Die Fliege im Bernstein - Friedrich Sieburg - E-Book

Die Fliege im Bernstein E-Book

Friedrich Sieburg

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Beschreibung

Politisch, persönlich und provozierend: das Tagebuch eines Verzweifelten als wichtiges Zeitdokument vom Ende des Zweiten Weltkriegs. Friedrich Sieburg (1893–1964) führte vom 23. November 1944 bis zum 15. Mai 1945 Tagebuch - verfasst als Mikrogramm in kleiner Bleistiftschrift aus Angst vor der Beschlagnahme durch die Gestapo und um es vor unerwünschten Lesern zu verbergen. Geschildert werden der Untergang des Dritten Reiches und der verlorene Krieg, aber auch der Untergang seiner Ehe mit der aus württembergischen Adel stammenden Dorothee, verwitweten Gräfin Pückler, geb. von Bülow, an der Sieburg zu zerbrechen drohte. Er beschreibt sein Leiden an den inneren und äußeren Umständen nicht ohne Selbstmitleid. Sieburg lebte zu dieser Zeit in Rübgarten, dem Herrensitz seiner Frau südlich von Stuttgart, von wo er zunächst nach Tübingen, später in das Kloster Bebenhausen auswich. Dort erlebte er den Einmarsch der Franzosen. »Was Schmach, was Schuld und Demütigung, wenn uns ein Sterben überkam, das uns am Leben ließ!« Friedrich Sieburg

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Seitenzahl: 328

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Friedrich Sieburg

Die Fliege im Bernstein

Tagebuch vom November 1944bis zum Mai 1945

Herausgegeben

unter Mitarbeit von Klaus Deinet

und mit einem Nachwort

von Joachim Kersten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022

www.wallstein-verlag.de

Umschlag: Susanne Gerhards, Düsseldorf

ISBN (Print) 978-3-8353-5219-3

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4959-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4960-5

Inhalt

Tagebuch vom November 1944 bis zum Mai 1945

Editorische Notiz

Dank

Nachwort

Namenregister

Bildnachweise

Tagebuch vom November 1944bis zum Mai 1945

»N’espoir ne peur.«

Wahlspruch des Herzogs von Bourbon

Jetzt gibt es nur noch einen

Weg, den zu Gott, aber wo ist Gott?

N’espoir ne peur: dt.: »Weder Hoffnung noch Furcht« war der Wahlspruch des Kardinals Charles II de Bourbon (1436-1488). Er findet sich mehrfach auf einer Tapisserie, die er der Kathedrale von Sens spendete. Der Spruch geht auf die in der Antike verbreitete Devise »Nec spe nec metu« zurück. Charles de Bourbon war Erzbischof von Lyon und zeitweise päpstlicher Legat, er erbte kurz vor seinem Tod das Herzogtum seines Bruders. Aus der Familie ging Ende des 16. Jahrhunderts das bis 1830 regierende französische Königshaus Bourbon hervor.

Donnerstag, den 23. November. Tübingen Die ganze Nacht hat der Regen gerauscht und die letzten Spuren des Sommers vertrieben. Die Alb vor meinem Fenster liegt im Dunst. Mein Rheumatismus plagt mich. Von Maria kam, erst heute, eine rot geränderte Karte vom 3. November »Haus schwer beschädigt, bin gesund«. Ist nun auch diese bescheidene Spur unserer Vergangenheit, das Haus, in dem die Eltern ihre letzten Lebensjahre verbrachten, zum Untergang verurteilt? Ich glaubte immer – oder hoffte ich es nur! – daß das Schicksal diese Stätte, weil sie so schlicht und unschuldig sei, schonen werde. Aber warum? Wird doch das Gras unter unseren Tritten weggeschnitten und wir glauben noch, in der alten Welt zu wandeln. Unter uns ist schon alles klaffender Abgrund, aber wir glauben es nicht, weil das Herz trotz aller Leiden dasselbe geblieben ist. So wächst denn die Fähigkeit, zu Erleiden und dem eigenen Untergang geduldig beizuwohnen, ins Unermeßliche.

Die Franzosen in Mülhausen, vielleicht schon in Kolmar, die Amerikaner über Salzburg hinaus. Gegenüber diesen Nachrichten bringt es die Seele nicht mehr fertig, sich aufzubäumen, ja selbst der Wille schläft. Ist dies dumpfe Verharren eine stille Form hartnäckigen Lebenswillens oder ist es ganz einfache Stumpfheit, die auf den Befehl wartet, dies oder jenes zu tun und zu lassen? Was uns alle quält, ist die Frage, ob wir unsere armselige Bleibe bald werden verlassen müssen, um in Schnee und Regen, die letzte Habe auf dem Rücken, einem befohlenen Ziele zuzuwandern. Glaube ich an Wunder oder an Gott? Das ist die Frage. Ist unsere blinde Geduld nichts weiter als träges Absinken ins Herdenhafte oder ist sie die weiße Frucht eines tief wurzelnden Glaubens an das Unsterbliche in uns? Heute schreibt mir Stroomann: »Jede Sicherheit fehlt, sicher ist nur, daß die alten Götter noch gelten.« Ach, wenn er doch vor mir stände! Ich würde ihn beim Kragen packen und schütteln und fragen: »Glauben Sie es wirklich? Wissen Sie es?«

Ich blätterte in der »Ernte« deutscher Lyrik, und so zart, und wund ist mein Gemüt geworden, daß der bloße Anblick der Verszeilen mir die Tränen in die Augen trieb. Besonders ein geistliches Lied von Terstegen und Uhlands »Alter König auf dem Turm« ergriffen mich tief. Ist es die Schönheit dieser Gedichte oder ist es nicht vielmehr die Unschuld des Tones, die uns so ungeheuerlich fern und ewig verloren anmutet? Alle alten Gedichte sind Klänge aus dem verlorenen Paradies.

Hermann Grimm stellte 1850, entzückt über Suleikas Geplauder fest, daß die Welt einem Zustand der Roheit entgegengehe »Wir leben mit der Uhr in der Hand«. Er schildert aber auch den Glauben seiner Generation, daß »die Welt sich in friedlicher Zivilisation langsam aufzehren« werde. Nun, wir glauben das nicht mehr. Im Gegenteil, die Unbekümmertheit, mit der unsere Welt sich selbst zerstört, in einer vagen Hoffnung, daß der Verlierende sie wieder aufbauen werde, hat etwas Selbstmörderisches.

Gespräch über mein Lieblingsthema: daß es unerlaubt sei, Gedichtetes wie einen offenbarten Text zu interpretieren, also Hölderlins Hymnen und Rilkes Elegien. Es stimmt mich bedenklich, daß die Jugend, soweit sie geistig zeitabgewandt ist, so stark von Rilke gefangengenommen ist, daß sie die falschen Töne nicht spürt. Rilke und Rodin. Ihn zog die Hingabe ans Werk an, er vergaß aber, daß der Bildhauer auch Handwerker ist, nicht so der Dichter.

Von D. zwei reizende Briefe. Sie schreibt, daß ihr Dank in meine Richtung weist und daß sie abends über die sieben Berge zu uns hinschaut. Das Poetisch-Zärtliche an ihr hat in diesen Zeilen die Oberhand. Ach wenn es doch immer so gewesen wäre! Manchmal begreife ich garnicht, daß es derselbe Mensch ist, der mich so grausam gequält hat. Wenn ich sie doch durch Zauberei in den guten Zustand bannen könnte, in dem sie grade sich befindet. Sie ist doch ein kostbares Wesen. Gestern vor einem Jahr wurde ihr Haus in Berlin zerstört, ein verhängnisvoller Lebenseinschnitt, von dem die Zerrüttung unserer Ehe erst eigentlich datiert.

Maria: Friedrich Sieburgs Schwester Maria (1891-1968) war Gewerbeschullehrerin. Das Elternhaus lag in Düsseldorf, Hüttenstraße 50, fußläufig zwischen Hauptbahnhof und Königsallee.

Die Franzosen in Mühlhausen: Die 3. und 7. US-Armee und die von General Jean de Lattre de Tassigny aus Partisanen der Résistance und regulären Verbänden neugebildete 1. französische Armee stießen im September 1944 von Toulon aus die Rhône entlang nach Norden vor und erreichten im November 1944 bei Mülhausen die Reichsgrenze.

Stroomann, Gerhard (1889–1957), leitender Arzt auf der Bühlerhöhe.

»Ernte« deutscher Lyrik: Will Vesper (Hg.), Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik, Langewiesche-Brandt, Düsseldorf u. Leipzig, 1906 ff., seit 1909 Ebenhausen b. München (zahlreiche Auflagen); Neubearb. unter dem Titel Die Ernte der deutschen Lyrik. Gedichte aus acht Jahrhunderten, 1932 ff.

Will Vesper (1882-1962). Seit 1931 Mitglied der NSDAP. 1933 Redner bei der Bücherverbrennung in Dresden.

Terstegen: Gerhard Tersteegen (1697-1769), Barockdichter, Mystiker, Pietist.

Uhlands »alter König auf dem Turm«: Ludwig Uhland, Der König auf dem Turme. In: Sämtliche Gedichte. Werke Band 1. Hg. von Hartmut Fröschle u. Walter Scheffler, München, Winkler Verlag 1980, S. 12.

Hermann Grimm: recte Herman Friedrich Grimm (1828-1901). Kunsthistoriker. Sohn von Wilhelm Grimm (1786-1859), verheiratet mit Gisela v. Arnim (1827-1889), jüngste Tochter von Achim v. Arnim (1781-1831) und Bettina geb. Brentano (1785-1859).

»Wir leben mit der Uhr in der Hand«: Herman Grimm, Goethe und Suleika, erstmals in: Preußische Jahrbücher, Band XXIV, Heft 1, 1869. Hamburg, Hans Dulk Verlag, 1947, S. 27.

»die Welt in friedlicher Zivilisation«: ebd., S. 22.

D.: Dorothee Sieburg, geb. v. Bülow, verwitwete Gräfin v. Pückler (1911-1975). Eheschließung mit Friedrich Sieburg am 3.8.1942 in Paris; die Scheidung am 27.9.1944 vor dem Landgericht Tübingen; seit Mitte August 1944 lebte das Ehepaar in Rübgarten in getrennten Räumen.

Gestern vor einem Jahr: Am 22.11.1943 verbrannte nach einem Bombenangriff ihre Wohnung in der Lessingstraße.

Freitag. 24. November Tübingen

Am Vorabend lebhafte Gespräche. Stadelmann meint, die Vorlesungen machten ihm diesmal besondere Freunde, weil er fühlt, daß es für lange Zeit die letzten seien. Die Universität werde kaum ein weiteres Semester erleben in diesem Krieg. Er schildert seinen Eindruck von der heutigen Jugend, sie bejahe freudig die Zeit und ihre Ideen. Wie sie beim Schanzen den vorfahrenden Panzern zujubelten. Allerdings sei ein Teil des Enthusiasmus die natürliche Knabenbegeisterung für Reih und Glied und das bunte Tuch. Volkssturm. Es kommt den alten Offizieren hart an, auf ihren Grad zu verzichten. Das Interesse ist jedoch enorm, vor allem, ob genügend moderne Waffen da sind. Das Schanzen. Es wirkt sozial ausgleichend zwischen den verschiedenen Ständen. Auch wurde dort, wo St. arbeitete, viel geschafft. Wir besprechen die diplomatische Weltlage, ich mache den advocatus diaboli und »beweise« als Denkübung, daß Ausgleich mit SU bevorsteht. »Heute spricht mehr für diesen Ausgleich als im August 1939«. Es zeigt sich auch, wie stark jeder Deutsche von Himmler fasziniert ist, man habe ihn doch bisher zu wenig gekannt. Alle Gedanken kreisen um die Kriegslage. Werden wir in unseren Heimen bleiben dürfen? Nachts bebt die Glastür vom fernen Artilleriefeuer.

Warmer föhniger Tag. Schon früh verbreitet sich das Gerücht, daß Straßburg von einer französischen Panzerspitze erreicht sei. Dies Gerücht wird bald zur Gewißheit, da Kl. jemanden spricht, der gestern Mittag, als die feindlichen Panzer schon in die Stadt schossen, dort fluchtartig abgefahren ist, und zwar mitten aus einer Prüfung heraus. Am Morgen hatte beim Rektor noch eine Lagenbesprechung stattgefunden, wo gesagt worden war, es werde weitergearbeitet, da die Lage sich nicht verändert habe! Straßburg! Mein Herz brennt vor Kummer über diese Nachricht, denn ich gehöre zu den wenigen Deutschen, die das Elsaß wirklich kennen und lieben. Vergeblich habe ich 20 Jahre lang für eine liebevollere Beschäftigung der deutschen Öffentlichkeit mit diesem köstlichen Land (und seinen verkorksten Bewohnern) geworben. Als ich 1912 zu ersten Mal nach Paris fuhr, verbrachte ich die laue Sommernacht bis zum Abgang des Zuges mit meinen Freunden auf den Stufen der Kathedrale. Wie oft seitdem! Und wie heimatlich war mir stets Duft und Linie dieses Landes. Und die Rheinbrücke bei Kehl soll gesprengt sein! Viele dutzendmal habe ich sie überquert und jedes mal hat mich die Stacheldrahtsperre am Straßburger Ende wie eine empörende Sinnlosigkeit berührt. Mir ist, als sei mit der Besetzung Straßburgs durch den Feind (wenn es auch Franzosen sind, so sind sie durch die Vorhut einer amerikanischen Armee) ein Stück meines Wesens weggenommen. Wieder ein Stück! Und Amerika in Straßburg!! Hoffentlich empfängt es dort ein wenig den Anhauch des Genius loci.

Die Menschen sind von der Nachricht Straßburg tief beeindruckt. Sogleich hängen sich wilde Gerüchte an, in Freiburg seien Fallschirmler gelandet u.s.w. Vor drei Monaten noch flüchteten die Leute aus Schlesien u.s.w. in unsere Gegend, um vor der Nähe des Feindes sicher zu sein. Das zeigt, wie nutzlos alles Planen, alle Vorkehrung ist.

Ich lese Stilübungen des germanistischen Seminars für Anfänger. Ein äusserst bescheidener Stand des Ausdrucks und der Kenntnisse. Doch durchgängig ein dem politischen abgewandten Streben nach einer Welt nicht grösser, aber inniger und schöner Gefühle. Einzelne dramatische Lebensläufe volksdeutscher Mädchen, so aus Rußland. Ein Bericht über den verehrten Deutschlehrer, der jetzt in Sibirien ist. Früher wären Welten oder mindestens Organisationen, Gruppen, Völker gegen einen einzigen solchen Fall aufgestanden. Heute kräht kein Hahn nach dem verschleppten Deutschlehrer, der seinen Schülerinnen die Schönheit von Iphigenie erschloß. Ich denke daran, wie ich einmal im Zug dem englischen Schriftsteller Huxley gegenübersass und ihm zusah, wie er Protest für Protest zu Gunsten eines verunglimpften Juden, eines eingekerkerten Spaniers, kurz eines misshandelten Kaninchens unterzeichnete. Wie erstaunt würde er heute sein, wenn man sein Interesse für die Tausende solcher schuldloser Schönheitsprediger zu erwecken versuchte!

Vor mir auf dem Tisch liegt ein Foto, das Karl einmal vor langen Jahren aus meinem Pariser Fenster genommen hat. Daneben das Foto, das Maria von Schloß Rübgarten, von seiner reizenden Fassade, gemacht hat. Möge mir wenigstens dies nicht verlorengehen, nachdem ich jenes wohl für immer eingebüßt habe.

Stadelmann: Rudolf Stadelmann (1902-1949), deutscher Historiker, seit 1938 Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, stand dem Nationalsozialismus nahe.

Straßburg: Die zweite französische Panzerdivision unter Generalmajor Leclerc, die auch schon führend an der Befreiung von Paris im August 1944 beteiligt war, eroberte mit ihren amerikanischen Panzern, über die Vogesen vorstoßend, Straßburg am 23. November 1944 im Handstreich. Die Stadt blieb danach dauerhaft französisch.

August 1939: 23. August 1939 in Moskau Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes.

Kl: Dr. Paul Kluckhohn (1886-1957); 1913 in Münster habilitiert; dort wurde Sieburg im Jahre 1919 mit seiner Arbeit »Die Grade der lyrischen Formung. Beiträge zur Ästhetik des lyrischen Stils« promoviert. Seit 1930 Ordinarius an der Universität Tübingen. Kluckhohn wohnte in der Hermann-Löns-Straße 4 und ab 1950 im Schönblick 4 in Tübingen.

Rektor: Rektor der »NS-Kampfuniversität Straßburg« war der Augenheilkundler Karl Schmidt.

Huxley: Aldous Huxley (1894-1963), britischer Schriftsteller.

Karl und Maria: Sieburgs Schwester Maria war mit einem Düsseldorfer Amtsrichter verheiratet. Sie wurden im Oktober 1944 ausgebombt.

Schloß Rübgarten: 14,8 km nordöstl. von Tübingen. Das gräfl. Dillensche Schloß im oberen Teil des Dorfes: ein zweistöckiger Barockbau von 1706 ff. mit dem Wappen der früheren Besitzer, der Herren von Kniestedt, über dem Eingang; daran angebaut die Kirche von 1811, erneuert 1902. 1815 wurden die Grafen v. Dillen belehnt (vgl.: Das Königreich Württemberg. Eine Beschreibung nach Kreisen, Oberämtern und Gemeinden. Hg. vom K. Statistischen Landesamt, 2. Band. Schwarzwaldkreis, Stuttgart, Kohlhammer, 1905, S. 587).

Samstag 25., Tübingen, Rübgarten Vormittags nahm mich Kl. mit in sein Seminar, Unterstufe, wo er mich die Stilübungen eröffnen ließ. Ich hatte die Stilproben der Teilnehmer vor mir. Meist Frauen. Doch auch einige Verwundete. Meist unpolitische für Dichtung schwärmende Wesen, niemand kämpferisch. Einer ist unter Einfluß des Rußlandkrieges zu Dostojewski und Tolstoi gekommen. Ein Frl. Elvira Krug, Volksdeutsche aus Rußland, schreibt sehr schön über ihren alten Deutschlehrer, der heute in Sibirien ist. Ein anderer über ihre Leiden in einer polnischen Schule. Alles harte Schicksale oder harte Kämpfe ums Studium. Stil ist sehr farblos. Ungeheuer geprägt vom politischen Deutsch, kein Zutrauen mehr zur Eigenkraft des Wortes, daher immer Verstärkungen, Steigerungen. Abstrakte Ausdrucksweise »zur Durchführung bringen«. Das Sprechen zu den jungen Menschen belebt mich außerordentlich.

Föhniges warmes Wetter, Regen. Ich ging um halb drei Uhr zum Bahnhof. Da stand Denne und sah so elend aus, daß ich erschrak. Sie war, so schien es, am Ende ihrer Kräfte. Das Leben in Rübgarten mit D. scheint sie, das ist mein Eindruck, gänzlich aufzureiben. Zug nach Reutlingen überfüllt mit Frauen, eine junge Frau mit Säugling, Freundin, acht Gepäckstücken, endlos qualvoll unterwegs – mit Kinderwagen! – aber strahlender Laune. Ist diese Heiterkeit wahrhaft olympisch oder nervöser Stumpfsinn? Immer neue Menschen mit Koffern, Kästen, Körben, Kopf an Kopf, schwankend in stossenden Wagen, kein Klagelaut. In Reutlingen strömender Regen. Wartesaal, Karamasoff lesend. Alarm. Die blöde Genugtuung der schwäbischen Bahnbedienten, dass alles »raus« muß, Wartesaal und Bahnhof räumen. Eine volksfremde schädliche Maßnahme, die von den Beamten mit kindischer Genugtuung durchgeführt wird. Anstatt dass sie mit dem Publikum zusammen die Unsinnigkeit der Sache beklagen. Der Alarm lähmt für eine Stunde alles Leben. Kein Flieger erscheint, kein Schuss fällt. Die Leute drücken sich vor den Luftschutzräumen in dichten Gruppen herum, zwei strahlende Polizisten. Der Regen hört auf. Ich gehe frierend auf der leeren stillen Straße auf und ab.

Nach Entwarnung noch langes Warten auf die Tram nach Altenberg. Die jungen Leute (es ist Samstag), soweit sie in Zivil sind, haben was Strizzihaftes und singen Swing. Schwäbische Zazu. Eine Gruppe von Halbwüchsigen, darunter Eugen Armbruster, die aus der Kaserne kommen. Volkssturm 4 Tage im Monat. Ich brüte in der Tram. Man ist ja wie ein Stein, stumpf dahinrüttelnd. Die Gedanken gehen nicht mehr weit, immer nur aufs Nächste. Ab und zu versuche ich zu denken, wie es nach dem Kriege sein wird, aber es fällt mir nichts mehr ein. In Altenberg ist es dunkel. Dorothee steht da. Sie hat bei Frau Fluderer gewartet. Ich berichte ihr, daß ich Mammi so krank finde. Beginnende Verstimmung. Zu Hause bohrt sie, im Grund, um zu hören, daß sie nicht Schuld an Denne’s Elend ist. Sie wirft mir vor, daß ich sie mit Dennes Befinden erschrecke. »Du bist garnicht nett zu mir«. Diehl kommt herein, ich appelliere an ihn: Sagen Sie, wie Sie meine Schwiegermutter finden. Dorothee glaubt mir nicht und findet, daß ich nicht nett zu ihr bin. Das bildet den Ausgangspunkt einer Woche des Wahnsinns. Ich sei taktlos und illoyal, weil ich Diehl hineinziehe. Sie legt sich zu Bett. Nach Tisch frage ich Diehl, ob denn heut morgen »irgendwas gewesen« sei, daß Denne so elend aussehe. D. hat an der Tür gehorcht. Neue Szenen, weil ich mit Diehl über sie flüstere. Abends hockt sie im Hemd und bloßen Füßen stundenlang in meinem Zimmer und quält mich. Nachher kommt sie immer wieder, reißt mich aus dem Schlaf für Szenen, reißt auch Diehl aus dem Schlaf mit dem sie dann »Aussprachen« hat, ob er glaube, daß sie ein schlechter Mensch sei. Später erscheint sie wieder, weckt mich, ich hätte mit Diehl »über sie gesprochen«. (Ich habe kein Wort mit ihm gesprochen!, zerkratzt mir den Arm, schlägt mich mit der Faust ins Gesicht und spuckt mir ins Gesicht. Ich liege dann und bin von der Traurigkeit erfüllt, die fast die Grenzen meines Lebens sprengt. Menschen ins Gesicht schlagen heißt Gott ins Gesicht schlagen. Arme D. Mir ist als ob ich hilflos zusehen müßte, wie sie in einer schwarzen Flut ertrinkt. Die Episoden meines furchtbaren Lebens mit ihr ziehen in dieser schlaflosen Nacht an mir vorbei. Die systematische Ermordung einer großen Liebe. Ich weiß, daß ich sie schon 1940 hätte verlassen müssen, mindestens aber im Frühling 1942 anstatt sie zu heiraten. Ich weiß auch, daß das bloße Lieben keine Schuld sein kann. Mir ist klar, daß ich die Liebe zu ihr mehr geliebt habe als sie selbst. Diese Liebe war mir wie ein selbständiges Geschöpf, das ich blühen und leben sehen wollte. Ich wollte, daß diese Liebe schön sei. Statt dessen ist sie häßlich geworden und elend gestorben, buchstäblich im Schmutz erstickt. Ihr Schlagen, das Stehlen von Briefen, das Horchen an Türen, das ewige furchtbare Lügen, das heute stärker ist denn je, zuletzt diese wahnsinnige Lüge mit dem Paket aus Oschersleben. Und nun als Neues dieser unverständliche Geiz. Und ich weiß doch, daß sie gleichzeitig auf ein gutes Wort von mir lauert, im selben Atemzug, wo sie mich so trostlos anlügt. Ich denke an diese qualvollen Weihnachtstage 1942, wo sie mich buchstäblich den ganzen Tag schlug, und sie hat mich doch wieder geliebt, aufrichtig geliebt. Es sind zwei Wesen in ihr, die nie zusammenkommen, eine verhängnisvolle Spaltung, aber deswegen bleibt sie für mich doch die Frau, die ich am meisten geliebt habe und die mir die meiste Liebe geschenkt hat. Das kann nicht verlorengehen. Gott wird am jüngsten Tag dieses Leben voller Elend, Schmach und Leiden wiegen, und dann wird doch ein Körnchen Liebe in der Waagschale zurück bleiben und vielleicht schwerer wiegen als alles übrige.

Denne: Sieburgs Schwiegermutter Adrienne v. Bülow, geb. Gans Edle Herrin zu Putlitz (1891-1965); Tochter des Kgl. Württ. Generalintendanten des königlich-württembergischen Hoftheaters, Dr. phil. h.c. Joachim Gans Edler Hr. zu Putlitz auf Retzin usw. und der Augusta Freiin v. Dietrich, verheiratet seit 1910 mit Bernhard Friedrich v. Bülow (1885-1937). Sohn von Alfred v. Bülow (1851-1916), verheiratet seit 1884 mit Marie geb. Gfn. v. Dillen-Spiering (1859-1934), Major a.D., Herr auf Dätzingen u. Rübgarten.

Zazu: Les Zazous, französische Swing-Jugend im II. Weltkrieg.

Sonntag 26. Nov. Rübgarten

Ich bleibe zu Bett. Mir schwindelt, ich fühle mich wie erloschen, aber ich schlafe auch jetzt nicht. Ab und zu versuche ich Karamasoff zu lesen, mit großer Antipathie. Dostojewski ist ohne alles künstlerische Gewissen, er hat sein Metier nicht geliebt. Aber welch ein Volkspsycholog, welch ein religiöser Denker. Ist er wirklich der große Gestalter? Warum gelingt es ihm dann nie, einen normalen Durchschnittsmenschen zu gestalten. Das konnte Tolstoi, aber der war dumm, während Dostojewski klug ist. Auch Tolstoi grübelt natürlich, aber grübeln (und räsonieren) ist noch kein Zeichen für Klugheit. Hier wieder das Problem des Dichters als religiöser Verkünder. Der Dichter schöpft aus seinem Ich (an dem auch Gott teil hat), der Verkünder schöpft aus Gott. Das Kunstwerk ist »selig in sich selbst«. Die religiöse Wahrheit setzt ein Gottesbild voraus und braucht eine Gemeinde.

Montag, 27.

Nach Tisch fort nach Altenberg. Rauher Nebel.

Dorothee hat mir rührend neue Würste besorgt. Über Reutlingen nach Tübingen. Auf dem Bahnhof R. unterhalte ich mich damit, ein Männergesicht zu entdecken, das nicht zackig verkrampft, den Kopf im Nacken, dreinschaut. Ich entdecke nicht eines. Im Zug die Wehrmachtsstreife, die sich mit dem verspäteten Feldwebel zankt. Abends Traum: Denne käme, bei Alarm, ich müsse furchtbare Lasten den Berg schleppen und dann in kalter Dachkammer qualvoll halbwach schlafen, hätten aber gute Gespräche und viel Mitgebrachtes. Abends spät rief Müller aus Sigmaringen an. Ich hörte deutlich heraus, daß Abetz mich nicht haben will.

Müller: Herbert Müller, später: Müller-Roschach (1910-1988), ab 1938 Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, verwundet in der Schlacht von El Alamein 1942, 1943 persönlicher Referent von Otto Abetz, 1944 bei der Außenstelle Sigmaringen, 1945/46 von der frz. Besatzungsbehörde interniert, ab 1951 wieder im Auswärtigen Amt, Abteilungsleiter, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad und Lissabon, 1969 abberufen wegen seiner Teilnahme an der Planung des Holocaust.

Abetz: Otto Abetz (1903-1958). 1940-1944 deutscher Botschafter in Paris, 1944 mit der Vichy-Regierung in Sigmaringen, 1945 verhaftet, 1949 in Frankreich zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, 1954 entlassen, starb 1958 bei einem Autounfall in der Nähe von Düsseldorf. Friedrich Sieburg war von 1940-1942 Botschaftsrat in Paris.

Dienstag, 28. Tüb. Das Verhältnis zum Tod in diesem und im vorigen Kriege. Damals waren der Tod und die Verluste viel gegenwärtiger, ja beherrschten das ganze Denken. Heute überwiegen Zerstörung und Verbrechen den Tod auf dem Schlachtfeld so unendlich! Niemand spricht vom Tod und vom Blutvergießen, selbst die Mütter nicht. Gestern Abend in Tübingen wimmelte es von Soldaten, Mangel an Mänteln für die in der Garnison, Unterärzte, Sanitätsfeldwebel müssen abbrechen und als Offiziere hinausgehen. Alle jungen Leute sind guten Mutes und sprechen nur von ihrem Dienstbetrieb, mit den seltsamsten Abkürzungen der militärischen Worte. Das ganze Land und Volk hat den Pli des Krieges an und man hat den Eindruck, daß keine Macht der Welt es wieder da herausbringen kann. Unvorstellbar, daß das Kriegsleben nicht weitergehen soll, wenn einmal kein Krieg mehr ist. Wohl nie in der Geschichte hat ein Staat oder ein Herrscher ein gefügigeres Instrument für den Krieg gehabt als das deutsche Volk es ist. Ich suche mir immer vorzustellen, welches der Lohn für diese Leistungen aktiver und passiver Art sein wird. Man sagt, jedes Volk kämpfe und leide – wie der Mensch – um zum Glück zu gelangen. Will das d[eutsche] Volk das wirklich? Ich zweifle oft daran. Es ist ein tragisches Volk, tragisch durch seinen Charakter und durch seine Mission. Zerstörungstrieb und Schöpferkraft in einem so peinlich genau abgewogenen Verhältnis, daß die Waage dauernd qualvoll schwankt. Mein krankes Volk. Seine Mission ist, Großes durchzusetzen, von dem später alle Völker natürlich und selbstverständlich ihre Nutzen ziehen werden und sich dabei mit der Schuld zu bedecken, die immer mit dieser Arbeit des ersten Durchsetzens verbunden ist. Es befleckt sich freiwillig mit dem Blut, ohne das nichts Umwälzendes in der Welt und für die Menschheit erkämpft werden kann. Bekämpft, gehaßt und geschmäht zu werden für Durchbruchstaten, von denen einmal die übrige Menschheit wie von etwas Selbsterkämpften profitieren wird, das ist deutsches Schicksal (plötzlich fällt mir Lavals Geschichte ein mit den Todesstrahlen und dem Kaninchen). Problem des Tagebuchschreibens. Leider (oder Gott sei Dank?) ist im Deutschen die Trennungslinie zwischen dem Umgangsdeutsch und dem Gestaltungsdeutsch zwar fein, aber unerbittlich. Daher gibt es wenig deutsche Tagebücher, die so durchaus Bücher sind wie französische der Goncourt, Gide, Renard. Im Französischen fließen die beiden Sprachfunktionen aus derselben Quelle, daher geht der französische Tagebuchschreiber mühelos von der privaten Eintragung zur objektiv gültigen schriftstellerischen Gestaltung über. Auf deutsch ist ein Tagebuch entweder privat oder unpersönlich.

Klagebrief einer Wienerin über die Zerstörung Wiens durch die Engländer und Amerikaner, die allmählich die schönen Wohnviertel und Bauten systematisch zertrümmern. Sie ahnen wohl nicht, was sie damit tuen. Sie kennen Wien nicht und haben vermutlich keinen Begriff von der seit Jahrhunderten fleißig aufgeschichteten Herrlichkeit dieser deutschen Zivilisation. Oder aber, sie tun es absichtlich, um uns im Allertiefsten zu treffen. Die Wienerin klagt über diese Zerstörung, wie ein Bauer über die Vernichtung seines Gärtchens durch Hagel jammert. Die Stadtsteine als Landschaft. Ahnen die Zerstörer, daß sie die Fundamente auch ihres eigenen Lebens vernichten? Nein sie ahnen es nicht, aber es ist so. Ihre Söhne und Enkel werden zusammen mit den unsrigen blutige Tränen über die unwiderbringliche Hinmordung aller dieser gemeinsamen Lebensgüter weinen.

Wir sprachen über den Einfluß der antiken Metrik auf die deutsche Dichtung. Der Schwindel des deutschen Hexameters, da es ja keine Spondäe gibt. Das Phänomen der Übertragung antiker Versmaße auf deutsche Sprache. Und doch ist die Lage im Deutschen, wo es doch wenigstens Hebungen und Senkungen gibt, noch aufrichtiger, wo die Silben gezählt, aber gleichzeitig doch – gleichsam heimlich – betont werden.

Abends Aufregung, weil Denne nicht pünktlich in R. angekommen ist. Ich rauche Pfeife, was mir viel Spaß macht. Wir sind alle furchtbar ermüdet. Der Weg den Berg hinauf war mir heute fast unmöglich. Es war zum Verzagen. Diese Müdigkeit. Verschlissen, aufgebraucht, aufgezehrt, ausgehöhlt, ausgepumpt, ausgeblutet. Manchmal denkt man, nun geht es nicht länger, jetzt wird das Herz ganz langsam stehenbleiben, weil es diese Anstürme von Schrecken und Leid nicht länger verarbeiten kann. Wie kindisch lebt man auf eine Zukunft hin, die vielleicht nie mehr kommen wird: Noch ein paar Jahre Frieden, still, ein Häuschen, Bücher, Ruhe, Blumen, unbefangenen Umgang mit einigen wenigen altvertrauten Menschen.

Pli: Knick, Falte, Umschlag.

Laval: Pierre Laval (1883-1945), an verschiedenen Vorkriegsregierungen beteiligt, trat ab 1940, führend ab 1942 in Vichy für eine konsequente Kollaboration mit Deutschland ein, im Sept. 1944 nach Sigmaringen verbracht, 1945 von der Regierung de Gaulle verhaftet und hingerichtet

Spondäe: Spondeus: aus zwei Längen bestehender antiker Versfuß.

Mittwoch, 29.11.44 Tübingen. Die Menschen haben Angst. Es ist Schnee gefallen. Die Hügel sind im Dunst verschwunden. Feuchte Kälte dringt in jede Seele. Die Scheiben zittern unter dem sehr fernen Geschützdonner der Westfront. Ja, die Menschen haben Angst. Sie würden vielleicht weniger Angst haben, wenn ihr Fühlen und Denken nicht so stark an übermäßiger Bewußtheit erkrankt wäre. Aber sie sind sich zu sehr des historischen Momentes bewußt. Sie denken in Zeitaltern, sie erleben ihr Schicksal so, wie man es eigentlich nur später zurückschauend aus der historischen Perspektive erleben kann. Jeder glaubt aus historischen Parallelen und ähnlichen Erfahrungen zu wissen, daß »das Abendland untergeht«, daß wir am Ende einer Entwicklung angelangt sind, daß es mit unserer Schicht zu Ende geht u.s.w. Der natürliche Lebenswille ist durch eine allzu gefügige Bewußtheit der angeblichen historischen Gesetze ersetzt worden. »Es hat ja keinen Sinn weiterleben zu wollen, da ich zu einer Menschenschicht gehöre, die laut den und den Ablaufgesetzen dazu verurteilt ist, zu verschwinden«. Aber niemand denkt daran, daß diese Gesetze ja nur Menschenwerke, Erkenntnisse und daher vielleicht falsch sind. Auch ich kann mich von diesem Zwang nicht frei machen. Ich stelle fest, daß ich nicht mehr zu den Kämpfenden gehöre und das schwächt meinen Willen, für mein Leben zu kämpfen. Ich male mir irgendeine bewaffnete Auseinandersetzung, einen Bürgerkrieg aus und kann mich in keine kämpfende Partei hineindenken, weil ich so ängstlich-fanatisch an den alten würdigen Lebensformen hänge. Daher bin ich in meiner Vorstellung immer nur Opfer, das den anderen die Lasten schleppen muß und schließlich erschossen wird. Dabei weiß ich doch, daß ich die Kraft und den Mut habe, zu streiten, mich zu wehren und die zu verteidigen, die ich liebe. Alles das wäre klar in mir, mein Lebenswille wäre stärker und eindeutiger gerichtet, wenn nicht der furchtbare Zusammenbruch meiner Ehe mir immer wieder die Frage aufdränge, wofür ich eigentlich lebe. Ich habe kein Heim, keinen schützenden und zu schützenden Kreis mehr, in dessen Ordnung mein Leben ganz natürlich wieder zurückströmen könnte, wenn all is over.

Zu Weihnachten gibt es ein halbes Pfund Fleisch und zwei Eier. Die Kunststücke die Giulietta ausführt, um uns zu ernähren, sind genial, aber schmerzhaft anzusehen. Die Hausfrauen schinden sich zu Tode. Es ist kaum anzusehen, wie sie sich mit den Lasten den Berg der Eberhardshöhe heraufschleppen. Überall begegnet man diesen hinschwindenden Gestalten, die ihre letzte Energie zusammennehmen, um Sklavenarbeit zu verrichten, ohne dabei zum Sklaven zu werden oder wie ein solcher auszusehen. Alles zieht Wägelchen hinter sich her oder schiebt seltsame Rollgestelle zum Aufhängen der Pakete vor sich her. Es ist ein Wunder, daß bei dieser Überlastung des weiblichen Organismus überhaupt noch gesunde Geburten vor sich gehen können. Mir blutet das Herz bei diesem täglichen Schauspiel Lasten schleppender und schwer überarbeiteter Frauen, denn macht es nicht die Schönheit einer Zivilisation aus, daß sie dem weiblichen Geschlecht die Rolle des Lasttiers erspart. Und stößt uns nicht das slawische Leben gerade deshalb ab, weil die Frauen dort klobig, untersetzt und früh verschlissen schlechter als Knechte fronen?

Ich lese Uhland »Der alte König auf dem Turm«, das er mit 18 Jahren geschrieben hat! Ein herrliches Gedicht. Wie alt mußte ich werden um den köstlichen Gehalt solcher Poesie wie der Uhlands, voll genießen zu können! Soviel ich der Georgeschen Schule an hohem Anspruch, Zucht und Gefühl für die Würde des Kunstwerkes danke, so sehr hat sie doch auch meinen Blick eingeengt. Nun ist freilich meine Empfindlichkeit für das Schöne ungeheuer, fast krankhaft gewachsen seit dem Krieg. Mir ist beim Lesen von Versen oft, als habe alles Reine und Echte, alles Lebenswürdige sich in diese Verse geflüchtet und überschwemmen plötzlich mit dem süßen Anprall verlorener Paradiese meine Seele. So trieb mir das Uhlandsche Gedicht jäh die Tränen in die Augen. Und mit Mörike, in dem ich heute blätterte, erging es mir ähnlich. Manches mochte ich garnicht zu Ende lesen, weil ich die schnelle Erschütterung geradezu fürchtete. »Auf einer Wanderung« von Mörike ist ein solches umwerfendes Gedicht. Es ist als ob die Hand eines lichten und starken Engels und die schützenden Lumpen unseres Elends von der Seele risse und sie stände nun nackt da.

Wir lesen abends das 24. Kapitel des Matthäus-Evangelium »und wer auf dem Felde ist, der kehre nicht um, seine Kleider zu holen« und »Bittet aber, daß eure Flucht nicht geschehe im Winter«. Jeder denkt dabei schweigend an unsere nächste Zukunft.

Giulietta: Giulietta Kluckhohn, geb. Bulle (1890-1968). Ehefrau von Paul Kluckhohn.

Der alte König auf dem Turm: recte »Der König auf dem Turm«. Siehe 23.11.1944.

»Auf einer Wanderung« von Mörike: Eduard Mörike, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Erster Band. Erster Teil. Hg. von Hans-Henrik Krummacher, Stuttgart, Klett-Cotta, 2003, Seite 157.

Donnerstag, 30.11.44 Tübingen Heute ist der letzte Tag im November. Der Schnee ist wieder fort, unruhiges Wetter mit zerrissenem Wolkenhimmel. Ich schrieb an Dorothee, daß ich nicht zum Wochenende komme. Es tat mir leid, denn es ist möglich, daß sie sich richtig freut, wenn ich komme. Aber ihr schreckliches Wort, daß ich »nur wegen des Essens« käme, ihre schreckliche Lügerei, ihr Verbot, mich mit Lebensmitteln zu versorgen, und laufend andere feindselige und schändliche Dinge warnen mich, allzu unbefangen mich Rübgarten zu nähern. Ach Gott, wie hoffnungslos ist doch im Grund diese ganze Angelegenheit. Sie ist, bei D’s unfaßlichem Charakter, doch nur durch wirkliche und endgültige Trennung zu lösen. Manchmal scheint mir, als ob ich diesen verknäuelten Jammer nur durch meinen Tod lösen könnte.

Nachrichten aus Freiburg, schreckliche Nachrichten. Die geliebte Jugendstadt der grauenhaftesten Zerstörung überliefert. Ungewöhnlich viele Menschen sind umgekommen. Die Universität soll gänzlich zerstört sein. Das nennen die Engländer einen Angriff auf einen Eisenbahnknotenpunkt. Nun fehlt nur noch Heidelberg, und dann ist kaum noch eine Stätte meiner Jugend übrig. Ich ging spazieren, dunkles Land, drohender Himmel. Sehnsucht nach der Katastrophe. Nachts Vollmond zwischen Dunst und Wolken.

Die Bombardierung Freiburgs am 27. November 1944 durch die Royal Air Force unter dem Decknamen »Tigerfish« war einer der bis dahin schwersten Luftangriffe auf deutsche Städte. Es starben ca. 2800 Einwohner, etwa 8000 wurden verletzt, 30 Prozent der Wohnungen wurden zerstört, vor allem in der Altstadt. Die Bevölkerung sank infolge der nun einsetzenden Flucht auf die Hälfte der ursprünglich über 100 000 Einwohner.

Freitag 1. Dez. Die Zeitung feiert den Monat November als einen der erfolgreichsten dieses Krieges, weil es dem Feind nicht gelungen sei, uns die Taktik des Zeitgewinnens zu verderben. Das Haus bebt den ganzen Morgen vom fernen Trommelfeuer der Westfront. Die Hausfrauen, die schon um 7 Uhr, also noch bei Dunkelheit hinuntergingen, um für Gemüse anzustehen, bringen empörende Gerüchte aus Straßburg mit. Alle Parteileute seien dort gehängt worden, nur der Gauleiter sei entkommen. Die Franzosen hausten dort mit ihren schwarzen Truppen, wie die Kannibalen gegen die dort verbliebenen Reichsdeutschen. Aber sind denn welche dort geblieben? Geschwätz.

In Hebbels Tagebüchern gelesen und einen Blick in seine Einsamkeit getan. Mir ist diese Dichterwelt unverständlich, in der so beziehungslose Stoffe wie Herodes oder Judith gewählt werden, nur um irgendeine tragische Wahrheit an ihnen zu beweisen. Bei Schiller kommt mir dieser Einwand seltsamerweise nicht. Offenbar, weil bei ihm die lehrhafte Absicht auf eine so erhabene Weise deutlich wird, daß die Verbindung, vom persönlichen Erleben des Autors zu seinem Stück kein Problem mehr ist. Bei Schiller ist die Rolle des praeceptor germaniae des Lehrenden so einleuchtend und unbestritten, daß niemand sich fragt, warum er gerade den Wallenstein oder die Stuart gewählt habe. Auch klingt in seinen Dramen noch ein wenig die Gattung der Haupt- und Staatsaktionen nach, die ja ihren Daseinssinn in sich selbst trägt. Lehrreich ist es, seine Skizzen die »Polizei« zu studieren, ein großartiger Wurf, aber für einen Schiller unausführbar. Warum? Wenn man darüber nachdenkt, so gewahrt man die Grenzen und die Besonderheiten seines Genies.

Mich faßt das Bedürfnis, mit fremden Menschen zu sprechen, rief Professor Wilhelm an. Verabredung für Dienstag. Dann als ich ein neues Buch von Gertr. Bäumer in die Hände nahm, rief ich auch den Verleger Leins an, den ich heute nachmittag besuchen werde. Welch seltsames Leben führe ich doch! Wirklich, ich treibe die mir von allen Freunden geratene Taktik des Verschwindens im Hintergrund auf die Spitze, aber doch wohl hauptsächlich nur, weil ich keinen Schwung und nicht Energie genug habe, um aktiv zu sein und so sichtbar zu werden.

Schwanken der Nerven. Ich wandere im Nebel die Eberhardshöhe hinauf. Die Bäume werden in dem weißen Dunst ganz zart und gebrechlich vor Schönheit. Sogleich stürtzt sich mein Sinn, fast schon ekstatisch, auf diesen bescheidenen Zauber und klammert sich an ihn, als ob er sich vor all dem Grauen und all der Trostlosigkeit ringsum in der Welt retten wollte. Dann wieder gibt es Augenblicke, wo ich kein scharfes Instrument, etwa eine Schere oder ein Messer, sehen kann, ohne das vorüberhuschende Bedürfnis, mir damit wehe zu tun, oder genauer gesagt, die physische Oberfläche meiner Existenz damit aufzuritzen. Was wäre ich ohne die schützende Hülle meiner immer noch beträchtlichen physischen Kräfte? Oft, nachts oder auf einsamen Spaziergängen, glaube ich den schmalen Grad förmlich zu sehen, auf dem wir zwischen Abgrund und Abgrund dahinwandern. Dann fühle ich, welch ein Schutz der gesunde feste Körper ist. Ohne ihn würde die Verzweiflung oft mein Wesen in tausend Stücke zersprengen und sie in das All hinausschleudern, zu den Sternen oder in die Winde. Aber dieser starke Leib ist es auch, der mich vielleicht eines Tages schwer wird sterben lassen. Die klammernden Organe, von denen Faust spricht, – ich fühle sie täglich oft als Schutz und Hilfe, aber auch oft als Hindernis.

Gespräch mit Leins. Ich bin versucht, mit diesem begabten Verleger Pläne zu erörtern, während ich mit dem Gedanken spiele, durchströmt mich eine Welle des Lebens, ich sehe die Zukunft als ein Arbeitsfeld vor mir, auf dem ich schwitzend aber glücklich und der Ernte gewiß, ackere. Aber dann breitet wieder der dunkle Engel, der stets hinter mir steht, seine Flügel aus und legt seinen Schatten tief über mich. Ich bin gewarnt. Was ist die Zukunft? Wo und was werde ich Morgen sein? Verstohlen lege ich die Hand auf mein Gesicht, um seine Struktur zu fühlen. Dies feste Gefäß aus Fleisch und Bein, – wie lange wird es seine Umrisse behalten dürfen!

Was der Inquisitor von Posa sagt – daß sein Schicksal schon seit langem aufgezeichnet sei in der Santa Casa heiligen Registern – gilt für jeden von uns. In irgendeiner Kartothek steht unser Name. Vielleicht ist die Hand schon ausgestreckt, die das Blatt herauszieht. Die britische Division, die im Mai 1940 für einige Tage in Brüssel einrückte, hatte den Befehl mit sich, meiner Person habhaft zu werden.

Wieviel leichter im Kampf um ein Zukunftsbild haben es doch jene, die nicht so leidenschaftlich entschiedene Abendländer sind wie ich! Das Abendland ist für mich eine Einheit, die sich nicht auflösen darf. Aber ist es auch eine Realität? Die völlige Ideenlosigkeit unserer westlichen Feinde gibt den östlichen ein besonderes Gewicht. Es gibt nur zwei Mächte in der Welt, die genau wissen, was sie wollen, das ist das NS-Deutschland und die Bolschewiken. Alles andere ist gedankenloser Flugsand. Die Franzosen sind vielleicht der hoffnungsloseste Fall, da sie in ihrer Struktur schon gänzlich zerrüttet sind und doch nichts weiter wollen, als wieder so werden »wie vorher«. England ist wenigstens noch nicht von Zweifeln an sich selbst zermürbt, aber es steckt, was sein Zukunftsprogramm angeht, noch ganz im Zeitalter der Reform, Freihändler, die einer vorübergehenden Lenkung ihres Gemeinwesens von oben zustimmen, aber ungeduldig das Ende dieses Provisoriums abwarten. Am erstaunlichsten ist Amerika, das in diesen Krieg gegangen ist, um durch das gewaltsame Mittel der Kriegslenkung sich eine wirtschaftliche und soziale Revolution zu ersparen. Möglich, daß ihm diese Umstellung gelingt, aber geistig und politisch bleibt es, was es war, will es bleiben, nämlich das altmodischste Land der Welt, das sich mit den mottenzerfressenen Resten des Ideengutes aus dem 19. Jahrhundert, aber mit einer Kriegsmaschine modernster Prägung, auf unseren Kontinent stützt, um ihn erst zu zerstören, dann zu retten. Ach, wenn diese guten Leute wüßten, welch ein verzwickt raffiniertes Gebilde dieser Kontinent ist. Man kann ihn in Trümmer legen und in Blut ersäufen, das ist eine Kleinigkeit. Aber er bleibt darum doch noch auf lange Zeit das Laboratorium der Welt, in dem alle großen Ideen erzeugt und ausprobiert werden. Sie mögen kommen und uns den Fuß in den Nacken setzen, sie werden trotzdem von uns lernen müssen, ja sie werden nichts Dauerhaftes ohne uns beginnen können. Sie wollen den NS ausrotten und wissen nicht, daß fast alles, was an ihrem Streben lebendig ist, unbewußt vom NS stammt. Selbst wenn sich ihre Siegerträume erfüllen sollten, so müßten sie ihre Zukunft nach dem Ideengut der Besiegten gestalten. Denn dies Ideengut ist nicht mehr aus der Welt zu schaffen, wem die Welt von morgen auch gehören möge. Denkt an die Französische Revolution. Sie schien zehn Jahre nach ihrem Beginn für immer beendet zu sein, die letzten ihrer Vorkämpfer waren erschlagen, verbannt, für immer stumm gemacht. Und doch lebte das ganze folgende Jahrhundert von ihrem Ideengut, ohne es je gänzlich überwinden zu können.

Prof. Wilhelm: Prof. Dr. phil. Julius Wilhelm (1896-1983). Seit 1942 ordentlicher Professor für Romanistik, bes. französische Literatur, an der Universität Tübingen.

Gert. Bäumer: Gertrud Bäumer (1873-1954), Frauenrechtlerin, Politikerin, 1920-1930 Stellvertr. Vorsitzende der Deutschen Demokratischen Partei, bis 1932 MdR. 1941 erschien »Die Macht der Liebe – Der Weg des Dante Alighieri«. Bruckmann, München, und »Der ritterliche Mensch – Die Naumburger Stifterfiguren in 16 Farbaufnahmen von Walter Hege«. F.A. Herbig/Kunstverlag.

Verleger Leins: Hermann Leins (1899-1977), Buchhändler und Verleger. Leiter des Verlages Rainer Wunderlich in Tübingen, ab 1944 Publikationsverbot, lebte in Reutlingen, durfte 1945 als erster Verleger in der Französischen Besatzungszone wieder tätig sein, verwaltete seit 1945 die Deutsche Verlags-Anstalt, die J.B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und den Verlag Carl Ernst Poeschel treuhänderisch; seit 1965 alleiniger Inhaber von Metzler & Poeschel.

Brüssel 1940: Sieburgs Vermutung, daß er bei den britisch-französischen Streitkräften, die im Mai im Einvernehmen mit der Brüsseler Regierung das neutrale Belgien besetzten, um einem deutschen Angriff zuvorzukommen, auf einer ›roten Liste‹ stand, war nicht unbegründet. Sieburg arbeitete seit dem Beginn des Krieges als Botschaftsrat in Brüssel und belieferte das Auswärtige Amt mit Insiderinformationen über die innere Lage Frankreichs. Diese wurden von der deutschen Propaganda benutzt, um durch einen in Stuttgart installierten französischsprachigen Sender die Franzosen zu verunsichern und sie in dem Glauben zu bestärken, die Nazi-Regierung verfüge über eine ›fünfte Kolonne‹ in Frankreich. Der der Résistance nahestehende französische Historiker Jean-Louis Crémieux-Brilhac sah in Sieburg sogar den eigentlichen Drahtzieher in diesem deutsch-französischen Propagandakrieg (Les Français de l’An 40, Paris 1990, Bd. 1, S. 390 f.).

Samstag.