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Ohne Macht und Familie und unter dem zweifelhaften Schutz des Nomadenfürsten Halessan am Rande der großen Wüste aufgewachsen, verfolgt Prinzessin Nhadijah zielstrebig ihren Plan: Als stolze Thronfolgerin zieht sie in die ehemalige Königsstadt Medeenah ein, doch sieht sie darin nur eine Zwischenstation auf ihrem Weg zum Königsthron ihrer Ahnen in der Hauptstadt Rhubijah. Aber der Weg zur Macht bleibt steinig: Ihre Untertanen haben nicht auf eine neue Herrscherin gewartet und die Loyalität ihrer Getreuen wird erschüttert durch Schlachten und Intrigen. So kommt alles anders als geplant: Nhadijah muss sich auf eine gefahrenvolle Reise begeben, um sich der Krone und des Thrones würdig zu erweisen.
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Seitenzahl: 340
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Kapitel I
Jenseits der großen Wüste
Kapitel II
In der Thronstadt
Kapitel III
Medeenah
Kapitel IV
Das Zelt
Kapitel V
Der Thron
Kapitel VI
Das Fest
Kapitel VII
Das Versprechen
Kapitel VIII
Der Feldzug
Kapitel IX
Kheijrah
Kapitel X
Aureen
Kapitel XI
Die Belagerung
Kapitel XII
Das Mädchen
Kapitel XIII
Heimkehr
Kapitel XIV
Vergebung
Kapitel XV
Geachtet, aber nicht geliebt
Kapitel XVI
Vhesnijah
Kapitel XVII
Vertrauen
Kapitel XVIII
Aufbruch
Kapitel XIX
Die andere Königin
Kapitel XX
Veskar
Kapitel XXI
Die Siegestrophäe
Kapitel XXII
Flucht
Kapitel XXIII
Das Buch von Rhubijah
Kapitel XXIV
Der geheime Tempel
Kapitel XXV
Sqidah
Kapitel XXVI
Kheijrahs Reise
Kapitel XXVII
Das Urteil
Kapitel XXVIII
Rhubijah
Kapitel XXIX
Das Meer
Kapitel XXX
Das Kind
Wie könnte ich meiner kleinen Prinzessin jemals einen Wunsch abschlagen?« Ħalessan II. seufzte, als Nhadijah ihr Begehren vorgebracht hatte. Er wusste genau, dass sie ihn schlussendlich irgendwie um den Finger wickeln würde. So, wie sie es immer tat. Dieses süße Findelkind allein hatte ihn in seinem Leben mehr Münzen und Nerven gekostet als sein gesamtes übriges Volk. »Goldmädchen« hatte er sie genannt, vom ersten Tag an, als die zweitausend Geflohenen aus der Thronstadt Rhubijah nach wochenlangen Entbehrungen in der großen Wüste das Tal der Ħaliten erreicht hatten. Ihr Haar leuchtete rotgolden und ihre smaragdgrünen Augen schienen mit Hunderten kleinen Goldflittern durchsetzt. Als Einzige gut genährt und fröhlich trat sie ihm damals keck gegenüber. Alle anderen ihres Volkes hatten sich in Verzicht und Demut üben müssen, um das Überleben ihrer Prinzessin zu sichern. Niemand hatte je darüber geklagt, obwohl Hunderte die Reise nicht überstanden hatten. Ob sie wohl wusste, wie viele Menschen sich für sie geopfert hatten?
Ħalessan war gewiss nicht für seine Gutmütigkeit bekannt gewesen. Aber ein Blick aus den unschuldigen großen Augen dieses süßen kleinen Mädchens genügte, um ihr mitsamt ihrem Volke das uneingeschränkte Gastrecht zu gewähren. Auch sein Sohn und Thronerbe Prinz Ħadeen nahm die kleine Nhadijah auf der Stelle als seine Schwester an und wollte nicht mehr von ihrer Seite weichen. Es schien in der Familie zu liegen, dem Goldmädchen zu verfallen.
Inzwischen war Nhadijah zu einem unendlich süßen, aber auch unendlich berechnenden jungen Ding herangewachsen, wie Ħalessan immer wieder schmerzlich erkennen musste. Ihre unschuldig weiße Haut hatte begonnen, weibliche Formen abzuzeichnen, sodass Ħalessan sich nicht mehr sicher war, ob er die »Prinzessin ohne Reich« vor den Männern seines Volkes zu beschützen hatte oder umgekehrt.
»Weibsvolk war seit jeher der Untergang eines jeden Königs«, hatte ihn sein Vater Ħalessan I. stets gelehrt. Und der musste es gewusst haben, denn dessen Vater wurde von einer eifersüchtigen Nebenfrau im Schlafe gemeuchelt.
Und nun stand sie also vor ihm, sein ehemals kleines Mädchen. Mit der Forderung, vor der ihn alle stets gewarnt hatten: ein Heer zur Eroberung ihres Reiches!
Ħalessan hatte viel Zeit gehabt, sich auf diesen Moment vorzubereiten. Vierzehn Jahre, um genau zu sein. Und er hatte sie genutzt. Er wusste um jede Silbe, mit der er ihr erklären wollte, warum es unter gar keinen Umständen möglich sein würde, ihren unsäglichen Haufen von gealterten Rittern aus der Thronstadt von einem Ħalitenheer durch die große Wüste begleiten zu lassen. Und doch war das Einzige, was er zum Entsetzen seiner Berater über die Lippen brachte: »Fünftausend Mann und Ħadeen als deren Kommandeur. Mehr kann ich nicht entbehren.«
Fünftausend? War er denn vollkommen von Sinnen? Er schickte seinen Erben mit einem Drittel seiner gesamten Streitmacht durch die – selbst für ein Wüstenvolk wie die Ħaliten – gefährliche große Wüste, um dieser naiven Möchtegern-Prinzessin zu ihrem Thron zu verhelfen! »Goldmädchen« war ein Name, der sich schon lange nicht mehr nur auf ihr Wesen und ihr Äußeres beschränkte. Würde er sie heute mit Gold aufwiegen, käme wahrlich nicht annähernd der Betrag zustande, den sie ihn bisher gekostet hatte!
Aber was sollte er tun? Würde sie heute nicht erhalten, was sie wollte, käme sie morgen wieder. Und übermorgen. Und an jedem darauffolgenden Tag! Nie würde es enden, nie! Und an jedem verdammten Tag würde er mit ansehen müssen, wie Prinz Ħadeen, sein eigen Fleisch und Blut, neben ihr stünde, um wie ein Geistloser nickend ihre Forderung zu unterstützen. Nein, er hatte keine andere Wahl: So sehr er sie und seinen Sohn liebte und ihn die Entbehrung eines fünftausend Mann starken Heeres schmerzte: Dieses Mädchen musste weg! Je eher, desto besser, denn später würde sie sich nicht mit fünftausend Mann zufriedengeben. Sie würde acht- oder zehntausend fordern, weil ihre alternden Ritter immer weniger wurden. Wenn er zu lange ausharren würde, müsste er ihr wohl sein gesamtes Heer anvertrauen.
»Danke, Vater.« Nhadijahs Worte und ihr makelloses Lächeln rissen Ħalessan aus seinen Gedanken und brachten ihn zurück auf den Boden der Tatsachen. Er nickte benommen und winkte Nhadijah beiseite. So konnte er sich endlich wieder einfacheren Themen zuwenden: Ziegenhirten, die sich darüber beschwerten, dass ihnen ihre Tiere nächtens von Ħalessans Soldaten entwendet und am Spieß gebraten wurden. Väter, die sich über den Sittenverfall in Ħalessans Heer entsetzten, nachdem eine Tochter unehelich schwanger geworden war. Oder war es eine Ziege gewesen, die schwanger wurde, und eine gegrillte Tochter über dem Feuer? Ħalessan war es einerlei. Es waren ermüdende Dinge, aber sie waren leicht zu handhaben: Auf jeden Kläger, dem er eine Genugtuung gewährte, ließ er einen Kläger hinrichten oder anderweitig bestrafen. Er war gewiss kein gerechter Richter, aber bei ihm hatte jeder Kläger immerhin eine faire Chance, eine Entschädigung zu erhalten. Das war weit mehr, als der Rest der Welt zu erwarten hatte. Und es war ungemein effizient: Man sparte sich aufwendige Prozesse und Beweisführungen. Solange keiner der Kläger oder Bittsteller Anliegen und Urteil seines Vorgängers kannte, funktionierte das System perfekt. Nun gut, ausgenommen Nhadijah sprach vor. Dann geriet Ħalessans Prinzip ein wenig durcheinander.
Es erstaunte Ħalessan kein bisschen, dass Nhadijah ihre wenigen Habseligkeiten und ihre umso üppigere Ausstattung, welche sie von ihm bekommen hatte, am Abend bereits hatte einpacken lassen. Auch Ħadeen hatte seine Vorkehrungen getroffen, sein Eigentum gebündelt und die fünftausend von ihm bestimmten Soldaten dasselbe tun lassen. Es bestand kein Zweifel: Seine beiden Kinder, das eigene und das fremde, würden morgen aufbrechen – in eine ungewisse Zukunft in einer ungewissen Zeit, an einen ungewissen Ort und mit ganz besonders ungewissem Ausgang. Ganz egal, wie sehr er Nhadijah liebte, Ħalessan liebte vor allem seinen Sohn und sein Volk. Und ganz besonders seine Macht! Darum nahm er am abendlichen Abschiedsfest seinen Sohn beiseite, um nur mit ihm etwas zu besprechen. Nhadijah war nicht in der Nähe. Zum Glück, denn hätte er sie dabei auch nur aus der Ferne ansehen müssen, hätte er niemals die Kraft besessen, dieses Gespräch zu führen. Sie vergnügte sich ein letztes Mal beim Tanz am Feuer, trank ein letztes Mal Tee in Ħalessans Zelt und legte sich zum letzten Mal im Tal der Ħaliten schlafen.
Immanuel der Sechste war kein überaus guter König gewesen. Ein wirklich schlechter allerdings auch nicht. Es war eine Tatsache, die einem – wie zumeist – erst bewusst wurde, wenn man miterlebte, was danach kam. In der Thronstadt hatte man Melaħons Machtübernahme mit einer gewissen Gelassenheit zur Kenntnis genommen. Welches Mitglied der Königsfamilie nun genau den rechtmäßigen König stellte und über das Rhubische Königreich herrschte, war dem gemeinen Volk weitestgehend einerlei. Immanuel hatte Rhubijah mehrmals erfolgreich gegen Eroberungsversuche zu Lande und zur See verteidigt. Er hatte sich allem Vernehmen nach nicht übermäßig bereichert und nicht in allzu verschwenderischem Luxus gelebt. Die Straßen der Thronstadt waren halbwegs sicher gewesen und den Priesterinnen im Tempel wurde mit dem gebührenden Respekt begegnet. Perfekt war seine Regentschaft dennoch nicht gewesen. So bestand die Hoffnung, der neue König Melaħon könnte noch größeren Wohlstand bringen, wie er es zu Beginn seiner Regentschaft dem niederen Volk versprochen hatte. Dieses Versprechen ließ die allermeisten seiner Untertanen auch über den Mord an seinem Cousin Immanuel hinwegsehen, der am Anfang seiner Machtübernahme stand. Doch es kam anders: Ohne jegliche Not hatte Melaħon bald damit begonnen, das Volk zu drangsalieren. Er genoss es offenbar, seine Macht in allen erdenklichen Formen auszuspielen. In seiner Herrschaftszeit war das Reich erst dreimal ernsthaft angegriffen worden und das letzte Mal lag inzwischen schon fünf Jahre zurück. So konzentrierten sich die Aufgaben von Melaħons Streitkräften auf das Innere des Reiches. Ganz Melaħons Beispiel folgend, wandelte sich die Throngarde so in Kürze in eine Horde saufender und prügelnder Vergewaltiger. Als Hohepriesterin Aramidah sich öffentlich vor dem König beschwerte, wertete Melaħon dies als Angriff auf seine Macht und damit als Hochverrat. Aramidah endete auf dem Scheiterhaufen und ihr Tempel wird seither jeden Monat anlässlich des Opferfests zum unfreiwilligen Bordell. Nicht dass es zuvor unüblich gewesen wäre, zum Opferfest mit Priesterinnen und Tempeldienerinnen zu schlafen. Nein, das war seit jeher fester Bestandteil der rhubischen Zeremonien gewesen. Geändert hatte sich aber der Umgang mit den Priesterinnen, die nun zu bloßen Lustsklavinnen degradiert worden waren.
Kheijrah wusste, wovon sie sprach, oder besser, worüber sie nachdachte. Sie wusste auch, wer die junge Frau wirklich war, die von allen nur »das Mädchen« genannt wurde, obwohl sie inzwischen achtzehn Sommer erlebt hatte. Es war Kheijrahs Bestimmung, sie zu beschützen, indem sie an ihrer statt ihren eigenen schönen Körper den Männern und gelegentlich auch Frauen anbot, die sich an ihrem Schützling vergreifen wollten. Es stellte sich bloß die Frage, wie lange ihre Schönheit dafür noch genügen würde. Jeder Monat hinterließ seine Spuren und nicht alle vergingen mit der Zeit. Kheijrah wusste nicht, wie lange sie noch aushalten würde, um das Mädchen zu schützen. Irgendwann würde sie zu schwach dafür sein. Irgendwann würde jemand kommen, der ebenfalls Bescheid wusste und sich nicht von Kheijrahs Körper blenden ließ. Aber dieser Tag war nicht heute.
Der Mann war ein Soldat der Throngarde. Er war groß, kräftig und hatte gemeine, harte Augen. Kheijrah war zierlich, beinahe noch zierlicher als das Mädchen selbst. Sie hatte unglaubliche Angst vor dem Mann und zitterte am ganzen Körper. Trotzdem trat sie zwischen ihn und das Mädchen, lächelte ihn schüchtern an und ließ ihre Priesterinnenrobe an sich heruntergleiten. Es funktionierte. Es funktionierte immer. Kheijrahs nackter Körper lenkte die Bestie ab und das Mädchen war gerettet. Für einen weiteren Monat.
Sie ist überwältigend«, flüsterte Nhadijah. Die Prinzessin saß auf ihrem Schimmel und blickte völlig ergriffen über die weite Ebene unter ihr. Am Horizont erhob sich auf sanften Hügeln die Stadt Medeenah.
Der Morgennebel verhüllte die höchsten Stellen der Stadt, sodass sie ihr eigentliches Ziel gar nicht erkennen konnte. Aber allein das Wissen, dass er da war, genügte ihr vollkommen: der alte Königspalast von Medeenah.
Selbst mit oder gerade wegen dieses geheimnisvollen weißen Flecks war Medeenah der unglaublichste und faszinierendste Ort, den sie in ihren siebzehn Jahren je zu Gesicht bekommen hatte. Zugegebenermaßen hatte sie nur wenige Vergleichsmöglichkeiten. Außer der Thronstadt, die sie mit drei Jahren hatte verlassen müssen und an deren Aussehen sie sich nur äußerst vage erinnern konnte, war der einzige ihr bekannte größere bewohnte Ort das Tal der Ħaliten gewesen. Sie konnte nicht einmal sagen, ob die Erinnerung an die Thronstadt wirklich real war oder Teil ihrer Fantasie, genährt von den wehmütigen Erzählungen ihres Volkes. Die darauffolgenden vierzehn Jahre wurden beherrscht von den Zeltlagern der Ħaliten und einigen kleinen Oasenstädten in den Ausläufern der großen Wüste. Die Ħaliten besuchten diese Städte auf ihren Wanderungen, um Handel zu treiben, bestenfalls. Bisweilen hatte Ħalessan eine etwas einseitige Interpretation dieses Begriffs an den Tag gelegt.
Auch das Zeltlager im Tal der Ħaliten war beeindruckend gewesen, besonders nachts im Schein der Aberhunderten von Lagerfeuern. Aber dennoch war es kein Vergleich mit der dreitausend Jahre alten ehemaligen Königsstadt Medeenah.
Von der Wüste aus gesehen wurde Medeenah von zwei gewaltigen Ringmauern und dem dazwischenliegenden Fluss Medeen geschützt. Der Fluss war zwar außerordentlich breit, dafür aber kurz. Er musste irgendwo im fernen Aureengebirge weit unter Tage entspringen und über viele Meilen durch unterirdische Zuflüsse gespeist werden. Erst im Wald am Fuße der Gebirgsausläufer, bereits innerhalb der äußeren Stadtmauer Medeenahs, trat er aus einer riesigen Höhle zutage, um majestätisch vor der Stadt seine letzten Meilen in Richtung Meer zurückzulegen. Zwischen den beiden Mauern befanden sich das wahrscheinlich fruchtbarste Land des gesamten Rhubischen Königreiches und eine Handvoll kleiner Dörfer und Wälder. Drei Garnisonen wachten über diese Kostbarkeit zwischen den Mauern.
Vom Fluss aus stieg das mit Mohnblumen übersäte Gelände sanft, aber stetig an.
Die Stadt selbst war nahe der inneren Mauer sehr dicht besiedelt. Je weiter nach oben man sich jedoch wandte, desto größer wurden die Gärten, Felder und Weinberge zwischen den einzelnen Gebäuden. Auf dem vorerst höchsten Punkt, umgeben von Terrassen und Palmenhainen, überspannte schließlich der Fürstenpalast eine riesige Kluft im Fels. Durch diese Kluft führte die Straße noch weiter hinauf zum noch immer im Morgendunst verborgenen Königspalast von Medeenah. Was dahinter lag, kannte Nhadijah nur aus Erzählungen: Eine Klippe fiel tief und beinahe senkrecht zum Meer hin ab. An dessen Ufer befand sich das Hafenviertel Alt-Medeenah, welches nur über Seilwinden, Aufzüge und einige halsbrecherisch gefährliche Fußpfade mit der Stadt verbunden war.
Das war es, was Nhadijah bisher über Medeenah wusste. Und noch etwas wusste sie: Der alte Königspalast wurde vor rund achthundert Jahren vom damaligen König Selim III. aufgegeben. Aber dort befand sich noch immer ein steinerner Thron. Der Thron von Medeenah war der Schlüssel zur Rückeroberung ihres Reiches. Wenn es Nhadijah gelang, die zweitgrößte Stadt des Rhubischen Königreichs unter ihre Herrschaft zu bringen, würde sie von hier aus Stück um Stück jede weitere Stadt des Reiches zurückgewinnen. Und am Ende ihres Traumes würde sie endlich auf dem Thron ihres Vaters in ihrer Heimatstadt Rhubijah sitzen. Das war sie Immanuel VI., ihrem Bruder Haqon und ganz besonders sich selber schuldig.
Aber auch der Thron von Medeenah wollte erst erobert werden. Denn wie ihr erzählt worden war – und sie hatte keinen Grund, an diesen Gerüchten zu zweifeln –, hatte Fürst Miħael IV. von Medeenah sich angemaßt, selbst auf ebendiesem Thron Platz zu nehmen. Prinzessin Nhadijah war hier, um diesen Fehler zu korrigieren und sich selbst auf dem steinernen Thron zu setzen. Zumindest so lange, bis sie den Königsthron von Rhubijah erobern würde.
»Ja, das ist sie wirklich«, erwiderte Morteqħaï, der rechts von Nhadijah im Sattel seines struppigen, sehnigen Rappen saß. Der alte Mann, dessen Augen in seinen fast siebzig Lebensjahren die halbe Welt gesehen hatten, schien nicht minder überwältigt vom Anblick der Stadt als die Prinzessin selbst. Vor vierzehn Jahren war Morteqħaï von einem Wimpernschlag zum nächsten ihr Ersatzvater geworden. Hunderte Male hatte er ihr die Geschichte schon erzählt. Abends an den Feuerstellen der Ħaliten, tagsüber, wenn sie sehnsüchtig grübelnd in die weite Wüste hinausblickte, und nachts, wenn ein böser Traum sie aus dem Schlaf aufschrecken ließ. Es war keine schöne Geschichte. Aber sie rief ihr in Erinnerung, woher sie kam, wer sie war und dass da Menschen waren, die ohne Zögern ihr Leben für sie opfern würden. Sie kannte das Schicksal ihrer Familie nicht mit Sicherheit. Noch immer klammerte sie sich an die Hoffnung, ihre Mutter habe sich vielleicht doch retten können. Solange es diese Hoffnung gab, fühlte sie sich etwas weniger verloren in dieser Welt.
Morteqħaïs Erzählungen ließen hingegen keinen Zweifel über das Schicksal ihres Vaters Immanuel VI. und jenes ihres Bruders Kronprinz Haqon offen. Die beiden waren die ersten Opfer von Immanuels Cousin Melaħons Putsch gewesen. Als Kronmarschall war Melaħon erster Minister, Oberbefehlshaber der Armee und Stellvertreter des Königs. Er selbst war es, der während des Umtrunks im Anschluss an eine Sitzung des Thronrats den ahnungslosen König und danach auch dessen Sohn über die Brüstung der Terrasse vor dem Thronsaal warf. Im Gegensatz zu den übrigen nicht eingeweihten Thronräten verstand Morteqħaï, der als Vizekommandant der Throngarde seinen Vorgesetzten an diesem Tag im Rat vertreten hatte, sofort, was vor sich ging, und flüchtete vor dem darauffolgenden Massaker an Immanuels Ministern. Die arglos im Palasthof spielende Prinzessin Nhadijah ergriff er geistesgegenwärtig bei seiner Flucht und versteckte das zappelnde kleine Mädchen unter seinem Umhang.
Es gelang ihm, sich mit Nhadijah an den Wachen vorbei aus der Stadt zu schleichen. Im Tempel auf dem Berg vor der Stadt brachte er sich und die kleine Prinzessin vorerst in Sicherheit. Einige Tage später nahm er von dort aus über eine vertrauenswürdige Priesterin Kontakt zu seinen engsten Vertrauten in der Throngarde auf. Als sich eine Woche nach dem Putsch die Lage in der Stadt zu normalisieren schien, verließen im allgemeinen Trubel des Krönungsfestes Melaħons I. rund fünfzehnhundert Soldaten des Heeres und der Throngarde die Thronstadt und flohen unter Morteqħaïs Führung als treue Anhänger ihrer künftigen Königin in den Südosten des Reiches. Viele wurden dabei von ihren Familien begleitet, sodass der gesamte Tross fast dreitausend Menschen zählte.
Als die Flüchtenden etliche Wochen später nach der Durchquerung der großen Wüste das Tal der Ħaliten erreichten, war ihre Zahl beinahe auf die Hälfte geschrumpft. Weit über tausend Menschen hatten die Rettung ihrer Thronfolgerin mit ihrem Leben bezahlt. Knapp zweitausend waren Nhadijah geblieben, von welchen sie inzwischen wusste, dass sie auf der Stelle bereit wären, dasselbe Opfer zu erbringen. Allen voran Morteqħaï, der selbst keine Familie hatte, aber für Nhadijah sofort die Vaterrolle übernahm, als es darauf ankam. Liebevoll, fürsorglich und aufopfernd hatte er sich um die kleine Prinzessin gekümmert, sie beschützt und ihr alles beigebracht, was er ihr beibringen konnte. Seine Rolle war kein Vergleich zu jener Ħalessans gewesen, den Nhadijah, berechnend wie sie war, immer als ihren Vater bezeichnet hatte. Der Wüstenkönig war ihre Goldquelle gewesen, ihr Hoflieferant für Nahrungsmittel und Soldaten, mehr nicht. Natürlich war sie ihm dankbar für die jahrelange Gastfreundschaft. Aber geliebt, wie sie Morteqħaï liebte, hatte sie Ħalessan nie. Ganz anders waren dagegen ihre Gefühle für dessen Sohn. Kronprinz Ħadeen flankierte Nhadijah nun zu ihrer Linken, während sie Medeenah bestaunte. Ħalessan hatte ihn als Heerführer der Ħaliten entsandt, weil das Ħalitenheer weder auf die Befehle Nhadijahs noch auf jene des alten Ritters Morteqħaï hören würde. Es musste einer der ihren sein, der sie befehligte, und wer würde sich dazu besser eignen als Ħadeen? Er war der tapferste, mutigste, stärkste und schnellste Kämpfer des gesamten Volkes. Groß gewachsen mit sonnengebräunter Haut, schwarzem Haar und beinahe ebenso schwarzen Augen, denen Nhadijah fast so sehr verfallen war wie er den ihren. Seit sie sprechen konnte, hatte sie immer wieder gesagt, sie werde ihn irgendwann heiraten, und selbst wenn sie nun kein Kind mehr war, so glühte dieser Funken doch noch immer in ihr. Aber Ħadeen war auch aufbrausend, wild, unberechenbar und bisweilen brutal. Sie war darum auch froh, bisher keinen Antrag von ihm erhalten zu haben, denn so sehr sie Ħadeen auch anhimmelte, vor der Hochzeitsnacht mit ihm graute ihr.
»Ein Wort von Euch, Prinzessin, und die Stadt ist Euer.« Ħadeen hatte weit weniger Sinn für Fantastisches als Nhadijah und Morteqħaï. Er sah in Medeenah nur eines: eine fette Beute, die er sich holen und seiner Prinzessin zu Füßen legen wollte.
Morteqħaï lächelte amüsiert, als er erwiderte: »Ihr seid ein großer Kämpfer, Prinz Ħadeen, aber glaubt mir, wenn ich Euch sage: Medeenah ist uneinnehmbar.«
»Keine Stadt ist uneinnehmbar, alter Mann, nicht für die Ħaliten!«
Morteqħaï lächelte noch immer. »Unsere Wasservorräte sind nun endgültig erschöpft, unsere Essensvorräte sowieso. Kein Mann kann kämpfen, wenn er hungert und am Verdursten ist. Abgesehen davon dürfte uns das Heer von Medeenah ungefähr vierfach überlegen sein. Hört auf mich, meine Prinzessin. Ich habe viele Schlachten und Fehden erlebt. Ich habe viele gewonnen und auch einige verloren. Die allermeisten jedoch habe ich vermieden. Ich halte dies noch immer für die beste Lösung.«
»Ihr meint, wir sollten mit Fürst Miħael verhandeln?«, fragte Nhadijah angewidert. Obwohl auch ihre ebenfalls schon langsam am Gaumen festklebende Zunge nach dem Wasser des so nahen und doch so unerreichbaren Medeen lechzte, war sie nicht zu Verhandlungen bereit.
Ħadeen spuckte aus, ballte die Faust und rief: »Ħaliten verhandeln nie! Ħaliten kämpfen! Und Ħaliten sind fünfmal bessere Kämpfer als alle ihre Gegner!«
Nhadijah wusste, Morteqħaï war der verlässlichere Berater, der umsichtigere und der erfahrenere. Dennoch gefiel ihr Ħadeens Vorschlag wesentlich besser. Der Legende nach waren die Ħaliten erst ein einziges Mal besiegt worden, und das war dreitausend Jahre her. Außerdem hatten sie das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Der Thronräuber musste weg. Er hatte nichts anderes als den Kampf verdient!
»Formiert das Heer!«, befahl sie ihren beiden Heermeistern.
»Nein, meine Prinzessin«, erwiderte Morteqħaï gelassen.
»Wagt Ihr es, Euch mir zu widersetzen, Morteqħaï?« Nhadijah wurde zornig. Nichts versetzte sie mehr in Rage als Widerspruch. Morteqħaï beantwortete die Frage nicht, sondern deutete in Richtung der inneren Stadtmauer.
»Seht hin«, sagte er ruhig.
Nhadijah kniff die Augen zusammen. Die Sonne stieg hinter der Stadt auf und ließ den Nebel schwinden. Langsam kam der Königspalast zum Vorschein. Es war aber nicht das, was Morteqħaï ihr hatte zeigen wollen. Er deutete noch immer hinunter zur Mauer und nun erkannte sie es: Die Garnisonen waren zum Leben erwacht. Medeenah war die Ankunft von Nhadijahs Heer nicht verborgen geblieben, obwohl ihre Truppen sich hinter der großen Düne verborgen hielten. Sie erinnerte sich an Morteqħaïs Erzählungen über Medeenah. Die Stadt war seit ihrer Eroberung durch Königin Rhubijah vor dreitausend Jahren ebenfalls nie mehr bezwungen worden. Nhadijah biss sich auf die Unterlippe. Morteqħaï hatte recht. Wie jedes Mal. Und wie jedes Mal gab sie nach und ärgerte sie sich maßlos darüber, aber sie wusste, dass es besser war zu tun, was ihr väterlicher Berater riet.
»Ihr führt die Verhandlung, Morteqħaï«, befahl Nhadijah leise, mit gesenktem Blick. Der alte Mann nickte, sah sie aus seinen melancholischen blauen Augen zufrieden an, hob zwei Finger an die Stirn und ritt los in Richtung des Haupttores der äußeren Mauer. Nhadijah blickte ihm nach. Er war noch immer eine stattliche Erscheinung in seiner dunkelroten, mit goldenen Ornamenten bestickten Jibbah. Gewiss war er langsamer geworden im Kampf. Nicht jedoch im Geiste, und darauf war sie gerade jetzt besonders angewiesen.
Ħadeen saß kopfschüttelnd neben ihr und maulte vor sich hin, bis sie ihn anschnauzte, er solle den Mund halten, was er dann beleidigt tat.
Morteqħaïs Weg zum Tor war weiter, als er schien. Sein Rappe tänzelte unruhig, als der Wachhabende über dem Tor erschien. Nhadijah verfolgte die Szenerie durch Morteqħaïs Linsenrohr, welches er ihr überlassen hatte. Sie sah, wie er die rechte Hand zum Gruß hob und einige Worte mit dem Wachhabenden wechselte. Dieser nickte schlussendlich und verschwand. Morteqħaï drehte sich kurz zu Nhadijah um und nickte ihr zu. Bald darauf sah sie die Staubspur eines Reiters in Richtung der mittleren Garnison jagen. Es dauerte seine Zeit, bis Bewegung in die Ebene kam. Morteqħaï war zwischenzeitlich abgestiegen, hatte sich in den Sand gesetzt und gegen die Mauer gelehnt. Endlich jagten zwei Reiter von der Garnison her zurück zum Tor. Kurz darauf öffnete sich dieses und ein riesenhafter Mann trat ins Freie. Er streckte Morteqħaï erst die Hand zum Gruß hin und danach einen Wasserschlauch. Morteqħaï ließ sich nicht zweimal bitten und trank. Danach sprachen die beiden kurz miteinander, ehe der Hüne wieder hinter dem Tor verschwand. Morteqħaï saß auf und ritt zurück. Als er Nhadijah und Ħadeen erreicht hatte, streckte er der Prinzessin den Wasserbeutel hin. Nhadijah griff zu, entkorkte den Schlauch und trank mit gierigen Zügen. Das Wasser war kühl und wunderbar erfrischend. Der Durst war schrecklich gewesen. »Was hat er gesagt und wer war er?«, fragte Nhadijah, nachdem der Beutel leer war.
»Das war General Mossadeqħ, der Befehlshaber der Garnisonen von Medeenah. Er hat mir eine Botschaft des Fürsten überbracht.«
»Welche Botschaft? Hat er Bedingungen gestellt? Wird Medeenah sich ergeben?« Es lag viel Hoffnung in ihren Fragen, aber Morteqħaï schüttelte den Kopf: »Nein. Fürst Miħael von Medeenah will verhandeln. Von Angesicht zu Angesicht, und zwar mit Euch ganz allein.«
»Um ihr bei dieser Gelegenheit die Kehle aufzuschlitzen!«, unterbrach Ħadeen ihn brüsk.
»Unwahrscheinlich«, erwiderte Morteqħaï. »Ich glaube, Miħael von Medeenah ist durchaus bereit, sich von der Thronstadt loszusagen und Euch die Treue zu schwören. Medeenah fühlt sich seit achthundert Jahren um seinen königlichen Glanz betrogen. Für Miħael ist das die Gelegenheit seines Lebens, diesen Glanz wiederherzustellen. Außerdem liegt den Medeenern Meuchelmord nicht gerade im Blut.«
Nhadijah fuhr ihn an: »Ach, und das wisst Ihr, weil …«
»… ich hier geboren wurde, meine Prinzessin.«
»Ihr stammt aus Medeenah?« Nhadijah war verblüfft.
»Ja, aus Alt-Medeenah, um genau zu sein. Ich habe die Stadt zusammen mit meinem Vater auf einem Fischerboot in Richtung der Thronstadt verlassen. Er meinte, ich solle mich für zwei Jahre der Throngarde anschließen, damit endlich ein richtiger Mann aus mir werde.« Morteqħaï hielt inne.
»Und warum seid Ihr in der Thronstadt geblieben?«, fragte Nhadijah.
»Wir gerieten kurz vor unserem Ziel in einen Sturm. Mein Vater ertrank in den Fluten. Das Boot versank und ich hatte Glück, dass ich von anderen Fischern gerettet wurde. Mit dem Verlust des Bootes hatte ich keine Möglichkeit mehr, nach Medeenah zurückzukehren. So schloss ich mich der Garde an, wie ich es meinem Vater versprochen hatte. Je länger ich blieb, desto mehr hatte ich mich damit abgefunden, dort auch alt zu werden. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet, Medeenah je wiederzusehen.«
Nhadijah bemerkte Tränen der Rührung in den Augen des alten Ritters. Es beschämte sie. Sie kannte Morteqħaï, seit sie ein kleines Kind war. Nein, er kannte sie. Mit all ihren Sorgen konnte sie stets zu ihm gehen. Immer hatte er ihr zur Seite gestanden. Sie hatten so viel zusammen erlebt, dass er einfach alles von ihr wusste. Sie dagegen wusste offenbar von ihm sehr wenig.
Nhadijah hatte Angst. Sie fürchtete sich vor Fürst Miħael, aber verließ sich auf Morteqħaïs Urteil: »Ich bin einverstanden«, flüsterte sie ihm zu. »Bereitet alles vor.«
»Seid Ihr lebensmüde?«, brüllte Ħadeen sie an. Nhadijah streckte ihre Hand aus und strich über Ħadeens Wange. »Alles wird gut gehen, Ħadeen. Bald schon werde ich Königin sein.«
Es war ein eigenartiges Schauspiel, das sich Nhadijah am späten Nachmittag am Fluss bot. Links der breiten Straße vor der Brücke wurde ein großes Zelt aus schwarzem Stoff errichtet und die medeenischen Diener trugen Teppiche, Kissen und Decken hinein. Schlussendlich stellten sie mitten auf der Straße neben dem Zelt in einem Abstand von etwa dreißig Fuß je ein hölzernes Gestell auf. Über das der äußeren Mauer zugewandte legten sie ein weißes Seidenkleid. Das andere, der Stadt zugewandte Gestell blieb leer. Fragend blickte Nhadijah zu Morteqħaï.
»Ein Geschenk des Fürsten von Medeenah, meine Prinzessin«, erklärte Morteqħaï. »Von uns wird dieselbe Geste erwartet.«
»Warum das?«, fragte Nhadijah. Morteqħaï zuckte mit den Schultern, aber ihr war klar, dass er die Antwort kannte. So ließ sie gegen den Willen des Prinzen aus Ħadeens Truhe dessen edelstes Kleidungsstück holen: einen nachtschwarzen Umhang aus schwerer Seide. Sie reichte ihn Morteqħaï. Der Ritter nickte und er galoppierte auf seinem Pferd davon. Das Tor öffnete sich. Morteqħaï ritt hindurch und hinunter zum Zelt, wo er den Umhang über das noch leere Gestell hängte. Danach verschwand er im Zelt. Die Sonne war bereits untergegangen, als er es wieder verließ, um zurückzureiten.
Er wandte sich direkt an Ħadeen, als er zurück war: »Ich habe mir alles angesehen, Prinz Ħadeen. Keine Waffen, weder Klinge noch Speer oder Pfeil. Das Zelt ist ein sicherer Ort für die Prinzessin.«
Der Prinz nickte argwöhnisch und befahl den seinen, das Zelt die ganze Nacht über keinen Augenblick aus den Augen zu lassen. Morteqħaï dagegen trug er auf, es im Morgengrauen ein weiteres Mal zu inspizieren.
Nhadijah hatte nicht gut geschlafen. Der Durst hatte sie die ganze Zeit über gequält, weshalb sie froh war, als der Morgen graute. Sie trat vor ihr Zelt und bestaunte erneut die Stadt vor sich. Ganz besonders bestaunte sie den Fluss. Das kühle, silbrig glitzernde Nass, das sie und ihr Heer retten würde oder vielmehr retten musste. Denn außerhalb Medeenahs gab es hunderte Meilen weit nichts als trockene Wüste, Felsen und Meerwasser.
Bei Sonnenaufgang sollte sie sich zum Tor begeben, so war es ausgemacht. Nhadijah ließ sich ihre Haare bürsten und die Haut mit Mandelöl und Rosenwasser einreiben. Seit Tagen hatte sie sich nicht mehr waschen können. Aber der Rosenduft war stärker als der Geruch ihres verschwitzten Körpers.
Sie ließ sich ankleiden. Danach strich sie so lange nervös die Falten ihres Kleides glatt, bis der Stallknecht ihren Schimmel brachte. Das arme Tier war vom Durst gezeichnet und sah heute noch bedauernswerter aus als gestern: abgemagert, mit sprödem Fell und eingesunkenen Augen. Wortlos setzte sich die Prinzessin in den Sattel. Sie nickte Morteqħaï und Ħadeen zu und ließ ihr Pferd antraben.
Das große Tor der äußeren Mauer schien sich wie von Geisterhand zu öffnen, als sie sich näherte. Sie konnte keine Menschenseele sehen, während sie unter dem Torbogen hindurchritt. Kaum war sie im Innern, fiel das Tor hinter ihr zu. Sie schaute sich nervös um, während sie sich an die Zügel ihres Pferdes klammerte. Sie bemühte sich, möglichst aufrecht zu sitzen, schließlich war sie die künftige Königin.
Nhadijah ließ ihren Schimmel in Richtung des Flusses traben und hielt plötzlich inne. Das große Tor der inneren Stadtmauer öffnete sich nun ebenfalls. Nhadijah musste gegen den Reflex ankämpfen, ihr Pferd herumzureißen und zu fliehen.
Es war nur ein einzelner Reiter, der majestätisch durch das Tor ritt, das sich unmittelbar hinter ihm schloss. Er gab seinem Pferd die Sporen und ließ es zum Fluss hinuntergaloppieren. Nhadijah tat es ihm gleich. So erreichten sie beide fast gleichzeitig die entgegengesetzten Seiten des Zeltes.
Der Mann stieg elegant vom Pferd. Er war von schlanker Statur und hatte dunkelbraunes Haar, welches gerade lang genug war, um es im Nacken zusammenbinden. Er wirkte nicht annähernd so kräftig wie Prinz Ħadeen, dafür agiler und anmutiger. Sein dunkelbrauner Brustpanzer war aus gehärtetem Leder gefertigt. Die Metallbeschläge seiner Kleidung waren allesamt aus poliertem Silber, Tunika und Hose schienen aus reiner Seide zu bestehen. Nhadijah fielen jedoch vor allem die drei Reihen mit je sechs silbernen Sternen auf der Brust auf. Ihre Bedeutung kannte sie nicht. Über den Schultern trug der Mann einen samtenen nachtschwarzen Umhang, der eindeutig zu warm war, aber die edle Abstammung seines Trägers unterstrich. Das Schwert mit filigran verziertem silbernem Griff trug er auf dem Rücken, was Nhadijah etwas erstaunte. Bisher hatte sie ihre eigenen Ritter nur Großschwerter auf dem Rücken tragen sehen. Das Schwert des Fürsten war aber nur unwesentlich größer als jene, welche ihre Soldaten am Gürtel trugen.
Nhadijah ärgerte sie sich darüber, nicht wenigstens einen Dolch mitgenommen zu haben, als Fürst Miħael sein Schwert zog. Doch sie blieb mutig stehen, faltete ihre Hände vor ihrem Schoß und wartete ab. Der Fürst drehte sich um und klopfte seinem Pferd zweimal auf den Hals, um es fortzuschicken. Danach rammte er sein Schwert in den Boden, nahm seinen Umhang von den Schultern und hängte ihn über den Schwertknauf. Nhadijah schickte ihre Stute ebenfalls davon, damit wenigstens sie ihren Durst am Fluss stillen konnte. Mit allem, was danach geschah, hatte Nhadijah niemals gerechnet. Der Fürst öffnete die Schnallen seiner Panzerung und ließ das Leder in den Staub fallen. Als er auch das darunter zum Vorschein kommende Tuch auszog, schluckte Nhadijah. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand ihr ein nackter Mann gegenüber. Ihr gefiel, was sie sah. Leider dauerte dieses Schauspiel nicht besonders lange. Der Fürst griff zum Gewand, welches Nhadijah hatte bereitlegen lassen, und zog es an. Es dauerte eine Weile, bis Nhadijah erkannte, dass es nun an ihr war, die Geste zu erwidern. Augenblicklich klopfte ihr Herz bis zum Hals, ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Ihr Mund wurde noch trockener, als er ohnehin schon war. Sie hatte sich noch nie vor den Augen eines Mannes ausgezogen. Ihre Hände zitterten, als sie die Bänder ihres Kleides öffnete. Sie atmete tief ein und schloss die Augen, bevor sie den Stoff an ihrem Körper hinuntergleiten ließ. Danach griff sie sofort nach dem Kleid, welches die Medeener für sie bereitgelegt hatten, um es so rasch wie möglich überzustreifen. Ein kurzer Blick auf ihren Körper musste dem Fürsten genügen, um sich zu versichern, dass auch sie unbewaffnet das Zelt betreten würde. Das Kleid war aus reiner Seide. Es fühlte sich so zart und kühl auf ihrer Haut an, als trüge sie noch immer nichts. Der Fürst bedeutete Nhadijah mit einer einladenden Handbewegung, das Zelt zu betreten. Es war aus dickem Wollstoff gefertigt und im Innern erstaunlich kühl. Das Zelt war zu beiden Seiten offen, jedoch so, dass ein Einblick erst aus wenigen Schritten Entfernung möglich war. Nur sanfte Reste des Sonnenlichts erhellten das Zentrum. Dort stand auf einem filigran geknüpften Teppich ein niedriger Tisch, der von vielen Kissen umgeben war. Nhadijah lief alles Wasser, das ihr Körper noch aufbringen konnte, im Mund zusammen, als sie sah, was auf dem Tisch auf sie zu warten schien. Am liebsten hätte sie sich augenblicklich auf all die Krüge, Töpfe und Schälchen gestürzt. Doch stattdessen schritt sie so majestätisch wie möglich auf den Fürsten zu, in der Hoffnung, er würde sie erst an seine Tafel einladen, bevor er verhandeln würde. Als sie ihm so nah gegenüberstand, wurde ihr Herzschlag wieder schneller.
»Ich freue mich, Euch zu Gast zu haben, Prinzessin Nhadijah. Ich bin Miħael der Vierte, Fürst von Medeenah und Bewahrer des Königsthrons.« Der Fürst hatte eine sonore, warme Stimme, die Nhadijah augenblicklich beruhigte. Sie verzichtete darauf, ihn mit einer zynischen Bemerkung bezüglich seines genannten Titels als Bewahrer des Königsthrons zu brüskieren. Das musste bis nach dem Mahl warten. Stattdessen säuselte sie mit der verführerischsten Stimme, die sie aufbringen konnte: »Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Fürst von Medeenah. Ich bin Nhadijah, Tochter Immanuels des Sechsten und rechtmäßige Thronerbin des Rhubischen Königreiches.«
Fürst Miħael lächelte. »Lasst uns später über dieses Thema sprechen. Ihr müsst hungrig und ganz bestimmt unendlich durstig sein, nachdem Ihr die große Wüste durchquert habt. Bitte, nehmt Platz.«
Nhadijah ließ sich auf den Kissen nieder, Fürst Miħael setzte sich zu ihrer Linken, goss Wasser in ihren Becher und füllte den Kelch mit Wein. Nhadijah hatte noch nie Wein getrunken. Er war beim Volk der Ħaliten verboten. Auch die meisten ihrer eigenen Leute hatten sich vorsichtshalber daran gehalten. Nhadijah fühlte sich den Gesetzen der Ħaliten jedoch nicht verpflichtet. Also nahm sie einen tüchtigen Schluck vom dunkelroten Rebensaft und musste sofort husten. Der Wein war stark, und sie sah, wie schwer es Fürst Miħael fiel, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Ihr wurde bewusst, wie unvorsichtig sie gewesen war. Waffen gab es zwar keine im Zelt, das hatte Morteqħaï kurz vor dem Morgengrauen ein weiteres Mal überprüft. Aber an Gift hatten sie nicht gedacht. Sie erschrak und wollte aufstehen, aber Fürst Miħael hielt sie sanft zurück.
»Aber nein, Prinzessin, Ihr müsste Euch keine Sorgen machen«, sagte er mit ruhiger Stimme. Er nahm erst Nhadijahs Weinkelch, danach ihren Wasserbecher und trank beide aus, ehe er sie wieder auffüllte.
»Entschuldigt«, erwiderte Nhadijah beschämt. Die Situation glitt ihr aus den Händen.
»Ich verstehe Eure Vorsicht, Prinzessin. Als mutmaßliche Thronerbin lauern viele Feinde auf Euch. Da kann ein wenig Misstrauen gewiss nicht schaden.«
Er reichte ihr nacheinander unzählige Schalen und Schälchen mit ebenso unzähligen Köstlichkeiten: gefüllte Weinblätter, eingelegtes Gemüse, Oliven, Trauben, in Blätterteig gebackene Fleisch-, Fisch- und Gemüsegerichte, Fleischspießchen, Salate und Früchte. Nach der dritten Schale verzichtete sie darauf abzuwarten, bis der Fürst zuerst einen Bissen von einem Gericht nahm. Der Wein machte sie mutiger. Als sie sich endlich satt fühlte, fasste sie sich ein Herz, um den eigentlichen Grund ihres Kommens anzusprechen. Bevor sie jedoch auch nur ein Wort sagen konnte, strich Fürst Miħael sanft durch ihr langes rotgoldenes Haar und flüsterte: »Ihr seid noch so viel schöner, als mir berichtet wurde, Prinzessin.« Nhadijah errötete. Ihre Hände wurden feucht und kalt. Fürst Miħael ließ seine Hand über ihren Nacken und über ihren vom Kleid unbedeckten Rücken gleiten. Nhadijah war unfähig und unwillig, es zu verhindern. Sie schloss ihre Augen, als seine Hand ihre Taille erreichte, und leistete keinerlei Widerstand, als Fürst Miħael sie zu sich zog, während er sich auf den Rücken drehte. Er begann sie zu küssen. Erst auf die Stirn, dann auf den Mund. Nhadijah wurde heiß. Zwischen ihren Beinen breitete sich ein Gefühl aus, das sie in dieser Intensität noch nie erlebt hatte. Nun glitten Miħaels Hände unter ihr Kleid und zogen es hoch. Sie lag vollkommen nackt auf dem Körper des Fürsten. Er drehte sich so, dass er Nhadijah sanft auf ihre rechte Seite legen konnte. Seine Hand zeichnete zärtlich alle Konturen ihrer feuchten Haut nach, bis sie schließlich zwischen ihren Beinen eine Stelle fand, der sie sich ganz besonders intensiv zu widmen begann. Nhadijahs Körper wand sich ganz von selbst, während ihr Kopf im Arm des Fürsten lag und sie ihre Beine bereitwillig immer weiter öffnete. Die Wellen der Lust überschlugen sich. Plötzlich lag er auf ihr und ließ seine Zähne über ihren Hals streifen, während er in sie eindrang. Nhadijah wimmerte kurz, aber je intensiver seine rhythmischen Bewegungen wurden, umso weniger nahm sie den Schmerz wahr. Ihr Unterleib stemmte sich mit aller Kraft gegen seinen, um ihn noch intensiver in sich zu spüren. Sie stöhnte laut auf, als sie endlich ein Gefühl erlebte, das für sie bisher völlig unbekannt gewesen war. Sie schlang Arme und Beine um den Körper des Fürsten und sank erschöpft in die Kissen zurück, als Miħael sich aus ihr zurückzog.
Als sie endlich ihre Augen öffnete, sah er sie lächelnd an und sagte: »Heiratet mich, Prinzessin Nhadijah, ernennt mich zu Eurem Kronmarschall und Ihr sitzt morgen auf dem Königsthron.«
Nhadijah wusste nicht, was sie darauf antworten sollte »I… ich …«
Miħael unterbrach sie: »Ich erwarte Euch morgen bei Sonnenaufgang auf der Brücke. Kommt mit Eurer Leibgarde, wenn Ihr wollt, aber brauchen werdet Ihr sie nicht. Dann werde ich Euch beweisen, wie falsch die Gerüchte sind, die Ihr sicher über mich gehört habt.«
Damit stand er auf, zog den Umhang an und verließ das Zelt. Nhadijah hörte, wie er sein Pferd zu sich rief, seine Rüstung auflud und davonritt. Sie war verwirrt. Hatte sie das alles wirklich erlebt? Sie fand den Beweis zwischen ihren Beinen. Ihre Entjungferung hatte Spuren hinterlassen. Noch während Nhadijah sich erhob und anzog, hörte sie reges Treiben vor dem Zelt. Als sie wieder in medeenische Seide gehüllt in die gleißende, sengende Sonne trat, sah sie, wie ihr ganzes Heer die äußere Mauer passierte. Fürst Miħael hatte die Tore öffnen lassen, damit ihr Heer den Fluss erreichen konnte, um endlich seinen Durst zu stillen.
»Geht es Euch gut, meine Prinzessin?« Es dauerte einen Moment, bis sie Ħadeen im herrschenden Getümmel erkannte. Er und Morteqħaï schienen die Einzigen zu sein, die nicht sofort zum Fluss hinunter stürmten.
»Ja … Ja, ich denke schon«, antwortete Nhadijah, während sie mit ihrer Hand die Augen vor der Sonne schützte. Es fiel ihr schwer, die Worte zu formulieren, und sie fühlte sich noch immer benommen. Sie bedeutete ihren beiden Beratern, ihr ins Zelt zu folgen. Fürst Miħael hatte zwar kein Wort darüber verloren, aber Nhadijah erschien es selbstverständlich, Ħadeen und Morteqħaï an der noch immer üppig gedeckten Tafel teilhaben zu lassen, während sie ihnen in Ruhe schildern konnte, was ihre Verhandlung mit dem Fürsten ergeben hatte. Sie ließ sich auf die Kissen sinken, auf welchen sie kurz zuvor noch mit Miħael gelegen hatte. Sie bildete sich ein, ihn noch immer riechen zu können. Eine Mischung aus Zitrusaromen und frischem Schweiß.
»Hmm?«, erwiderte sie geistesabwesend auf Morteqħaïs Frage.
»Wie ist es ausgegangen, meine Prinzessin?«, wiederholte dieser sich, während er Wasser für alle drei einschenkte.
Nhadijah ergriff den Becher, betrachtete das kostbare Nass einige Sekunden und antwortete dann: »Er will mich zur Königin krönen … Und er will mich heiraten …« Sie hatte einen Wutausbruch von Ħadeen erwartet. Aber dieser blieb völlig ungerührt, bis sie die Forderung nach dem Amt des Kronmarschalls erwähnte.
»Das ist völlig ausgeschlossen!«, rief Ħadeen entsetzt. »Damit gebt Ihr ihm viel zu viel Macht! Es hat schon seinen Grund, warum in der Geschichte Eures Reiches kaum je ein Medeener Kronmarschall gewesen ist!«
Nhadijah blickte fragend zu Morteqħaï. Sie verstand den Grund für Ħadeens Zorn nicht.
»Der Palastbezirk ist Teil der Stadt Medeenah und nicht umgekehrt, meine Prinzessin. Ihr werdet zumindest zu Beginn Eurer Herrschaft vollkommen abhängig von dieser Stadt sein, auch wenn Ihr als Königin noch so sehr über Fürst Miħael stehen mögt. Seine Ernennung zum Kronmarschall wird ihm innerhalb eurer Palastmauern den größtmöglichen Einfluss geben«, erklärte ihr Morteqħaï.
Nhadijah wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Zu schwer wog der Entscheid und zu neblig war ihr Kopf.
»Aber Medeenah wird ein treuer Verbündeter sein. Immerhin sagt sich Fürst Miħael damit von König Melaħons Thron los. Er macht sich Euretwegen zum Hochverräter.«
»Ihr ratet mir also, Fürst Miħaels Angebot anzunehmen, Morteqħaï?«
»Auf keinen Fall!«, fuhr Ħadeen dazwischen, aber Nhadijah wies ihn mit einer sanften Handbewegung zurück. Morteqħaï nickte, während er andächtig den Wasserbecher und sehnsüchtig den Weinkrug betrachtete. »Ja, das rate ich Euch, meine Prinzessin.«