ich bin nur eine von vielen von Zaħirs Nebenfrauen. Ich bin sogar die geringste unter ihnen. Mein Gemahl pflegt sich mindestens einmal im Jahr eine neue Frau zu nehmen und je nachdem, wie ihm die Hochzeitsnacht gefällt, weist er uns unseren Rang in seinem Harem zu. Mit mir war er leider nicht zufrieden.«

Lhenijah schluckte leer. »Und welche ist denn Zaħirs Hauptfrau, wenn ich diese Frage stellen darf?«

»Ihr dürft mir jede Frage stellen, meine Prinzessin. Mein Gemahl hat sich bisher ausschließlich Nebenfrauen genommen. Er hat noch keine von uns für würdig befunden, die Mutter seines Thronfolgers zu sein.«

Lhenijah starrte Mhyrijam mit großen Augen an. Sollte das etwa der wahre Grund für ihre Entführung sein? Suchte Zaħir eine adlige Zuchtstute? Das war an Dreistigkeit in keiner Weise zu überbieten! Doch Mhyrijam erwiderte rasch: »Nein, nein, nicht darum wurdet Ihr hierhergebracht. Den genauen Grund kenne ich nicht, aber ich weiß, dass Ihr in einigen Tagen oder Wochen weiterziehen werdet.« Lhenijah atmete erleichtert auf, obwohl sie diese Information der Wahrheit nicht wirklich näher brachte. Nein, offenbar drohte ihr in Hamroon immerhin keine direkte Gefahr und wenn sie die Speisen, den Wein, die Gesellschaft und den Ort an welchem sie sich aufhielt betrachtete, hätte sie sich hier durchaus wohlfühlen können. Ja, das hätte sie, wäre sie nicht immer noch das Opfer einer niederträchtigen Entführung gewesen.

Nachdem Lhenijah ihr Mahl beendet hatte, geleitete Mhyrijam die Prinzessin zu ihrem Nachtlager, welches inmitten von Dattelpalmen unter einem seidenen Baldachin für sie vorbereitet worden war. Mhyrijam zog Lhenijah das gelbe Gewand aus und deckte ihren nackten Körper mit einem seidenen Tuch zu, nachdem die Prinzessin sich auf die Kissen gelegt hatte. Danach streifte auch sie ihren Stoff ab und schlüpfte zu Lhenijahs Erstaunen zu ihr unter die Seidendecke.

»Meine Aufgabe ist es, der königlichen Prinzessin jeglichen Wunsch zu erfüllen«, flüsterte Mhyrijam etwas beschämt und legte zärtlich ihre Hand auf Lhenijahs Schenkel. »Was auch immer Ihr Euch wünscht, ich werde es für Euch tun.«

Es dauerte einen Augenblick, bis Lhenijah verstand, was ihre Dienerin ihr gerade angeboten hatte. »Ich … nein, nein, du musst das nicht tun. Das wäre ja …« Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Ihr braucht Euch nicht zu schämen, Prinzessin Rhanijah. Das ist in einem Harem üblich. Wir haben alle dann und wann unsere Wünsche und wenn wir uns alle einen einzigen Mann teilen müssen …«

Lhenijah lächelte, ergriff Mhyrijams Hand und schob sie sanft beiseite. »Nein, danke«, sagte sie und ergänzte zu ihrem eigenen Erstaunen: »Zumindest nicht jetzt.«

Kapitel III

Der Abschied

Mhyrijams Lippen waren so warm und unwiderstehlich weich. Lhenijah konnte der Versuchung unmöglich widerstehen, sie ein weiteres Mal zu küssen, auch wenn sie damit riskierte, ihre Gefährtin aufzuwecken. Nun gut, genau genommen verfolgte sie exakt diesen Zweck damit, denn am kommenden Morgen würde sie aufbrechen müssen und keine weitere Gelegenheit dafür haben. Der Gedanke, Mhyrijam zurückzulassen, während sie selbst einer höchst ungewissen Zukunft entgegenblickte, brach ihr bereits jetzt das Herz.

Lhenijah wusste, wie vergebens ihre Hoffnungen waren, aber dennoch träumte sie seit Tagen unablässig davon, wie sie mit Mhyrijam zusammen im Fürstenpalast von Medeenah leben würde. Einmal mehr war sie froh darüber, dort und nicht im Königsschloss zu Hause zu sein. Denn Königin Nhadijah hatte auf Wunsch ihrer eigenen Mutter, der Hohepriesterin Elianah, gleichgeschlechtliche Beziehungen im ganzen Reich unter schwere Strafen gestellt. Angeblich weil die Götter es so wollten. Doch während sie dieses Gesetz im Palastbezirk konsequent durchsetzte, sah sie geflissentlich darüber hinweg, dass ihr Gemahl, Fürst Miħael von Medeenah, innerhalb seines eigenen Herrschaftsgebietes wesentlich nachsichtiger war. Überhaupt ignorierte Miħael nahezu alles, was die Hohepriesterin an göttlichen Gesetzen proklamierte. Ganz der medeenischen Tradition folgend, hielt er wenig vom Einfluss der Priesterinnen auf die Welt der Lebenden. Nach seinem Verständnis waren die Adligen für die Lebenden zuständig. Die Götter kümmerten sich um die Toten und die Priesterinnen um den Übergang zwischen beiden Welten. Weshalb Götter und Priesterinnen also irgendeinen Einfluss darauf nehmen sollten, wer mit wem unter das Laken schlüpfte, erschloss sich Lhenijahs Vater daher absolut nicht.

Überhaupt war das Verhältnis zwischen dem Fürsten von Medeenah und der Königinmutter mehr als nur ein wenig belastet. Zwar hatte Miħael auf Nhadijahs Wunsch hin in unmittelbarer Nähe zum Palastbezirk einen Tempel errichten lassen und Elianah danach in Nhadijahs neue Heimat Medeenah holen lassen, besucht hatte er diesen Tempel jedoch lediglich ein einziges Mal, nämlich anlässlich dessen Weihung durch die Hohepriesterin. Elianah missfiel diese Geringschätzung der Götter, doch noch weit mehr missfielen ihr Miħaels Bemühungen, Nhadijah und seine beiden Töchter ihrem Einfluss zu entziehen. Stattdessen hatten Miħaels Mutter Jelenah und deren zweiter Ehemann Morteqħaï einen großen Anteil an der Erziehung der Prinzessinnen gehabt, was sich unter anderem in einem gewissen Maß an Neugier allem Unbekannten gegenüber niederschlug. Eben diese Neugier war es gewesen, die Lhenijah rasch dazu verführt hatte, Mhyrijams Angebot während ihrer ersten Nacht in Hamroon kein weiteres Mal zurückzuweisen, und sie hatte es wahrlich nicht bereut.

Das silberne Licht des Mondes schien durch die Palmen hinab auf die beiden Mädchen und ein laues Lüftchen wehte durch die Oase. Lhenijah betrachtete geistesabwesend die leichte Gänsehaut, welche sich auf den zarten kleinen Brüsten des Haremsmädchens bildete, das in ihrem Arm lag. Es war unglaublich, wie viel sich in den letzten Tagen verändert hatte. Noch vor drei Wochen hatte Lhenijah sich keinerlei Gedanken darüber gemacht, mit wem sie dereinst das Bett teilen würde, und ein Mädchen hätte sie sich dafür nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorgestellt. Tatsächlich war das, was sie und Mhyrijam seit etwas mehr als einer Woche jede Nacht taten, in Fürst Zaħirs Harem nicht unüblich. Aber Lhenijah hatte rasch erkannt, dass ihre Verbindung mit Mhyrijam anders und tiefgründiger war, als das, was sie bei den meisten anderen Haremsfrauen beobachtete. Diese Tiefgründigkeit war es auch, die sie immer wieder aufs Neue in eine Traumwelt eintauchen ließ.

Sicher, als zukünftige Fürstin von Medeenah würde sie ihrer Stadt zuliebe irgendwann heiraten müssen. Denn das und natürlich die Geburt einer Prinzessin oder eines Prinzen erwartete das Volk von ihr. Aber vielleicht hätte sie Glück und würde einen Mann finden, der ihre Liebe zu Mhyrijam duldete. Vielleicht einen Mann, der selbst Männer liebte? Das könnte doch für alle eine gute Lösung sein … Aber auch wenn es sich gerade nicht so anfühlte, war sie immer noch eine Gefangene und hatte keinerlei Einfluss darauf, was mit ihr geschah.

Lhenijah erkannte, wie sehr sich ihre Zukunftsgedanken bereits wieder von der harten Wirklichkeit entfernt hatten. Allerdings führte diese Erkenntnis bloß dazu, sich sofort wieder in eine schönere Wirklichkeit zu flüchten: Sanft berührten ihre Lippen die ihrer Geliebten. Mhyrijam erwachte und erwiderte Lhenijahs Kuss bereitwillig. Es fühlte sich noch immer ein wenig ungewohnt an und Lhenijah verhielt sich bisweilen auch etwas ungeschickt dabei. Als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten, erklang ein leises, schmatzendes Geräusch und Mhyrijam kicherte. Es erinnerte sie gewiss an ihren ersten Kuss mit Lhenijah. Die medeenische Prinzessin war dermaßen überrascht gewesen, was Mhyrijam mit ihr tat, dass der Kuss zu einem lauten Schmatzen führte, welches in der Umgebung nicht zu überhören war. Lhenijah war diese Aufmerksamkeit höchst peinlich gewesen, während Mhyrijam vielmehr amüsiert darüber war, dass ihretwegen aus allen Winkeln des nächtlichen Palmenhains Gekicher zu hören war.

Lhenijah legte ihre Hand auf die Hüfte des Mädchens. Mhyrijams Haut fühlte sich kühl an und im sanften Mondlicht erinnerten die nackten Erhebungen von Brüsten, Beckenknochen und Schamhügel Lhenijah fast ein wenig an die Dünen der Landschaft vor Medeenah.

Zärtlich begann die Prinzessin Mhyrijams Brüste zu küssen und wie in den Nächten zuvor versuchte ihre Geliebte auch dieses Mal sofort in die Rolle der unterwürfigen Dienerin zu schlüpfen. Doch Lhenijah drehte sie rasch auf den Rücken und legte sich auf sie, denn dieses Mal sollte es anders sein. Lhenijah rutschte etwas ungeschickt hinunter zwischen Mhyrijams Schenkel, wobei sie ihre Zunge zärtlich über die Haut des Mädchens streichen ließ. Als sie die leicht hervorstehenden Beckenknochen erreichte, biss sie neckisch zu, ehe sich ihre Lippen Mhyrijams Schamhügel näherten.

»Was tut Ihr da, meine Prinzessin? Das ist meine Aufgabe, nicht Eure!«

»Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst mich nicht ansprechen, als wäre ich deine Herrin!« Lhenijah hob ihren Kopf, sodass sie über die zarten Brüste hinweg in Mhyrijams Augen blicken konnte. Sie lächelte und Lhenijah lächelte zurück. »Schließ deine Augen«, flüsterte sie, bevor ihre Lippen Mhyrijams Schoß küssten. Vorsichtig schob die Prinzessin ihre zitternden Hände unter den Po ihrer Geliebten. Mhyrijam kicherte, als Lhenijahs Zunge sie berührte. Der salzig-saure Geschmack, der sich nun in ihrem Mund ausbreitete, war ungewohnt für die Prinzessin und es kostete sie eine gewisse Überwindung, das zu tun, was Mhyrijam die letzten Nächte für sie getan hatte. Doch jetzt, da sie spürte, wie Mhyrijam sich unter ihr wand, bis sich ihre Erregung im stillen Beben ihres gesamten Körpers entlud, bereute sie es, diese Erfahrung nicht schon früher gemacht zu haben.

Lhenijah rieb ihre Lippen an Mhyrijams Innenschenkeln trocken und kroch dann hinauf, um sich in die Arme ihrer Geliebten zu legen. Schweigend blickten die beiden Mädchen durch die Palmen hinauf in den nächtlichen Sternenhimmel.

»Danke, Rhanijah«, flüsterte Mhyrijam nach einer Weile.

»Wofür? Das hätte ich schon viel früher tun sollen«, erwiderte Lhenijah wehmütig.

»Das meinte ich nicht. Ich meine, das natürlich auch, ähm … Ich meine, ich danke dir für deine Liebe. Du liebst mich, obwohl du doch die Kronprinzessin bist und ich nur ein einfaches Haremsmädchen.«

Lhenijah schluckte. Sollte ich ihr jetzt die Wahrheit sagen?

Sie hatte viel nachgedacht, seit sie in Hamroon angekommen war. Die Person, die Zaħir dazu angestiftet hatte, sie zu entführen, musste ihn mit der Aussicht auf eine Belohnung geködert haben, die über Gold hinausging. Dieser Gedanke hatte die Lösung gebracht. Mit Gold hatte es im eigentlichen Sinne zwar nichts zu tun, aber es war der entscheidende Hinweis gewesen. Das Gold des gesamten Reiches stammte aus einem einzigen Ort. Aus jenem Ort, der sich seit Jahrhunderten um seinen Glanz und dazu seit einigen Jahren auch um die rhubische Thronfolge betrogen fühlte: die Felsenstadt Aureen. Das ergab auf eine perverse Art Sinn. Zaħir musste die Entführung der medeenischen Prinzessin im Namen der aureenischen Herrscherin Valeryah in Auftrag gegeben haben, um deren Sohn den Weg auf den rhubischen Königsthron zu ebnen. Allerdings würde der Plan nicht aufgehen, denn die beiden Ħaliten hatten die falsche Prinzessin entführt. Rhanijah war das eigentliche Ziel gewesen. Doch die hatte jene schicksalshafte Nacht an Königin Nhadijahs statt im Königspalast verbracht. Das könnte Zufall sein, vielleicht aber hatte Rhanijah auch von der geplanten Entführung gewusst und sie zumindest billigend in Kauf genommen. Wer wusste das schon?

Lhenijah konnte nicht einmal erahnen, wer wie viel Anteil an dieser Geschichte kannte, und daher durften all diese Informationen unter keinen Umständen in die falschen Hände gelangen. Es war nicht auszudenken, welchen Einfluss diese Erkenntnis auf das Verhalten ihrer Entführer und deren Auftraggeber haben könnte und was diese letztlich mit ihr tun würden. Nein, sosehr sie Mhyrijam auch liebte, dieses Geheimnis musste Lhenijah für sich behalten.

»Was ist denn mit dir, Rhanijah?« Mhyrijam sah sie fragend an.

»Ach, Mhyrijam … Uns bleiben nur noch wenige Stunden bis zum Tagesanbruch und dann …«

Mhyrijam legte zart ihren Zeigefinger auf Lhenijahs Lippen. »Schhhh … Sprich es nicht aus!«

Lhenijah beugte sich vor und küsste Mhyrijam. Alles hätte so wunderschön sein können, doch beide wussten, dass ihre gemeinsame Zeit bald enden würde. Lhenijah legte sich auf die Seite, schlang ihre Arme um ihre Geliebte und drückte sie fest an sich, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ.

Die beiden Mädchen versuchten, die Wirklichkeit noch bis zum Sonnenaufgang zu verdrängen, doch die Sonne ging letztlich doch auf und beendete unerbittlich, was in den vergangenen Tagen entstanden war. Die ersten Strahlen waren kaum durch die Palmblätter gedrungen, als die beiden Ħaliten entgegen den Gesetzen des Harems in Lhenijahs heile Welt eindrangen.

»Zieht Euch an, Prinzessin! Es wird Zeit, zu gehen!« Der ältere der beiden hatte sich sofort umgedreht, als er Lhenijah erblickt hatte. Der jüngere dagegen war höchst interessiert und wie angewurzelt stehen geblieben, bis sein Begleiter ihn packte und zu sich zog. »Dieser Anblick ist nicht für uns bestimmt!«

Mhyrijam half Lhenijah in ihr Gewand und zog sich danach ebenfalls an. Anschließend fesselte sie der Prinzessin auf Geheiß der Ħaliten die Hände und führte sie zu ihrem Pferd, das auf der Innenseite des offenen Tors für sie bereitstand. Zu Lhenijahs Entführern hatte sich nun ein stummer hamroonischer Führer gesellt, der sie über den gefährlichen Aureenpass geleiten sollte.