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Die "Globalisierung" führt heute jeder im Munde, aber was genau darunter zu verstehen ist, darüber herrscht vielfach Unklarheit.
Jürgen Osterhammel, der seit seinem Bestseller Die Verwandlung der Welt zu den angesehensten Historikern unserer Zeit gehört, geht in diesem Band einer ubiquitären „Denkfigur“ des 21. Jahrhunderts genauer auf den Grund und stellt die grundsätzliche Frage nach den Maßstäben und Methoden einer Vorgeschichte der globalen Gegenwart. Wer die Vergangenheit verstehen will, der bedarf – wie die Essays dieser Sammlung höchst eindrucksvoll zeigen – der "Flughöhe der Adler": In seiner großen Höhe hat er den weiten Überblick und behält dennoch die Details am Boden fest im Auge.
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Jürgen Osterhammel
Die Flughöhe der Adler
Historische Essays zur globalen Gegenwart
C.H.Beck
Die «Globalisierung» führt heute jeder im Munde, aber was genau darunter zu verstehen ist, darüber herrscht vielfach Unklarheit. Jürgen Osterhammel, der seit seinem Bestseller «Die Verwandlung der Welt» zu den angesehensten Historikern unserer Zeit gehört, geht in diesem Band einer ubiquitären «Denkfigur» des 21. Jahrhunderts genauer auf den Grund und stellt die grundsätzliche Frage nach den Themen und Maßstäben einer Vorgeschichte der globalen Gegenwart. Wer die Vergangenheit verstehen will, der bedarf – wie die Essays dieser Sammlung eindrucksvoll zeigen – der Flughöhe des Adlers: In seiner großen Höhe hat er den weiten Überblick und behält dennoch die Details am Boden fest im Auge.
«Historiker haben das Glück, dass sie in ganz unterschiedlichen Formaten arbeiten können. Die Darstellung langer Verläufe, das Porträt einer ganzen Epoche oder die ins Detail gehende Biographie verlangen das dicke Buch, (…) auf jeden Fall eine Form, deren Umfang nicht von außen diktiert wird. Ganz anders die kleinen und lakonischen Textgattungen. Der wissenschaftliche Normalaufsatz hat seinen konventionellen Rahmen, auf dem die Herausgeber von Zeitschriften und Aufsatzsammlungen bestehen. Noch präziser muss gearbeitet werden, wenn die Redezeit für einen Vortrag vorgegeben ist oder eine genau umgrenzte Zeitungsseite oder Kolumne gefüllt werden soll. Kurze Texte sind deshalb schwieriger zu schreiben als lange.» Dass Jürgen Osterhammel auch im Genre von Aufsatz, Rede und Essay der drohenden Gefahr von Konventionalität und Langeweile zu entgehen weiß, davon zeugt dieser Band. Kenntnisreich, anregend und nicht selten mit funkelndem Witz umkreist der international renommierte Historiker darin Grundfragen der Globalgeschichte und der Geschichtswissenschaft überhaupt.
Jürgen Osterhammel ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Konstanz. Bei C.H.Beck sind von ihm u.a. erschienen: Die Verwandlung der Welt (52010) und Die Entzauberung Asiens (Beck Paperback 22013). Er ist zusammen mit Akira Iriye Herausgeber der Geschichte der Welt, in der er zuletzt gemeinsam mit Sebastian Conrad den Band Wege zur modernen Welt 1750 – 1870 (2016) veröffentlicht hat. Für seine Arbeiten wurde er vielfach ausgezeichnet: 2010 erhielt er den Leibniz-Preis, 2012 den Gerda Henkel Preis und 2014 den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Vorwort
Konzepte von Globalität
Globalisierungen
Ein sozialwissenschaftliches Konzept für Historiker
Globalisierung und Globalgeschichte
Expansion und Kontraktion als Wiederholungsstrukturen
Moderne Globalisierung
Globalisierung in der Gegenwart
Sieben Thesen zum Schluss
Globalifizierung – Denkfiguren der neuen Welt
Der Initialschub der neunziger Jahre
Globalifizierungspfade
Darstellungsweisen
Sechs Denkfiguren
Ideenordnungen?
Die Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert
Georg Forster, Kapitän Cook und die Weltöffentlichkeit der Spätaufklärung
Drei Pfade zur Weltöffentlichkeit
Politische und konsumtive Weltöffentlichkeit
Die globale Unterhaltungsöffentlichkeit
Weltöffentlichkeit als Wettbewerbsraum und appellative Fiktion
Öffentlichkeit als Prozess
Politisierte Konsumkritik
Kosmopolis und Imperium – Von Anerkennung zu Verantwortung
Orte und Räume
Grenzen und Brücken
Grenzüberschreitung
Georg Simmel und das Wesen der Brücke
Logik und Ästhetik der Brücke
Brücken in der Geschichte
Für Brückengeschichte
Brücken, wiederum metaphorisch
Was war und ist «der Westen»? – Zur Mehrdeutigkeit eines Konfrontationsbegriffs
«Europa» und «der Westen»: Grade der Anfeindung
«Der Westen» als Figur der Asymmetrie
Der Westen, von außen gesehen
Offene Fragen
Der «Aufstieg Asiens» – Ideengeschichtliche Voraussetzungen heutiger Ungewissheit
Heutige Aktualität und Popularität des «Aufstiegs»-Themas
Ältere Grundlagen des europäischen Asienbildes
Am Vorabend des Ersten Weltkriegs
Vier Prognoselinien nach dem Ersten Weltkrieg
Jan Romein und die Bündelung des Aufstiegsdiskurses im Zeitalter der beginnenden Dekolonisation
Vier Modelle des europäisch-asiatischen Verhältnisses
Historische Stichworte
Bürgerkrieg – Revolution – Krieg – Die Trias kollektiver Gewalt
Dieter Langewiesche zum 70.Geburtstag
Die Begriffstrias
Bürgerkrieg und zwischenstaatlicher Krieg
Bürgerkrieg und Revolution
Staatsbildung und Bürgerkrieg
Zum Schluss
Schutz, Macht und Verantwortung – Protektion im Zeitalter der Imperien und danach
Zur Semantik von «Schutz»
Schutzbedürfnisse
Schutzverantwortung in der internationalen Politik: Die Rückkehr des Protektorats
Humanitäre Interventionen
Epochen von Intervention und Protektion
Aporien des Schutzes
Vergangenheiten – Über die Zeithorizonte der Geschichte
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
Von einem hohen Turm? – Weltgeschichte und Gegenwartsdiagnose
«Der Zusammenhang der Begebenheiten»
Zeitgeschichte
Kalter Krieg global
Migrationen
Ausklänge
Entscheidungen und Anfänge
Die Flughöhe der Adler – Räume und Sehepunkte zu Friedrich Hölderlins Zeit
Innen- und Außenräume
Vernetzte und wohlinformierte Deutsche
Deutsche und orientalische Fragen, Militär, Geopolitik, Raumordnung
Geographisches Wissen
Menschenfresser und Bettvorleger – Der Tiger in einer kolonialen Welt
Liebe Tiger, böse Tiger
Menschenfresser
Die Jagd
Tigerschutz
Tigerrituale
Anmerkungen
Konzepte von Globalität
Globalisierungen
Globalifizierung. Denkfiguren der neuen Welt
Die Weltöffentlichkeit im 20. Jahrhundert
Kosmopolis und Imperium. Von Anerkennung zu Verantwortung
Orte und Räume
Grenzen und Brücken
Was war und ist «der Westen»? Zur Mehrdeutigkeit eines Konfrontationsbegriffs
Der «Aufstieg Asiens». Ideengeschichtliche Voraussetzungen heutiger Ungewissheit
Historische Stichworte
Bürgerkrieg – Revolution – Krieg. Die Trias kollektiver Gewalt
Schutz, Macht und Verantwortung. Protektion im Zeitalter der Imperien und danach
Vergangenheiten. Über die Zeithorizonte der Geschichte
Von einem hohen Turm? Weltgeschichte und Gegenwartsdiagnose
Ausklänge
Entscheidungen und Anfänge
Die Flughöhe der Adler. Räume und Sehepunkte zu Friedrich Hölderlins Zeit
Menschenfresser und Bettvorleger. Der Tiger in einer kolonialen Welt
Personenregister
Die Flughöhe der Adler ist kein ornithologisches Buch. Aber im Zeichen einer Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen Tier und Mensch (animal history oder animate history), die unter Historikern und ihren Lesern immer beliebter wird, ist ein solcher Titel nicht aus der Luft gegriffen. Er ist sogar eine Art von Lufttitel, der die Überschrift des vorletzten Kapitels in diesem Buch zitiert. Dort geht es, angeregt durch den Dichter Friedrich Hölderlin, um Höhenlagen der Beobachtung: Wie hoch «in die Luft» muss man sich erheben, um welche Übersicht zu erlangen? Zweifellos eine wichtige methodische Frage auch für Historiker. Am Ende des 18. Jahrhunderts riet der Historiker und Geschichtstheoretiker August Ludwig von Schlözer den Welthistorikern seiner Zeit, sie sollten mental «auf einen hohen Turm» steigen (siehe in diesem Buch das Kapitel zu Weltgeschichte und Gegenwartsdiagnose). Heute werden Bücher zu Weltgeschichte und Globalisierung fast schon klischeehaft mit Ansichten der blauen Erdkugel aus dem Weltall verziert – für den Historiker eine unrealistisch ferne Perspektive. Näher kommt dem idealen «Sehepunkt» der von Hölderlin – und von Goethe in einer seiner letzten überlieferten Äußerungen – beschworene Adler: Er hat in seiner luftigen Höhe den weiten Überblick und behält dennoch die Details am Boden fest im Auge; mit Hölderlin schwebt er über den Gebirgen, mit Goethe sichtet er den sächsischen Hasen. In seiner Fähigkeit zu Makro- wie Mikroskopie ist er ein Vorbild für heutige Historiker, die dabei auch das Schicksal des Ikarus nicht vergessen dürfen.
Historiker haben das Glück, dass sie in ganz unterschiedlichen Formaten arbeiten können. Die Darstellung langer Verläufe, das Porträt einer ganzen Epoche oder die ins Detail gehende Biographie verlangen das dicke Buch, manchmal sogar das mehrbändige Werk, auf jeden Fall eine Form, deren Umfang nicht von außen diktiert wird. Ganz anders die kleinen und lakonischen Textgattungen. Der wissenschaftliche Normalaufsatz hat seinen konventionellen Rahmen, auf dem die Herausgeber von Zeitschriften und Aufsatzsammlungen bestehen. Noch präziser muss gearbeitet werden, wenn die Redezeit für einen Vortrag vorgegeben ist oder eine genau umgrenzte Zeitungsseite oder Kolumne gefüllt werden soll. Kurze Texte sind deshalb schwieriger zu schreiben als lange. Die Vorgaben, an die sich der Autor halten muss, sind aber nicht nur lästige Zwänge, sondern auch – und mehr noch – reizvolle Aufforderungen zu Kürze und Prägnanz.
In diesem Band lege ich kurze Texte vor, die seit 2004 aus unterschiedlichen Anlässen entstanden sind. Etwa die Hälfte davon sind bisher nicht veröffentlicht worden, die bereits publizierten wurden allesamt gründlich überarbeitet. Die einzelnen Beiträge waren nicht von vornherein als Teile eines Ganzen gedacht. Ihre Auswahl aus einer umfangreicheren Textreserve – einige meiner Arbeitsfelder bleiben in diesem Band unberücksichtigt – und ihre Anordnung wurden erst im Nachhinein vorgenommen. Die thematische Einheit stellt sich durch ein Umkreisen des Globalen her. Was gelegentlich vollmundig als «Globalität» bezeichnet wird, lässt sich am besten durch solche Annäherungen von verschiedenen Standpunkten aus erfassen. Ein Bändchen wie Geschichte der Globalisierung. Dimensionen – Prozesse – Epochen, das Niels P. Petersson und ich 2003 im Verlag C.H.Beck veröffentlicht haben (5. Auflage 2015), kann ein Fundament legen. Auf dieser Grundlage muss dann aber die Arbeit an spezielleren Aspekten beginnen.
Die Kürze des Essays und des Vortrags verlangt Beschränkung auf das Wesentliche; vieles an wichtiger Literatur muss unerwähnt bleiben. Zugleich verbietet sie den Anspruch des Abgeschlossenen oder gar Endgültigen. Wenn Leserinnen und Leser zum Weiterdenken angeregt (und dabei auch ein wenig unterhalten) werden, wenn jüngere Kolleginnen und Kollegen Inspiration für die eigene Arbeit finden, ist der Zweck dieses Buches erreicht.
Ich danke dem Cheflektor des Verlages C.H.Beck, Dr. Detlef Felken, der unsere bewährte Zusammenarbeit mit einem etwas aus der Reihe fallenden Band fortsetzt. Wie immer waren alle beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlages von höchster Professionalität und Hilfsbereitschaft. Alexandre Bischofberger danke ich für vielfältige Hilfe bei der Überarbeitung der Texte. Der Diskussionskreis um die Konstanzer Forschungsstelle «Globale Prozesse», die ihre Existenz der Großzügigkeit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Gottfried Wilhelm Leibniz-Programm) verdankt, hat mir seit 2011 in unschätzbarer Weise geholfen. Heidi Engelmann hat bei der Korrektur assistiert und das Register angefertigt.
Wer wenig Interesse an dem wissenschaftlichen Konzept der «Globalisierung» hat, kann getrost die beiden ersten Kapitel des Buches überspringen oder für eine spätere Lektüre zurückstellen.
Konstanz und Freiburg i.Br., im Herbst 2016
Jürgen Osterhammel
Jeder redet von «der Globalisierung» und setzt stillschweigend voraus, es sei klar, was darunter zu verstehen ist. Eine unrealistische Annahme. In diesem Aufsatz wird keine weitere Definition angeboten. Es wird nur der keineswegs revolutionäre Vorschlag gemacht, das Wort «Globalisierung» ab und zu im Plural zu verwenden. Ein nicht ganz neuer Vorschlag, denn seit 2004 erscheint eine Zeitschrift mit dem Namen Globalizations. Kurz zuvor hatten Buchautoren begonnen, die Mehrzahl zu benutzen. Das deutsche «Globalisierungen» taucht seit der letzten Jahrhundertwende in einzelnen Buchtiteln auf, ohne sich bis heute breit durchgesetzt zu haben.[1] Was auf den ersten Blick nach stilistischer Eigenwilligkeit aus der postmodernen Wörterküche aussieht, macht indes einen großen Unterschied aus. Das Pluralsuffix «-s» oder «-en» verwandelt den einen umfassenden Weltprozess, der die gesamte Menschheit einschließt, in eine Vielzahl ähnlicher, aber unterschiedlicher Teilprozesse, die nach Ort und Zeit, nach Intensität und Reichweite differenziert werden können. Aus einer geschichtsmetaphysischen wird eine empirische Kategorie. Neben die «Vielzahl der Modernen» (multiple modernities) treten nun multiple globalizations, allerdings potenziell zahlreicher als die «Modernen», von denen es neben der klassischen westeuropäischen Variante nur eine kleine Zahl anderer Grundmodelle gibt.[2]
Durch den Plural wird der Begriff politisch entschärft: man muss sich nicht für oder gegen «die Globalisierung» bekennen. Dennoch wird er nicht werturteilsfrei neutralisiert. Es ist möglich, die Globalisierung des Drogenhandels abzulehnen und zugleich diejenige von gay rights zu begrüßen. Der Plural nimmt die Last des Totalen von unseren Schultern. Denn auch wenn die Soziologie heute oft von pluraler, mehrschichtiger oder multiskalarer Globalisierung spricht, sind dies nur genauere Bestimmungen des weiter dominanten Singulars. Der Plural macht vor allem uns Historikern das Leben leichter, die wir auch dann gewerbsmäßige Detailtüftler und Generalisierungsskeptiker bleiben, wenn wir großen Fragen nicht ausweichen. Die singulare (und singuläre) Megaglobalisierung hält sich weiterhin als Idee im Hintergrund, denn wer wollte ausschließen, dass sich in den Augen besonders synthesefähiger Betrachter die einzelnen Teilprozesse am Ende doch zum Puzzle eines großen Ganzen fügen? Doch der Plural «Globalisierungen» mildert einen Holismusdruck, unter den sich die zeitdiagnostische Diskussion ohne Not gesetzt hat.
Um diesen Aufsatz nicht in Predigt oder Plädoyer abdriften zu lassen, hole ich zunächst etwas weiter aus.[3] Wer sich mit mehr als einem Kontinent beschäftigt, wer als Europäer auch andere als europäische Sichtweisen und Erfahrungen zu ihrem Recht kommen lässt (also einen niemals ganz ausschaltbaren kognitiven Eurozentrismus einzudämmen bemüht ist), wer die Beziehungen zwischen jeweils Eigenem und Fremdem als hochgradig variabel betrachtet, wer die heutigen Überlebensprobleme der Menschheit als einen Horizont auch historischen Problematisierens ernst nimmt, wer also – kurz gesagt – eine professionelle Identität (und möglicherweise auch eine moralische Haltung) als «Globalhistoriker» entwickelt hat und kritisch zu stabilisieren sucht,[4] der kommt um die Frage des Verhältnisses zwischen Globalgeschichte und «Globalisierung» nicht herum. Diese Frage ist nicht bloß eine solche der Methode und damit der Wahl zwischen klar beschreibbaren Alternativen wissenschaftlichen Vorgehens. Sie ist komplizierter und damit vielleicht interessanter. Deshalb setze ich ziemlich grundsätzlich an.
Der Aufschwung von Weltgeschichte und ihre rasche Metamorphose zu Globalgeschichte gegen Ende des 20. Jahrhunderts waren eng mit einem neuen Rahmenkonzept der Sozialwissenschaften verbunden, dem der Globalisierung. Historiker und Sozialwissenschaftler reagierten auf dieselbe Generationserfahrung: den Eindruck, den Hunderte von Millionen Menschen in allen Weltregionen teilten, dass die Verflochtenheit des sozialen Lebens auf dem Planeten und die Beeinflussung der eigenen Lebenswelt durch Kräfte aus der Ferne ein neues Niveau der Intensität erreicht hätten. Die Welt schien in den 1990er Jahren ein «kleinerer» Ort zu sein als noch ein Vierteljahrhundert zuvor: das sprichwörtliche globale Dorf, in dem prinzipiell alle mit allen anderen kommunizieren können, oder auch die eine über die Kontinente verteilte Mega-City, wo sich urbane Kosmopoliten mit minimaler Akklimatisierung überall zurechtfinden: der Hilton-Effekt.
Aus diesem Befund zog man in den unterschiedlichen akademischen Disziplinen jeweils besondere Schlüsse. Die Vergangenheit war dabei nicht unbedingt von Interesse. Die frühen Theoretiker der Globalisierung in Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie, die ihre wirkungsmächtigen Werke in den 1990er Jahren schrieben, verschmähten eine historische Perspektive. Das neue Konzept schien ideal geeignet zu sein, um charakteristische Merkmale der Gegenwartsgesellschaft auf den Punkt zu bringen, an erster Stelle die Erfahrung dynamischer Entgrenzung. Bald kam der Gedanke auf, «Globalisierung» sei eine Epochenbezeichnung: auf die «Moderne» folge endlich etwas Neues, das mehr sei als bloß deren Steigerungsform und auch nicht allein eine spätreif-kritische «Postmoderne»: Die Menschheit lebe nun «in der Globalisierung».
Historiker schienen zwar vorübergehend nicht mehr gebraucht zu werden, manche unter ihnen hielten aber den Kontakt zu den präsentistisch gestimmten Sozialwissenschaften aufrecht. Eine frühere Begegnung zwischen Weltgeschichte und einer historisch offenen Soziologie hatte bereits in den 1970er und 1980er Jahren unter den Auspizien der «Weltsystemtheorie» stattgefunden, deren Schöpfer, der US-amerikanische Afrikaspezialist und Entwicklungstheoretiker Immanuel Wallerstein, damals zu den berühmtesten Sozialwissenschaftlern der Welt gehörte. Durch seinen Dialog mit dem großen französischen Historiker Fernand Braudel erhielt er auch höhere historiographische Weihen.[5] Da Wallersteins Theorie jedoch recht schematisch gehalten und mit einer eigentümlichen Terminologie verbunden war, übernahmen sie nur wenige Historiker in der von Wallerstein und seinen Mistreitern verfochtenen orthodoxen Form.
Über «Globalisierung» zu reden verlangte kein solches theoretisches Glaubensbekenntnis und ließ mehr Spielraum für Individualität und Kreativität. Die Magie dieses Wortes lag darin, dass es früh auch einen außerwissenschaftlichen appeal gewann und in die Sprachen des Alltags und der Medien eindrang. «Globalisierung» war ein Geschenk für Welthistoriker, die es als winzige Minderheit innerhalb des Faches Geschichte zuvor schon gegeben hatte, die man aber als dilettantische und versponnene Sinn-Sucher und Quasi-Theologen abzutun geneigt war. Das Konzept erlaubte ihnen den Anschluss an ein neu entstehendes zentrales Debattenfeld der hoch respektierten Sozialwissenschaften. Es lieferte einem Fach, das stets von der Gefahr deskriptiver Vereinfachung und simpler Chronistik der Ereignisse bedroht war, eine neue Terminologie. Und es schuf die Voraussetzungen für die Entwicklung einer zeitgemäßen Variante der arg verstaubten Weltgeschichte (noch oftmals verstanden als «die Geschichte aller großen Völker und Kulturen» usw.) – eben global history. Freilich: diese story klingt zu schön, um wahr zu sein. In Wirklichkeit kühlte die Begeisterung vieler Historiker rasch ab. Statt ein neues Werkzeugbesteck blitzblank geliefert zu bekommen, sahen sie sich den Herausforderungen einer immer komplizierter und scholastischer werdenden Globalisierungstheorie ausgesetzt. Mit der Zeit verstanden sie auch, dass Globalgeschichte nicht eine direkte Projektion einer Globalisierungsperspektive auf die Vergangenheit sein könne. Sie verlangt ihre eigenen intellektuellen Grundlagen.
Als der Begriff «Globalisierung» in den 1960er Jahren aufkam, in den 1980er Jahren allmählich Verbreitung fand und in den 1990er Jahren mit einzigartiger Rasanz ungeheure Popularität gewann, bezog er sich auf den gegenwärtigen Zustand der Welt und schloss bei den meisten Autoren, die ihn verwendeten, keine Geschichtserzählung in der Langfristperspektive ein (Historiker sprechen von der longue durée). Seine Anhänger waren nicht an Spekulationen über gesellschaftliche Evolution innerhalb großer Zeiträume interessiert; ebenso wenig boten sie eine ökonomische Interpretation des letzten halben Jahrtausends der Weltgeschichte an, wie Immanuel Wallersteins Weltsystemtheorie dies immerhin getan hatte. In den theoretischen Debatten der frühen 1990er Jahre lag der Akzent auf der Suche nach einer brauchbaren Definition des Konzepts und seiner Anwendung auf die Beschreibung eines weltweiten Wandels, der sich jüngst in einer schnell wachsenden Integration zwischen den verschiedenen nationalen und regionalen Wirtschaftssystemen ausgedrückt hatte: Aus der früheren «Weltwirtschaft» mit ihren verschiedenen Zentren schien eine homogene global economy geworden zu sein. Von Anfang an war diese Diagnose vielfach mit kritischer Ablehnung verbunden (die unterschiedlich motiviert sein konnte: «links» antikapitalistisch, «rechts» nationalistisch), während am anderen Ende des Meinungsspektrums einige prominente Autoren enthusiastisch den Einbruch eines neuen global age feierten.[6] Dies war die erste, die Pionier-Phase des Globalisierungsdenkens.
Nach nur wenigen Jahren begann eine zweite Phase, in der die ursprünglichen theoretischen Intuitionen einer empirischen Prüfung unterzogen wurden. Diese Hinwendung zu den Daten bedeutete geradezu zwangsläufig die Erweiterung der Zeitperspektive durch Datenserien, die auf dem Zeitstrahl in die Vergangenheit zurück reichten. Die gegenwärtige Globalisierung konnte nur dann als neuartig identifiziert werden, wenn man sie vor dem Hintergrund der Welt beurteilte, wie sie vor dem Ende der 1980er Jahre bestanden hatte, dem Zeitpunkt, an dem auch die globale Verbreitung des Internets begann. In diesem Zusammenhang fanden die 1970er Jahre als ein Jahrzehnt des Übergangs besondere Beachtung – für manche das Endstadium der klassischen Moderne. Im noch tieferen Rückblick erschien Globalisierung als das Ergebnis eines Transformationsprozesses, der bereits während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnen hatte, wenn nicht sogar mit dem großen weltweiten Wirtschaftsaufschwung während der beiden Jahrzehnte vor 1914.
In dem Maße, wie die Zahl der Publikationen über Globalisierung steil anstieg und die Diskussion die geographischen Begrenzungen der nordatlantischen Sozialwissenschaften hinter sich ließ, differenzierte sich das Theorienfeld so stark, dass einfache Muster und Richtungen nur noch schwer zu erkennen waren. Dennoch kann man die Jahre unmittelbar nach 2000 als eine dritte Welle des Denkens über Globalisierung identifizieren.[7] Im Unterschied zur früheren Euphorie über grenzenlose Mobilität und radikale Veränderung betonte die Literatur dieser dritten Welle die Widerständigkeit und Trägheit von Institutionen, sozialen Milieus und lokalen Traditionen; dies allein verlieh der Betrachtung eine zeitliche Tiefendimension. Die Hemmfaktoren der Globalisierung gerieten stärker in den Blick als zuvor. Eine vierte Welle nahm die «konstruktivistischen» Interessen in den Kultur- und Sozialwissenschaften der damaligen Zeit auf und richtete die Aufmerksamkeit auf Kommunikation, Wahrnehmung, Weltbilder, Diskurse und die normative Fundierung von Globalisierung. Von Globalisierung als einem gesellschaftlichen Prozess ging man über zu Globalität als einer kulturellen und kognitiven Befindlichkeit, die aber keineswegs aus dem Nichts entstanden war. Wie viele technische Neuerungen, so schuf auch das Internet nicht nur bis dahin unbekannte Bedürfnisse, sondern war selbst eine Antwort auf Sehnsüchte, die es schon lange gegeben hatte.
Bereits vor dem Beginn der globalen Finanzkrise im September 2008 flammten – eine fünfte Phase – neue Debatten auf, bei denen es nicht nur um die politischen Konsequenzen tatsächlicher Globalisierung ging, sondern auch um die Tragfähigkeit des Konzepts als Instrument der Theorie.[8] Einige Autoren meldeten Zweifel an, ob «Globalisierung» tatsächlich geeignet sei, den Königsbegriff der Soziologie, nämlich «Moderne» bzw. «Modernität», ein für alle Mal zu entthronen. Eine sechste Phase, in der wir uns zum Zeitpunkt, an dem dies geschrieben wird (im Sommer 2016), befinden, reagiert auf Fragmentierungs- und Deglobalisierungstendenzen, auf Rückzüge der Demokratie sowie einen neu erstarkenden Nationalismus in vielen Ländern der Welt; die Skepsis gegenüber den integrierenden, wohlstandsfördernden und friedensstiftenden Wirkungen der neuen Informationstechnologien wächst und hinterlässt Spuren auch in den Verlautbarungen der Wissenschaft. Mehr denn je wird die Frage gestellt, ob Globalisierung sich abschwächen, ob sie gar enden oder scheitern könne. Ist es möglich, dass Globalisierungen – ähnlich wie wirtschaftliche Konjunkturen, technologische Innovationen oder die Machtkurven von Imperien und hegemonialen Weltordnungen – zyklisch verlaufen?
Angesichts einer verwirrenden Fülle theoretischer Angebote und schnell wechselnder intellektueller Moden, aber auch vor dem Hintergrund sich rasch wandelnder realer Probleme finden Historiker nicht leicht einen Begriff von Globalisierung, mit dem sie unbesorgt arbeiten können.[9] Wir haben es bis heute mit einem Schlagwort zu tun, bei dem man allenfalls den Begriffskern «zunehmende Konnektivität im globalen Maßstab» als unkontrovers betrachten kann.[10] Dabei wird connectivity meist als quantitative Vervielfachung und qualitative Intensivierung von Fernbeziehungen verstanden, ohne dass diese beiden Dimensionen immer klar genug unterschieden würden.
Typischerweise beginnen heute allgemeine Betrachtungen zu Globalisierung mit einem resignierten Seufzer wie diesem: «Globalisierung bedeutet für so viele Leute so viele unterschiedliche Dinge, dass es kaum die Mühe zu lohnen scheint, eine zusätzliche Definition des Begriffs vorzuschlagen.» Derselbe Autor kommt zu dem Schluss, dass aus einer großen Vielzahl von Dimensionen von Globalisierung, die vorgeschlagen wurden, keine den übrigen theoretisch überlegen und damit der Grundpfeiler einer Definition sei.[11] Je mehr exakte Kriterien man in dem berechtigten Wunsch vorschlug, über bloße Global-Stimmungen und impressionistische Lifestyle-Diagnosen hinaus zu gelangen, desto schwieriger wurde es, sie in ein plausibles Verhältnis zueinander zu setzen. Exportquote, Ausmaß des Internetzugangs, Fernreisen pro 100 Einwohnern: Lässt sich daran Globalisierung erkennen, und wie hängen solche Indikatoren zusammen?[12] Mit der Zeit scheinen auch die Autoren von Lehrbüchern und Einführungen resigniert zu haben: Statt komplexer sind die Definitionen, die routinemäßig am Anfang solcher Werke stehen, einfacher geworden. Es handelt sich dabei nicht um die kalkulierte Weichzeichnung bestimmter Begriffe für bestimmte Zwecke, mit der etwa Max Weber, im Allgemeinen ein Meister messerscharfen Definierens, virtuos umzugehen verstand. Viele Begriffsverwender haben vor der Trivialsemantik der Globalisierung schlichtweg kapituliert. Allerdings wären Historiker schlecht beraten, auf den Begriff ganz zu verzichten. Nur sollten sie ihn nicht als selbstverständliches Element des Alltagswortschatzes und der wissenschaftlichen Terminologie verstehen und ihn angesichts der offenen, weithin chaotisch geführten Debatten nur mit begrenztem Zutrauen verwenden.[13] Mehrere allgemeine Beobachtungen sind möglich:
Erstens ist es eine wenig überraschende und ziemlich triviale Tatsache, dass die Welt langfristig «zusammenwächst» und dass das «Netz der Menschheit» (human web) sich im Geschichtsverlauf verdichtet hat; allein das Wachstum der Weltbevölkerung lässt retrospektiv kaum Anderes erwarten.[14] Als dieser Gedanke zuerst formuliert wurde, war er allerdings für jene Art der älteren Weltgeschichtsschreibung eine Herausforderung, die von einem Nebeneinander unverbundener «Zivilisationen» (im Deutschen meist: «Kulturkreise») ausgegangen war. Angesichts der fortdauernden Popularität eines romantischen Kulturalismus war es ein ideenpolitischer Schachzug, an den aufklärerischen Gedanken der Einheit der menschlichen Gattung zu erinnern (in den aber die Gegenkräfte neuer Fragmentierung dialektisch eingebaut sein müssen). Bei genauerem Hinschauen stellt sich jenseits solcher Gemeinplätze die Frage, welche unter den zahlreichen Prozessen verstärkter Interaktion innerhalb einer wachsenden Weltbevölkerung empirisch am besten zu fassen sind. Wenn die Kategorie «Globalisierung» unterschiedslos auf alle Arten grenzüberschreitender Beziehungen über «große» Distanzen hinweg angewendet wird, verliert sie die Trennschärfe, die für ein analytisches Instrumentarium unerlässlich ist. Sie wird auch schwer auf die Unterscheidung zwischen Zentren und Peripherien verzichten können, mit der Immanuel Wallerstein in seiner Weltsystemtheorie gearbeitet hat. Globalisierungen im Sinne von institutionell untermauerten Expansionsprozessen – für mehrere Jahrtausende ist dabei vor allem an die Bildung von Reichen zu denken – sind in der Regel von Zentren ausgegangen. Sie können als Peripherieerweiterungen verstanden werden, die stets mit der vorübergehenden Demarkierung und Stabilisierung von Grenzen (anders gesagt: mit Frontierprozessen) verbunden sind. Mehrere solcher Globalisierungen konnten gleichzeitig auftreten. So haben im 16. Jahrhundert das Spanische Weltreich und das Osmanische Reich parallel zueinander großräumig und transkulturell expandiert.
Zweitens haben Historiker – und auch Soziologen wie Max Weber – die Megaprozesse, die bei Evolutionstheoretikern aller Spielarten populär sind, mit einem gewissen Misstrauen betrachtet. Historiker, selbst Welthistoriker, befassen sich selten mit der Menschheit als Ganzes. Es ist für sie eine Selbstverständlichkeit, dass Globalisierung in den verschiedenen Dimensionen der historischen Wirklichkeit auf jeweils unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommt. Migrationen, die Ausweitung von Marktbeziehungen, Krieg über große Distanzen hinweg, die Verbreitung von Pflanzen und Tieren mitsamt ihren Folgen für die menschliche Lebensführung, die Expansion von Religionen und anderen Weltbildern, der Aufstieg globaler Medien: Diese und manch andere ähnliche Prozesse folgen jeweils einer charakteristischen Logik und einem spezifischen Verlaufsmuster in Zeit und Raum. «Globalisierung» ist nicht als solche und in Reinform beobachtbar, sondern nur als eine Eigenschaft von besonderen Wandlungsprozessen. Immer stellt sich die Frage: Was wird globalisiert? Und oft stellt sich die Anschlussfrage nach den Akteuren: Wer globalisiert wen? Solche individuellen Prozesse, die sich in einem einigermaßen genau bestimmbaren Rahmen von Raum und Zeit abspielen, können in der Regel zunächst einmal separat untersucht werden.[15]
Die Beziehungen zwischen mehreren solcher Prozesse, etwa zwischen Migration und der Bildung von Staaten und Reichen, sind im Allgemeinen variabel. Deshalb stoßen allgemeine Theorien «der» Globalisierung dort an ihre Grenzen, wo sie komplizierte Wechselwirkungen zugunsten eindeutiger Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung vereinfachen. Zum Beispiel lässt sich nicht durchweg vermuten, dass die Dynamik in der Welt grundsätzlich immer von wirtschaftlicher Effizienzsteigerung oder der Entwicklung von Informationstechnologien ausgeht. Zu Recht hat der amerikanische Historiker Raymond Grew davor gewarnt, das Konzept der Globalisierung bereits als eine eigenständige Theorie zu behandeln.[16] Man sollte «Globalisierung» eher als einen Rahmen verstehen, der speziellere Modelle des Wandels zusammenfasst und die Aufmerksamkeit auf deren jeweils größtmögliche räumliche Kontexte lenkt. Eine Globalisierungsperspektive besitzt an und für sich wenig Erklärungskraft, und der verbreitete Einwand gegen Globalisierungstheorie, sie verschleife den Gegensatz zwischen Ursache und Wirkung, hat einiges für sich. Jedoch kann eine solche Perspektive helfen, historische Probleme neu zu formulieren und bessere Strategien für ihre Lösung zu finden. Diese Strategien müssen dann bereichsspezifische Theorien von höherer Präzision einbeziehen. Solche Pluralität führt abermals zur Annahme distinkter Globalisierungen.
Drittens besteht eine der wichtigsten Errungenschaften der umfangreichen sozialwissenschaftlichen Literatur über Globalisierung darin, das Vokabular zu bereichern, das Historikern zur Verfügung steht. Sie haben sich angewöhnt, eine neue Sprache der Netze, Strömungen, Zirkulationen, Transfers, Mobilitäten, Diasporas, Hybriditäten und zahlreicher transnationaler Phänomene zu benutzen.[17] Die «Hinwendung zum Raum» (spatial turn) in den Kulturwissenschaften hat die Aufmerksamkeit für Territorien, Landschaften, Orte, Entfernungen und Grenzen geschärft.[18] Nicht immer wird man den Theoretikern mit letzter Konsequenz folgen. Zum Beispiel ist nicht alles, was auf den ersten Blick wie ein reguläres Muster von Beziehungen aussieht, gleich schon ein «Netzwerk» im technischen Sinn der soziologischen Netzwerktheorie. Einige dieser Muster mögen zu locker gefügt oder zu dünn im Raum verteilt sein, um als funktionierendes Netzwerk gelten zu können; andere sind solch komplexe Institutionen, dass Ströme von Informationen und Ressourcen nur einen unter vielen ihrer Aspekte ausmachen.[19]
Viertens besteht unter Kommentatoren von Globalisierung darüber Einigkeit, dass die fraglichen Prozesse als selbstreflexiv betrachtet werden sollten. Das heißt: das Sprechen über Globalisierung (wie es in Europa um die Mitte des 18. Jahrhunderts breit einsetzte)[20] ist bereits ein Teil der Globalisierung selbst. Dies kann sogar zu einer Ausschlussregel führen: Beziehungen, die den historischen Akteuren vollkommen verborgen blieben, können nur mit Bedenken unter das Stichwort der «Globalisierung» gefasst werden. So war die Verbreitung von Mikroben über den Erdball hinweg «objektiv» von globalem Charakter, aber bis zu den großen Cholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts blieben die seuchengeographischen Zusammenhänge unerkannt und sollten daher als eine Art von Globalisierung erster Ordnung bezeichnet werden. Wer den Begriff nicht derart eng fassen möchte, wird vermutlich das Argument unterschreiben, dass in einem anspruchsvollen Konzept von Globalisierungen eine wachsende Verdichtung der Beziehungen auf Gebieten wie Migration, Handel und Krieg mit einem sich intensivierenden globalen Bewusstsein einhergehen sollte.[21] Weltbilder und Praktiken von Expansion und Tausch bilden zwei Seiten derselben Medaille. Deshalb sollten Globalhistoriker bemüht sein, die Kluft zwischen der «realen» Globalisierung der Ökonomen und Politikwissenschaftler und der «imaginierten» Globalisierung der Kulturwissenschaften zu überbrücken.
Fünftens hat sich die Verbindung zwischen dem Globalen und dem Lokalen als eine besonders fruchtbare Frageperspektive erwiesen.[22] Historiker, die zumeist für eine sorgfältige Untersuchung dicht dokumentierter Einzelfälle ausgebildet wurden, finden dies spontan einleuchtend. Sie neigen dazu, sich vom Besonderen zum Allgemeinen voranzuarbeiten, während Soziologen umgekehrt oft daran erinnert werden müssen, den Einzelfall nicht zu vergessen. «Glokalismus» (bzw. «Glokalisierung») hat unter Historikern viele Anhänger gefunden, weil hier in einem Kunstwort das Große und das Kleine, das Nahe und das Fremde zwanglos verknüpft zu sein scheinen. Timothy Brooks Buch Vermeer’s Hat (2008) ist nur eine besonders beeindruckende unter mehreren Darstellungen, in denen Lokales und Globales – in Brooks Fall die Stadt Delft, wo der Maler Jan Vermeer lebte, und die Kräfte, die sie mit China und anderen Teilen der Welt verbanden – kunstvoll verflochten sind.[23] Es bedarf aber der Diskussion, ob die Existenz einer eigenen Daseinsebene des «Globalen» vorausgesetzt werden sollte. Nach einer solchen Auffassung gibt es eine vorgängige Globalität, die dann von lokalen Akteuren «angeeignet» wird. Eine Alternative dazu bestünde darin, sowohl das Lokale als auch das Globale als Produkte der Tätigkeit spezifischer Akteure in ihrer täglichen Praxis aufzufassen und nach der ständigen Veränderung der Grenzen zwischen «Innerem» und «Äußerem», Eigenem und Fremdem zu fragen.[24] Wie werden lokale Lebenswelten durch Kräfte des Globalen durchdrungen? Wann und warum hören primäre Lebenswelten auf, ausschließlich oder sogar überwiegend lokal zu sein? Unter welchen Umständen entstehen Gruppen oder größere Kollektive, die sich aus supranationalen oder globalen Identitäten definieren?[25] Erst Fragen wie diese machen den abstrakten Begriff der «Glokalisierung» für Historiker benutzbar.
Sechstens entfalten sich wenige Spielarten von Globalisierung ohne Konflikt oder gar Gewalt. Historiker betrachten alle Theorien, die Globalisierung mit friedvollem Wandel gleichsetzen, überaus skeptisch. Die Idee der Expansion ist in jedem Konzept von Globalisierung angelegt.[26] «Expansion» umfasst dabei ein breites Spektrum von Intensität und Heftigkeit. Es reicht von Eroberung, Unterwerfung und der Zerstörung sozialer und politischer Lebensformen bis zur langsamen Diffusion von Kulturelementen wie Sprache, Religion oder Recht. Alle Arten von Expansion berühren die Interessen spezifischer Gruppen, stören Gleichgewichte, schaffen neue Machtasymmetrien und verlangen die Aushandlung von Positionen. Globalisierungen verursachen Spannungen und Instabilität, sie bringen Gewinner und Verlierer hervor.[27]
Siebtens fällt auf, dass sozialwissenschaftliche Theorien nicht immer eine deutliche analytische Unterscheidung zwischen Globalisierung und Modernisierung vornehmen. Sind diese beiden Makroprozesse identisch? Sind Globalisierungen Spezialfälle von Modernisierung? Oder sind sie ein besonderes Merkmal von Modernisierung in einer bestimmten Periode, etwa in dem Sinne, dass erst die gegenwärtige Phase von Modernisierung ihrem Wesen nach global wäre? Oder geht Globalisierung über Formen von Modernität und Modernisierung hinaus, die zu eng mit Europa oder mit einem westlichen Modell identifiziert sind? Ist «Globalisierung» offener als «Modernisierung» für nicht-lineare, diskontinuierliche und unstetige Muster sozialen Wandels? Ermöglicht der Begriff eine bessere Erfassung von Entwicklungen an Peripherien und Zwischenräumen, von Grenzverhältnissen und kulturellen Dissonanzen? Diese Fragen können nicht ein für alle Mal beantwortet werden. Sie stellen sich immer wieder in der konkreten Arbeit mit den Begriffen, die es gibt, und erst recht bei dem Versuch, die Sprache weiterzuentwickeln, mit der wir die politisch-gesellschaftliche Welt beschreiben und verstehend erklären.
Viele allgemeine Werke über Globalisierung bieten historische Erzählungen an, manchmal nur sehr kurz, in gröbsten Umrissen und mit der Lieblosigkeit von Pflichtübungen. Solche Erzählungen treten, grob geordnet, in zwei Grundversionen auf:[28] In einer «schwachen» Version verlängert Globalisierung frühere langfristige Entwicklungen und ergibt sich aus ihnen durch «Pfadabhängigkeit», d.h. der relativ kontinuierlichen Fortsetzung bestehender Trends. Nach dieser Auffassung wurde eine wachsende «Konnektivität» zwischen Menschen über große Entfernungen hinweg hauptsächlich durch technologische Innovation angetrieben und von einer Verdichtung in Einzelbereichen der Gesellschaft begleitet. Die Welt wurde gleichzeitig auf mehreren Ebenen komplexer. Der Horizont persönlicher Erfahrungen weitete sich für viele Menschen; die Konsequenzen örtlicher Ereignisse und Entscheidungen wurden über immer größere Distanzen hinweg spürbar: ein Vulkanausbruch auf Java beeinträchtigte die Landwirtschaft in Württemberg, usw.
Die «starke» Version sieht die Welt als ein einziges System von Wechselwirkungen in alle Richtungen. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts, als fast nichts ohne irgendwelche Ferneffekte geschehen konnte, begann es dieser Auffassung zufolge in einer wirklich systemischen Weise zu funktionieren. In dieser Epoche machte sich eine tiefgreifende Transformation bemerkbar, die an Radikalität ihrer Wirkungen in der Geschichte beispiellos war und ist. Sie schuf völlig neue räumliche und zeitliche Rahmenbedingungen; die revolutionäre Technologie des Internets vernichtete Raum und Zeit. Damit wurden auch ältere «historistische» Denkweisen hinfällig, auf denen die historischen Geisteswissenschaften seit ihren Anfängen beruht hatten. Wenn alles neu ist, verschwindet das Interesse an Genese und Gewordensein.
Die starke Version macht Geschichtsschreibung im Grunde überflüssig oder reduziert sie zu einem antiquarischen und kulinarischen Konsum von Bildern aus früheren Zeiten. Dann braucht man nur so viel historische Forschung, wie zum Aufbau seriöser Museen erforderlich ist. Ist aber die schwache Version eine ausreichende Voraussetzung für Globalgeschichte? Und: wo liegt der Unterschied zwischen Globalgeschichte und der Geschichte von Globalisierung?
Erstens. Globalgeschichte ist eine besondere Hinsicht auf die Vergangenheit. Sie muss nicht unbedingt langfristige Entwicklungen ins Auge fassen. Im Gegenteil: als ein besonders erfolgreicher Weg der Globalgeschichte hat sich der zeitliche Querschnitt erwiesen, ein Blick auf Gleichzeitigkeit, der von der Notwendigkeit entlastet, «große Erzählungen» zu entwickeln.[29] In einer solchen Sichtweise wird die simultane Variationsbreite von Gesellschaften und Kulturen in den verschiedenen Teilen der Welt sichtbar, ohne dass es anspruchsvollerer Theorien über die Faktoren bedarf, die den Weltprozess in Gang halten. Wenige literarische Strategien sind bei der Relativierung und Überwindung von Eurozentrismus so erfolgreich wie die Frage, wie es gleichzeitig anderswo war. Nur so ist zum Beispiel ein Bild des Mittelalters möglich, das die Karolinger, die Tang-Dynastie und das Kalifat von Bagdad in ein und demselben Rahmen unterbringt.[30] Ein Höhepunkt globalgeschichtlicher Interpretationskunst ist dort erreicht, wo für die Simultaneität einer ganzen Epoche hintergründige Wirkfaktoren aufgezeigt werden, so etwa in Geoffrey Parkers klimageschichtlicher Erklärung der «globalen Krise» des 17. Jahrhunderts.[31]
Ein zweiter Unterschied zwischen Globalgeschichte und der Geschichte der Globalisierungen betrifft die Methodologie. Die Grundidee von Globalisierung als die Vermehrung und Vertiefung grenzüberschreitender Verbindungen löst konventionelle Einheiten historischer Analyse auf. Wer die Geschichte als ein Sammelsurium von Strömen und Interaktionen versteht, interessiert sich weniger als ein konventionell vorgehender Historiker für abgegrenzte Einheiten wie lokale Gemeinschaften oder Nationalstaaten. Die Beziehungen zwischen den Knoten im Netzwerk werden wichtiger als die Knoten selbst. Dadurch wird der Vergleich entwertet, die vornehmste und anspruchsvollste Methode der älteren historischen Soziologie und auch früherer Formen von Weltgeschichtsschreibung. Im Unterschied zu einer Geschichte der Globalisierung wird Globalgeschichte Elemente des Vergleichs nicht radikal über Bord werfen.[32] Sie verwendet weiter einige komparative Methoden, löst sie aus einer engen Verbindung mit der Vorstellung, es gebe geschlossene Zivilisationen, und setzt sie in einen Zusammenhang mit der Untersuchung von Beziehungen.[33]
Ein dritter Unterschied zwischen Globalgeschichte und der Geschichte der Globalisierung ergibt sich aus dem Umgang mit Verschiedenheit. Auch dann, wenn eine Globalisierungsperspektive Konflikt und Widerspruch nicht völlig ausschließt, bleibt sie im Prinzip an die Vision einer vereinheitlichenden Generaltendenz in der (neueren) Geschichte gebunden; Sebastian Conrad nennt dies «the teleology of globalization rhetoric».[34] Konvergenz und die Zunahme gemeinsamer Erfahrungen werden als ein übergreifender Trend der Weltentwicklung vorausgesetzt; Divergenz und Fragmentierung gelten eher als Abweichungen vom Normalverlauf. Globalgeschichte verzichtet auf solche Vorannahmen. Es ist charakteristisch, dass eine ihrer wichtigsten Debatten sich mit dem Problem der «Great Divergence» auseinandersetzt, d.h. der Beobachtung, dass die Öffnung einer Wohlstandsschere zwischen reichen und armen Gegenden, insbesondere zwischen Europa und Asien, relativ neuen Ursprungs ist. Nur wenige Teilnehmer an der Debatte haben versucht, diese Great Divergence mit der Kategorie der Globalisierung zu beschreiben. Eine der zentralen Fragestellungen der Globalgeschichte ist deshalb weitgehend ohne Bezug auf Theorien und Geschichten von Globalisierung debattiert worden.[35]
Ein vierter Unterschied wird deutlich, wenn man speziellere Ansprüche betrachtet, die oft mit dem Konzept der Globalisierung verbunden sind. Zum Beispiel werden selbst diejenigen, die nicht – wie die optimistischsten Vertreter einer Global Age-Interpretation – das bevorstehende Ende des Nationalstaats erwarten, der These zustimmen, dass die Globalisierung Staatsstrukturen unterminiert und zu einer «De-Territorialisierung» von Politik führt.[36] Wenn Globalisierungstheorie zu diskutablen Zeitdiagnosen gelangen will, kann sie es nicht vermeiden, solche Behauptungen aufzustellen. Die Globalgeschichte hingegen muss sich hier nicht festlegen. Sie ist deshalb «neutraler» und bietet größere Spielräume für die elastische Interpretation von Einzelfällen.
Allgemein gesagt ist Globalgeschichte ein weiter gefasstes und offener integrierendes Konzept als die Geschichte der Globalisierung. Nicht alle Globalgeschichte ist zugleich Geschichte von Globalisierung, während umgekehrt Globalisierungsgeschichte stets einen Teil von Globalgeschichte ausmacht. So kann sie sich auf eine quantitative und ziemlich formale Geschichte von Marktintegration reduzieren, erkauft solche Selbstbeschränkung und Strenge aber mit einem viel aspektenärmeren Verständnis der Geschichte, als es global history anzubieten vermag.[37]
Der Plural «Globalisierungen» kann in einem doppelten Sinn verstanden werden: zum einen als Zerlegung eines übergeordneten Megaprozesses in zahlreiche Teilprozesse von begrenzter Dauer und Reichweite, zum anderen als expansives Ausbrechen aus einem stationären Lokalleben, wie es während der Menschheitsgeschichte immer wieder erfolgt ist. Hier geht es nun um die zweite Möglichkeit. Es ist dabei eine persönliche Ermessenssache, ob Migrationen («Völkerwanderungen»), die Schaffung von Marktsystemen, die Eroberung von Imperien oder das Aufkommen großräumiger religiöser Gemeinschaften und anderer Formen von Universalismus unter die Überschrift «Globalisierung» gefasst werden sollten. Hier gibt es keine eindeutigen Kriterien für gute oder weniger brauchbare Begriffsdefinitionen. Vor allem Autoren, die schon immer dazu neigten, das Konzept des «Weltsystems» auf frühe Verhältnisse seit dem Alten Orient anzuwenden, tendieren zu einem ähnlich weit gefassten Begriff der Globalisierung.[38] Nicht jeder wird sich der Faszination für Anfänge anschließen, die für diese Art von Literatur charakteristisch ist. Es ist nicht dasselbe, die Komplexität und Nicht-Primitivität früher Zivilisationen anzuerkennen und diese Komplexität in einen zeitlichen Ablauf einzuordnen, der über die Jahrtausende hinweg ganz unterschiedlich beschaffene Gesellschaften umfasst. Die Frage, wann Globalisierung tatsächlich «begann», kann zu einer unproduktiven Verschwendung intellektueller Energien führen und zu einer Verdinglichung eines Problems verleiten, bei dem es mehr um eine aus Gründen gewählte Perspektive geht als um die tatsächliche Existenz von Globalisierung. Barry K. Gills und William Thompson, die selbst eine Vorliebe für den weiten Blick haben, formulieren es so: «Globale Perspektiven führen zu globalen Geschichten.»[39] Und dies für jede historische Epoche. Denn die Fragen, Begriffe und Methoden der Globalgeschichte können auf alle historischen Zeiten angewendet werden. Jedoch erfüllen nicht alle Epochen in gleichem Maße die Kriterien, die es rechtfertigen, von «Globalisierung» zu sprechen.
Vor dem Beginn des regelmäßigen Kontakts zwischen den Kontinenten auf beiden Seiten des Atlantiks und des Pazifiks kann man nicht von einer planetarischen Globalisierung reden. Die konventionelle Ansicht, dass erst durch die Seereisen der iberischen «Entdecker» ab 1492 und die unmittelbar darauf folgenden Kolonisierungsaktionen ein geschlossener Weltzusammenhang entstand, hat sich durch keine Spitzfindigkeit entthronen lassen; man tut den Mongolen kein eurozentrisches Unrecht, wenn man ihr imposantes Großreich als ein Gebilde von relativ geringer Nachhaltigkeit bezeichnet.[40] Diese Art von Verbindung ergab sich freilich nicht über Nacht. Sie verlangte eine komplizierte Logistik, die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich herausbildete. Gute Gründe sind auch dafür angeführt worden, dass die Grundlagen für einen wahrhaft weltumspannenden Güter- und Edelmetallfluss exakt im Jahr 1571 gelegt wurden, als Manila auf den Philippinen als spanischer Hafen gegründet wurde. Erst damit wurde ein Welt-Markt zu einer praktischen Möglichkeit.[41] Der transatlantische und der transpazifische Handel wurden zum ersten Mal miteinander verknüpft; es dauerte dann allerdings drei Jahrhunderte, bis daraus ein integriertes System eines geographisch fast lückenlosen Welthandels entstand.
Vor dem 16. Jahrhundert war die Weltgeschichte voller unterschiedlicher Prozesse von Expansion und Kontraktion. Die Kräfte der Expansion waren Eroberung, Handel und die Verbreitung von Religionen. Zu den Ergebnissen zählten Imperien, Handelsnetze und große Räume, in denen jeweils eine Religion vorherrschte, dabei in der Regel aber andere minoritäre Religionen zuließ. Die Zeitgenossen beschrieben das Schicksal dieser Strukturen oft in zyklischen Denkmustern von Aufstieg, Höhepunkt, Niedergang und Ende. All diese Strukturen durchliefen unentwegte Metamorphosen; ihre äußeren und inneren Grenzen änderten sich unablässig. Einige dieser Strukturen existierten mehrere Jahrhunderte lang, andere verschwanden bereits nach wenigen Jahrzehnten. Einige endeten im Chaos, andere führten zu neuen Konfigurationen, die ebenso stabil oder gar dauerhafter waren. So konnten sich etwa Imperien in föderale Gemeinwesen verwandeln. Der langfristig angelegte historische Vergleich hat viele Analogien z.B. zwischen Imperien sichtbar gemacht und gezeigt, dass solche Imperien in unterschiedlichen kulturellen und ökologischen Zusammenhängen vor ähnlichen Herausforderungen standen, aber sie konnten keine Regularitäten von Integration und Fragmentierung entdecken. Einzelne kürzere Perioden erwiesen sich auch im weltweiten Querschnitt als besonders expansionsintensiv, d.h. unter Bedingungen der Vormoderne auch als besonders kriegerisch. Aber diese relativ gleichzeitig ablaufenden Expansionen oder auch Teil-Globalisierungen müssen zunächst einmal aus ihren internen Antriebsgründen verstanden werden.
Wer für frühe Formen globalisierender Expansion einen Oberbegriff sucht, kann sich mit dem Begriff der «archaischen Globalisierung» behelfen, den Anthony Hopkins und Christopher Bayly in ihrer bewusst grobmaschigen Periodisierung vorgeschlagen haben. Für die Zeit zwischen etwa 1600 und 1800 sprechen Hopkins und Bayly dann von «Proto-Globalisierung». Sie umschließt zahlreiche Vorgänge der Expansion und Systembildung, die aber immer noch keiner einheitlichen oder gar zentral gesteuerten «Logik» gehorchten: den Aufstieg neuer Handelsnetzwerke im Zusammenhang des Ausbaus des transatlantischen Sklavenhandels, die Aktivitäten europäischer chartered companies (staatlich monopolisierter Handelsgesellschaften) vor allem in Asien, die Intensivierung des arabischen und chinesischen Handels im Indischen Ozean und den angrenzenden Meeren, schließlich auch die Neuorganisation staatlicher Macht in Europa, Asien und Teilen von Afrika.[42] Während der Periode, die man heute als «Frühe Neuzeit» bezeichnet, nahm die Zahl der handelnden Personen, die ihre Aktivitäten über weite Räume erstreckten, deutlich zu: Kaufleute, Soldaten, Kolonialverwalter, geographische Entdecker, Missionare, Pilger usw. Angetrieben durch die Entwicklung des Handelskapitalismus (wie sie vor allem Fernand Braudel eindrücklich beschrieben hat), durch Verbesserungen im Seetransport sowie durch zunehmend globaler werdende Visionen imperialer Macht steigerte sich der Grad der Verbindungsdichte oder Konnektivität in der Welt. Der Atlantik war in dieser Zeit die dynamischste Zone solcher Verflechtung. Ob diese Proto-Globalisierung einen drastischen Bruch mit der Vergangenheit darstellte, ist umstritten. Vieles spricht dafür, dass sie an frühere Prozesse der Expansion und Kontraktion in den verschiedenen Weltregionen anschloss. Selten in der Geschichte haben sich zyklische Modelle von Aufstieg und Niedergang so deutlich bewahrheitet wie in der Frühen Neuzeit. Ganz unterschiedlich konstruierte Imperien wie das Mogulreich in Indien und das Handelsimperium der Portugiesen erlebten innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahrhunderten Prozesse von Aufstieg und Fall, die etwa beim Imperium Romanum eine viel längere Zeit in Anspruch genommen hatten.
Die Diskussion über die Besonderheiten einer frühneuzeitlichen Form von Globalisierung hat es vor allem mit zwei Problemen zu tun. Erstens stellt sich die Frage von Quantitäten und Proportionen. Wann überschreiten Quantitäten die Grenze zur Bedeutsamkeit? Wann verfestigt und verstetigt sich ein momentaner Kreislauf, etwa von Arbeitskräften, Waren und Geld zu einem System? Wann erreichen getrennte Ökonomien ein Niveau des Austausches und der Arbeitsteilung, das es rechtfertigt, sie als «integriert» zu bezeichnen? Die Behauptung, dies sei zumindest im atlantischen Raum während der Frühen Neuzeit, also der Proto-Globalisierung geschehen, ist auf Widerspruch gestoßen. Der niederländische Historiker Pieter Emmer hat eine detaillierte Beweisführung in der Aussage zusammengefasst, dass «die gesamte Schiffstonnage in Europa um 1500 in nur zwei heutigen Supertankern ihren Platz findet und dass wir fünf solcher Tanker benötigen würden, um die gesamte Tonnage des Jahres 1800 unterzubringen».[43] Erst im 19. Jahrhundert vervielfachten sich Wert und Volumen des Welthandels innerhalb kurzer Zeit; erst dann wurden Massengüter (Getreide, Baumwolle, Kohle usw.) im internationalen Warenverkehr wichtiger als Luxusgüter.[44]
Zweitens stellt sich für die Frühe Neuzeit das Problem der kulturellen Integration der Welt und des Verhältnisses der verschiedenen Universalismen zueinander: der römischen Weltkirche, der chinesischen Weltordnungsansprüche, der muslimischen Gemeinschaft der Gläubigen. Was sollen wir unter «globalisierter Wahrnehmung» verstehen, die über eine Handvoll von Individuen hinausgeht? Wann nahmen ganze Gesellschaften – oder zumindest ihre jeweiligen politischen und intellektuellen Eliten – voneinander Notiz? Wie viele Individuen sind nötig, um uns von einer gesellschaftlich relevanten Gruppe intellektueller Globalisierer sprechen zu lassen?
Während der Frühen Neuzeit unternahmen Europäer beispiellose Projekte der Sammlung von Informationen über kulturelle Grenzen hinweg. Schon frühere Zeitalter hatten den Transfer von Religionen und Rechtssystemen, von Sprachen und Schriften erlebt; doch erst die europäischen Initiativen seit dem 16. Jahrhundert waren allumfassend und zielten auf die Systematisierung weltlichen Wissens ab. Europäische Reisende und Missionare – besonders gründlich die Jesuiten – sammelten Informationen über Sprachen, Religionen, soziale Institutionen, Sitten und Gebräuche, politische Systeme und sämtliche Aspekte der natürlichen Welt. Sie legten große Schatzkammern von Objekten und Manuskripten an. Dorthin gelangten auch zahllose Artefakte, die aus Gegenden jenseits der damals noch spärlichen Kolonien der Europäer stammten. Die Europäer vermaßen und kartographierten die Oberfläche des Planeten. Die Grundlagen für die späteren «orientalischen Studien» des 19. Jahrhunderts wurden damals gelegt; besonders die Ethnographie und Ethnologie haben solche frühneuzeitlichen Wurzeln.[45] Aber addierte sich all dies zu kultureller Globalisierung? Wie viel von europäischer Kultur wurde tatsächlich exportiert und außerhalb Europas und seiner Siedlungskolonien übernommen, gar in die dort existierende Kultur eingefügt? Selbst die ehrgeizigen Versuche der Jesuiten, in China Anhänger für den christlichen Glauben zu finden, zeitigten geringe Erfolge. Nur wenige Angehörige der europäischen intellektuellen Elite hatten die Gelegenheit, sich aus erster Hand mit nicht-christlichen Zivilisationen vertraut zu machen. Leibniz besuchte niemals China, Montesquieu kam nie nach Persien, Diderot erreichte die Südseeinseln nicht: alles Gebiete, über die diese Autoren wohlinformiert und einflussreich schrieben. Die große Mehrheit der europäischen Bevölkerung hatte nur die allgemeinsten Vorstellungen von anderen Kontinenten, durchweg orientiert an populären Völkerstereotypen. In umgekehrter Richtung gab es noch viel weniger Initiativen zu kulturellem Austausch. Um 1800 blieben die Gebildeten und die Mächtigen in Ländern wie China, Japan und selbst im Osmanischen Reich nicht weniger unwissend über den «Westen», als sie es dreihundert oder sechshundert Jahre zuvor gewesen waren.[46] Während der Frühen Neuzeit multiplizierte sich die Zahl kultureller Kontakte, ohne in eine neue Qualität und Intensität der Beziehungen umzuschlagen. In dieser Hinsicht ist der Begriff der Proto-Globalisierung gerechtfertigt.
Versuche, eine einheitliche Periodisierung des reichen und differenzierten Bündels unterschiedlicher Globalisierungen zu finden, sind zum Scheitern verurteilt.[47] Wie der bereits zitierte Raymond Grew betont hat, ist jede Periodisierung nichts als eine logische Konsequenz «einer besonderen Interpretation des Wesens von Globalisierung», also grundsätzlich nicht induktiv aus den historischen Quellen zu gewinnen.[48] Aus der Einsicht, dass unterschiedliche Typen von Globalisierung sich nur ausnahmsweise in ordentlicher Gleichzeitigkeit entwickeln, ergibt sich die Schlussfolgerung, dass es unmöglich ist, eine saubere Abfolge von «Stadien» festzulegen. Viele Historiker und historisch interessierte Soziologen ziehen dem die etwas weniger schematische Idee verschiedener «Wellen» vor: kurzer Perioden weltweiter Integrationsschübe, auf die in der Regel Zwischenphasen von gebremster Integrationsdynamik folgten. Es gibt jedoch keine Übereinkunft über die Zahl solcher Wellen und ihre jeweiligen Positionen in einer langfristigen Chronologie. Weil harte ökonomische Daten keine klare Wellenbewegung erkennen lassen (etwa in Analogie zu Konjunkturzyklen), haben einige Autoren eine eher metaphorische Lösung gewählt. Demzufolge sind Wellen zu verstehen als Zusammenballungen repräsentativer Globalitätserfahrungen, die Menschen in weit voneinander entfernten Teilen der Erde machen, ohne sich immer darüber verständigen zu können.[49] So charmant und rhetorisch überzeugend eine solche Vorstellung auch sein mag: ihre impressionistische Ungenauigkeit macht sie für sozialwissenschaftliche Analysen wenig attraktiv.
Etwas Wichtiges änderte sich während des 19. Jahrhunderts, vor allem während dessen zweitem Quartal.[50] Aber was? Wirtschaftshistoriker, die für diese Zeit über bessere statistische Daten verfügen als über die entferntere Vergangenheit, unterstreichen zwei Entwicklungen. Erstens erreichten Umfang und Wert des interkontinentalen Handels ein höheres Niveau als vermutlich zu jedem früheren Zeitpunkt der Geschichte. Verbesserungen in der Schifffahrt und der Beginn des Eisenbahnzeitalters legten die logistischen Grundlagen für eine Expansion, die nach der europäischen Kolonisierung Australiens und Neuseelands und der Entwicklung neuer Exportenklaven in Westafrika und Südafrika kaum einen Teil der Welt unberührt ließ. Dies ist selbstverständlich eine sehr einfache empirische Beobachtung. Zweitens steigerten sich Verbindungen zwischen örtlich entfernten Märkten für Arbeitskräfte, Waren und – einige Jahrzehnte später – Kapital zu schwer reversibler Integration. «Integration» wiederum lässt sich statistisch fassen als die langfristige Konvergenz von Preisen auf unterschiedlichen Märkten. Die Preise reagieren schneller aufeinander, und sie gleichen sich zunehmend aneinander an.[51] Freilich fielen auch im 19. Jahrhundert keineswegs die Preise überall auf der Welt zusammen. Deshalb ist ein reicheres Konzept von «Konvergenz» nötig, das noch andere Aspekte außer der einfachen quantitativen Preisbewegung umfasst. Nach dem Verständnis von Steve Dowrick und J. Bradford DeLong ist Konvergenz «die Assimilation von Ländern außerhalb Nordwesteuropas an die Institutionen, Technologien und Produktivitätsniveaus, die in Nordwesteuropa und anderen Ländern der industriellen Kernzone gelten».[52] Um 1900 gehörten nur Westeuropa, die USA, Kanada, drei Länder Lateinamerikas, Australien, Neuseeland, Japan und (mit Einschränkung) Südafrika zu einem «Konvergenzclub».[53] Das Wachstum des globalen Kapitalismus, wie es im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts allgemein sichtbar wurde, verwandelte die Lebensführung von Millionen von Menschen auf der Erde, während eine noch größere Zahl in ihrer landwirtschaftlichen oder nomadischen Subsistenzweise kaum davon berührt wurden.[54] Zahllose Bauern in Indien oder in den inneren Provinzen Chinas produzierten nicht für den Export, kauften keine ausländischen Konsumgüter und wussten so gut wie nichts über die Welt außerhalb ihrer eigenen ländlichen Lebenswelt.
Nicht-ökonomische Formen von Globalisierung lassen sich für ein langes 19. Jahrhundert, das bis 1914 reicht (oder sogar bis 1945), noch schwieriger identifizieren. Vor dem Ersten Weltkrieg finden sich nur wenige Spuren von transnationalen Regelungen im gesellschaftlichen Leben, von Ansätzen zu politischer Supranationalität oder gar einer Weltregierung ganz zu schweigen. Das Konzert der europäischen Großmächte lag nach dem Ende des Krimkriegs 1857 in Trümmern, und das Aufkommen der ersten internationalen Organisationen (etwa des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz) konnte nicht verbergen, dass die Souveränität militarisierter Nationalstaaten durch keinerlei normativen Friedenskonsens eingeschränkt wurde. Die meisten Bewohner Asiens und Afrikas waren als koloniale Untertanen der Europäer oder als Bürger halbkolonialer Länder mit mehr oder weniger autoritärer Regierung politisch ohne Stimme und Einfluss. Nach 1919 war der Völkerbund zwar nicht ein solch kompletter Fehlschlag, wie es lange Zeit dargestellt wurde, doch fungierte er keineswegs als effektiver Garant des Friedens. Die Zwischenkriegszeit sah die Fragmentierung der Weltwirtschaft in quasi-autarke Blöcke; allerdings ist das Ausmaß dieser Deglobalisierung heute umstritten. Zur gleichen Zeit wurde eine friedliche Weltordnung durch den Ultranationalismus Japans, Italiens und Deutschlands herausgefordert.
Die kulturelle Globalisierung zwischen den 1830er Jahren und 1945 lässt sich nicht in wenigen Sätzen zusammenfassen. Etwa im dritten Quartal des 19. Jahrhunderts erreichte die europäische Zivilisation ein Maximum ihres weltweiten Einflusses. Danach büßte sie im Zeitalter neuer imperialistischer Aggression und des Ausbaus kolonialer Herrschaft dramatisch an Prestige ein, noch mehr dann während des Weltkriegs. Der Kolonialismus hinterließ ein kulturelles Erbe vor allem in der Elitenerziehung und in der Mehrsprachigkeit nachkolonialer Bildungsschichten. Europäer und Nordamerikaner bewahrten sich ihre Neugier gegenüber dem Rest der Welt, doch waren seit dem frühen 19. Jahrhundert ihre Wahrnehmungen immer mehr durch eine Art von struktureller Arroganz getrübt, die von dem amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward Said 1978 als «Orientalismus» gebrandmarkt werden würde. Universalistische Programme, wie das eines allumfassenden Kanons von Weltliteratur, propagiert in den 1820er Jahren von Johann Wolfgang von Goethe, fanden einstweilen weder in Deutschland noch anderswo ein größeres Echo. «Kultur» wurde vielmehr zur Suche nach nationalen Vergangenheiten in literarischen «Denkmälern», historischen Quellen und architektonischen Relikten. Der wichtigste Unterschied der Zeit zwischen 1945 und den Jahrzehnten danach war das Fehlen wahrhaft globaler Medien, die Massenpublika in allen Teilen der Welt zugänglich gewesen wären. Die Verbreitung des dokumentarischen und künstlerischen Films spätestens in den 1930er Jahren sowie die globale Informationssammlung durch Nachrichtenagenturen bereits seit dem späten 19. Jahrhundert sollten nicht unterschätzt werden, erreichten aber auch nicht annähernd die spätere Durchdringungstiefe von Rundfunk, Fernsehen und Internet.
«Moderne Globalisierung» ist als Kategorie weit genug, um zu verklammern, was in dem Zeitalter von Industrialisierung, Nationalstaat und gesteigertem Imperialismus geschah. Auch legte der große wirtschaftliche Aufschwung während der Jahrzehnte vor 1914 einige der Fundamente für Formen der globalen ökonomischen Integration, an die nach dem Zweiten Weltkrieg angeknüpft wurde. Auf der anderen Seite ist es zweifelhaft, ob die verschiedenen Formen von Globalisierung tatsächlich das übergreifende und wichtigste Merkmal der Weltentwicklung in den anderthalb Jahrhunderten nach etwa 1800 waren. Die Moderne war vor der Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht in erster Linie eine «globale» Moderne. Auch kulturelle Verflechtungen nahmen nicht auf allen Bereichen linear zu. So war zum Beispiel die «klassische» europäische Kunstmusik um 1900 für außereuropäische Einflüsse («Exotismus») offener als um 1930.[55]