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Als am Rande der Stadt die Knochen einer Leiche entdeckt werden, ahnt Kommissar Clemens Barsch nichts von weiteren Funden während der Ausgrabungen. Eines ist allen Toten gemein, die Grabbeigabe in Form einer an ein hölzernes Kreuz geschlagenen Frau. Je intensiver die Polizei ermittelt, desto mehr Fragen wirft der Fall auf. Der Kommissar spürt, anstatt eines Kirchenrelikts verbirgt sich weit mehr hinter dem Abbild der Sterbenden. Zur gleichen Zeit in Lippstadt. Artur Sokolow war trotz seiner Aktivitäten als Nachtclub-Betreiber ein angesehenes Mitglied der Stadt. Doch sein Imperium bröckelt. Die Angestellten lehnen sich gegen seinen renitenten Führungsstil auf, die Polizei nimmt ihn wegen verschiedener Gesetzesverstöße ins Visier. In die Enge getrieben und von der Familie entzweit, schreckt er vor keinem Mittel zurück, seinen letzten Besitz zu sichern. Beide Ermittlungen scheinen ohne Zusammenhang bis Kommissar Barsch das Foto einer perfiden Inszenierung entdeckt. Dem Opfer schwindet die Zeit, denn niemand wird es schreien hören.
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Seitenzahl: 299
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Gewidmet:
Dir.
Niemand kann dir je gleichen.
Teil I: Zerstörung
Prolog
2. Kapitel
3. Kapitel
4. (Vor 13 Jahren)
5. (Vor 13 Jahren)
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. (Vor 11 Jahren)
10. (Vor 11 Jahren)
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Teil II: Unterdrückung
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. (Vor 10 Jahren)
22. (Vor 10 Jahren)
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
Teil III: Jähzorn
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
Das kleine Haus, in dem Susanne mit ihrer Familie wohnte, lag abseits am Ende der Straße. Wenig war erkennbar vom einst weißen Anstrich. Das Holz der Fensterrahmen und der Pergola blätterte, den Dachpfannen aus gräulichem Beton setzten Sonne und Regen zu. Niemand kümmerte sich um den Erhalt des Hauses, am wenigsten der Vater, der den Lohn, den er erarbeitete, lieber hochprozentig investierte.
„Das war ein schöner Sturm! Stinas Angst war verflogen, denn Opa Hansen hatte recht. Man musste halt mindestens zu zweit sein, wenn der Sturm kam.“
Susanne schloss das Buch, aus dem sie vorgelesen hatte, und streichelte ihrem Bruder liebevoll über den Kopf. „So, für heute haben wir genug gelesen. Zeit zu schlafen.“
Der Kleine betrachtete seine ältere Schwester eingehend, bevor er etwas sagte: „Warum kannst du eigentlich nicht meine Mama sein? Du bist jedenfalls für mich da.“
Sie lächelte gezwungen. „Du bist fünf, fast sechs. Ich bin bereits zwanzig. Wenn es nach dem Alter ging, wäre das möglich. Aber ich bleibe nun einmal dein Schwesterlein. Und schließlich hast du Eltern, die dich lieben.“
Der Junge konnte sich nicht vorstellen, dass das stimmte.
Mit einem Mal schwang die Tür auf. Die Mutter wies auf den Jungen. „Sofort schlafen! Dein Tag ist um. Und Susanne kann den Müll rausbringen und sich nützlich machen. Es war ein harter Tag für mich. Ich brauche meine Ruhe.“
„Was ist mit Vater?“, forschte der Junge ängstlich.
„Ist noch mit seinen Kumpanen auf Tour. Ich will nichts von dir hören oder sehen, wenn er nach Hause kommt.“ Dabei betrachtete sie abwechselnd beide Kinder.
Die junge Frau nickte, zog ihrem Bruder die Decke bis zum Hals und löschte das Licht. „Schlaf gut“, flüsterte sie dem Jungen zu. Die Mutter war inzwischen verschwunden, sicherlich zurück ins Wohnzimmer.
Immer wieder hatte Susanne mit dem Gedanken gespielt, dieses Leben hinter sich zu lassen, auszuziehen und sich eigenständig ein Leben aufzubauen. Mit dem oftmals betrunkenen Vater und der dazu launischen Mutter, die vormittags in einem Supermarkt Regale füllte, nachmittags erschlagen auf dem Sofa vor dem Fernseher verbrachte und ansonsten Susanne den Haushalt überließ, war das Leben eine tägliche Last. Doch was würde aus dem Kleinen werden, wenn sie nicht für ihn da war, gerade jetzt, wo die Einschulung in wenigen Monaten bevorstand?
Mitten in der Nacht schlug die Eingangstür. Das Familienoberhaupt kehrte heim, doch er war nicht allein.
„Ein feines Häuschen hast du hier.“
„Red’ keinen Quatsch“, entgegnete der Vater seinem angetrunkenen Begleiter. „Die Hütte hält den Regen ab, mehr nicht.“
„Und es ist wirklich okay, wenn ich noch auf einen Absacker bei dir stoppe?“
„Na klar.“
Die beiden Männer erreichten das Wohnzimmer.
„Such dir einen Platz aus. Ich habe noch einen tollen Single Malt Whisky da. Gönnen wir uns ein Glas und du erzählst mir ein bisschen von dir.“
„Was soll ich noch erzählen?“, forschte der Fremde, während er unschlüssig zwischen zwei Stühlen hin und her wechselte. „Ich habe schon in der Kneipe mein ganzes Leben vor dir ausgeschüttet.“ Plötzlich hielt er sich den Zeigefinger vor den Mund. „Müssen wir nicht leise sein?“
„Habe ich dir schon einmal gesagt. Red’ keinen Quatsch. Die Frau und die Kinder schlafen.“ Der Vater schaute zu seinem Begleiter. „Und wenn nicht, glaubst du, sie werden etwas sagen?“
„Du hast deine Familie im Griff. Das gefällt mir.“ Er grinste.
Die Schranktür quietschte, als sie geöffnet wurde. Ein Bündel Geld fiel heraus, sobald der Vater nach der angepriesenen Flasche griff.
„Hoppala!“, sagte er und legte das Geld zurück ins Fach. „So noch zwei Gläser, dann kann’s losgehen.“
Neugierig geworden verließ der Besucher seinen Platz. „Lässt du deinen Zaster immer einfach so rumliegen?“
„Wer soll da schon dran? Schließlich habe ich hart dafür gearbeitet. Glaubst du etwa, meine Familie würde das wagen? Keinesfalls!“
„Aber was ist mit Einbrechern?“
„Die einfachsten Verstecke sind doch bekanntlich die besten.“ Er füllte die Gläser und schwang herum. „Im Schlafzimmer ist der Kies allerdings besser versteckt.“
Kaum hatte der Vater seinen Satz ausgesprochen, traf ihn eine der hölzernen Buchstützen am Kopf. Er sackte benommen zu Boden, die Gläser zersplitterten neben ihm. Der Besucher schlug erneut zu. Immer wieder, und er brach erst ab, als der Kopf seines Gastgebers im Blut schwamm.
Nacheinander durchsuchte der spätabendliche Gast die Schränke des Wohnzimmers. Wo ein Bündel zu finden war, gab es vielleicht ein zweites. Die Leiche am Boden ließ ihn kalt, doch die blutverschmierte Buchstütze würde er erneut einsetzen können.
„Schauen wir uns doch mal das Schlafzimmer an“, sprach er mit sich selbst. „Und bestimmt habe die Kinder Sparschweine.“
Bewaffnet mit dem klobigen Holz folgte er dem Flur. Vier Türen säumten seinen Weg, das Schlafzimmer fand er sofort. Ohne zu zögern drosch der Fremde auf die überraschte Ehefrau ein. Im gleichen Moment schreckte Susanne hoch. Sie lauschte und öffnete vorsichtig die Tür. Zu oft hatte der Vater sie des Nachts beschimpft, als dass sie ihm nun begegnen mochte. Doch irgendetwas stimmte nicht, das spürte die junge Frau. So leise sie konnte, schlich sie ins Zimmer nach nebenan.
„Wach auf!“ Susanne schüttelte ihren Bruder und legte ihm vorsichtig die Hand über den Mund. „Sei ganz leise“, bat sie ihn.
Überrascht vom nächtlichen Besuch der Schwester schoss der Kleine hoch. „Was ist denn los?“
„Irgendjemand ist im Haus. Komm! Wir müssen uns verstecken.“
Unter dem Bett, hinter Kartons, fanden die zwei Unterschlupf. Da öffnete jemand die Tür und machte Licht.
Seit geraumer Zeit saß Clemens Barsch vor dem Lippstädter Café Einstein und beobachtete die Gäste rechts und links von ihm. Während er lauschte, was sie sich an den Nachbartischen erzählten, suchte er unter all den Gesichtern nach Bekannten. Eine Gruppe aus drei Frauen fiel ihm auf, insbesondere die linke, die gerade ihre Sonnenbrille nach hinten in die Haare schob. Im Grunde hätten die Gläser dort den gesamten Tag über stecken können, denn heute blendete die Sonne niemanden.
„Hallo Clemens! Kann ich dir noch etwas bringen?“
Überrascht schaute er nach oben und blickte in ein von Sommersprossen gezeichnetes Gesicht. Die rothaarige Frau zeigte auf sein leeres Glas, und ohne Anzeichen von Hektik wartete sie geduldig ab.
„Ja. Bitte noch so eine Schorle.“
Sie nickte und wandte sich dem nächsten Tisch zu. Warum sie Clemens’ Namen kannte, er aber nicht ihren, war ihm schleierhaft. Er entschied, das zu ändern, aber nicht heute. Stattdessen schaute er der Bedienung einfach nur hinterher, bis der Dreiklangton seines Handys ihn unerwartet aus seinem Tagtraum riss. Ein Anruf ohne Nummer stellte Clemens unwillig fest und nahm das Gespräch entgegen.
„Clemens Barsch.“
„Hier spricht Ewa!“
Er hob überrascht die Augenbrauen.
„Hallo Ewa. Was verschafft mir die Ehre?“
„Du hast gesagt, du hilfst mir, wenn ich weiß, wo du Artur finden kannst.“
„Genau das habe ich gesagt“, antwortete Clemens ruhig, fast emotionslos.
„Schnapp dir einen Stift und notier’ eine Adresse!“
Ein Griff zur Jackentasche, und schon kreuzte er mit einem Kuli ein X zum Testen auf den Bierdeckel.
„Woher hast du Sokolows Aufenthaltsort?“
„Am Mondschein 7b, hier in Lippstadt“, überging Ewa die Nachfrage. „Wenn du gleich losfährst, kannst du morgen dein Versprechen einlösen. Ich bin bei einer Freundin untergetaucht und melde mich.“
Klack.
Verblüfft realisierte Clemens, Ewa ließ ihm keine Chance für Erkundigungen. Ein Rückruf – unmöglich, er kannte Ewas Mobilfunknummer nicht. Gleichwohl beherrschte er eine andere Zahlenfolge, die galt es anzurufen. Hastig wählte er Torbens Nummer. Beim dritten Freizeichen meldete sich eine kräftige Männerstimme.
„Torben Rether.“
„Hier ist Clemens. Ich brauche deine Unterstützung! Artur Sokolow ist hier in der Stadt.“ Ohne sein Gegenüber zu Wort kommen zu lassen, erzählte er, was Torben in wenigen Sekunden von sich aus fragen würde. „Ich habe den Hinweis von …“ Er zögerte. „Ach – auch egal. Es geht um einen Gefallen. Ich habe halt was gut.“
„Verstehe“, entgegnete der Angerufene wortkarg.
„Können wir uns ‚am Mondschein‘ treffen? In fünfzehn Minuten?“
Torben antwortete nicht sofort, willigte jedoch indirekt ein. „Wie sieht es aus mit Verstärkung?“
„Checken wir zuerst, ob es den Aufwand lohnt. Am Mondschein 7b, in einer Viertelstunde.“
Clemens legte auf und sah auf seine analoge Armbanduhr. Das schwarze Lederarmband platzte bereits an beiden Seiten auf. Doch das machte nichts. Schließlich leistete der Chronometer, was man von ihm erwartete. Er zeigte die Uhrzeit, und jetzt war es kurz vor halb acht.
Als die rothaarige Bedienung an seinen Tisch trat, um die bestellte Schorle auszuliefern, wehten fünf Euro unter dem leeren Glas. Auf die weiße Fläche des Scheins hatte Clemens etwas mit seinem Kuli notiert:
Sorry. Trotzdem danke. C.
Daneben lächelte ein kleiner Smiley.
Die braungestrichene Wellblechhalle besaß keine Fenster, dafür aber zwei große Tore an der vorderen und der dem hinteren Grundstück zugerichteten Seite. Rethers dunkelgrauen Ford hatte Clemens sofort erkannt, nachdem er sein eigenes Fahrzeug in einer der kleinen Seitenstraßen des Industriegebiets geparkt und sich dem gemeldeten Zielpunkt genähert hatte.
„Es ist das Lagerhaus dort drüben.“ Torben zeigte quer über die Straße und begrüßte Clemens mit der freigebliebenen Hand. „Ein Eingang vorne, einer zur Seite. Habe ich bereits gecheckt.“
„Schön, dass du hilfst! Die Halle ist größer, als erwartet“, staunte der Nachzügler. „Misst bestimmt tausend Quadratmeter.“
„Verstärkung ist schnell gerufen“, schlug Torben vor, doch Clemens hielt ihn abermals zurück.
„Was ist mit Fahrzeugen? Irgendetwas Auffälliges?“
„Müssten wir prüfen.“
Vorsichtig schlichen die beiden Männer durch das abendliche Dämmerlicht, betraten das Grundstück durch ein offenstehendes Gatter und betrachteten die zwei dahinter abgestellten PKW. Die ersten, sensibel eingestellten Straßenlaternen sprangen bereits an, doch ihr Licht traf kaum den Grund, auf dem die Fahrzeuge parkten. Torben befühlte die Motorhauben und warf einen Blick in die Innenräume.
„Sind alle beide warm. Irgendwer scheint noch spät zu arbeiten.“
Clemens nickte wortlos.
Das Knarzen der aufschwingenden Seitentür ließ die Männer zusammenfahren, sofort duckten sie sich. Zigarettenqualm stieg in die Luft empor. Die Polizisten erkannten eine Person, zu der sich wenig später eine zweite gesellte und ein Gespräch begann.
„Was reden sie?“, erkundigte Clemens sich, eher rhetorisch als ernst gemeint.
„Viel wichtiger! Ist Sokolow dabei?“
Clemens hob seinen Kopf über die Motorhaube des hinteren Fahrzeugs, an dessen Beifahrerseite sie ihr Versteck bezogen hatten.
„Kann er sein, vielleicht aber auch nicht. Bestimmt sitzt er drinnen und verbucht die Wochengewinne.“
„Und was jetzt?“ Torben wurde ungeduldig, wie er so in gebückter Haltung in seinem Versteck aushalten sollte.
„Pssst! Ich glaube, der eine kommt zu uns herüber.“
Clemens kniete nieder, bemüht, seinen Kopf unten zu halten und nur gerade das Notwendigste auszuspähen. Sein Begleiter dagegen wurde fahrig, ganz entgegen der Anweisung, er möge sich ruhig verhalten.
„Was heißt, er kommt zu uns rüber?“, flüsterte Torben, hob nun selbst seinen Kopf an und erkannte das Unausweichliche. „Verdammt! Verdammt!“, fluchte er aufgeregt. „Was jetzt?“
„Kopf unten lassen und vor allem die Klappe halten“, riet Clemens. „Es ist eine fünfzig zu fünfzig Chance, dass er in das vordere Auto einsteigt und wir unbemerkt seine Abfahrt beobachten.“
„Und ist er unser Ziel?“, ließ Torben sich nicht den Mund verbieten. Er wagte einen erneuten, zaghaften Ausblick und sackte kurz darauf enttäuscht nach unten. „Sokolow ist das nicht!“
Während Clemens sich nun vollends auf den Boden setzte, um stillschweigend auszuharren, fasste er seinen Begleiter ins Auge.
„Ist doch gut!“, flüsterte er. „Haben wir also gute Chancen, Artur im Lagerhaus aufzuspüren. Was hast du dagegen einzuwenden, wenn sich gerade unsere Gegenwehr reduziert?“
Torben seufzte, gleichwohl schärfte er alle Sinne, um die Marschroute des einzelnen Mannes nach zu verfolgen. Jählings stockte beiden der Atem, denn entgegen ihrer Erwartungen lief der Observierte am ersten Fahrzeug vorbei.
Waren sie entdeckt worden? Konnte es sein, dass dieser Mann niemals vorgehabt hatte, mit dem Auto das Grundstück zu verlassen?
Ohne zu zögern, griff Torben nach seiner Waffe im Holster. Sollte es sich um einen von Sokolows Männern handeln, so war mit ihm gewiss nicht zu spaßen. Clemens benötigte einen Augenblick, bis ihm das Handikap der eigenen Situation deutlich wurde, denn auf der Jacke zu sitzen und sich nicht bewegen zu dürfen, verhinderte, an die Pistole zu gelangen. Er schluckte.
Als die Schritte des Mannes verklungen waren und dieser stehen blieb, wussten beide, es trennten sie kaum mehr als einen Meter. Clemens hielt die Luft an, während Torben sich zaudernd nach unten beugte, um unter dem Fahrzeug entlang zu spähen.
Das Klacken der automatischen Verrieglung des zweiten Fahrzeugs klang wie ein Befreiungsschlag. Doch sofort wussten die beiden Männer, nun mussten sie handeln, um unentdeckt zu bleiben.
„Wenn er erst im Wagen sitzt, wird er uns im Beifahrerspiegel entdecken“, raunte Torben. „Los! Komm!“
Vorsichtig krochen sie zur Seite, fanden hinter einem nahegelegenen Abfallcontainer Schutz und verfolgten von dort den Start des Motors. Der PKW verließ das Grundstück.
Torben roch angewidert am Ärmel seiner Jacke, wandte sich um und betrachtete den Ort, an dem sie Deckung gefunden hatten.
„Ehrlich gesagt, dieser Abend verläuft nicht nach meinen Vorstellungen!“, schimpfte er und sicherte seine Waffe. „Fast wären wir aufgeflogen. Zudem stinke ich wie die Pest.“
„Es lief nicht perfekt“, stimmte Clemens zu, raffte sich auf und lief los.
„Das war’s? Mehr fällt dir nicht ein?“
„Komm schon!“, ignorierte Clemens jeden Einspruch.
Die beiden Männer überquerten den freien Platz vor der Lagerhalle und wandten sich rasch zum Seiteneingang.
„Ist verriegelt?“, erkundigte sich Torben leicht außer Atem und noch immer verärgert über den Geruch, der nun an ihm haftete. „Ich hoffe, Sokolows Ergreifung ist dies alles wert.“
„Stell dich nicht so an, ich zahle die Reinigung, und jetzt sei still.“ Clemens betätigte die Klinke, öffnete behutsam die Tür und trat ein. „Sieht gut aus. Komm!“
Im Innern erwartete die Männer ein Gang mit nebeneinander liegenden, beleuchteten Büros. Es roch nach Rauch, sehr süßlich und aufdringlich. Eine Neonröhre flackerte. Ausreichend, um die Anspannung bei den ohnehin nervösen Besuchern weiter zu erhöhen. Schritt für Schritt tasteten sie sich vorwärts, und dieses Mal war es an Clemens, als erster nach der Pistole zu greifen. Torben tat es ihm gleich. Mit vorgehaltener Waffe spähten sie in die Räume hinein, doch außer einem eingeschalteten PC entdeckten sie keinen Hinweis auf menschliche Präsenz.
„Wo kann er sein?“
„Dort!“, wies Torben an und wechselte die Richtung. „Wähle die Toiletten oder den Durchgang zum Lager.“
„Wenn ich ehrlich bin …“, Clemens pausierte und er kam nicht umhin zu lächeln, „überlasse ich dir die Klos. Es passt zu deinem aktuellen Duft.“
„Du kannst mich!“
Die Partner trennten sich, und während Clemens die Tür zum hinteren Teil der Halle aufstieß, war Torben bereits im Männer WC verschwunden. Von den drei Kabinen erweckte die mittlere sein besonderes Interesse, denn das Wasser der Spülung lief ohne Unterlass. Seine Pistole in Vorhalt, trat er gegen die Tür.
Dem Lärm, als sie gegen den Wandstopper prallte, folgte ein metallenes Geräusch, und genau an diesem Punkt wurde Torben klar, er war in eine vorbereitete Falle getappt.
Der außergewöhnlich heftige Knall der Explosion betäubte Clemens die Sinne. Die Kraft der sich daran anschließenden Druckwelle katapultierte ihn auf den kalten Betonboden der Lagerhalle. Benommen suchte er nach Orientierung, sein Blick forschte nach einer Erklärung. Doch er verstand nicht, warum die Tür, die er noch gerade eben passiert hatte, ausgerissen am Boden lag. In seinen Ohren brannte es, und die Augen kämpften gegen ein verschwommenes Bild.
„Torben!“, rief er keuchend seinen Partner um Hilfe. „Was ist passiert?“
Mit einer Hand an die Wand gestützt, die andere nutzend, um sich hochzudrücken, fand er wackligen Halt auf den Beinen. Behäbig und noch immer benebelt, trat Clemens durch den verformten Türrahmen. Ohne den Partner sehen zu können, redete er vor sich hin. Vielleicht hoffte er auf eine Rückmeldung Torbens, doch vermutlich half es ihm selbst, den Körper wieder in Schwung zu bringen.
„Du solltest die Tür sehen!“, keuchte er und schaute sich suchend um.
Humpelnd bog er in Richtung des zerborstenen Sanitärraums ein. Überall befanden sich Trümmer, Wasser war ausgelaufen und dann, dann entdeckte er in einer Unmenge von Blut menschliche Überreste! In genau diesem Moment erkannte Clemens, was sich abgespielt hatte.
„Torben!“
Er röchelte, hustete und wandte sich würgend ab. Während sein Magen rebellierte und sich leerte, verließ er den Ort, an dem sich zuvor die Toiletten befunden hatten. Entkräftet tastete er sich zur Lagerhalle zurück. Tränen liefen Clemens die Wange entlang, Wut und Trauer rangen in ihm.
In was waren sie hier hineingeraten? Vor allem aber, wie hatte man den alten Fuchs Torben derart überlisten können?
Clemens sackte entmutigt auf die Knie, griff verzweifelt nach seinem Handy und wählte die Nummer der Kollegen.
„Clemens Barsch. Schickt einen Streifenwagen! Am Mondschein 7b. Es gab eine schreckliche Explosion.“
Er legte auf, ohne zu wissen, wie es nun weitergehen sollte. Sein guter Freund war an diesem Abend ermordet worden.
Warum? Und vor allem wofür?
Entmutigt und angeschlagen kauerte er sich an eine Wand. Unter keinen Umständen würde Clemens nach nebenan zurückkehren. Seine Pistole entdeckte er einige Meter entfernt. Wie ein stiller Zeuge gab sie einen Hinweis auf die Kraft der Detonation. Die Beine angezogen, die Arme überkreuzt und den Kopf darin vergraben, ließ er seiner Traurigkeit freien Lauf.
Schlagartig wurde er sich Ewas Anruf gewahr.
Du hast gesagt, du hilfst mir, wenn ich weiß, wo du Artur finden kannst.
Er war in die ausgelegte Falle getappt, wie ein angelocktes Tier.
Früher als erwartet, vernahm Clemens Barsch, wie ein Auto auf das Freigelände vor der Halle brauste. Pulsierendes Blaulicht, das von oben durch die kleinen Fenster fiel, bestätigte die Ankunft der Lippstädter Ordnungshüter. Erleichtert, aber zugleich gebrochen, wog er sich in Sicherheit. Frei von jedem Gedanken an den zweiten Mann, den sie draußen mit dem Raucher hatten stehen sehen, erhob er sich, um die Streifenpolizisten auf sich aufmerksam zu machen.
Aus den Augenwinkeln heraus erfasste er einen Schatten. Er drehte sich auf die Seite und starrte auf den Fremden, der seine Pistole vom Boden aufhob, auf ihn zu trat und abschätzig grinste.
„Die Granate war eigentlich für dich bestimmt.“
Clemens wollte antworten, doch der Mann holte aus, um auf ihn einzuschlagen. Ein Schuss löste sich und ihm wurde schwarz vor Augen.
Bereits den gesamten Tag hatte es geregnet, die Wiesen strotzten vor Nässe und das überschüssige Wasser drang tief in den ausgetrockneten Boden ein. Schon bald würde der Mai sein ihm eigenes Erscheinungsbild präsentieren, bestehend aus saftig grünen Pflanzen und aufbrechender Blütenpracht.
Aufmerksam verfolgte Konstantin das Trommelspiel der Regentropfen am Fensterglas. Es fiel ihm schwer, sein Bett zu verlassen, doch für einige Minuten erfreute er sich an den Sturzbächen, die unten auf der Straße in der Kanalisation verschwanden. Mit einem Mal ließ der Niederschlag nach und gleichzeitig Konstantins Kraft. Der Sechzigjährige sackte auf seiner Matratze nieder, sammelte, nach Luft ringend, Kraft und ließ den Raum auf sich wirken, der für eine kurze Zeit zu seinem Zuhause geworden war.
Bett und Schrank bestanden aus schlichtem, dunklem Holz, der Teppich aus fast weißer Schafwolle. An den grob verputzten Wänden hingen drei Deckenstrahler, deren gedämmtes Licht das Zimmer jetzt, wo es dunkel wurde, behaglich ausleuchtete.
Voller Sehnsucht betrachtete Konstantin ein altes Foto, das er vom Kopfkissen aufnahm und liebevoll an sich drückte. Johanna war ihm ein Leben lang eine treue und großartige Ehefrau gewesen. Aber was auch immer das Leben auf seinem letzten Abschnitt für ihn bereithielt, diese Frau würde er niemals wiedersehen. Es war nicht möglich. Und jeder Gedanke daran ließ sich nur allzu schwer ertragen.
Es klopfte.
Konstantin lehnte sich nach hinten, bettete den Kopf aufs Kissen und rückte seine Beine auf die mittlerweile zerknitterte Tagesdecke. Erneut rang er nach Luft. Auch wenn Geduld in seiner Jugend nie zu seinen Tugenden gehört hatte, heute hatte er ausnahmslos Zeit.
„Es ist nicht abgesperrt“, äußerte er irgendwann.
Zögerlich schwang die Tür auf. Die schwarzweiß gekleidete Frau, die zuerst vorsichtig den Kopf durch den Türspalt streckte, genoss Konstantins volles Vertrauen. Nicht zuletzt, weil er in ihren Räumen zu Gast war. Sie trat ein, setzte sich zu ihrem Besucher ans Bett und nahm sich Zeit. Eine Zeitlang betrachtete sie Konstantin, dem das Foto Johannas aus den Händen geglitten war. Die Frau bückte sich danach, und als sie es aufhob, lächelte ihr Gast zaghaft.
„Stellen Sie es bitte ans Fenster“, bat er und räusperte sich. „Sie würde den Ausblick lieben.“
„Das ist ein guter Platz.“ Konstantins Besucherin schaute sich um. „Wenn Sie es wünschen, werde ich die Aufnahme aufbewahren.“
Der ältere Herr beantwortete den Vorschlag nicht. Stattdessen schloss er die Augen, legte die Hände auf seinen Bauch und atmete einige Male kräftig ein und aus. „Wir sollten beginnen.“
Das Badezimmer, das Susanne und Konstantin gewählt hatten, erfüllte zwei Kriterien. Einerseits spendete es, trotz der älteren, teils aufgeplatzten Fliesen, ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Zuletzt auch durch die vielen drapierten und bereits angezündeten Kerzen, die überall im Raum flackerten. Andererseits existierten eine breite Tür und ausreichend Bewegungsfreiheit vor der Wanne. Dies würde Susanne später zugutekommen.
Der Wannenrand gab Konstantin Halt, und er begann, sein Hemd aufzuknöpfen, um sich auszuziehen. Während er beobachtete, wie das Wasser in die Wanne hinter ihm lief, entkleidete er sich vollständig und legte alles auf einer kleinen Truhe übereinander. Susanne setzte sich neben ihn auf den Rand, betrachtete verständnisvoll Konstantins Gesicht, nicht aber, dass er nackt war. Das war völlig unbedeutend.
„Es ist schön warm. Du wirst es mögen.“
Der Mann nickte zuversichtlich. „Dann hilf mir bitte.“
So gut sie konnte, sicherte die Frau ihren Gast und geleitete ihn in das erwartete Entspannungsbad. Nach und nach sank Konstantin immer tiefer ins Wasser. Doch er brauchte Zeit, um sich an die wirklich beachtliche Temperatur zu gewöhnen. Als er seinen Kopf auf den Wannenrand stützte, stöhnte er zufrieden.
„Danke“, äußerte er knapp und zeigte auf das Glas, das Susanne für ihn bereitgestellt hatte. Ohne zu zögern und ohne ein Wort der Missbilligung griff die Frau nach hinten.
„Es schmeckt nach Himbeere“, erklärte sie leise.
Ihr Gast nahm das Getränk und genoss einen letzten Atemzug. Danach setzte er das Glas an und trank.
„Himbeere.“ Er lächelte, wie zur Bestätigung, dann lehnte er seinen Kopf zurück über den Wannenrand.
Noch während Susanne nach dem Glas griff, bemerkte er die aufkeimende Wirkung. Für einen Augenblick fühlte Konstantin sich schwindlig. Eine unsagbare Müdigkeit erfasste ihn, und bevor er die kleine Melodie beenden konnte, die er summte, döste er ein.
Susanne betrachtete ihren Gast schweigsam. Sie krempelte den schwarzen Stoff ihrer Tracht nach oben und fasste seinen Kopf, um ihm liebevoll über die grauen, verschwitzten Haare zu streichen.
„Es ist geschafft“, bestätigte sie. Dann drückte sie ihn behutsam unter Wasser.
Lieber Bruder.
In all den Jahren, die inzwischen vergangen sind, habe ich dich nie aus den Augen verloren. Ich verfolge dein Tun und bleibe dennoch auf Abstand. Zu schwer lastet unsere Kindheit auf dem, was aus uns geworden ist.
Wenn ich dir heute erneut schreibe, so hoffe ich noch immer auf eine Antwort. Was nur macht es dir so schwer, dort anzusetzen, wo unsere einstige Bindung zerbrach?
Deine Schwester.
Das Gebäude aus rotem Klinker und weißem Putz war mit seinen grün gesäumten Fenstern schon weithin als Lippstädter Polizei-Inspektion erkennbar, auch ohne dass es des typisch blauweißen Polizeischilds vor dem Eingang bedurft hätte.
An diesem Morgen herrschte auf der Wache ausgelassene Stimmung. Helene hatte vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden das Licht der Welt erblickt und ihr überstolzer Vater, Polizeimeister Marquardt, präsentierte die ersten Fotos ihrer Geburt.
„Ein schöner Name für ein hübsches Mädchen“, lobte jemand und klopfte dem Kollegen anerkennend auf die Schulter. „Hast du gut hinbekommen.“
„Da wird sich nun so einiges in eurem Leben ändern“, wussten die Frauen hinzuzufügen, die bereits Mütter waren.Und gewiss hatte der neugebackene Papa keine Vorstellung von dem, was sie tatsächlich meinten, ganz gleich, ob es ein wohlwollender Hinweis sein sollte oder arglistig.
Währenddessen wurden die Aufnahmen der kleinen Helene herumgereicht. Diejenigen, die mit dem Polizeimeister häufiger zusammenarbeiteten, griffen zu der Verpackung mit frisch Gebackenem und ließen es sich schmecken. Spendabel, wie heute, erlebten sie ihren Arbeitskollegen selten.
Als Clemens Barsch die Wache am Roßfeld betrat, verebbten die Gespräche der anwesenden Polizisten und Polizistinnen schlagartig. Alle starrten ihn an. Ohne Regung, ohne Anteilnahme. Allein Marquardt huschte überdreht zwischen ihnen hin und her und sammelte seine Handvoll Fotos ein.
„Hallo“, grüßte Clemens knapp, um zumindest irgendetwas zu sagen, anschließend nahm er ohne ein weiteres Wort die Treppe nach oben.
Das Büro wirkte kühl und verlassen. Eine passende Beschreibung der aktuellen Situation.
Irgendjemand hatte Clemens’ Habseligkeiten in einen Karton geräumt und dem Schreibtisch nichts außer Bildschirm, Tastatur und Maus gelassen. Während der Kommissar seinen Blick schweifen ließ, entdeckte er die kleine Gerbera, die bereits durstig den Kopf hängenließ. Gleichgültig griff er zur Wand und löste die gerahmte Fotografie zweier Männer mit Fisch. „Unser bisher größter Fang“, hatte Torben seinerzeit mit Edding unter die Aufnahme geschrieben, und an diesem Tag schmerzte Clemens die Erinnerung an das gemeinsame Angelwochenende wie nie zuvor. Schwermütig rückte er die schwarze Trauerschleife zurecht und befestigte das Foto anschließend an seinem alten Platz.
„Kannst du kommen?“
Überraschend war Hauptkommissar Mörike hinter ihm aufgetaucht. Für einen Moment zeigte der Vorgesetzte Mitgefühl, als er sich auf dem Weg zum eigenen Büro für das Wohlbefinden seines Mitarbeiters interessierte. Nachdem er Kommissar Barsch einen Platz angeboten und die Tür verschlossen hatte, sank die Stimmung jedoch schlagartig.
„Gewalt und Terror im Industriegebiet ‚Am Mondschein‘. Die Schlagzeile der Presse brennt mir noch jetzt im Unterbewusstsein. Ganz zu schweigen vom anschließenden Stress mit dem Staatsanwalt.“
Umständlich öffnete Clemens die obersten Knöpfe seiner Jacke. Er würde Luft zum Atmen brauchen.
„Ich habe dir bereits erzählt, warum wir dort waren“, erinnerte er an sein Verhör am Tag nach Torbens Tod.
„Und ich habe in der letzten Woche die Lagerhalle besucht.“ Mörikes Stimme wurde spürbar lauter. „Ich habe die verfluchten Auswirkungen der Explosion gesehen!“
Clemens vermied es zu antworten.
„Die Analytiker sagen, es war eine russische F1 Granate mit einem effektiven, tödlichen Splitterradius von etwa zwanzig Metern. In der Toilette stand kein Stein mehr auf dem anderen. Dein Partner hatte keine Chance.“
Sofort war vor Clemens’ Augen das Bild nach der Detonation präsent. All die Trümmer, das Wasser und das viele Blut. Er schluckte, sein Hals schnürte sich zu.
„Es war gut, dass du der Beerdigung ferngeblieben bist. Die Stimmung unter den Trauernden war sehr angesäuert.“
„Das Klima unten in der Wache war auch nicht gerade herzlich.“
„Was erwartest du?“ Mörike betrachtete sein Gegenüber ratlos. „Alleingang! Darüber hinaus den eigenen Partner mit reingezogen. Nicht einmal Streifenwagen zur Unterstützung habt ihr angefordert und letztendlich die gesamte Operation vor die Wand gefahren.“ Der Hauptkommissar betonte nun jedes einzelne Wort. „Viel schlimmer geht es nicht!“
„Torben ist tot“, bestätigte Clemens resigniert. „Das wird mich mein Leben lang verfolgen.“
Der Hauptkommissar nickte.
„Was ist mit Artur Sokolow? Dem Grund eures nicht legitimierten Einsatzes.“
„Weiß ich nicht!“, stieß der Verhörte entnervt hervor. „Da war dieser zweite Mann!“
„Nicht Sokolow?“
„Nein! Das hatte ich bereits zu Protokoll gegeben!“
„Du kannst von Glück reden, dass du nur bewusstlos geschlagen wurdest.“
„Was ist mit meiner Dienstwaffe?“
„Offensichtlich hat sich beim Knock-out ein Schuss gelöst. Wir haben eine Kugel in der Wand sichergestellt. Knarre und Mann sind verschwunden.“
Clemens blickte auf und fasste seinen Vorgesetzten ins Auge. „Und was jetzt?“
„Der tödliche Zwischenfall wird Folgen haben! Staatsanwalt Poggengerd kocht, insbesondere nach deinem kaum verjährten Ausraster im Winter. Du hast sämtliche polizeitaktischen Grundsätze missachtet und dich und Rether durch dein nicht korrektes Vorgehen in diese gefährliche Lage gebracht.“
„Ich bin nicht verantwortlich für Torbens Tod.“ Er schlug erzürnt auf den Tisch, der die beiden Männer trennte. „Zumindest nicht unmittelbar!“
Mörike hob resigniert die Schultern.
„Poggengerd lässt derzeit prüfen, ob er dich in den rückwärtigen Dienst versetzen kann. Unabhängig davon, hat er bereits erste berufliche Folgen initiiert.“
„Was meinst du?“
Der Hauptkommissar griff ein Blatt Papier und schob es seinem Kollegen entgegen.
„Dein Schreibtisch wurde geräumt. Deine Versetzung in den Kreis Gütersloh ist unterschrieben.“
Bereits seit den frühen Morgenstunden jubilierten die Vögel in den wenigen verbliebenen Bäumen auf dem gerodeten Gelände am Bertelsweg. Der heute zu erwartende Baustellenlärm würde sie schnell vertreiben, egal, wie schön und melodienreich sie auch trillerten. Wo einst Mais und Getreide gewachsen waren, lag das Land brach und wartete auf den Aushub der abgegrenzten Parzellen. Nicht weit vom Heidewaldstadion entfernt, würden sich zum Jahresende die Neubauten in ihrem Aussehen messen und das einzelne Haus, das schon weit vor der Zeit inmitten der Felder erbaut worden war, stände zweifelsohne als Denkmal sich verändernder Baustile.
Als gegen sieben Uhr die ersten Autos neben den Baucontainern anhielten, flatterte eine Schar Rotkehlchen, Finken und Drosseln davon, um den Menschen für den einsetzenden Tag das Grundstück zu überlassen.
Bauunternehmen Dirkes prangte in großen Buchstaben auf einem hölzernen Schild. Darunter der Zusatz: Wir verwandeln Feld und Flur in Gebäudewohnkultur. Müde quälten sich die eingetroffenen Arbeiter aus ihren Fahrzeugen, doch so lange ihr Polier sie nicht für die anstehenden Arbeiten einwies, blieb Zeit für eine Zigarette. Oder auch zwei.
„Hey Manuel. Wie lange wart ihr gestern noch bowlen?“, erkundigte sich der kleinste der sieben Männer.
„Vielleicht ’ne Stunde.“
„Und was war mit der Blonden?“ Er grinste berechnend, und die Neugier der Kollegen war geweckt. „Hast du sie klargemacht?“
„Red’ nicht so! Wir werden sehen, was passiert.“
Gerade forderten die Zuhörer weitere Details, da schwang die Tür am Container der zweiten Etage auf und ein kräftiger, tätowierter Mann lief zu ihnen über die Metalltreppe nach unten.
„Könnt ihr aufhören und zu mir kommen?“
Ihre Zigaretten endeten am Boden, und die Arbeiter gruppierten sich um den, der auf dieser Baustelle das Sagen hatte.
„Manuel und David. Ihr beginnt mit der Parzelle Ecke Bertelsweg und Kattenstrother Weg.“ Dabei zeigte er in die entsprechende Richtung. „Uns stehen heute nur zwei Raupenbagger zur Verfügung. Vielleicht ändert sich das ab morgen.“
„Was ist los?“ Einer der Kollegen wollte es genauer wissen.
„Wird noch auf ’nem andern Bauplatz gebraucht! Was sonst?“
Der Vorarbeiter nickte. „Was sonst“, wiederholte er murmelnd.
Er wandte sich erneut an sein erstes Team.
„Manuell wird ausheben. Du, David, weist ihn ein und unterstützt mit der Schaufel.“
„Wir übernehmen den zweiten Bagger!“ Jens drängte sich nach vorne und zog den Mann an seiner Seite hinter sich her.
„In Ordnung. Beginnt an der ersten Parzelle zwischen Bertelsweg und Südring. Und nach dem Vorfall der letzten Woche sehe ich nur dich hinterm Steuer.“
„Ist klar“, stimmte Jens lässig zu.
„Bleibt der Job für euch drei.“ Der Polier fasste die verbliebenen Kollegen ins Auge. „Die Grundstücke zur Eichenallee sind noch nicht vollständig vermessen. Darüber hinaus benötigen wir eine zweite Baustellenzufahrt gemäß dieses Plans.“
Er übergab eine auf DIN-A4 kopierte Zeichnung und deutete auf die Bemaßung hinsichtlich der geplanten Einfahrt.
„Na prima“, moserte einer von ihnen, doch seine Arbeitskameraden beachteten ihn nicht weiter.
„Noch Fragen?“ Der Vorarbeiter schlug bedeutungsvoll die Hände ineinander. „Ansonsten ans Werk!“
Es dauerte eine Viertelstunde, bis Manuel den Raupenbagger in die angewiesene Position navigiert hatte. Ab diesem Punkt war die Arbeitsverteilung der beiden Männer für die nächsten Stunden vorbestimmt. Gegen zweiundzwanzig Tonnen Stahl konnte David nicht ankämpfen, und so würde er von außen den Aushub beobachten, die Positionen für die Erdbewegungen bestimmen und Manuel beim Rangieren seines Gefährts einweisen. Er stützte seinen Kopf gelangweilt auf die eine Hand am Schaufelstiel, streckte die andere aus und zeigte mit dem ausgestreckten Daumen nach oben: Die Arbeit konnte beginnen.
Von Zeit zu Zeit verließ David seine sich selbst zugewiesene Position. Dann stocherte er mit der Schaufel durch den stetig wachsenden Berg ausgeschachteter Erde, in dem sich fast jedes Mal ein ausgefallener Schatz entdecken ließ. Eine goldbeschichtete Flasche, eine Sammlung verschiedenster Münzen und sogar eine ältere, noch immer funktionsfähige Spiegelreflexkamera gehörten zu den Dingen, die David in seinem Keller aufbewahrte.
Abermals schwang der mit Erde gefüllte Tieflöffel auf ihn zu. Doch anstatt dieses Mal beiseite zu treten, hob er seinen Arm, um Manuel auszubremsen und seine aktuelle Fundstelle zu untersuchen.
„Warte mal!“, rief er gegen den Lärm des Raupenbaggers an. „Hier ist etwas.“
Manuel nahm es gelassen, arretierte den Ausleger und öffnete das Seitenfenster.
„Glaubst du ernsthaft, du kannst heute etwas Neues für deine Sammlung entdecken?“
„Warte einfach!“
Neugierig durchforstete David den Erdhaufen, während er mit der Schaufel den losen Boden beiseite schob.
„Schade“, rief er sichtlich enttäuscht und hielt einen kleinen weißen Knochen ins Sonnenlicht.
„Was ist das?“, erkundigte sich sein Kollege, der den Fund aus der Entfernung nicht erkennen konnte, durchs Fenster. „Zeig mal.“
„Nur ein kleiner Knochen.“ David sicherte die Schaufel im Erdreich, lief zu Manuel und reichte ihm das Fundstück an.
„Sieht aus wie ein Fingergliedknochen. Vielleicht von einem Huhn oder irgendeinem anderen Vogel.“
Gleichgültig reichte Manuel die Entdeckung zurück, die David ein Stück abseits auf einem großen Stein deponierte.
„Gut. Lass uns weitermachen“, rief er, griff zuerst seine Schaufel, alsdann gab er dem Bagger den Weg frei.
Es folgten zwei weitere Schaufeln voller Erde, da unterbrach David erneut die Arbeit.
„Stopp! Sofort stopp!“, rief er aufgebracht. Um seine Absicht zu unterstreichen, winkte er heftig.
Manuel bremste genervt ab, nicht weil ihn die Unterbrechungen durch seinen Partner in der täglichen Arbeitsvorgabe behinderten, vielmehr weil dieser jede Vorsichtsmaßnahme ignorierte und in den direkten Schwenkbereich einer arbeitenden Baumaschine hastete.
„Bist du völlig verrückt?“, schrie er durchs Fenster, während er gleichzeitig den Notausschalter betätigte. „Was ist los mit dir?“
„Komm mit!“, keuchte David. „Komm einfach mit!“
Aufgebracht hatte David sämtliche Bauarbeiter zusammengerufen. Allen voran ihr Vorarbeiter, betrachtete die kleine Gruppe ungläubig den Erdhaufen. Er selbst kniete sich nieder und befreite eine skelettierte Hand von den letzten Bröckchen Erde, die durch den Einsatz der brachialen Baggerschaufel beschädigt worden, aber noch als solche zu erkennen war.
„Ist die menschlich?“, erkundigte sich Jens, Böses ahnend.
„Natürlich ist sie das!“, erstickte Manuel jegliche Spekulationen. „Ein Affe besitzt nur drei Finger plus Daumen, und bei andersartigen Lebensformen sind die Gliedmaßen nicht derart ausgeprägt.“
„Darfst du die Hand denn einfach anfassen?“, wollte Andreas, der kleinste von ihnen, wissen.
„Sie wird sich nicht wehren“, scherzte David und schaute auf.
„Das meine ich nicht! Was ist, wenn dies hier ein Gewaltverbrechen war? Du verschleierst die Spuren.“
David überlegte einen Augenblick.
„Hast du nie CSI oder Bones geschaut? Wenn es Spuren gab, waren sie an der Haut, nicht an den Knochen. Alles was an Abdrücken auf der Haut vorhanden war, ist vermodert. Etliche Jahre Verwesung haben dafür gesorgt.“
„Aber was ist mit anderen Spuren einer Gewalttat?“ Der Vorarbeiter beugte sich vor, um die Hand besser betrachten zu können. „Vielleicht zertrümmerte Knochen?“
„Eine gebrochene Hand lässt dich nicht sterben, und was zu den lebenswichtigen Körperteilen gehört, liegt noch dort unter der Erde.“ Manuel war ebenfalls interessiert näher getreten, zeigte nun aber nach unten auf das ausgeschachtete Loch und die Stelle, an der er beim letzten Arbeitsschritt seinen Baggerlöffel angesetzt hatte.
„Rufen wir die Polizei!“, schlug ihr Vorarbeiter vor, während er sein Handy aus der Tasche befreite. „110 oder welche Nummer ist in so einem Fall richtig?“
„Ja. 110 ist heute die einheitliche Servicenummer“, bestätigte Jens. „Ruf an!“
Mit mulmigem Gefühl im Bauch wandte der Polier sich ab, um zu melden, was sie gefunden hatten.
Über eine Stunde war vergangen, bis zwei Polizisten ihren Streifenwagen seitlich des Bertelswegs parkten und sich von Manuel und seinen Kollegen die ausgegrabene Hand zeigen ließen. Offensichtlich hatte es in der Kreisstadt wichtigere Vorkommnisse gegeben, als die Freilegung alter Knochen.