Die Frage nach der Technik in China - Yuk Hui - E-Book

Die Frage nach der Technik in China E-Book

Yuk Hui

0,0

Beschreibung

Heideggers Kritik der modernen Technologie, die er in seinem berühmten Aufsatz "Die Frage der Technik" formulierte, grundiert alles philosophische Nachdenken über Technik. Auch im östlichen Denken ist die darin festgestellte Beziehung der Technik zur Metaphysik allgemein akzeptiert. Doch ist die darin zugrunde gelegte Annahme, es gäbe nur eine - ursprünglich griechische – Form der Technik, ein Hindernis, wenn es darum geht, ein zeitgemäßes kritisches Denken in Bezug auf Technologie zu entwickeln. Yuk Hui zeigt in diesem wegweisenden Essay die Notwendigkeit einer Suche nach einem ganz spezifisch chinesischem Denken über Technologie, das sowohl in der Lage ist, mit Heidegger in Dialog zu treten, als auch die affirmative Haltung gegenüber Technik und Technologie problematisiert. Unter Bezugnahme auf Denker wie Lyotard, Simondon und Stiegler, aber auch auf östliche Philosophen wie Feng Youlan, Mou Zongsan und Keiji Nishitani gelangt Hui zu einem besseren Verständnis der Eigenheiten chinesischen Denkens in Bezug auf Technologie. Er geht dabei so grundsätzlichen Fragen auf den Grund wie: Warum hat chinesisches Denken Technik so lange ausgeklammert? Warum war Zeit nie ein Thema für chinesische Philosophie? Yuk Hui liefert einen Überblick über Geschichte und aktuelle Debatten chinesischen Denkens und versucht davon ausgehend, Antworten auf die Fragen zu finden, die uns die entfesselte Technologie jeden Tag neu stellt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 507

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Yuk Hui

Die Frage nach der Technikin China

Ein Essay über die Kosmotechnik

Aus dem Englischen von David Frühauf

Wenn ich höre, wie die Menschen der Moderneüber Einsamkeit klagen, dann weiß ich, was geschehen ist.Sie haben den Kosmos verloren.

D. H. Lawrence, Die Apokalypse

Wenn der Kommunismus in China an die Herrschaftkommen sollte, steht zu vermuten, daß erstauf diesem Wege China für die Technik »frei« wird.Was liegt in diesem Vorgang?

M. Heidegger, GA97 Anmerkungen I-V

Für Bernard

Inhalt

Vorwort

Zeitachse der im Buch behandelten Denker, Ost und West

Einleitung

§1. Das Werden des Prometheus | §2. Kosmos, Kosmologie und Kosmotechnik | §3. Technologischer Bruch und metaphysische Einheit | §4. Modernität, Modernisierung und Technizität | §5. Wozu der »ontologische Turn«? | §6. Ein paar Anmerkungen zur Methode

Teil 1: Auf der Suche nach dem technologischen Denken Chinas

§7. Dao und Kosmos: Das Prinzip der Moral | §8. Technē als Gewalt | §9. Harmonie und Himmel | §10. Dao und Qi: Tugend wider Freiheit | §10.1 Qi und Dao im Daoismus: Pao Dings Messer | §10.2 Qi und Dao im Konfuzianismus: Die Erneuerung des Li | §10.3 Anmerkungen zur stoischen und daoistischen Kosmotechnik | §11. Qi-Dao als Widerstand: Die Guwen-Bewegung zur Tang-Zeit | §12. Die materialistische Theorie des ch’i im frühen Neokonfuzianismus | §13. Qi-Dao in Song Yinxings Enzyklopädie während der Ming-Dynastie | §14. Zhang Xuecheng und die Historisierung des Dao | §15. Der Bruch zwischen Qi und Dao nach den Opiumkriegen | §16. Der Zusammenbruch des Qi-Dao | §16.1 Carsun Chang: Die Wissenschaft und die Schwierigkeit des Lebens | §16.2 Das Manifest für eine China-orientierte kulturelle Entwicklung und dessen Kritiker | §17. Needhams Frage | §17.1 Die organische Denkweise und die Gesetze der Natur | §18. Mou Zongsans Erwiderung | §18.1 Mou Zongsans Appropriation der intellektuellen Anschauung Kants | §18.2 Die Selbstverneinung des Liangzhi bei Mou Zongsan | §19. Die Dialektik der Natur und das Ende des xing er shang xue

Teil 2: Moderne und technologisches Bewusstsein

§20. Geometrie und Zeit | §20.1 Die Abwesenheit der Geometrie im alten China | §20.2 Geometrisierung und Temporalisierung | §20.3 Geometrie und kosmologische Spezifität | §21. Modernes und technologisches Bewusstsein | §22. Das Gedächtnis der Moderne | §23. Das Nichts und die Moderne | §24. Überwindung der Moderne | §25. Anamnese der Postmoderne | §26. Das Dilemma der Heimkunft | §27. Sinofuturismus im Anthropozän | §28. Für eine andere Weltgeschichte

Anmerkungen

Namensregister

Sachregister

Vorwort

Ziemlich viele der Notizen, auf die ich während der Arbeit an diesem Buch zurückgegriffen habe, stammen noch aus meinen Teenagerjahren, als sowohl die Kosmogonie des Neo-Konfuzianismus wie auch die zeitgenössische Astrophysik Faszination auf mich ausübten. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich mehrere Sommer lang regelmäßig jede Woche mit meinem Bruder Ben in die Zentralbibliothek in Kowloon ging, mit Stapeln an Bücher über Physik und Metaphysik wieder nach Hause kam und tagelang Dinge darin las, die mich überforderten und mit denen ich damals nicht umzugehen wusste. Glücklicherweise profitierte ich von den vielen Diskussionen mit meinem Literatur- und Kalligrafielehrer Dr. Lai Kwong-pang, der mich mit dem Denken seines damaligen Doktorvaters, des neukonfuzianischen Philosophen Mou Zongsan (1909–1995), vertraut machte. Als ich anfing, mich mit westlicher Philosophie auseinanderzusetzen, insbesondere mit dem zeitgenössischen Denken, sah ich mich vor die große Herausforderung gestellt, sie in das einzubetten, was ich in der Vergangenheit gelernt hatte, ohne dabei einem oberflächlichen und exotischen Abgleich zum Opfer zu fallen. Im Jahr 2009 wies mir die Begegnung mit der Arbeit von Keiji Nishitani und Bernard Stiegler über Heidegger einen Weg, mich den verschiedenen philosophischen Systemen von der Zeitfrage her anzunähern; in jüngerer Zeit, als ich die Schriften des Anthropologen Philippe Descola und des chinesischen Philosophen Li Sanhu las, begann sich mir, eine konkrete Fragestellung auszuformulieren: Wenn man anerkennt, dass es multiple Naturen gibt, ist es dann nicht auch möglich, sich multiple Techniken vorzustellen, die sich nicht allein funktionell und ästhetisch voneinander unterscheiden, sondern auch ontologisch und kosmologisch? Darin besteht die grundlegende Frage der vorliegenden Arbeit. Mit dem, was ich Kosmotechnik nenne, soll der Versuch unternommen werden, die Frage der Technologie und ihrer aus unterschiedlichen Gründen während des letzten Jahrhunderts fallen gelassenen Geschichte wieder aufzunehmen.

Es gibt viele Menschen, denen gegenüber ich meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen möchte: den Mitgliedern der DFG-Forschungsgruppe »Mediale Teilhabe«, Prof. Beate Ochsner, Prof. Urs Stäheli, Prof. Elke Bippus, Prof. Isabell Otto, Markus Spöhrer, Robert Stock, Sebastian Dieterich, Milan Stürmer und, insbesondere, Prof. Erich Hörl, für dessen großmütige Leitung dieses Projekts und für die Diskussionen; der Chinesischen Hochschule der Künste, welche die Produktion dieses Buches gefördert hat, und für die Diskussionen mit Prof. Gao Shiming, Prof. Guan Huaibin, Prof. Huang Sunquan, Johnson Chang, Lu Ruiyang, Wei Shan, Jiang Jun, Yao Yuchen, Zhang Shunren, Zhou Jun; den Mitgliedern der Pharmakon Philosophy School, Anne Alombert, Sara Baranzoni, Anaïs Nony, Paolo Vignola, Paul-Émile Geoffroy, Michaël Crevoisier, François Corbisier, Axel Andersson, Caroline Stiegler, Elsa Stiegler, Augustin Stiegler, Paul Willemarck (auch für seine Einführung in das Werk Rudolf Boehms); den Kollegen und Freunden, mit denen ich inspirierende Diskussionen geführt habe, Howard Caygill, Scott Lash, Jean-Hugues Barthélémy, Vincent Bontems, Louis Morelle, Louise Piguet, Tristan Garcia, Vincent Normand, Adeena Mey, Regula Bührer, Nathalie Scattolon, Géo Scattolon, Alexandre Monnin, Pieter Lemmens, Armin Beverungen, Marcel Mars, Martina Leeker, Andreas Broeckmann, Holger Fath, Cécile Dupaquier, Jeffrey Shaw, Hector Rodriguez, Linda Lai, Prof. Zhang Yibin, Eiko Honda.

Ebenso möchte ich Robin Mackay und Damian Veal für ihre großartige redaktionelle Arbeit, ihre kritischen Kommentare und unschätzbaren Vorschläge danken. Und zu guter Letzt gilt mein besonderer Dank Bernard Stiegler für die wertvollen Diskussionen und Inspirationen der letzten Jahre.

Yuk Hui, Berlin, Sommer 2016

Zeitachse der im Buch behandelten Denker, Ost und West

Prähistorie

 

Fuxi (伏羲)

 

Nüwa (女媧)

 

Shennong (神農)

 

(Yandi, Lie Shan Shi)

 

1766–1122 v. Chr.: Shang Dynastie

 

1122–256 v. Chr.: Zhou Dynastie

 

Laotse (老子, –531 v. Chr.)

Solon (640–558 v. Chr.)

Konfuzius (孔子, 551–479 v. Chr.)

Thales (624–546 v. Chr.)

Mozi (墨子, 470–391 v. Chr.)

Anaximander (610–546 v. Chr.)

Zhuangzi (莊子, 370–287 v. Chr.)

Heraklit (535–475 v. Chr.)

Mengzi (孟子, 372–289 v. Chr.)

Parmenides (515–450 v. Chr.)

Xunzi (荀子, 313–238 v. Chr.)

Sophokles (497/496–406/405 v. Chr.)

 

Sokrates (470/469–399 v. Chr.)

 

Platon (428/427–348/347 v. Chr.)

 

Aristoteles (383–322 v. Chr.)

 

Euklid (300 v. Chr.)

221–207 v. Chr.: Qin Dynastie

Archimedes (287–212 v. Chr.)

 

Zenon von Kition (334–262 v. Chr.)

 

Kleanthes (330–230 v. Chr.)

 

Chrysippos von Soloi (279–206 v. Chr.)

206 v. – 220 n. Chr.: Han Dynastie

 

An Liu (劉安, 179–122 v. Chr.)

Cicero (106–43 v. Chr.)

Dong Zhongshu (董仲舒, 179–104 v. Chr.)

Seneca (1–65 n. Chr.)

Claudius Ptolemäus (100–170)

Sima Qian (司馬遷, 145–90 v. Chr.)

Marc Aurel (121–180)

Zheng Xuan (鄭玄, 127–200 n. Chr.)

 

220–589: Sechs Dynastien

 

Zeit der drei Reiche (220–265 n. Chr.)

Pappos von Alexandria (290–350)

Jin Dynastie (265–420 n. Chr.)

Diogenes Laertius (3. Jh.)

Nördliche und Südliche Dynastien (386–589 n. Chr.)

Augustinus (354–430)

Boethius (480–524)

Wang Bi (王弼, 226–249)

 

Guo Xiang (郭象, 252–312)

 

589–618: Sui Dynastie

 

618–907: Tang Dynastie

 

Han Yu (韓愈, 768–824)

 

Liu Zong Yuan (柳宗元, 773–819)

 

Hongren (弘忍, 601–685)

 

Shenxiu (神秀, 606–706)

 

Heineung (慧能, 638–713)

 

907–960: Fünf Dynastien 960–1270: Song Dynastie

 

Nördliche Song (960–1127)

Adelard von Bath (1080–1152)

Südliche Song (1127–1279)

Thomas von Aquin (1225–1274)

Shao Yung (邵雍, 1011–1077)

 

Zhou Dunyi (周敦颐, 1017–1073)

 

Zhang Zai (張載, 1020–1077)

 

Cheng Hao (程顥, 1032–1085)

 

Chen Yi (程頤, 1033–1107)

 

Zhu Xi (朱熹, 1130–1200)

 

1279–1368: Yuan Dynastie

 

1368–1644: Ming Dynastie

 

Wang Yangming (王陽明, 1472–1529)

Nikolaus von Kues (1401–1464)

Song Yingxing (宋應星, 1587–1666)

Bartolomeo Zamberti (1473–1543)

 

Nikolaus Kopernikus (1473–1543)

 

Tycho Brahe (1546–1601)

 

Francisco Suárez (1548–1617)

 

Galileo Galilei (1564–1642)

 

Johannes Kepler (1571–1630)

 

René Descartes (1596–1650)

1644–1911: Qing Dynastie

 

Wang Fuzhi (王夫之, 1619–1692)

Baruch de Spinoza (1632–1677)

Dai Zhen (戴震, 1724–1777)

Isaac Newton (1642–1727)

Duan Yucai (段玉裁, 1735–1815)

Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)

Zhang Xuecheng (章學誠, 1738–1801)

Immanuel Kant (1724–1804)

Gong Zizhen (龔自珍, 1792–1841)

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)

Wei Yuan (魏源, 1795–1856)

Kang Youwei (康有為, 1858–1927)

Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854)

Tan Sitong (譚嗣同, 1865–1898)

Friedrich Hölderlin (1770–1842)

Wu Zhihui (吳稚暉, 1865–1953)

Ernst Christian Kapp (1808–1896)

Wang Guo Wie (王國維, 1877–1927)

Yan Fu (嚴復, 1894–1921)

Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900)

 

Edmund Husserl (1859–1938)

1912–1949: Republik China

 

Chen Duxiu (陳獨秀, 1879–1942)

Henri Bergson (1859–1892)

Xiong Shili (熊十力, 1885–1968)

Friedrich Dessauer (1881–1963)

Chang Tungsun (張東蓀, 1886–1973)

Sigmund Freud (1886–1939)

Carsun Chang (張君勱, 1887–1968)

Martin Heidegger (1889–1976)

Ding Wenjiang (丁文江, 1887–1936)

Herbert Marcuse (1898–1979)

Hu Shi (胡適, 1891–1962)

André Leroi-Gourhan (1911–1986)

Xu Dishan (許地山, 1893–1941)

Jacques Ellul (1912–1994)

Feng Youlan (馮有蘭, 1895–1990)

Jean-Pierre Vernant (1914–2007)

Mou Zongsan (牟宗三, 1909–1995)

Gilbert Simondon (1924–1989)

Zhang Dainian (張岱年, 1909–2004)

Jean-François Lyotard (1924–1998)

Yu Guang Yuan (於光遠, 1915–2013)

Jürgen Habermas (1929–)

Lao Szekwang (勞思光, 1927–2012)

Jacques Derrida (1930–2004)

Li Zehou (李澤厚, 1930–)

Alain Badiou (1937–)

Yu Yingshih (余英時, 1930–)

Peter Sloterdijk (1947–)

Chen Changshu (陳昌曙, 1932–2011)

Bernard Stiegler (1952–)

Liu Shuhsien (劉述先, 1934–2016)

 

Tu Weiming (杜維明, 1940–)

 

Einleitung

Im Jahre 1953 hielt Martin Heidegger seinen berühmten Vortrag »Die Frage nach der Technik«,1 in dem er verlautbarte, dass das Wesen der modernen Technik nichts Technisches sei, sondern vielmehr ein Ge-stell – eine Transformation der Beziehung zwischen Mensch und Welt, durch die jedes Seiende auf den Rang eines »Bestandes« oder »Vorrats«, auf etwas, das vermessen, berechnet und herausgefordert werden könne, reduziert werde. Heideggers Kritik an der modernen Technik lenkte die Aufmerksamkeit damit von Neuem auf die technologische Macht, die bereits von anderen deutschen Schriftstellern wie Ernst Jünger und Oswald Spengler in Augenschein genommen worden war. Heideggers Schriften, die auf die »Kehre« in seinem Denken (für gewöhnlich um 1930 datiert) folgten, und insbesondere dieser Vortrag, zeichnen den Übergang von technē [τέχνη] als poiesis [ποίησις] oder Hervorbringen zu Technik als Gestell – verstanden als notwendige Konsequenz der westlichen Metaphysik – sowie als Bestimmung nach, die eine neue Form des Denkens verlangt: ein Denken der Frage nach der Wahrheit des Seins.

Heideggers Kritik stieß unter östlichen Gelehrten auf ein aufgeschlossenes Publikum2 – vor allem innerhalb der Kyôto-Schule sowie innerhalb der daoistischen Kritik an der technischen Rationalität, die Heideggers Gelassenheit mit dem klassisch-daoistischen Konzept von wu wei oder »Nicht-Handlung« gleichsetzt. Aus mehreren Gründen leuchtet diese Aufnahmebereitschaft ein. Zum einen schienen Heideggers Äußerungen bezüglich der Macht und der Gefahren moderner Technologie aufgrund von Kriegsverheerungen, Industrialisierung und Massenkonsum beglaubigt worden zu sein, was zu der Interpretation seines Denkens als einer Art existenzieller Humanismus führte, wie er sich Mitte des Jahrhunderts in den Schriften Jean-Paul Sartres niederschlug. Solche Interpretationen spiegelten das Gefühl der Entfremdung und die Ängste, die durch die raschen industriellen und technologischen Veränderungen im modernen China geweckt worden waren, wider. Zum anderen hallte in Heideggers Schilderungen Spenglers These vom Untergang der westlichen Zivilisation wider, wenn auch in einer differenzierteren Spielart – was bedeutete, sie ließen sich zugunsten der Affirmation »östlicher« Werte vereinnahmen.

Eine solche Affirmation führt jedoch zu einem missverständlichen und problematischen Verständnis der Technik- und Technologiefrage und hat – mit der strittigen Ausnahme postkolonialer Theorien – im Osten bis heute die Herausbildung eines wirklich originellen Denkens zu diesem Thema verhindert. Schließlich geht sie von der unausgesprochenen Annahme aus, es gäbe nur eine Art der Technik und Technologie,3 und zwar in dem Sinne, dass die Letztgenannte als anthropologisch universell angesehen würde, dass ihr über die Kulturen hinweg die gleichen Funktionen zukämen und sie also mit den gleichen Begriffen erklärt werden müsste. Heidegger selbst bildete keineswegs eine Ausnahme zu der Tendenz, Technologie und Wissenschaft, im Gegensatz zum Denken, das eben nicht »international«, sondern einzigartig und »heimisch« sei, als »international« zu begreifen. In den kürzlich veröffentlichten Schwarzen Heften Heideggers heißt es:

»Wissenschaften« sind, wie die Technik und als Techniken, notwendig international. Ein internationales Denken gibt es nicht, sondern nur das im Einen Einzigen entspringende universale Denken. Dieses aber ist, um nahe am Ursprung bleiben zu können, notwendig ein geschickliches Wohnen in einziger Heimat und einzigem Volk, dergestalt, daß nicht dieses der völkische Zweck des Denkens und dieses nur »Ausdruck« des Volkes –; das jeweilig einzige geschickliche Heimattum der Bodenständigkeit ist die Verwurzelung, die allein das Wachstum in das Universale gewährt.4

Diese Aussage verlangt eine genauere Betrachtung: Erstens muss der Zusammenhang zwischen Denken und Technik in Heideggers eigenen Überlegungen erläutert werden (siehe im Folgenden §7 und §8), und zweitens muss die Problematik des »Heimkommens« der Philosophie als ein Sich-gegen-Technologie-Wenden untersucht werden. Deutlich an der oben zitierten Stelle wird jedoch, dass Heidegger Technologie als etwas von ihrem kulturellen Ursprung Ablösbares, immer schon »Internationales« betrachtet, das durch das »Denken« überwunden werden muss.

An anderer Stelle der Schwarzen Hefte kommentierte Heidegger die technologische Entwicklung in China und nahm dabei den Sieg der Kommunistischen Partei in einer Bemerkung vorweg,5 die auf das Versäumnis anzuspielen scheint, die Technologiefrage in China in den Jahrzehnten nach dem Machtantritt der Partei zu thematisieren:

Wenn der Kommunismus in China an die Herrschaft kommen sollte, steht zu vermuten, daß erst auf diesem Wege China für die Technik »frei« wird. Was liegt in diesem Vorgang?6

Was meint hier »frei« für die Technik werden, wenn nicht der Unfähigkeit zum Opfer zu fallen, über sie zu reflektieren und sie zu transformieren? Tatsächlich war es ein unzureichendes Maß an Reflexion bezüglich der Technologiefrage im Osten, wodurch das aus der eigenen Kultur stammende Aufkommen einer wirklichen Kritik verhindert wurde: etwas, das wahrlich symptomatisch ist für eine Trennung von Denken und Technologie, ähnlich jener, die Heidegger während der 1940er-Jahre in Europa beschrieben hat. Und dennoch werden wir, sollte China sich bei der Beschäftigung mit dieser Frage auf Heideggers im Wesentlichen abendländische Analyse der Technikgeschichte stützen, in eine Sackgasse geraten – was heute bedauerlicherweise genau die Stelle ist, an der wir uns befinden. Wie also lautet die Frage nach der Technik für nichteuropäische Kulturen im Vorfeld der Modernisierung? Handelt es sich um die gleiche Frage wie jene des Westens vor der Modernisierung, um die Frage nach dem griechischen technē? Und wenn Heidegger darüber hinaus imstande war, der Seinsvergessenheit der westlichen Metaphysik die Seinsfrage wieder zu entwenden, und wenn es Bernard Stiegler heute schafft, die Frage der Zeit vor dem langen oubli de la technique der westlichen Philosophie bewahren zu können, wonach könnten Nicht-Europäer dann möglicherweise streben? Würde man darauf verzichten, diese Fragen zu stellen, bliebe die Technikphilosophie in China weiterhin zur Gänze abhängig von der Arbeit deutscher Philosophen wie Heidegger, Ernst Kapp, Friedrich Dessauer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas, amerikanischer Denker wie Carl Mitcham, Don Ihde und Albert Borgmann sowie französischer Denker wie etwa Jacques Ellul, Gilbert Simondon und Bernard Stiegler. Sie wäre nicht in der Lage, voranzukommen – geschweige denn einen Ausweg zu finden.

Ich denke, es ist dringend notwendig, sich sowohl aus historischen als auch politischen Gründen eine Philosophie der Technologie in China auszumalen und zu erarbeiten. China hat sich während des letzten Jahrhunderts modernisiert, um »Großbritannien zu überflügeln und die USA einzuholen« (超英趕美, eine 1957 von Mao Zedong vorgeschlagene Parole); jetzt, da seine Modernisierung ein Niveau erreicht hat, das es China erlaubt, sich inmitten der Großmächte zu positionieren, scheint sich das Land an einem Wendepunkt zu befinden. Gleichzeitig aber herrscht die allgemeine Ansicht vor, China könne diese Modernisierung nicht blindlings fortsetzen. Die Große Beschleunigung, die sich in den letzten Jahrzehnten ereignet hat, hat auch zu verschiedenen Formen der Zerstörung geführt, seien es kulturelle, ökologische, soziale oder politische. Wir leben mittlerweile, so erzählen uns Geologen, in einem neuen Zeitalter – dem des Anthropozäns –, das ungefähr im 18. Jahrhundert mit der Industriellen Revolution begonnen hat. Um das Anthropozän zu überleben, wird es der Reflexion über – sowie der Transformation der – von der Moderne übernommene Praktiken bedürfen, um damit die Moderne selbst zu überwinden. Zu dieser Aufgabe gehört auch die hier skizzierte Rekonstruktion der Technologiefrage in China, die darauf abzielt, das Konzept der Technik in seiner Pluralität zu entfalten und durch die Wiederaufnahme einer wirklich globalen Weltgeschichte als Gegenmittel für das Modernisierungsprogramm zu wirken. Das Buch ist deshalb ein Versuch, sowohl auf Heideggers Konzept der Technik zu antworten als auch einen möglichen Weg zu umreißen, mithilfe dessen eine geeignete chinesische Philosophie der Technologie entworfen werden kann.

§1. Das Werden des Prometheus

Gibt es ein technologisches Denken in China? Auf den ersten Blick mag diese Frage kurzerhand verworfen werden, denn welche Kultur verfügt schließlich nicht über Technik? Auch in China existiert mit Sicherheit seit mehreren Jahrhunderten Technik, insofern wir darunter das Konzept verstehen, mit dem die Fähigkeiten bezeichnet werden, künstliche Produkte herzustellen. Um diese Frage daher angemessener beantworten zu können, bedarf es eines tieferen Verständnisses dafür, was bei der Frage der Technik überhaupt auf dem Spiel steht.

In der Evolution des Menschen als Homo faber markiert der Moment der Befreiung der Hände gleichfalls den Beginn systematischer und übertragbarer Herstellungspraktiken. Diese entstehen zunächst aus der Notwendigkeit, zu überleben, Feuer zu machen, zu jagen, Unterkünfte zu errichten; erst später, sobald bestimmte Fertigkeiten allmählich beherrscht wurden, ging man daran, kompliziertere Technik zu entwickeln. Wie der französische Anthropologe und Paläontologe André Leroi-Gourhan erörtert hat, tat sich im Moment der Befreiung der Hände durch die Exteriorisierung der Organe und des Gedächtnisses sowie der Interiorisierung von Prothesen eine lange Evolutionsgeschichte auf.7 Nun lässt sich innerhalb dieser universellen technischen Tendenz eine Diversifizierung von Artefakten über verschiedene Kulturen hinweg beobachten. Diese Diversifikation wird durch kulturelle Besonderheiten verursacht, die sie zugleich jedoch mittels einer Art Feedbackschleife verstärkt. Leroi-Gourhan nennt diese Besonderheiten »technische Tatsachen«.8 Während eine technische Tendenz notwendig ist, sind technische Tatsachen akzidentiell: Wie Leroi-Gourhan schreibt, resultieren technische Tatsachen aus der »Begegnung der Tendenz mit Tausenden von milieubedingten Zufällen«:9 Während die Erfindung des Rads eine technische Tendenz darstellt, ist es Sache der technischen Tatsache, ob Räder Speichen haben oder nicht. Die Anfänge der Lehre von der Herstellung waren geprägt von der technischen Tendenz, das heißt das, was sich in menschlichen Aktivitäten offenbart – beispielsweise in der Erfindung des primitiven Rads oder der Verwendung des Feuersteins –, waren optimale natürliche Wirkungsgrade. Erst später begannen sich kulturelle Besonderheiten oder technische Tatsachen augenscheinlicher durchzusetzen.10

Leroi-Gourhans Unterscheidung zwischen technischer Tendenz und technischer Tatsache versucht dementsprechend, eine Erklärung für die Ähnlichkeiten und Differenzen von aus verschiedenen Kulturen stammenden technischen Erfindungen zu liefern. Sie geht von einem universellen Verständnis des Hominisationsprozesses aus, der gekennzeichnet wird von der technischen Tendenz der Erfindung wie auch von der Erweiterung menschlicher Organe mittels technischer Apparate. Doch wie effektiv ist dieses Modell dabei, die weltweite Diversifizierung von Technologien und die unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit der Erfindungen in unterschiedlichen Kulturen vonstattengehen, zu erklären? Gerade vor dem Hintergrund dieser Fragen erhoffe ich mir, die kosmologischen und metaphysischen Dimensionen, die Leroi-Gourhan selbst kaum je thematisiert hat, in die Diskussion einbringen zu können.

Meine Hypothese, die für einige Leser zunächst wohl überraschend erscheinen mag, lautet daher: Technik in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen – oder zumindest wie sie von gewissen europäischen Philosophen definiert wird –, hat es in China niemals gegeben. Es besteht ein allgemeiner Irrglaube, dass alle Techniken gleich seien, dass jegliche Fähigkeiten und künstlichen Produkte aus allen Kulturen auf eine Sache, die sich mit »Technologie« bezeichnen ließe, reduziert werden könnten. Und ja, selbstverständlich ist es beinahe unmöglich zu leugnen, dass Technik als Erweiterung des Körpers oder als Exteriorisierung des Gedächtnisses aufgefasst werden kann. Das bedeutet aber nicht, dass diese Auffassungen innerhalb verschiedener Kulturen auf die gleiche Weise wahrgenommen oder reflektiert werden.

Um es anders auszudrücken: Technik als eine allgemein menschliche Tätigkeit ist auf der Erde seit der Zeit des Australopithecus präsent, wohingegen das philosophische Technikkonzept nicht als universell vorausgesetzt werden kann. Die Technik, auf die wir uns hier beziehen, ist einer der Gegenstände der Philosophie, das heißt, sie ist erst durch die Geburt der Philosophie zutage gefördert worden. Als solche, als philosophische Kategorie, ist Technik zugleich Gegenstand der Philosophiegeschichte und wird darüber hinaus mittels spezieller interrogativer Perspektiven definiert. Was wir in diesem Buch demnach unter »Philosophie der Technologie« verstehen, stimmt nicht vollkommen mit dem überein, was in Deutschland unter Technikphilosophie bekannt ist und mit Persönlichkeiten wie Ernst Kapp und Friedrich Dessauer assoziiert wird. Vielmehr tritt sie mit der Geburt der hellenistischen Philosophie im alten Griechenland in Erscheinung und konstituiert eine der wesentlichen philosophischen Untersuchungen. Und eine so verstandene Technik, eine Technik als ontologische Kategorie, muss, so behaupte ich, in Bezug auf eine größere Konfiguration, auf eine »Kosmologie«, die der jeweiligen Kultur angemessen ist, aus der sie hervorgegangen ist, befragt werden.

Wir wissen, dass es sich bei der Geburt der Philosophie im alten Griechenland, wie sie im Denken Thales’ und Anaximanders zum Ausdruck gebracht wurde, um einen Rationalisierungsprozess handelte, der eine allmähliche Trennung von Mythos und Philosophie markierte. Mythologie stellt den Quell sowie den wesentlichen Bestandteil europäischer Philosophie dar, die sich von der Mythologie distanzierte, indem sie das Göttliche naturalisierte und als Ergänzung zur Rationalität miteinbezog. Ein Rationalist mag zwar durchaus behaupten, dass jedweder Rückgriff auf die Mythologie einer Regression gleichkommt und dass Philosophie imstande war, sich von ihren mythologischen Ursprüngen gänzlich zu befreien. Doch bezweifle ich stark, dass eine derartige Philosophie existiert, geschweige denn jemals existieren wird. Bekanntermaßen kam der Gegensatz von Mythos und Logos in der Platonischen Akademie deutlich zum Ausdruck: Aristoteles stand den »Theologen« der Schule Hesiods überaus kritisch gegenüber, und bereits vor ihm sprach sich Platon erbarmungslos gegen den Mythos aus. Im Phaidon (61a) legt er Sokrates die Behauptung in den Mund, dass der Mythos seine Sache nicht sei, sondern die Angelegenheit der Dichter (die in der Politeia als Lügner charakterisiert werden). Und doch räumt, wie Jean-Pierre Vernant unmissverständlich gezeigt hat, Plato »in seinen Schriften dem Mythos einen besonderen Platz ein[], wenn ausgedrückt werden soll, was diesseits oder jenseits der im eigentlichen Sinne philosophischen Sprache liegt«.11

Philosophie ist daher nicht die Sprache blinder kausaler Notwendigkeit, sondern vielmehr das, was es ebendieser Sprache unmittelbar erlaubt, gesprochen zu werden, sowie das, was darüber hinausgeht. Die dialektische Bewegung zwischen Rationalität und Mythos bildet die Grundlage für die Dynamik der Philosophie, ohne die es lediglich positive Wissenschaften gäbe. Die gegen Ende des 18. Jahrhunderts schreibenden Romantiker und deutschen Idealisten waren sich dieser problematischen Beziehung von Philosophie und Mythos bewusst. Folglich lesen wir im 1797 anonym veröffentlichten »Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« – von dem vermutet wird, es stamme aus der Feder oder zumindest aus dem näheren Umfeld der drei Freunde aus dem Tübinger Stift, Hölderlin, Hegel und Schelling –, dass »die Mythologie […] philosophisch werden [muss] und das Volk vernünftig, und die Philosophie […] mythologisch werden [muss], um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns.«12 Nicht zufällig trat diese Einsicht zu einem Zeitpunkt auf, da das philosophische Interesse an der griechischen Tragödie, vornehmlich durch die Arbeiten dieser drei einflussreichen Freunde, von Neuem aufflammte. Hier zeigt sich nun, dass der Versuch der Philosophie in Europa, sich von der Mythologie zu lösen, gerade durch die Mythologie bedingt ist, was heißt, dass Mythologie die Keimform eines solchen Modus zu philosophieren offenbart. Jede Entmythologisierung geht mit einer Remythologisierung einher, denn Philosophie ist durch einen Ursprung konditioniert, von dem sie sich niemals vollständig absondern kann. Um also herauszufinden, was in der Frage nach der Technik auf dem Spiel steht, sollten wir uns den vorherrschenden Mythen über den Ursprung der Technologie widmen, die uns überliefert und von der westlichen Philosophie zugleich verworfen als auch erweitert wurden. Denn die irrige Annahme, Technik ließe sich als eine Art Universalie betrachten, verstellt nach wie vor den Blick für das Verständnis des globalen technologischen Zustands im Allgemeinen wie auch für die Herausforderung, welche die Technik für außereuropäische Kulturen darstellt, im Besonderen. Ohne Klärung dieser Frage werden wir keinen Schritt vorankommen, werden wir überwältigt sein von dem homogenen Werden der modernen Technologie.

Einige neuere Arbeiten haben versucht, sich das, was sie »Promethianismus« nennen, wieder anzueignen, indem sie die Sozialkritik des Kapitalismus von der technologischen Verunglimpfung abgekoppelt und der Technologie die Macht zugesprochen haben, uns von den Einschränkungen und Widersprüchen der Moderne zu befreien. Diese Konzeption wird oft mit der Idee des »Akzelerationismus« gleichgesetzt oder zumindest eng verknüpft.13 Würde aber eine solche Reaktion auf Technologie und Kapitalismus global angewendet werden, als ob Prometheus eine universell gültige kulturelle Figur wäre, liefe man Gefahr, eine subtilere Form des Kolonialismus aufrechtzuerhalten.

Wer also ist Prometheus, und wofür steht Promethianismus?14 In Platons Protagoras erzählt der Sophist die Geschichte des Titanen Prometheus – von dem es auch heißt, er sei der Schöpfer der Menschen –, der von Zeus gebeten wurde, einem jeden Lebewesen Fertigkeiten zur Lebenserhaltung zuzuteilen. Sein Bruder Epimetheus übernahm diese Aufgabe, stellte jedoch, nachdem er alle Fähigkeiten verteilt hatte, fest, dass er vergessen hatte, für die Menschen zu sorgen. Um den Fehler seines Bruders Epimetheus wiedergutzumachen, stahl Prometheus dem Gott Hephaistos das Feuer und ließ es den Menschen zuteilwerden.15 Hesiod lieferte in seiner Theogonie eine andere, leicht abweichende Version der Geschichte, in welcher der Titan die Allmacht des Zeus herausforderte, indem er ihm einen Streich mit einer Opfergabe spielte. Zeus drückte seinen Zorn dadurch aus, dass er den Menschen das Feuer und die Mittel zur Lebenserhaltung entzog, wofür sich Prometheus wiederum mit dem Raub des Feuers rächte. Sodann zog Prometheus die Strafe Zeus’ auf sich: Er wurde an eine Klippe gekettet, und tagsüber kam ein Adler des Hephaistos, um seine Leber zu fressen, die über Nacht stets wieder nachwuchs. Die Geschichte findet ihre Fortsetzung in Werke und Tage, worin Zeus, verärgert über Prometheus’ Täuschung (apatē) oder Betrug (dolos), Rache nimmt, indem er ein Übel über die Menschheit bringt. Dieses Übel bzw. dolos wird Pandora genannt.16 Die Figur der Pandora, deren Name »die Allgeberin« bedeutet, ist eine zwiespältige Gestalt: Einerseits steht sie für die Fruchtbarkeit, da sie laut Vernant in einer anderen klassischen Darstellung einen anderen Namen trägt, Anesidora, die Göttin der Erde,17 andererseits für Trägheit und Zerstreuung, schließlich ist sie ein gastēr, ein »unersättlicher Bauch, der den bios verschlingt, den Lebensunterhalt, den die Männer sich durch Arbeit verschaffen«.18

Erst bei Aischylos wird Prometheus zum Vater aller Techniken und Führer aller Künste (didasklos technēs pasēs),19 wohingegen er zuvor lediglich derjenige war, der das Feuer stahl und im hohlen Stengel eines Narthex (Riesenfenchel) verbarg.20 Und die Menschen selbst waren vor Prometheus’ Erfindung der Technik wiederum keine empfindungsfähigen Wesen, schließlich sahen sie, ohne zu sehen, vernahmen, ohne zu hören, und lebten in Chaos und Verwirrung.21 In Aischylos’ Der gefesselte Prometheus erklärt der Titan, dass »[j]edwede Kunst [technai] dem Erdvolk von Prometheus her« kommt. Was genau ist aber mit diesen technai gemeint? Es würde zu weit führen, alle möglichen Bedeutungen des Wortes erschöpfend zu behandeln, doch lohnt es sich, Prometheus’ eigenen Worten Beachtung zu schenken:

Sodann die Zahl [arithmon], den höchsten Kunstgriff geistger Kraft, / Erfand ich für sie, der Schriftzeichen Fügung auch, / Erinnrung wahrende Mutter allen Musenwerks.22

Mit der Annahme eines universellen Promethianismus setzt man voraus, dass alle Kulturen der ursprünglich griechischen technē entstammten. In China aber stoßen wir bezüglich der Schöpfung des Menschen und des Ursprungs der Technik auf eine andere Mythologie, eine, in der keine prometheische Gestalt auftritt. Stattdessen wird darin von drei Urkaisern berichtet, die Herrscher vorzeitlicher Stämme (先民) gewesen seien: Fuxi (伏羲), Nüwa (女娲) und Shennong (神農).23 Die weibliche Göttin Nüwa, die als halb menschlich, halb schlangenartig dargestellt wird, erschuf die Menschen aus Lehm.24 Nüwas Bruder und späterer Ehemann Fuxi, eine halb drachenartige, halb menschliche Gestalt, erfand die bagua (八卦) – die auf einer binären Struktur basierenden Acht Trigramme. Mehrere klassische Texte dokumentieren jenen Prozess, demzufolge Nüwa den Himmel mittels Steinen von fünf verschiedenen Farben reparierte, um große Wassermassen daran zu hindern, alles zu überschwemmen, und Feuersbrünste einzudämmen.25 Shennong wiederum hat eine ziemlich schwammige Identität und wird häufig auch mit zwei anderen Namen, Yandi (炎帝) und Lie Shan Shi (烈山氏), assoziiert.26 In diesem Zusammenhang ist Shennong, was wörtlich »göttlicher Landmann« bedeutet, zugleich der Gott des Feuers, der nach seinem Tod zum Gott der Küche wird (das Schriftzeichen Yan [炎] besteht aus der Verdoppelung des Schriftzeichens für Feuer [火]. Historiker nehmen an, dass dies höchstwahrscheinlich dem Gebrauch des Feuers im Haushalt und weniger der Sonnenanbetung geschuldet ist).27 Wie der Name bereits andeutet, erfand Shennong zudem Landwirtschaft, Medizin und andere Techniken. Laut dem Huainanzi, einem alten chinesischen Text, der aus einer Reihe wissenschaftlicher Debatten am Hof von Liu An, dem König von Huainan (179–122 v. Chr.), rund um das Jahr 139 v. Chr. hervorging, riskierte Shennong, sich selbst zu vergiften, indem er Hunderte Pflanzen kostete, um die Essbaren von den Giftigen zu unterscheiden. Der eingebrochene Himmel, den Nüwa reparieren musste, war das Resultat eines Krieges zwischen Yandis Nachfahren, dem Gott des Feuers Zhurong (祝融) und dem Gott des Wassers Gong Gong (共工).28 Man beachte, dass die Götter der Landwirtschaft und des Feuers einem anderen mythologischen System entstammten und dass, obwohl sie Götter genannt werden, sie erst nach ihrem Tod als solche angesehen wurden – ursprünglich handelte es sich bei ihnen um Anführer alter Stämme. Im Gegensatz zur griechischen Mythologie also, in der sich der Titan gegen die Götter auflehnte, indem er den Menschen Feuer und Existenzmittel gewährte und sie auf diese Weise über die Tiere erhob, gab es innerhalb der chinesischen Mythologie keine derartige Rebellion und wurde auch keine solche Transzendenz erteilt; stattdessen wird diese Gabe der Güte der alten Weisen eingeräumt.

In einem Gespräch mit Vernant merkte der französische Sinologe Jacques Gernet an, dass die für die Entwicklung der griechischen Vernunft notwendige radikale Trennung zwischen der Götter- und der Menschenwelt in China nicht vollzogen wurde.29 Zwar erreichte das Denken der Griechen China schlussendlich, kam jedoch zu spät, um noch prägenden Einfluss auszuüben – die Chinesen hatten »das Göttliche naturalisiert«.30 Demgegenüber wies Vernant auf den Umstand hin, dass die für die griechische Kultur charakteristischen polaren Begriffe – Mensch/Götter, sichtbar/unsichtbar, unsterblich/sterblich, dauerhaft/veränderlich, mächtig/machtlos, rein/gemischt, sicher/unsicher – in China fehlten, und legte nahe, dass dies teilweise erklären könnte, weshalb es die Griechen waren, welche die Tragödie erfanden.31

Ich will mit all dem nicht allein auf die offensichtliche Tatsache hinweisen, dass es in China, Japan, Indien oder anderswo voneinander abweichende Schöpfung und Technik betreffende Mythologien gibt. Der Punkt ist vielmehr der, dass jede dieser Mythologien der Technik einen anderen Ursprung bescheinigt, dem jeweils unterschiedliche Beziehungen zwischen Göttern, Technik, Menschen und Kosmos zugrunde liegen. Von ein paar anthropologischen Versuchen, die Unterschiede zwischen den Kulturen zu erörtern, abgesehen, wurden diese Beziehungen innerhalb der Technik- und Technologiediskurse weitestgehend ignoriert oder ihre Auswirkungen nicht berücksichtigt. Meine These lautet daher, dass wir, erst indem wir den verschiedenen Entstehungsgeschichten der Technizität32 nachspüren, verstehen können, was es heißt, von unterschiedlichen »Lebensformen« und also von unterschiedlichen Beziehungen zur Technik zu sprechen.

Die Bemühung, das Konzept der Technik zu relativieren, ficht bestehende anthropologische Ansätze sowie historische Untersuchungen an, die auf dem Vergleich der Entwicklung entweder einzelner technischer Objekte oder technischer Systeme (im Sinne Bertrand Gilles’) innerhalb verschiedener Perioden von unterschiedlichen Kulturen beruhen.33 Wissenschaftliches und technisches Denken entsteht unter kosmologischen Gegebenheiten, die in den niemals statischen Beziehungen zwischen dem Menschen und dessen sozialem Umfeld zum Ausdruck kommen. Aus diesem Grund möchte ich diese Konzeption der Technik Kosmotechnik nennen. So ist eines der charakteristischsten Beispiele chinesischer Kosmotechnik etwa die chinesische Medizin, welche die gleichen Prinzipien und Begriffe zur Beschreibung des Körpers anwendet, wie sie in der Kosmologie anzutreffen sind, als da wären Yin und Yang, wu xing, Harmonie und so weiter.

§2. Kosmos, Kosmologie und Kosmotechnik

An dieser Stelle ließe sich die Frage stellen, ob nicht Leroi-Gourhans Analyse der technischen Tatsachen die unterschiedlichen Technizitäten bereits hinreichend erklärt. Unzweifelhaft hat Leroi-Gourhan die technischen Tendenzen und die Diversifikation technischer Tatsachen in seinem Werk hervorragend dokumentiert, indem er verschiedene Abstammungslinien der technischen Evolution und die Einflüsse des Milieus auf die Herstellung von Werkzeugen und Produkten nachzeichnete. Doch Leroi-Gourhans Forschung stößt an eine Grenze (wobei diese zugleich die Stärke und Besonderheit seiner Untersuchung ausmacht), die sich aus seinem Fokus auf die Individualisierung technischer Objekte zu ergeben scheint, mithilfe derer er eine auf unterschiedliche Kulturen anwendbare technische Genealogie und technische Hierarchie konstruierte. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, lässt sich nachvollziehen, weshalb er sich bewusst auf eine Erklärung der technologischen Genese beschränkte, die auf der Erforschung der Entwicklung von Werkzeugen basierte: Wie er in dem dreißig Jahre nach der eigentlichen Veröffentlichung geschriebenen Nachwort zu L’homme et la matière beklagte, widmen die meisten klassischen Ethnographen der Technik ihr erstes Kapitel, nur um sich anschließend unumwunden den sozialen und religiösen Aspekten zuzuwenden. In Leroi-Gourhans Werk wird Technik hingegen in dem Sinne autonom, als sie als »Linse« fungiert, durch welche die Evolution des Menschen, der Zivilisation und der Kultur wieder geborgen werden kann. Es bringt jedoch Probleme mit sich, die Eigenheit technischer Tatsachen allein dem »Milieu« zuzuschreiben, und ich bezweifle, dass es möglich ist, die Frage der Kosmologie und damit der Kosmotechnik auszusparen.34

Gestatten Sie mir also zunächst, diese Frage in Form einer kantischen Antinomie zu stellen: (1) Technik ist anthropologisch universell, und da sie auf der Ausdehnung somatischer Funktionen sowie der Externalisierung des Gedächtnisses beruht, lassen sich die in verschiedenen Kulturen entstandenen Unterschiede dadurch erklären, inwieweit die gegebenen Umstände die technische Tendenz flektieren;35 (2) Technik ist keine anthropologische Universalie; innerhalb verschiedener Kulturen werden Technologien durch das kosmologische Verständnis der jeweiligen Kulturen beeinflusst und verfügen lediglich innerhalb bestimmter kosmologischer Rahmungen über Autonomie – insofern ist Technik immer Kosmotechnik. Die Suche nach einer Auflösung dieser Antinomie wird der Ariadnefaden unserer Untersuchung sein.

Zunächst möchte ich an dieser Stelle aber eine vorläufige Definition von Kosmotechnik anbieten: Kosmotechnik meint die Vereinigung kosmischer und moralischer Ordnung vermittels technischer Aktivitäten (auch wenn der Begriff kosmische Ordnung an sich tautologisch ist, bedeutet doch schließlich das griechische Wort kosmos bereits Ordnung). Das Konzept von Kosmotechnik gibt uns also unmittelbar ein konzeptionelles Werkzeug an die Hand, mithilfe dessen die herkömmliche Opposition zwischen Technik und Natur überwunden wird und eingesehen werden kann, dass die Aufgabe der Philosophie darin besteht, sich um die organische Einheit der beiden zu bemühen und diese Einheit zu affirmieren. Im weiteren Verlauf der Einführung werde ich diesem Konzept in den Arbeiten des Philosophen Gilbert Simondon sowie einiger zeitgenössischer Anthropologen, insbesondere Tim Ingold, nachspüren.

Im dritten Teil von Die Existenzweise technischer Objekte (1958) macht sich Simondon daran, eine spekulative Geschichte der Technizität zu umreißen, und bekräftigt damit, dass es keineswegs ausreichend sei, allein die technischen Entstehungsbedingungen von Objekten zu ermitteln; ebenso notwendig sei es, zu bedenken, dass ihre Existenz »eine der Eigenarten des Denkens und der Weise des Zur-Welt-Seins ist, dass in ihnen alles organisch miteinander verbunden ist«.36 Die Genese der Technizität setzt laut Simondon mit einer »magischen« Phase ein, in der sich eine der Subjekt/Objekt-Spaltung vorangehende ursprüngliche Einheit findet. Diese Phase ist durch die Trennung von sowie die Kohäsion zwischen Grund und Figur charakterisiert. Simondon übernahm diese Begriffe aus der Gestaltpsychologie, worin die Figur nicht vom Grund abgelöst werden kann und es der Grund ist, der Gestalt verleiht, während die Gestalt dem Grund zugleich Grenzen setzt. Die Technizität der magischen Phase lässt sich somit als ein Kraftfeld begreifen, das durch »Schlüsselpunkte« (pointes clés), so Simondon – beispielsweise hohe Stätten wie Berge, große Felsen oder alte Bäume –, netzförmig verbunden ist. Der anfängliche magische Moment, der ursprüngliche Modus der Kosmotechnik, spaltet sich sodann in Technik und Religion, wobei Letztere, im ständigen Ringen um Einheit, eine Balance mit Ersterer zu bewahren sucht. Aus Technik und Religion ergeben sich wiederum theoretische als auch praktische Anteile: Aufseiten der Religion handelt es sich dabei um Ethik (theoretisch) und Dogma (praktisch), aufseiten der Technik um Wissenschaft und Technologie. Die magische Phase ist ein Modus, innerhalb dessen noch kaum zwischen Kosmologie und Kosmotechnik unterschieden wird, was daran liegt, dass der Kosmologie darin lediglich als Teil der Alltagspraxis Bedeutung zukommt. Ihre eigentliche Trennung tritt erst während der Neuzeit mit der Überlegung auf, das Studium der Technologie und jenes der Kosmologie (als Astronomie) stelle jeweils unterschiedliche Disziplinen dar – ein Indiz auf die völlige Loslösung der Technik von der Kosmologie und auf das Verschwinden jeglicher offenkundigen Konzeption einer Kosmotechnik. Und dennoch wäre es falsch, zu behaupten, es gebe in unserer Zeit keine Kosmotechnik. Denn die gibt es zweifellos: Es handelt sich um das, was Philippe Descola »Naturalismus« nennt, das heißt um den Gegensatz zwischen Kultur und Natur, der im Westen des 17. Jahrhunderts Oberhand gewann.37 Im Rahmen dieser Kosmotechnik wird der Kosmos in Übereinstimmung mit dem, was Heidegger das Weltbild nennt, als ein ausbeutbarer Bestand angesehen. Angemerkt sei an dieser Stelle jedoch, dass für Simondon nach wie vor eine gewisse Möglichkeit besteht, eine unserer Zeit angemessene Kosmotechnik (auch wenn er den Begriff nicht verwendet) zu erfinden. So spricht Simondon in einem Interview bezüglich Mechanologie über die Fernsehantenne und beschreibt anschaulich, wie eine solche Konvergenz (zwischen moderner Technologie und natürlicher Geografie) auszusehen habe. Obwohl sich Simondon, soweit ich weiß, nicht weiter mit diesem Thema beschäftigt hat, wird es unsere Aufgabe sein, das, was er sagen wollte, zu vertiefen:

Sehen Sie sich diese Fernseherantenne an, so wie sie ist […]. Sie ist steif und doch ausgerichtet; wir sehen, dass sie in die Ferne schaut und dass sie (Signale) von einem weit entfernten Sender empfangen kann. Mir scheint sie mehr als ein Symbol zu sein; es wirkt, als stelle sie eine Art Geste, eine beinahe magische Kraft der Intentionalität, eine zeitgenössische Form der Magie dar. In diesem Aufeinandertreffen zwischen dem höchsten Ort und dem Verbindungspunkt, dem Punkt der Übertragung von Hyperfrequenzen, liegt eine Art von »Konaturalität« zwischen dem menschlichen Netzwerk und der natürlichen Geografie der Region vor. Diese verfügt über eine poetische Dimension als auch über eine Dimension, die mit Bedeutung und dem Aufeinandertreffen von Bedeutungen zu tun hat.38

Rückblickend mag uns Simondons Aussage mit jener Unterscheidung von Magie und Wissenschaft, wie sie Lévi-Strauss in seinem ein paar Jahre später veröffentlichten Buch Das wilde Denken (1962) trifft, unvereinbar erscheinen. Magie, oder anders ausgedrückt die »Wissenschaft vom Konkreten«, lässt sich Lévi-Strauss zufolge nicht auf ein Stadium oder eine der Phasen technischer und wissenschaftlicher Entwicklung reduzieren;39 bei Simondon hingegen nimmt die magische Phase, wie wir gesehen haben, die erste Stufe der Technizitätsgenese für sich in Anspruch. Ist die »Wissenschaft vom Konkreten« ereignisgetrieben und zeichenorientiert, so ist die Wissenschaft laut Lévi-Strauss strukturgetrieben und zielt auf einen Begriff ab. Entsprechend herrscht ihm zufolge eine Diskontinuität zwischen den beiden vor, die scheinbar jedoch nur insofern zulässig ist, als man ein außereuropäisches mythisches Denken mit europäischem wissenschaftlichem Denken vergleicht. Bei Simondon hingegen wahrt das Magische eine Kontinuität mit der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie, sodass ich behaupten würde, es handle sich bei dem, worauf Simondon im dritten Teil von Die Existenzweise technischer Objekte anspielt, eindeutig um eine »Kosmotechnik«. Akzeptieren wir also, anstatt die Unterscheidung zwischen dem Magischen/Mythischen und der Wissenschaft sowie die Progression der einen zur anderen aufrechtzuerhalten, fürs Erste die Vorstellung einer Kosmotechnik, wird es uns möglich sein, zu verstehen, dass Ersteres, das heißt das Magische/Mythische, verstanden als »Organisation und […] spekulative[] Ausbeutung der sinnlichen wahrnehmbaren Welt in Begriffen des sinnlichen Wahrnehmens«,40 gegenüber der Wissenschaft nicht notwendigerweise eine Regression darstellt.

Ein paar neuere Arbeiten haben nahegelegt, dass eine genauere Betrachtung nicht-westlicher Kulturen einen Ausweg aus dem modernen Dilemma signalisieren könnten, insofern sie einen Pluralismus der Ontologien und Kosmologien wiesen. Anthropologen wie Philippe Descola und Eduardo Viveiros de Castro etwa richten ihren Blick auf amazonische Kulturen, um die europäische Unterteilung von Natur/Kultur zu dekonstruieren. Ähnlich verfahren Philosophen wie François Jullien und Augustin Berque in ihren Bemühungen, die europäische Kultur mit der chinesischen und japanischen Kultur zu vergleichen, um dadurch einen tiefgründigen Pluralismus abzubilden, der sich nicht ohne Weiteres gemäß einfachen Schemata klassifizieren lässt, und um westliche Versuche zur Überwindung der Moderne neu zu interpretieren. In seiner bahnbrechenden Studie Jenseits von Natur und Kultur weist Descola nicht nur darauf hin, dass die im Okzident entwickelte Natur/Kultur-Aufteilung keineswegs Allgemeingültigkeit besitzt, sondern behauptet auch, dass es sich dabei lediglich um eine Randerscheinung handelt. Vielmehr lassen sich ihm zufolge vier Ontologien beschreiben: Naturalismus (die Natur/Kultur-Aufteilung), Animismus, Totemismus und Analogismus. Jede dieser Ontologien widme sich der Natur auf unterschiedliche Weise, und bei nicht-modernen Praktiken erkenne man, dass sich die seit der europäischen Moderne als selbstverständlich angenommene Trennung von Natur und Kultur nicht aufrechterhalten lasse.41 Descola zitiert die Beobachtung des Sozialanthropologen Tim Ingold, dass Philosophen sich selten gefragt hätten, »[w]as […] den Menschen zu einem Tier besonderer Art« mache, und stattdessen der für den Naturalismus typischen Frage »Was ist der Gattungsunterschied zwischen den Menschen und den Tieren?« den Vorzug gegeben hätten.42 Wie Descola betont, treffe dies jedoch nicht allein auf Philosophen zu, denn auch Ethnologen verfielen dem naturalistischen Dogma, das auf der Singularität des Menschen sowie auf der Annahme, der Mensch unterscheide sich vermittels Kultur von anderen Lebewesen, beruht.43 Im Naturalismus stoße man auf die Diskontinuität der Interiorität und die Kontinuität der Physikalität; im Animismus auf die Kontinuität der Interiorität und die Diskontinuität der Physikalität.44 Zur Veranschaulichung geben wir hier Descolas Definition der vier Ontologien wieder:45

Diese vielfältigen Ontologien setzen unterschiedliche Naturkonzeptionen sowie unterschiedliche Formen der Partizipation voraus; und tatsächlich wird, wie Descola aufzeigt, der naturalistische Gegensatz zwischen Natur und Kultur in anderen »Natur«-Vorstellungen abgelehnt. Was Descola über Natur sagt, ließe sich ebenso über die Technik sagen, die bei Descola zur »Praxis« [practice] abstrahiert wird – ein Begriff, der die Trennung von Natur und Kultur umgeht. Sie jedoch »Praxis« zu nennen, verschleiert womöglich die Rolle der Technik; was auch der Grund ist, weshalb wir eher von Kosmotechnik denn von Kosmologie sprechen.

Obwohl er keinen der »Kosmotechnik« vergleichbaren Begriff verwendet, ist Ingold sich dieses Punktes zweifelsohne bewusst. So legt er im Rückgriff auf Gregory Bateson nahe, dass es eine Einheit zwischen Praktiken [practices] und der Umwelt, der sie angehören, gebe. Dies führt ihn schließlich zu dem Vorhaben einer empfindungsfähigen Ökologie,46 die entsprechend den affektiven Relationen zwischen Menschen und ihren Umwelten vermittelt und gehandhabt wird. Ein Beispiel, das er in Bezug auf die Gesellschaft der Jäger und Sammler anführt, hilft, sein Verständnis von »empfindungsfähiger Ökologie« zu verdeutlichen: Wie Jäger-Sammler ihre Umwelt wahrnähmen, sei, wie er uns sagt, in ihre Praktiken eingebettet.47 Ingold weist etwa darauf hin, dass das Volk der Cree im Nordosten Kanadas eine Erklärung dafür besitze, weshalb Rentiere leicht zu erlegen seien: Die Tiere böten sich »im Sinne des Wohlwollens oder sogar der Liebe dem Jäger gegenüber« an.48 Die Begegnung von Tier und Jäger sei daher nicht bloß eine Frage des »Schießens oder Nichtschießens«, sondern vielmehr der kosmologischen und moralischen Notwendigkeit:

In diesem entscheidenden Moment des Augenkontakts fühlte der Jäger die überwältigende Präsenz des Tieres; er fühlte sich, als wäre sein eigenes Wesen irgendwie mit jenem des Tieres verbunden oder vermischt – ein Gefühl, das der Liebe gleichkommt und das, im Bereich menschlicher Beziehungen, während des Geschlechtsverkehrs erfahrbar wird.49

Indem er den Seh-, Hör- und Tastsinn mithilfe Hans Jonas’, James Gibsons und Maurice Merleau-Pontys neu denkt, versucht Ingold aufzuzeigen, dass, sobald wir uns neuerdings mit der Sinnesfrage beschäftigten, es uns möglich sei, uns die innerhalb der modernen technologischen Entwicklung gänzlich ignorierte empfindungsfähige Ökologie erneut anzueignen. Dennoch aber wird in dieser Auffassung des Menschen und der Umwelt die Beziehung zwischen Umwelt und Kosmologie nicht wirklich deutlich zum Ausdruck gebracht; und so läuft diese Art und Weise, Lebewesen zusammen mit ihrer Umwelt zu analysieren, Gefahr, sich innerhalb eines kybernetischen Feedback-Modells ähnlich dem von Bateson einzurichten und dadurch die absolut überwältigende und kontingente Rolle des Kosmos zu untergraben.

Simondon vertritt eine ähnliche Sicht auf die Beziehung zwischen Mensch und Außenwelt als Figur und Grund – ein funktionierendes Modell der Kosmotechnik, da der Grund durch die Figur begrenzt und die Figur durch den Grund ermächtigt ist. Während innerhalb des religiösen Denkens der Grund – infolge ihrer beider Losgelöstheit – nicht länger durch die Figur begrenzt ist und der unbegrenzte Grund als eine göttliche Macht empfunden wird, verwandelt sich im technischen Denken umgekehrt die Figur den Grund an und führt so zum Umsturz ihrer gegenseitigen Beziehung. Simondon stellt das philosophische Denken daher vor eine Aufgabe: eine Konvergenz zu schaffen, welche die Einheit von Figur und Grund neuerdings bekräftige50 – was sich auch als Suche nach einer Kosmotechnik begreifen ließe. Untersuchten wir also beispielsweise die polynesische Navigation – die Fähigkeit, ohne modernes Gerät zwischen Tausenden Inseln zu navigieren – als Kosmotechnik, dürften wir uns nicht auf diese Fähigkeit [ability] als Fertigkeit [skill] konzentrieren, sondern eher auf die Figur-Grund-Relation, die diese Fertigkeit präfiguriert.

Der Vergleich zwischen den Arbeiten Simondons, Ingolds und anderer Ethnologen deutet auf zwei unterschiedliche Möglichkeiten hin, wie sich der Frage nach der Technik in China angenähert werden könnte. Während uns durch die erste die Methode zuteilwürde, eine das soziale und politische Leben bestimmende Kosmologie zu ergründen, würde bei der zweiten Möglichkeit das philosophische Denken zur Suche nach dem Grund der Figur, deren Zusammenhang aufgrund der zunehmenden Spezialisierung und Berufsaufgliederung in den modernen Gesellschaften immer unklarer zu werden droht. Die Kosmotechnik des alten China und das philosophische Denken, das sich im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat, scheinen mir das andauernde Bemühen widerzuspiegeln, genau solch eine Vereinigung von Grund und Figur herbeizuführen.

Innerhalb der chinesischen Kosmologie stößt man neben jenem des Sehens, Hörens und Tastens noch auf einen weiteren Sinn. Er wird Ganying (感應) genannt, was wörtlich »Gefühl« und »Reaktion« bedeutet und häufig (etwa in den sinologischen Studien Marcel Granets und Angus Grahams) als »korrelatives Denken« aufgefasst wird;51 ich ziehe es vor, ihn im Anschluss an Joseph Needham Resonanz zu nennen. Ganying erzeugt eine »moralische Stimmung« sowie ferner eine »moralische Verpflichtung« (in sozialer und politischer Hinsicht), die nicht allein das Produkt subjektiver Reflexion ist, sondern vielmehr der Resonanz zwischen Himmel und Mensch entspringt, insofern der Himmel den Grund der Moral bildet.52 Das Vorhandensein einer solchen Resonanz beruht auf der Annahme einer Einheit zwischen Mensch und Himmel (天人合一), und daher impliziert Ganying (1) eine Homogenität aller Lebewesen sowie (2) eine Organizität der Relation zwischen Teil und Teil sowie zwischen Teil und Ganzem.53 Diese Homogenität findet sich bereits in dem Kommentar Xici des Zhouyi,54 worin es über den vorzeitlichen Bao Xi (ein anderer Name für Fuxi) heißt, er habe die Acht Trigramme erschaffen, um anhand dieser Homogenität über die Verbindung allen Seins nachzudenken:

In vergangener Zeit war der aus der Sippe Bao Xi König über das Reich: Er schaute nach oben und betrachtete die Bilder am Himmel. Er schaute nach unten und betrachtete die Formen auf der Erde. Er betrachtete die Muster der Vögel und wilden Tiere und wie [diese] der Erde [unterschiedlich] angepaßt waren. Indem er im Nahen von seinem eigenen Leib nahm und in der Ferne von den Dingen, schuf er daraufhin zuerst die acht Zeichen, um [in gegenseitiger] Durchdringung zur Tauglichkeit der [im Geheimen wirkenden] Götter und Geister zu stehen und das nach seiner Weise mit der Veranlagung der zehntausend Wesen Übereinstimmende zu bewirken.55

Wörter wie »Bilder«, »Formen« und »Muster« sind wesentlich für das Verständnis der Resonanz zwischen Himmel und Mensch. Sie deuten eine Haltung gegenüber der Wissenschaft in China an, die (gemäß der organizistischen Lesart von Autoren wie Joseph Needham) von derjenigen Griechenlands abweicht, da es in China die Resonanz ist, die den Regeln und Gesetzen Autorität verleiht, wohingegen bei den Griechen, wie Vernant des Öfteren betont, die Gesetze (nōmoi) in engem Zusammenhang mit der Geometrie stehen. Wie aber wird diese Resonanz wahrgenommen? Sowohl Konfuzianismus als auch Daoismus postulieren ein kosmologisches »Herz« oder einen kosmologischen »Geist« [mind] (ausführlicher dazu in §18), die in der Lage sind, mit der äußeren Umwelt (z. B. im Ch’un-ch’iu-fan-lu. Üppiger Tau des Frühlings- und-Herbst-Klassikers)56 wie auch mit anderen Lebewesen (z. B. in den Schriften Mengzis) zu harmonieren. Wir werden später noch sehen, wie es dazu kommt, dass gerade dieser Sinn zur Entwicklung einer moralischen Kosmologie beziehungsweise moralischen Metaphysik in China führte, die sich in der Vereinigung zwischen Himmel und Mensch ausdrückt. Wichtig für unser Argument ist an dieser Stelle zunächst jedoch bloß, dass eine derartige Vereinigung im Kontext der Technik zugleich als Vereinigung von Qi (器, wörtlich übersetzt: »Werkzeug«) und Dao (道, häufig mit »Tao« transkribiert) zum Ausdruck gebracht wird. So schließt im Konfuzianismus beispielsweise Qi ein kosmologisches Bewusstsein der Beziehungen zwischen Menschen und Natur mit ein, das in Ritualen und religiösen Zeremonien dargeboten wird. Wie wir in Teil 1 noch erörtern werden, beinhaltet der konfuzianische Klassiker Liji (das Buch der Riten [auch Li Gi transkribiert]) ein Kapitel mit dem Titel Li Qi (禮器, »Utensilien der Riten« [auch Li Ki transkribiert]), das die Bedeutung technischer Objekte bei der Verwirklichung des Li (禮, »Ritus«) dokumentiert und dem zufolge sich die Moral nur mittels des ordnungsgemäßen Gebrauchs von Li Qi aufrechterhalten lässt.

Die Aufgabe von Teil 1 des vorliegenden Buches wird sein, dieses »korrelative Denken« Chinas sowie die dynamische Relation zwischen Qi und Dao näher zu beleuchten. Ich glaube nämlich, dass das kosmotechnische Konzept es uns erlaubt, den unterschiedlichen Technizitäten nachzuspüren, und dass es gleichzeitig dazu beiträgt, uns die Relationsvielfalt zwischen Technik, Mythologie und Kosmologie zu erschließen – um uns dadurch die aus verschiedenen Mythologien und Kosmologien übernommenen unterschiedlichen Relationen zwischen Mensch und Technik eingestehen zu können. Dass es sich bei einer dieser Relationen um den Promethianismus handelt, steht außer Frage; doch ihn deswegen als Universalie aufzufassen, wäre höchst problematisch. Es soll hier nicht darum gehen, für irgendeine Art von kultureller Reinheit einzutreten, geschweige denn eine solche als Ursprung vor Kontamination zu bewahren. Technik hat stets als Mittel der Kommunikation zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen gedient, was jedwede Vorstellung eines absoluten Ursprungs unmittelbar infrage stellen sollte. Innerhalb unserer technologischen Epoche ist sie die treibende Kraft der Globalisierung – im Sinne einer konvergierenden Kraft, die durch den Raum wirkt, wie auch einer synchronisierenden Kraft in der Zeit. Dennoch gilt es, eine radikale Alterität zu beteuern, um der Homogenität Raum zu gewähren und dadurch verschiedene, auf traditionellen metaphysischen Kategorien basierende episteme herauszuarbeiten – eine Aufgabe, welche die Möglichkeit eröffnet, zur eigentlichen Frage nach dem Lokalen vorzudringen. Den Begriff episteme verwende ich dabei im Anschluss an Michel Foucault, dem zufolge damit eine soziale und wissenschaftliche Struktur bezeichnet wird, die als Ansammlung von Auswahlkriterien fungiert und den Diskurs der Wahrheit bedingt.57 In Die Ordnung der Dinge führt Foucault eine Periodisierung dreier episteme im Abendland ein: Renaissance, Klassik und Moderne. Später überkam Foucault das Gefühl, seine Einführung des episteme-Begriffs habe in eine Sackgasse geführt, und er entwickelte ein allgemeineres Konzept, nämlich das des Dispositivs.58 Der Übergang von den episteme zum Dispositiv bildet einen strategischen Schritt hin zu einer immanenteren Kritik, die sich für Foucault auch auf zeitgemäßere Analysen anwenden ließ; während eines Interviews im Jahr 1977, ungefähr zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Bandes seiner Geschichte der Sexualität, schlug Foucault rückblickend vor, die episteme als eine Form des Dispositivs zu definieren: als jenes »strategisches Dispositiv […], das es gestattet, unter all den möglichen Aussagen diejenigen auszusieben, die nicht in einer wissenschaftlichen Theorie, sondern eines Feldes von Wissenschaftlichkeit annehmbar sein können, und von denen man wird sagen können: Dieses hier ist wahr oder falsch.«59 Ich erlaube mir an dieser Stelle, den Begriff der episteme neu zu formulieren: Für mich handelt es sich dabei um ein Dispositiv, das angesichts der modernen Technologie auf der Grundlage traditioneller metaphysischer Kategorien neu erfunden werden kann, um von Neuem eine Lebensform einzuführen sowie das Lokale zu reaktivieren. Derartige Neuerfindungen lassen sich beispielsweise im Anschluss an die sozialen, politischen und ökonomischen Krisen beobachten, die in allen Epochen Chinas stattgefunden haben (und sicherlich könnten wir auch Beispiele aus anderen Kulturen dafür finden): im Anschluss an den Niedergang der Zhou-Dynastie (1122–256 v. Chr.), die Einführung des Buddhismus in China, die Niederlage des Landes in den Opiumkriegen etc. Zu diesen Zeitpunkten lässt sich die Neuerfindung einer episteme beobachten, welche wiederum das ästhetische, soziale und politische Leben bestimmt. Die von digitalen Technologien angetriebenen technischen Systeme (beispielsweise »Smart Citys«, das »Internet der Dinge«, soziale Netzwerke und groß angelegte Automatisierungssysteme), die dabei sind, die Gegenwart zu gestalten, führen tendenziell zu einem homogenen Verhältnis von Mensch und Technik – einem Verhältnis der intensiven Quantifizierung und Kontrolle. Dies aber macht es für verschiedene Kulturen umso wichtiger und dringlicher, über ihre eigene Geschichte und ihre eigenen Ontologien nachzudenken – denn nur so sind sie imstande, digitale Technologien einzuführen, ohne damit schlichtweg in eine homogene »globale« und »generische« episteme eingetaktet zu werden.

Der entscheidende Moment in der modernen chinesischen Geschichte vollzog sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit den beiden Opiumkriegen, bei denen die Qing-Dynastie (1644–1912) nahezu vollständig von der britischen Armee besiegt wurde, was zur Öffnung Chinas als einer Quasikolonie für die westlichen Streitkräfte führte und die Modernisierung des Landes in Gang setzte. Als einer der ausschlaggebenden Gründe für diese Niederlage wurde von chinesischer Seite der Mangel an technologischer Kompetenz angesehen. In der Hoffnung, der Unausgewogenheit zwischen China und den westlichen Streitkräften ein Ende zu setzen, bestand für sie daher die dringliche Notwendigkeit einer raschen Modernisierung via technologischer Entwicklung. China war indes jedoch nicht in der Lage, die westlichen Technologien in jener Weise zu absorbieren, in der es sich die herrschenden chinesischen Reformer damals wünschten, was vor allem an der Fehleinschätzung und Unkenntnis gegenüber der Technologie lag. Schließlich hielten sie an dem rückblickend ziemlich »kartesianisch« wirkenden Glauben fest, dass es möglich sei, das chinesische Denken – den Geist – von den lediglich als Instrumente verstandenen Technologien zu trennen; sprich, dass Ersteres, der Grund, intakt bleiben könne, ohne aufgrund der Einführung und Implementierung der technologischen Figur affiziert zu werden.

Letztlich aber hat die Technologie einen solchen Dualismus untergraben und sich eher als Grund denn als Figur konstituiert. Seit den Opiumkriegen sind mehr als eineinhalb Jahrhunderte vergangen. China hat infolge von Regimewechseln und allerhand experimentellen Reformen weitere Katastrophen und Krisen durchlebt. Während dieser Zeit wurde viel über die Frage der Technologie und Modernisierung nachgedacht, und der Versuch, einen Dualismus zwischen denkendem Geist und technologischem Instrument aufrechtzuerhalten, hat sich als nicht haltbar erwiesen. Ernstlicher noch: Jede derartige Überlegung hat sich angesichts fortdauernder ökonomischer und technologischer Hochkonjunkturen in den letzten Jahrzehnten als ohnmächtig herausgestellt. An ihre Stelle ist eine Art Ekstase und Hype getreten, die das Land ins Ungewisse vorantreiben: Plötzlich findet sich China wie inmitten eines Ozeans, unfähig, eine Horizontlinie zu entdecken oder irgendein Ziel – jenes Dilemma, das Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft beschrieben hat und das nach wie vor ein treffendes Bild für die problematische Situation des modernen Menschen darstellt.60 In Europa hat man sich derweil verschiedene Konzepte wie »Postmoderne« oder »Posthumanismus« ausgedacht, um einen imaginären Exodus aus dieser Situation zu benennen; doch einen Ausweg zu finden, ohne der Frage der Technologie entgegenzutreten und sich geradewegs mit ihr auseinanderzusetzen, wird unter keinen Umständen gelingen.

Unter Berücksichtigung all der oben aufgeworfenen Fragen zielt dieses Buch darauf ab, die moderne Technologie neuerdings einer Untersuchung zu unterziehen – eine Untersuchung, die den Promethianismus nicht als elementare Voraussetzung ansieht. Die Arbeit selbst ist dabei in zwei Teile gegliedert. Teil 1 soll einen systematischen und historischen Überblick über das »technologische Denken« in China, verglichen mit seinem europäischen Gegenstück, liefern. Es dient als ungetrübter Ausgangspunkt, um zu verstehen, was hier auf dem Spiel steht, und um über die Dringlichkeit einer solchen Untersuchung nachzudenken. Teil 2 stellt eine Erkundung der historisch-metaphysischen Frage der modernen Technologie dar und beabsichtigt, neues Licht in jene Dunkelheit zu werfen, in der die Technologiefrage nach wie vor noch ihr Dasein in China fristet, speziell in Zeiten des Anthropozäns.

§3. Technologischer Bruch und metaphysische Einheit

Wie bereits in dem oben skizzierten kosmotechnischen Konzept angedeutet, beschränkt sich die hier vorgestellte Technologiebeschreibung nicht auf die historischen, sozialen und ökonomischen Ebenen; vielmehr müssen wir über diese Ebenen hinausgehen, um imstande zu sein, eine metaphysische Einheit wiederherzustellen. Unter »Einheit« verstehe ich jedoch keine politische oder kulturelle Identität, sondern eine Einheit zwischen Praxis und Theorie, genauer gesagt eine Lebensform, welche die Kohärenz (wenn auch nicht die Harmonie) einer Gemeinschaft gewährleisten kann. Denn die Fragmentierung der Lebensformen in europäischen wie außereuropäischen Ländern ist größtenteils auf eine Inkonsistenz zwischen Theorie und Praxis zurückzuführen. Doch im Osten offenbart sich diese Kluft nicht als bloße Störung, sondern vielmehr als die von Heidegger beschriebene »Entwurzelung« – als eine vollständige Diskontinuität. Die Transformation der mittels moderner Technologie hervorgerufenen Praktiken übertrifft die ehemals zutreffenden klassischen Kategorien. Wie ich in Teil 1 beispielsweise erläutern werde, verfügen die Chinesen über keine Entsprechung für jene Kategorien, welche die Griechen technē und physis nannten. Folglich löst die Triebkraft der Technologie in China die metaphysische Einheit von Praxis und Theorie auf und erzeugt einen Bruch, dessen Vereinigung nach wie vor aussteht. Hierbei aber handelt es sich gewiss nicht um etwas, das lediglich im Osten stattfindet. Wie Heidegger schrieb, liegt der Herausbildung der Kategorie »Technik« [technology] im Westen nicht länger das gleiche Wesen wie technē zugrunde. Die Frage nach der Technik sollte daher letztlich als Anlass dienen, der Seinsfrage nachzugehen – und, wenn ich das so sagen kann, eine neue Metaphysik hervorbringen; oder besser noch eine neue Kosmotechnik.61 Heutzutage präsentiert sich eine derartige Vereinigung oder Gleichgültigkeit nicht als Suche nach einem Grund, sondern stellt sich selbst sowohl als Urgrund wie auch als Ungrund zur Schau: Ungrund, da sie offen für Alteritäten ist, und Urgrund als Grund, der sich der Assimilation widersetzt. Folglich sollten Urgrund und Ungrund als eine Einheit betrachtet werden, ähnlich wie Sein und Nichts. Denn streng genommen liegt in dem Streben nach Einheit das Telos der Philosophie, wie Hegel in seiner Abhandlung über Schelling und Fichte behauptete.62

Wie sich zeigen wird, liegt die Antwort auf die Frage nach der Technik in China nicht darin, eine detaillierte Geschichte der ökonomischen und sozialen Entwicklung der Technologien zu liefern – zumal Historiker und Sinologen wie Joseph Needham dies bereits auf unterschiedliche brillante Art und Weise getan haben –, sondern vielmehr in der Beschreibung der Transformation der Kategorie Qi (器) in ihrer Relation zu Dao (道). Lassen Sie mich diesen Punkt etwas genauer ausführen: Normalerweise werden Technik und Technologie im Chinesischen mit jishu (技術) und keji (科技) übersetzt. Der erste Begriff bedeutet »Methode« oder »Fertigkeit«; der zweite besteht aus den beiden Schriftzeichen 科 und 技, wobei ke (科) »Wissenschaft« (ke xue) bedeutet und ji (技) »Methode« oder »angewandte Wissenschaft«. Die Frage hierbei lautet nicht, ob diese Übersetzungen die Bedeutung der westlichen Wörter adäquat wiedergeben (zu beachten ist, dass es sich bei den Übersetzungen um neu geschöpfte Begriffe handelt); es geht vielmehr darum, ob sie den Eindruck erwecken, westliche Techniken besäßen eine Entsprechung innerhalb der chinesischen Tradition. Letztlich aber verschleiert der Eifer, mit dem diese chinesischen Neologismen zeigen wollen, dass »wir ebenso über diese Begriffe verfügen«, die eigentliche Technikfrage. Anstatt mich daher auf diese allenfalls irritierenden Wortneuschöpfungen zu verlassen, schlage ich vor, die Frage der Technik ausgehend von den klassischen philosophischen Kategorien Qi und Dao zu rekonstruieren und den diversen Wendepunkten nachzuspüren, an denen die beiden getrennt, wiedervereinigt oder sogar zur Gänze verworfen wurden. Denn das Verhältnis von Qi und Dao charakterisiert streng genommen das Technikdenken in China, das zugleich eine Vereinigung von moralischem und kosmologischem Denken innerhalb einer Kosmotechnik darstellt. Indem Qi und Dao miteinander verknüpft werden, dringt die Technikfrage bis zu ihrem metaphysischen Grund vor. Zugleich hat Qi, dadurch, dass es diese Beziehung eingeht, Anteil an der moralischen Kosmologie und greift entsprechend seiner eigenen Entwicklungsgeschichte in die metaphysische Systemrelation ein. Somit werden wir darlegen müssen, wie sich das Verhältnis von Qi und Dao im Laufe der Geschichte des chinesischen Denkens verändert hat, und zwar indem wir die kontinuierlichen Versuche, Dao und Qi wiederzuvereinigen (道器 一), mit ihren jeweils unterschiedlichen Nuancen und Konsequenzen betrachten: Qi erhellt Dao (器以明道), Qi befördert Dao (器以載道), oder Qi steht im Dienste des Dao (器為道用), Dao steht im Dienste des Qi (道為器用