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Gütersloh im Sommer 2013. Für gewöhnlich recherchieren Sarah Berger und Ahmet Yilmaz als Team. Nicht so dieses Mal. Während sich die Kommissarin für eine Woche auf Weiterbildung nach Hameln begibt, wird sie vom Leiter der Schulungsakademie um Unterstützung gebeten. Dessen Sohn verursachte einen Unfall mit Todesfolge. Die Tatumstände sind mysteriös und der Fall von offizieller Seite viel zu schnell abgeschlossen. Doch ehe Sarah sich versieht, gerät sie in eine Falle und ihre Hilfsbereitschaft bedroht ihr Leben. Zur gleichen Zeit tritt der neue Vorgesetzte, Hauptkommissar Gero Berneiser, seinen Dienst in Gütersloh an. Schnell wird klar, er hat ganz eigene Vorstellungen, wie seine Mordkommission funktionieren soll. Ein heimtückischer Baustellenmord wird zu Ahmets neuem Fall. Nichts Außergewöhnliches, denkt er noch, da erschüttert eine zweite, wesentlich gewalttätigere Bluttat die Stadt. Gemeinsame Indizien verbinden die beiden Fälle. Hauptkommissar Berneiser mischt die Teams und stellt Ahmet eine junge Kollegin zur Seite. Offensichtlich harmonieren die beiden nicht nur beruflich. Der dritte in sich abgeschlossene Fall für Kommissarin Sarah Berger und ihr Team.
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Seitenzahl: 385
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Erasmus Herold wurde 1969 in Bonn-Beuel geboren. Aufgewachsen in Paderborn, wohnt er heute in Stromberg (bei Oelde), ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Datenverarbeitungskaufmann arbeitete er erst in Paderborn, später in Gütersloh.
Seit 2009 schreibt Erasmus Herold Romane. Laut eigener Aussage entspricht die Idee zum thematischen Aufbau seiner Krimis oft persönlichen Interessen, seien es die komplexen Verstrickungen innerhalb seiner Bücher, die lebensnahe Beschreibung seiner Protagonisten oder die Einbindung der Geschichte seiner Heimat Westfalens.
Erasmus Herold ist Mitglied in der Autorenvereinigung Das Syndikat. 2011 wurde Erasmus Herolds Debütroman „Krontenianer - Rendezvous am Bogen“ für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert und erreichte Platz 5. 2015 wurde sein Krimi "Und ich richte ohne Reue" für den Buchpreis nominiert und erreichte Platz 3.
Veröffentlichungen:
2010: Krontenianer – Rendezvous am Bogen
2012: Und ich vergebe dir nicht
2013: Und dein Lohn ist der Tod
2014: Und ich richte ohne Reue
2015: Die Frau am Kreuz
Zusätzliche Informationen und Leseproben unter:
www.ErasmusHerold.de
Für dich
Ausgeklügelt verpackt.
Atem raubend.
Ohne Reue.
Prolog / 03. August 2013 / 22:03
Dienstreise / 14. August 2013 / 17:59
Der Mann vom Foto / 15. August 2013 / 08:10
Die Baustelle / 15. August 2013 / 21:29
Gemeinsam im Team / 16. August 2013 / 08:46
Raus in die Stadt / 16. August 2013 / 12:31
Auszeit / 16. August 2013 / 12:47
Alleine im Wald / 16. August 2013 / 15:53
Verschwiegene Fakten / 16. August 2013 / 16:37
Kumpane / 16. August 2013 / 20:03
Neue Spuren / 16. August 2013 / 21:25
Zeitungsberichte / 17. August 2013
Auf der Spur / 17. August 2013 / 07:01
Analyse / 17. August 2013 / 07:30
Veränderungen / 17. August 2013 / 10:52
Staatsanwaltschaft / 17. August 2013 / 13:19
Zwischenstand / 17. August 2013 / 15:46
Daheim / 17. August 2013 / 17:01
Neue Spuren / 17. August 2013 / 17:43
Jana und Ahmet / 17. August 2013 / 19:57
Details / 17. August 2013 / 20:09
Vorbereitungen / 17. August 2013 / 20:24
Der Lauf der Dinge / 17. August 2013 / 22:10
Das Mädchen / 17. August 2013 / 22:53
Hoffnung für Arno / 18. August 2013 / 07:00
Früh am Morgen / 18. August 2013 / 09:05
Abgeschlachtet / 18. August 2013 / 11:06
Ein Bild vom Täter / 18. August 2013 / 11:51
Stadtmenschen / 18. August 2013 / 12:00
Nicht greifbar / 18. August 2013 / 12:47
Zu Besuch bei Kindern / 18. August 2013 / 12:49
Wasser am Kinn / 18. August 2013 / 13:27
Malte und René / 18. August 2013 / 13:28
Die Macht des Daumens / 18. Aug. 2013 / 13:31
Das Ende des Lebens / 18. August 2013 / 13:33
Wenn ein Taschentuch hilft / 18. Aug. 13 / 14:06
Im Innern des Schrankes / 18. Aug. 2013 / 14:43
Kreispolizeibehörde / 18. August 2013 / 14:31
Abbruch / 18. August 2013 / 14:36
Birkholz muss helfen / 18. August 2013 / 14:43
Seid gut zu den Kindern / 18. Aug. 2013 / 15:22
Zweisam / 18. August 2013 / 15:29
Aufbruch / 18. August 2013 / 16:10
Von Abteil zu Abteil / 18. August 2013 / 16:26
Vorverlegt / 18. August 2013 / 17:41
Daheim / 18. August 2013 / 18:07
Doppelter Einsatz / 18. August 2013 / 18:32
Ganzer Einsatz / 18. August 2013 / 18:43
Geständnis / 18. August 2013 / 19:57
Die drei Morde / 18. August 2013 / 19:59
Unerwartet / 19. August 2013 / 08:12
Auf und davon / 19. August 2013 / 09:25
Angelehnt an einen anthrazitfarbenen Gartenstuhl, beobachtete Reinhard die Gruppe der geladenen Hochzeitsgäste. Unabhängig vom glasigen Blick, den ihm die reichhaltige Auswahl alkoholischer Getränke bereitet hatte, war es ein guter Tag gewesen: traumhaftes Wetter, harmonische Trauung, dazu eine wunderschöne Braut. Er erhob sein Glas und prostete dem Bräutigam zu.
„Felix, du bist ein echter Glückspilz, und das nicht nur aufgrund deiner Namensherkunft.“
„Danke Reinhard. Danke für all deine Hilfe und Vorbereitung. Und natürlich, weil du mein Trauzeuge geworden bist.“
„Dafür sind Freunde da!“
Reinhard schwankte, wandte sich dem Beistelltisch rücklings zu und deponierte das halb geleerte Sektglas auf sicherem Terrain. Als er in seine Ausgangsposition zurückkehrte, stand Josephine, die Braut, vor ihm und lächelte ihn breit grinsend an.
„Wofür genau sind Freunde da, mein lieber Reinhard?“
Er stutzte, erhielt einen Kuss auf die Wange und taumelte abermals.
„Hey, hey! Das wird dich doch nicht gleich umhauen!“
Sowohl Felix als auch Josephine griffen stützend nach ihrem Trauzeugen. Reinhard griente und taxierte Josephines blau strahlende Augen.
„Keine Sorge! Weswegen hatte ich den verdient?“
„Du bist immer für uns da gewesen. Seit der Grundschule dem Felix ein Freund und Wegbegleiter, seit dem Studium auch mir.“
Felix drückte Reinhard die Hand, anschließend richtete er dessen verrutschtes Einstecktuch neu aus.
„Mal etwas anderes“, wechselte der Gastgeber das Thema. „Was ist eigentlich mit dir und Marie?“
„Genau!“, bestärkte die Braut. „Gibt es Pläne bei euch?“
„Ihr meint heiraten?“
„Natürlich!“
„Ehrlich gesagt“, Reinhard blickte sich forschend um. „Bis heute Morgen war ich mir nicht sicher, ob ich schon bereit dafür bin.“
„Aber?“, bohrte Josephine.
Reinhard trat einen Schritt nach hinten. Mit beiden Händen zeigte er auf Braut und Bräutigam. „Wenn ich euch zwei anschaue, ich glaube, Marie wäre eine tolle Gemahlin. Das, was der Pastor heute Morgen über die Gemeinschaft und das Miteinander erzählt hat ... es hat mich sehr berührt.“
In diesem Moment öffnete sich eine Menschentraube, Partygäste, die auf der Terrasse standen und den Zugang zum Haus versperrt hatten. Heraus trat Marie, lächelte unschlüssig und zerrte verlegen an ihrem kurzen, weit oberhalb der Knie abschließenden Kleid.
„Seht sie euch an!“, strahlte Reinhard. „Wäre ich nicht ein Ochse, wenn diese Frau nicht eines Tages die Mutter meiner Kinder würde?“
„Männer!“, stöhnte Josephine gekünstelt, hob ihren Arm und winkte Marie zu. „Wir sind hier drüben!“
Ohne zu zögern, trat die schwarzhaarige Frau auf das Hochzeitspaar zu und schmiegte sich sogleich an Reinhard.
„Na, mein Kleiner?“, neckte sie ihren Freund, und zum zweiten Mal innerhalb einer Minute kassierte der Trauzeuge einen Kuss auf die Wange.
Dann schlüpfte Marie aus ihren hochhackigen Schuhen und stellte sich barfuß neben ihn.
„So gefällst du mir auch gut“, gestand er. „Auge in Auge.“
„Woher hast du nur diese Schuhe? Ein wahrer Traum in Schwarz!“
„Danke Josie.“
„Ein echter Männertraum“, bestätigte auch Felix und erhielt einen Schlag von seiner frisch Angetrauten, mitten auf den Bauch.
„Du solltest nur Augen für mich haben!“, stichelte Josephine.
„Darum geht es nicht! Du hättest die männlichen Gäste beobachten sollen, als Marie gerade über die Terrasse gelaufen kam. Ich habe es!“
Marie errötete.
Josephine küsste Felix versöhnungsvoll. Reinhard küsste Marie. Dann lachten sie.
„Es wird Zeit für uns zu gehen“, beschloss Marie.
„Jetzt schon?“ Die Braut schaute zur Uhr. „Es ist gerade einmal zehn.“
„Reinhard hat definitiv genug.“ Sie legte ihren Arm um dessen Taille, gab ihm einen weiteren Kuss auf die Wange und warf ihm den alles fragenden Blick zu.
„Ich kenne diesen Gesichtsausdruck!“ Feixend schaute der Trauzeuge die Freunde an. „Aber ich sage euch, mein Abend ist noch nicht zu Ende.“ Und kassierte dafür einen Kneifer in seinen Bauchspeck.
„Au!“, schrie er gespielt auf. „Warte doch mit der harten Tour bis zu Hause.“
„Du kleiner Spinner!“, lachte Marie. „Kleiner, besoffener Spinner.“
„Und ich brühe euch einen Abschiedskaffee. Möchtet ihr?“
Reinhard hielt Felix am Arm zurück. „Danke und zweimal nein. Wir werden laufen.“
Er schaute zu Marie.
„Natürlich laufen wir! Meine armen Füße freuen sich auf etwas Bewegung. Außerdem wird es helfen, ein wenig auszunüchtern.“
Marie küsste Reinhard innig.
„Hier sind Gäste!“, unterbrach Josephine. „Beherrscht euch bis später.“
„Sicher, dass ich kein Taxi rufen soll?“, hakte Felix nach. „Bis Ortsteil Oester sind es ein paar Kilometer.“ „Eine warme Sommernacht. Da machen drei, vier Kilometer nichts aus.“ Reinhard löste seine Krawatte und verstaute den Binder in der Jackettasche. „Danke, es ist gut, so wie wir es geplant haben.“ Nacheinander verabschiedeten sich Marie und Reinhard von den geladenen Gästen, zuletzt drückten sie das Hochzeitspaar und traten kurz darauf den Heimweg an.
Arm in Arm, dazu gut gelaunt, schlenderte das junge Paar die Bundesstraße 513 entlang. Der Alkohol hatte Spuren hinterlassen, doch ein Spaziergang an der frischen Luft half, klare Gedanken zu finden und den Körper zu beflügeln.
„Ein tolles Paar ...“, begann Marie irgendwann die Stille zu durchbrechen. „Felix in seinem Nadelstreifenanzug und Josephine in ihrem weiß funkelnden Kleid.“
Reinhard blieb stehen und hielt Marie bei der Hand.
„Früher hätte ich mir so etwas für mich ... für uns ... niemals vorstellen können.“ Seine Stimme versagte, er schluckte. Dann kniete er vor seiner vollends überraschten Freundin nieder. „Ich würde dich gerne in so einem Kleid sehen!“
„Reinhard!“, Marie fuhr zusammen, nahm eine Hand vor den Mund und strahlte. „Machst du mir etwa gerade einen Antrag?“
„Ja“, bestätigte er leise. „Möchtest du meine Frau werden?“
„Selbstverständlich“, rief sie laut und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Sie beugte sich nieder und küsste die Stirn, die Wange und schlussendlich die Lippen ihres Freundes. Ausgiebig. Immer wieder.
Mit einem Mal erhellten Scheinwerfer die in Mondlicht getauchte Hauptstraße. Mehrere Pkws näherten sich. Die Fahrer hupten ausgelassen, hinter den Fenstern grölten Jugendliche.
„Hörst du? Sie feuern uns an!“, flüsterte Reinhard grinsend, fasste nach dem Saum von Maries kurzem Kleid und hob ihn an.
„Keinesfalls hier!“, zügelte sie ihn. „Nicht umsonst heißt es: home sweet home. Gedulde dich.“
Reinhard stand auf, umarmte Marie und schaute gen Himmel. „Was für eine herrliche Nacht! Wir haben fast Vollmond.“
Marie deutete in Richtung Norden. „Schau, der Große Bär und da drüben leuchtet das Himmels-W.“
„Sie beschützen uns und weisen den Weg.“
„Das wahrscheinlich nicht“, gestand Marie ein. „Aber dank klarem Himmel reicht das Licht für den Heimweg. Los, lass uns weiterziehen!“
Mehr als die Hälfte der Wegstrecke lag inzwischen hinter ihnen. Einen Fuß vor den anderen setzend, folgte das Paar ausgelassen der seitlichen Fahrbahnmarkierung, die im Dunkeln fluoreszierte. Noch immer trug Marie ihre Schuhe an den Fingern baumelnd und lief barfuß, während Reinhard sich seines Jacketts entledigt hatte, das nun locker über der Schulter baumelte.
„Lass uns eine Pause einlegen“, bat Reinhard. „Ich muss verschwinden.“
„Wohl doch zu viel Bier und Sekt getankt?“
„Zu viel?“, wog er ab. „Keinesfalls! Aber ich bin wenig ausgetreten. Bitte gib mir zwei Minuten.“
„Bäume gibt es für euch Männer an den Hauptstraßen bekanntlich genug. Beeil dich, ich will heim!“
„Bin gleich zurück.“
„Falls ich halten soll ...“, rief Marie Reinhard hinterher und lachte.
Sie stellte ihre Schuhe zu Boden, parallel neben die Fahrbahnmarkierung, und betrachte frustriert die eigenen Fußsohlen. „Schwarz zu Schwarz“, fluchte sie.
Abgelenkt vom gerade erhaltenen Heiratsantrag und in Vorfreude auf die eigene Hochzeit, kniete sie nieder, um in ihre Schuhe zu schlüpfen. Unbekümmert ignorierte Marie den wachsenden Lichtpegel des sich nähernden Autos, ebenso dessen Fahrgeräusche. Erst als der Wagen vollends aus der vorausgegangenen Kurve schoss, schreckte die junge Frau auf. Zu erkennen, wie unberechenbar der nahende Geländewagen über die beiden Fahrspuren schaukelte, war einfach, dem Monster aus Stahl und Gummi zu entkommen, unmöglich. Wie ein Geschoss donnerte der überdimensionierte Beifahrerspiegel des Land Rovers gegen Maries Kopf. Brutal getroffen schlug die Frau beiseite, nicht einmal für einen Aufschrei blieb ihr Zeit. In hohem Bogen schleuderte Marie auf den Graben zu, als Reinhard fassungslos aus dem Dickicht trat.
„Marie!“, schrie er ungläubig auf. „Das kann nicht sein!“
So schnell seine Beine ihn trugen, hechtete er auf seine Freundin zu, die regungslos im Gras liegen blieb. Die Bremslichter des Geländewagen flammten auf, die Räder hatten blockiert. Auf die Vollbremsung folgte der Geruch von verbranntem Gummi.
„Marie! Marie!“
Reinhard hockte sich nieder. Hilflos tastete er über Arme und Beine, wischte ihre Haare beiseite und befühlte Maries Gesicht. Die linke Geschichtshälfte begann bereits, sich zu spannen und dick zu werden. Ein hilfloser Blick über die Schulter, noch immer war niemand aus dem Geländewagen ausgestiegen. Der Innenraum blieb dunkel und verbarg seine Insassen.
„Was haben Sie getan?“, schrie Reinhard mutlos. „Wir brauchen Hilfe!“
Er legte seinen Arm unter Maries Kopf und bemerkte, wie sie nach Luft rang.
„Gut, Marie!“, rief er. „Kämpfe! Alles wird gut.“
In diesem Moment verlosch das kräftige Rot der Bremsbeleuchtung, und der Rover rollte vorwärts.
„Nein! Bleiben Sie hier!“, flehte Reinhard, doch der Wagen beschleunigte und verschwand binnen Sekunden.
Unruhig wippte der hilflose Mann mit seiner regungslosen Freundin im Arm vor und zurück.
„Denk nach, denk nach!“
Er zuckte zusammen, als Marie hustete und Blut spuckte. Tränen schossen in sein Gesicht, doch er musste Haltung bewahren, für seine Freundin und für sich selbst. Nur wenn er einen klaren Kopf behielt, war diese Situation zu meistern.
Den grausamen Spaziergang von heute Abend werden wir bis nächsten Sommer vergessen haben, wenn wir in freudiger Erwartung vor den Traualtar treten.
Endlich besann Reinhard sich seines Handys, griff zur Hosentasche und kramte das Telefon hervor.
„Ein paar Minuten, dann ist der Rettungswagen hier“, flüsterte er zur Beruhigung.
Die Anzeige seine Smartphones suggerierte etwas anderes.
Kein Netz vorhanden.
Unzufrieden über die Leistungsbewertung des heutigen Tages, stand Sarah Berger am Fenster ihres kleinen Zimmers und schaute ins Freie auf die vor Grün strotzenden Liegenschaften hinter dem Trainingsquartier. Dem Sommer mit seinen milden Abenden war es gelungen, einige Hasen aus ihren Bauten hervorzulocken, die sorglos umherhechteten und miteinander spielten. Unvermittelt dachte Sarah an Curly. Ja, sie vermisste die kleine Hundedame, die ihr in den letzten Monaten ans Herz gewachsen war.
Sarah mit Hund. Eine befremdliche Situation, die die brünette Frau sich früher nicht einmal im Traum hätte vorstellen können.
Die Kommissarin öffnete das Fenster, anschließend richtete sich ihr Augenmerk auf den Einband der Schulungsunterlagen: Analytische Spurensuche – die Handschrift der Täter.
Zögerlich öffnete sie den Ordner und blätterte zu den Wiederholungsaufgaben von Tag Drei.
Noch vier weitere Tage, dann geht es endlich heim, wog sie hin- und hergerissen ab. Einerseits begeisterten Sarah die bemerkenswerten Methoden, die sie und die anderen Kursteilnehmer bisher vermittelt bekommen hatten. Andererseits verspürte sie Sehnsucht nach Gütersloh, freute sich auf Curly und ihre Freunde.
Frustriert griff sie ihr Smartphone, das vorhin in Hektik liegen geblieben war, und überprüfte, wer versucht hatte, die Polizistin in ihrer Abwesenheit zu erreichen. Zwei Anrufe von Ahmet vor einer halben Stunde, darüber hinaus eine unbekannte Nummer.
Offensichtlich schienen die Kollegen sich zu bemühen, die Fortbildungsmaßnahme nur im äußersten Notfall zu stören. Gleichwohl, gegen etwas Abwechslung hätte Sarah nichts einzuwenden gehabt. Sie öffnete das Mitteilungsfenster des Handys und verfasste eine Kurznachricht.
Absender: 0172/2811078
Empfänger: 0161/1126921
Uhrzeit: 14.08.2013 / 18:05
Nachricht: Hallo Maren. Hoffe, dir und Curly geht es gut und du hast nicht bereut, eine Woche für meine Hundedame zu sorgen? Das Seminar ist prima. Tätertypologien, Kategoriensysteme und psychologische Profile machen Spaß. Lach nicht! Ich weiß genau, wie du dich gerade kringelst :-) Gruß Sarah
Ein kurzer Piepton bestätigte den Versand der elektronischen Nachricht. Anschließend trat Sarah ans Fenster, lehnte sich gegen den Rahmen und genoss die warmen Sonnenstrahlen, die auf ihre Arme trafen. Noch in Gedanken, ob sie vor oder nach dem Abendessen die Übungslektionen abarbeiten würde, klingelte das Telefon. Sie lächelte, denn das Display zeigte ein Foto Ahmets, eine Aufnahme, die sie erst vor wenigen Tagen geschossen und seiner Rufnummer zugewiesen hatte. Sofort nahm sie das Gespräch entgegen.
„Hallo Partner!“
„Hey Sarah. Wie geht es meiner Lieblingskollegin?“
„Es ist einsam. Viele Freaks. Gerade einmal zwei weibliche Kursteilnehmerinnen.“
„Dann hast du reichlich Auswahl!“, scherzte Ahmet.
„Du hörst mir nicht zu. Die meisten sind irgendwie sonderbar, alles so Koryphäen. Wie läuft es in Gütersloh?“
„Du hast die Stadt verlassen. Niemand stirbt, keiner muss um sein Leben bangen.“
„Spinner!“
Ahmet lachte. Seine Partnerin wusste, wie er die kleine Stichelei meinte. Eine Neckerei unter Arbeitskollegen, ein wenig Aufmunterung. Er hielt inne.
„Ist alles okay?“, hakte er nach.
„Der Kurs ist klasse. Es ist erstaunlich, was einem die Toten verraten können. Beispielsweise die Position, in der jemand aufgefunden wird. Der Zustand einer Leiche und deren unmittelbares Umfeld erzählen dir so viel mehr, als du glauben magst.“ Sarah legte eine Pause ein. „Was ist Berneiser für ein Typ?“
„Schwer einzuschätzen“, erinnerte sich Ahmet. „Gestern war sein erster Tag. Der begann mit kurzen Gesprächen, einer nach dem anderen, bei ihm im Büro. Anschließend Lagebesprechung im Konferenzzimmer.“
„Was gab es zu besprechen? Ich dachte, in dieser Stadt passiert nichts, seitdem ich Gütersloh verlassen habe?“
„Stimmt!“, bestätigte Sarahs Partner. „Nach einer halben Stunde waren wir durch und Gero verschwunden.“
„Hauptkommissar Berneiser heißt Gero mit Vornamen?“
„Yep!“
„Und ihr duzt euch seit dem ersten Tag?“ Ahmet antwortete darauf nicht, wartete ab und wechselte das Thema.
„Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst. Ein neuer Chef stellt sich vor, und du bist als Einzige bei seiner Einführung abwesend.“
„Was soll das heißen?“
„Nichts! Aber wer weiß schon, was sich ab jetzt in der Mordkommission ändern wird?“
„Hat er denn Veränderungen angekündigt?“, hakte Sarah forsch nach. „Irgendetwas von ...“
„Alles beim Alten“, fiel ihr ihr Partner ins Wort. „Was soll schon an einem einzigen Tag passieren?“
„Ich kannte Ackermann seit fast zwei Jahren, du noch länger. Wir und er, das war ein eingespieltes Team.“
„Aber die Zeiten ändern sich, und so auch unsere Vorgesetzten. Sollte es in dieser Woche interessante Veränderungen geben, ich halte dich auf dem Laufenden. Jetzt verrat mir doch noch etwas von deinen Kursen. Wie läuft es in Hameln? Du kennst Stefan. Er wird mich morgen ausquetschen. Wehe, ich habe da nichts zu erzählen.“
Sarah verstand Ahmets Seitenhieb auf den Forensiker, doch sie ließ sich nichts anmerken und lächelte in sich hinein.
„Das Institut ist gut ausgestattet. Die Kurse machen Lust auf mehr.“
„Aber?“
Sarah ließ sich einen Moment Zeit, bevor sie antwortete.
„Die Leistungsbewertungen sind brutal. Nicht ein einziges Mal, bei dem ich die maximale Punktzahl auch nur annähernd hätte erreichen können.“
„Vielleicht, Sarah, kommt es darauf gar nicht an. Womöglich liegt die Bestleistung dieser Tests sogar weit unter einhundert Prozent.“
„Kann sein, aber das nervt. Ich denke, ich werde noch eine Runde büffeln und mich über das schöne Wetter ärgern, von dem ich nichts habe.“
„Kombiniere beides und setz dich nach draußen.“
Sarah lachte leise auf, und Ahmet bemerkte, dass ihre Stimmung sich hob.
„Halt durch und zeig es allen! Wenn es Neuigkeiten gibt, melde ich mich.“
„Ist gut“, schloss die Polizistin. „Bis Montag.“
Sie legte auf und platzierte das Telefon neben dem Ladegerät im Regal.
Eine Zeitlang beobachtete Sarah einige der Kursteilnehmer beim Spazierengehen, schaute den zugewachsenen Feldweg hoch und runter, ohne zu wissen, was sie suchte. Irgendwas.
Seit den frühen Morgenstunden zogen Gewitterwolken über Hameln hinweg und tauchten die Kreisstadt in feinen Nieselregen. Wohlwollend würdigte die Kommissarin den Wetterumschwung noch vor ihrem Streifzug zum Frühstücksbuffet. Ein Apfel, eine Banane, dazu reichlich Kaffee, für weitere Nahrungsaufnahme war Sarahs Magen zu Tagesbeginn nur selten empfänglich. Ein letzter Blick aus dem Fenster, danach marschierte sie mit den anderen der aus insgesamt siebzehn Teilnehmern bestehenden Gruppe in den Seminarraum im angrenzen Gebäudetrakt. Endlich ein Schulungstag, an dem Sarah nicht von ihren Sehnsüchten nach einem warmen Sommertag im Freien abgelenkt werden würde, sondern sich vollends auf das angesetzte Kolloquium Forensische Entomologie konzentrieren konnte.
„Wie Sie heute Vormittag gesehen haben, ist es durchaus möglich, anhand der Insektenbesiedelung eines Opfers und der Entwicklungsstadien der verschiedenen Fliegen- oder Käferarten Informationen über die Liegezeit einer Leiche zu gewinnen.“
Der Dozent, der sich zu Beginn der Woche als Herr Bachmann vorgestellt hatte, war groß und hager. Seine Geheimratsecken waren kurz davor, den Kampf gegen die aufbrechende Glatze zu verlieren, doch ungehindert seines eher unscheinbaren Äußeren, hatte Sarah sofort erkannt, mit wie viel Herzblut dieser Forensiker unterrichtete und verstand, wovon er sprach.
„In meinem Kurs geht es nicht darum, Polizisten zu Gerichtsmedizinern auszubilden. Aber wenn Sie ermitteln können, ob der Tatort und der Fundort einer Leiche übereinstimmen, oder ob die Leiche womöglich nachträglich an den Fundort geschafft worden ist, verbessert das Ihre Ermittlungserfolge. Wie immer gilt: Zeit ist bei einer Fahndung der entscheidende Faktor, und Ihr Kriminalanalytiker ist nicht jederzeit greifbar.“
Wie ähnlich sie sich sind, stellte Sarah fest und dachte an Stefan Wagner, ihren Gütersloher Kollegen, der ebenfalls als Forensiker arbeitete. Die Art zu denken, die Außenwirkung auf andere Menschen und die Gleichgültigkeit darüber, wie man ihnen selbst begegnete. Der größte gemeinsame Nenner aber war diese Faszination an ihrem Fach, diese Perfektion und das Streben nach einer glaubhaften Lösung.
Eifrig notierte Sarah die letzten Empfehlungen ihres Dozenten und markierte die anstehenden Wiederholungsaufgaben für die heutigen Abendstunden.
„Wir sehen uns morgen um die gleiche Zeit. Ich bin gespannt auf Ihre theoretischen Analysen. In fünf Fällen haben Sie zu entscheiden, ob die Leichen am Tatort aufgefunden oder an einen zweiten Ort gebracht wurden. Lesen Sie aufmerksam, beachten Sie die Details und die versteckten Hinweise.“ Bachmann lächelte. „Es sind kleine Finessen, die Sie alle auf falsche Fährten leiten werden.“
Er schaute einmal in die Runde und nickte. „Also dann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und bis morgen.“
Die Teilnehmer erhoben sich. Auch Sarah nahm ihre Unterlagen beisammen, um anschließend in das angrenzende Kurszimmer zu wechseln.
„Frau Berger! Haben Sie noch einen Augenblick?“
Überrascht schaute Sarah auf, neugierig auf den Grund, aus dem ihr Kursleiter sie angesprochen haben könnte. Nicht verlegen, trotzdem verunsichert, klemmte die Polizistin ihre braungelockten Haare hinter das rechte Ohr, dann trat sie nach vorne.
„Was gibt es? Probleme?“
„Ich habe keine“, lächelte Bachmann. „Aber unser Dekan würde Sie gerne sprechen.“
„Wieso das?“, hakte Sarah nach, denn sie selbst fand keine Erklärung.
„Hätte er mir den Grund gesagt, ich könnt’s erklären. In diesem Fall kann ich leider nicht helfen.“
Unschlüssig zuckten die Schultern des Forensikers nach oben, schon zeigte er mit dem Arm zur Tür.
„Folgen Sie dem Flur. An dessen Ende die Treppe zwei Etagen aufwärts. Oben angekommen den Gang zurück, das dritte Zimmer rechterhand.“
„Verstehe“, antwortete Sarah. „Und er erwartet mich jetzt?“
„Genau jetzt! Ich wurde angewiesen, Sie nach meinem Kurs zu ihm zu schicken. Das habe ich hiermit getan.“
„Ist gut, danke.“
Die Kommissarin griff ihre Schulungsunterlagen und folgte der Wegbeschreibung.
Wenngleich Menschen von Zeit zu Zeit glauben, an Weggabelungen zu stehen, die große Veränderungen mit sich bringen, so war dies nicht der Moment, an dem die Polizistin erahnte, welche Wendung der Besuch beim Dekan für ihr eigenes Leben bedeuten würde.
Einige eher unbedeutende Korrekturen am Sitz von Stoffhose und Bluse, mit den Fingern ein, zwei Bahnen durch die Haare gestrichen, diese Aktivitäten genügten Sarah, um sich für das unvorhergesehene Gespräch mit dem Verantwortlichen der Akademie vorbereitet zu fühlen. Sie klopfte, danach trat sie ohne abzuwarten ein. Das Büro war verlassen, niemand erwartete sie. Irritiert prüfte sie das Türschild. Kein Zweifel, das Büro des Dekans.
„Einen Augenblick, bitte! Treten Sie ruhig ein.“
Noch während Sarah nach der Stimme Ausschau hielt, die eindeutig von innen aus dem Zimmer erklungen war, öffnete sich eine zweite Tür, die das Büro des Dekans mit einem angrenzenden Raum verband. Der Mann, Mitte fünfzig, der auf Sarah zutrat, wirkte selbstsicher und zielstrebig. Sein kräftiges dunkelbraunes Haar berührte den dunklen Blazer, den er trug. Seine edle Jeans samt den schwarzgelackten Schuhen vervollkommneten einen Eindruck von Geld.
„Robert Meierling. Herzlich willkommen!“ Erwartungsvoll streckte er ihr seine Hand entgegen.
„Guten Tag, Sarah Berger“, grüßte die Kommissarin zurückhaltend und beantwortete den Handschlag.
„Bitte setzen Sie sich.“
„Das mache ich gerne“, bestätigte Sarah und legte ihre Schulungsunterlagen auf einer Kommode neben der Eingangstür ab „Ich bin gespannt, worüber Sie mit mir reden möchten.“
Der Dekan geduldete sich, bis die Kursteilnehmerin Platz genommen hatte.
„Lassen Sie mich wie folgt beginnen. Ich habe mir Ihre bisherigen Kursergebnisse angesehen. Seit einer halben Woche sind Sie bei uns, also Bergfest, wie wir gerne in der Mitte unserer Weiterbildungsmaßnahmen sagen.“
Sarah schwieg und wartete ab, worauf der Leiter der Fachhochschule abzielte. Hinter ihm an der Wand hingen verschiedene Bilder, etliche mit Landschaftsaufnahmen, andere mit Sportwagen, überwiegend englischer Herkunft. Nur eine einzige Aufnahme zeigte das Foto eines jungen Mannes, der inmitten eines Waldes sein Zelt aufgeschlagen hatte. Ein Zeitlang redete Meierling weiter, ohne dass Sarah einen echten Grund erkannte, aus dem er sie her zitiert haben könnte, dann unterbrach sie ihn.
„Entschuldigung.“
Der Fachhochschulleiter stutzte, stoppte aber sogleich.
„Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Sie mit jedem Kursteilnehmer die Zwischenergebnisse besprechen. Also tun Sie uns beiden einen Gefallen und kommen wir doch sofort zu dem Grund unseres gemeinsamen Treffens.“
Mit versteinerter Miene beäugte der Dekan seinen Gast. Überraschend beugte er sich nach vorne, fast als wolle er aufstehen. Seine Mundwinkel gingen nach oben, und nun, da er Sarah beobachtet hatte, da grinste er.
„Sehr schön“, äußerte der Dekan, stützte seine Hände am Schreibtisch ab und drückte sich zurück in seinen Lehnstuhl. „Das gefällt mir.“
„Nun gut“, akzeptierte Sarah, während sie ihre Sitzposition wechselte. „Warum bin ich hier?“
Der Dekan schürzte die Lippen. „Ich benötige Ihre Hilfe, Ihre polizeiliche Hilfe.“
„Aha.“
„Vorgestern Abend ist ein großes Unglück geschehen, ein Unfall an der Fischbecker Landstraße, Orts einwärts in Richtung Hameln.“
„Wieso sollte das eine Gütersloher Kommissarin interessieren?“ Sarah schaute Meierling in die Augen, anschließend kreiste ihr Blick erneut über die Bildersammlung hinter ihm. „Ich bin unterwegs auf Weiterbildung: Analytische Spurensuche.“
„Natürlich weiß ich, warum Sie hier sind. Trotzdem könnte ich qualifizierte Unterstützung gebrauchen.“
Sarah dachte nach.
„Warum ich? Warum nicht die Polizei aus Hameln?“
„Ehrlich gesagt, geht es mir nicht speziell darum, dass Sie ermitteln. Viel wichtiger ist mir, dass die Untersuchung nicht von der ortsansässigen Polizei durchgeführt wird.“
„Wieso?“
„Interessenkonflikt!“ Der Dekan ließ das Wort mehrere Sekunden im Raum stehen, bevor er ausholte und erklärte. „Unsere Familie ist in der Vergangenheit mehrmals mit der Stadt Hameln aneinandergeraten. Eine Fehde, die seit Jahren die Gemüter erhitzt. Natürlich habe ich bereits mit Berneiser Rücksprache gehalten ...“
Die Kommissarin, die ihren neuen Vorgesetzten bisher noch nicht kennengelernt hatte, erschrak und fiel dem Dekan ins Wort. „Sie kennen Gero Berneiser?“
„Wir haben zusammen studiert. Zuerst in Berlin, später zum Hauptstudium wechselten wir gemeinsam nach München.“
Und jetzt leiten Sie diese Weiterbildungsstätte. Nicht gerade das große Los, dachte Sarah, doch sie sprach ihre Gedanken nicht aus.
„Worum geht es eigentlich?“
„Es hat einen schrecklichen Unfall gegeben ...“ Sarahs Gegenüber wurde blass. Der liebenswerte, väterliche Ausdruck, mit dem Meierling die Polizistin empfangen hatte, mit einem Mal war er verschwunden. „Ich mache mir große Sorgen.“
„Bitte, erzählen Sie von Anfang an“, bat Sarah. „Und erklären Sie mir anschließend, was Sie von mir erwarten. Schließlich bin ich nach Hameln gekommen, um innerhalb einer Woche einen Kursus zu absolvieren, der mich nicht nur sehr reizt, sondern dessen Durchfallquote darüber hinaus bei nahezu fünfzig Prozent gehandelt wird.“
Meierling lächelte gezwungen. „Berneiser hat mich bereits darauf eingestimmt, dass Sie wissbegierig und strebsam sind.“
„Hat er das?“, hakte die Kommissarin ungläubig nach, unterdessen dachte sie: Ich glaube, es wird Zeit, diesen Berneiser kennenzulernen.
„Vielleicht qualifizieren Sie genau diese Eigenschaften für den Job“, wandte der Dekan ein. „Ich hoffe es zumindest.“
Er rückte von seinem Schreibtisch ab und erhob sich.
„Es geht um Ihren Sohn!“, warf Sarah unverhohlen ein.
Der Schulleiter erstarrte wie vom Blitz getroffen, staunte verblüfft und benötigte Zeit, um über Sarahs Einschätzung nachzudenken.
„Was hat Ihnen den Anstoß gegeben?“
„Eigentlich waren es Kleinigkeiten, Puzzlesteine, die gemeinsam ein Ganzes ergaben. Auf Ihrem Schreibtisch steht ein Bild im Aufsteller.“ Sarah zeigte auf den handelsüblichen Bilderrahmen. „Das schwarze Kondolenzband über der einen Ecke ist nicht zu übersehen. Für gewöhnlich, also in den meisten Fällen, schmücken Männer im Alter über vierzig ihren Arbeitsplatz mit dem Foto der Anvertrauten. Ich erlaube mir diesen Rückschluss, ohne die Person auf dem Foto gesehen zu haben.“
Meierling hob anerkennend die Augenbrauen.
„Aber im Zusammenhang mit dem Bild hinter Ihnen würde das Sinn ergeben.“ Die Kommissarin zeigte auf den jungen Mann beim Campen. „Das alles sind Landschaftsaufnahmen, daneben Ihre Vorlieben für englische Sportwagen. Nur ein Mensch scheint Ihnen wirklich wichtig zu sein, so wichtig, dass Sie sein Foto öffentlich sichtbar jedem zeigen, der Ihr Büro betritt.“
Ein zustimmendes Nicken.
„Eine persönliche Verbindung zu diesem Fall haben Sie selbst ausgesprochen, als Sie zu Beginn anstatt von einem Unfall von einem großen Unglück sprachen. Auch die Abgrenzung durch die Wortwahl unsere Familie zeigt eine enge Verbundenheit zu denen, die Ihnen am Herzen liegen.“
Der Dekan nahm erneut Platz, um mit seiner Erklärung zu beginnen.
„Arno ist zwanzig Jahre alt. Und Sie haben recht, er ist mein einziger Sohn. Seine Mutter starb vor vier Jahren.“ Würdigend betrachtete Meierling das Foto seiner verstorbenen Frau. „Zu Anfang war es nicht leicht für Vater und Sohn. Aber mit der Zeit gelang es uns, einander Freiraum zu geben und das Tun des jeweils anderen zu akzeptieren.“
„Verstehe. Doch irgendetwas ist vor zwei Tagen geschehen?“
„Arno war im Auto unterwegs. Abends. Auf der B 83.“
„Auf der Fischbecker Landstraße?“
„Genau. Und dann, kurz vor dem Ortseingang unserer Kreisstadt, hat er jemanden angefahren.“
„Angefahren?“
„Überfahren“, korrigierte Meierling. „Arno hat einen Menschen übersehen!“
Der Dekan hielt inne und schluckte.
„Wäre er bloß nicht abgehauen.“ Er strich über sein dunkelbraunes Haar. „Nur wenige Minuten später wurde er mit blutverschmiertem Wagen von einer stationären Radarmessanlage geblitzt.“
„Ich bin mir nicht sicher, was schlimmer ist“, entgegnete Sarah rational. „Einen Menschen zu überfahren, oder zu flüchten, ohne eine Erstversorgung zu übernehmen.“
„Bitte glauben Sie mir, an diesem Punkt bin ich ganz Ihrer Meinung. Was Arno getan hat, ist unverzeihlich. Aber dessen ungeachtet haben wir alle ein Recht auf faire Beweisführung und gewissenhafte Indiziensicherung.“
„Natürlich haben Sie das!“
„Für die Hamelner Kollegen scheint der Fall bereits nach einem Tag abgeschlossen. Ein Fahrer, ein Toter, ein Beweisfoto.“
„Was stellen Sie sich vor?“ Sarah stand auf, beugte sich vor und stemmte ihre Hände auf den Schreibtisch des Dekans. „Ich habe hier keine Befugnisse. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Sachlage Fragen offen lässt? Ich weiß es nicht.“
Meierling legte seine Stirn in Falten, er räusperte sich.
„Ich war gestern Abend in U-Haft bei Arno. Mein Junge schwört, die Straße sei frei gewesen, kein Mensch weit und breit. Dann rammte er das Opfer aus dem Nichts heraus.“
Meierlings Augen wurden glasig, doch er bewahrte Haltung.
„Er ist doch der Einzige, den ich habe“, schloss er ab.
„Machen wir es so“, lenkte Sarah ein. „Sie tragen mir alle Informationen zusammen, die ich gebrauchen könnte. Den Polizeibericht sowie den Lebenslauf und Werdegang Ihres Sohns. Außerdem Adressen und Telefonnummern von Ihnen, Arno, der Hamelner Polizei. Und unterrichten Sie die Kollegen, damit es keinen Interessenkonflikt gibt. So. Für mich wird es Zeit, wenn ich noch einen Teil vom Exkurs Leichen verschwinden lassen mitbekommen möchte. Lassen Sie mir die Unterlagen später zukommen, und ich werde versuchen, Ihnen eine zweite, objektive Meinung zu liefern. Anschließend entscheiden Sie selbst, ob Ihr Junge zu Recht angeklagt wird oder nicht.“
„Das ist fair.“
Auch Meierling erhob sich, reichte Sarah zum Dank die Hand und geleitete sie vorbei an der Kommode zur Tür.
„Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas benötigen.“
„Auf jeden Fall“, und schon entschwand die Kommissarin durch den Flur der zweiten Etage.
Im Treppenhaus griff sie zur Hosentasche, um das stumm geschaltete Telefon auf Anrufe zu prüfen. Das letzte Gespräch hatte Sarah mit Berneiser geführt, kurz nachdem Bachmann sie zu Meierling geschickt und noch bevor sie dort angeklopft hatte. Insgeheim war sie ihrem Hauptkommissar dankbar, dass er sie im Vorfeld persönlich um Mithilfe gebeten und über Meierlings Interesse informiert hatte.
Sarah dachte an die Familienfotos im Büro des Dekans und grinste über den heimlichen Wissensvorsprung.
Kaum hörbar kroch der grüne Opel Insignia über den Splitt der Einfahrt zum Neubaugebiet „Auf der Horst“. Gemäß dem Bebauungsplan der Stadt Gütersloh sollten zwischen Carl-Bertelsmann-Straße und Sundernstraße an die fünfundvierzig Wohneinheiten in Mehrfamilienhäusern sowie Einzel- und Doppelhäuser entstehen. Acht Rohbauten zeugten vom Baubeginn, das restliche Gelände schien vermessen und wartete auf die Regsamkeit seiner Eigentümer.
Langsam und nur mit Standlicht steuerte der Opel den provisorischen Kiesweg entlang, der in einem großen Bogen die Grundstücke miteinander verband. Trotz der aufkommenden Dämmerung benötigte der Fahrer nur wenige Sekunden, um zu erkennen, dass auf drei der Baustellen noch gearbeitet wurde.
Schwarzarbeit!, dachte er grimmig. Oder zu Neudeutsch Nachbarschaftshilfe.
An anderen Tagen hätte er dem Zoll einen anonymen Tipp gegeben, heute war er nicht aus diesem Grund hier. Er parkte sein Auto abseits, stieg aus und drückte zaghaft die Tür ins Schloss.
Drei Baustellen, aber nur eine, die mich interessiert.
Der dunkel gekleidete Mann fasste sein Ziel ins Auge, den ersten Rohbau auf der rechten Seite. Eine Mischmaschine, positioniert im eines Tages entstehenden Vorgarten, drehte unaufhörlich ihre Runden. Aus den Kellerschächten strahlte Licht. Im Erdgeschoss und darüber tanzten Schatten die Wände entlang und bestätigten mehrere Personen im Haus bei der Arbeit.
In gebückter Haltung sprintete der spätabendliche Besucher los, benutzte einige abgeladene Quader Klinker als Sichtschutz und erreichte wenig später den Eingang des Rohbaus. Gehockt hinter einem Stapel Bauholz wartete er ab und gönnte sich den Bruchteil einer Sekunde, um sein heutiges Vorhaben zu hinterfragen.
Der Entschluss steht fest! Ich muss Florian Brink ausfindig machen.
Schweiß rann seine Stirn hinunter. Offensichtlich war die schwarze Montur gut gewählt, um in der Dunkelheit unterzutauchen, für den Monat August war sie zweifelsohne zu warm. Genervt verwischte er mit dem Handrücken die Feuchtigkeit auf seiner Haut, als einer der Arbeiter ins Freie trat.
Vorsichtig, ohne sich zu bewegen, musterte der nächtliche Besucher den Mann, der für eine Zigarettenpause Luft schnappen gekommen war. Sowohl Alter als auch Statur stimmten mit Florian Brink überein, doch er war es nicht. Nun galt es geduldig abzuwarten, bis die Nikotinsucht befriedigt und der Helfer an seinen Arbeitsplatz zurückkehren würde. Aufmerksam lauschte der dunkel gekleidete Gast den Schritten, die bald darauf ins Obergeschoss führten. Alsbald erklang eine Frauenstimme und bestimmte die erste Etage als vorläufigen Aufenthaltsort für Florian.
Der Besucher stand auf und trat an den Eingang des Neubaus, um die Geräusche aus dem Innern weiteren Personen zuzuordnen. Tosender Lärm ließ ihn zusammenfahren. Laut donnernd fielen Hölzer zu Boden, Metall schepperte.
„Florian? Geht es dir gut?“, schrie jemand besorgt irgendwo aus dem Parterre.
Sogleich stürmte eine Frau die Stufen nach unten. „Florian! Florian!“
Ein hastiger Sprung zurück hinter den Holzstapel verbarg den Besucher und verhinderte, gesehen zu werden. Sein Puls raste, er rang nach Luft, doch erst einmal wartete er ab.
„Es geht mir gut! Macht euch keine Sorgen!“, rief währenddessen eine Männerstimme aus dem Keller nach oben. „Dieses dämliche Gerüst ist zusammengebrochen. Nichts passiert!“
Die Minuten verrannen. Zeit, in der die Menschen auf der Baustelle dem Freund und Kollegen im Untergeschoss aufgeregt zur Hilfe eilten, in der umgefallenes Material neu aufgetürmt wurde und zu guter Letzt alle Beteiligten an ihre zuvor ausgeübten Tätigkeiten zurückkehrten.
Na endlich!, entschied der Unbekannte nach ausdauerndem Warten. Florian befindet sich im Keller und der Aufruhr hat sich gelegt.
Ein prüfender Blick zu den anderen Baustellen bestätigte, niemand störte sich an dem, was heute Abend hier geschah. Er sprang auf, rannte zum Eingang und verschwand schnellen Schrittes auf den Stufen nach unten. Jeder Tritt auf der von Wasser befeuchteten Bodenplatte erzeugte tapsende Geräusche, und so schlängelte sich der Eindringling behutsam den Flur entlang, geradewegs auf den Raum zu, aus dem Licht strahlte und der Bohrhammer Staub zur Türöffnung wehte. Wenige Schritt davor blieb er stehen. Ein auf dem Boden abgestellter Werkzeugkasten erweckte seine Neugier. Für einen Moment grübelte er, dann war seine Entscheidung gefallen, niederzuknien, um einen der schwarzmalenden Filzstifte zu entwenden. Achtlos weggeschnippt schoss die Kappe zu Boden, dann skizzierte der Mann zwölf Großbuchstaben an der weißen, unverputzten Wand. Zufrieden betrachtete er sein Werk und überdachte den nächsten Schritt. Als der Lärm des Bohrhammers verstummte, griff er nach einer abgestellte Schaufel.
Das Phänomen der Neugier wird dir helfen!
Schon schleuderte er den Stift in den benachbarten Durchgang, und es dauerte nicht lange, da zeigte seine Provokation Wirkung. Ein staubüberzogener Mann um die dreißig trat heraus.
„Was machen Sie hier?“
„Bauaufsicht!“, entgegnete der Fremde mit der Schaufel selbstsicher. „Sind Sie Florian Brink?“
„Das bin ich“, antwortete Florian verunsichert.
„Gut. Können Sie mir das da vorne erklären?“ Der Eindringling zeigte an Florian vorbei.
Während der eine suchend über seine Schulter schaute, erhob der andere die Schaufel und holte aus. Mit aller Kraft schlug er zu. Der erste Hieb traf mitten ins Gesicht, der zweite vor die Stirn. Blut spritzte und tränkte die weiße Wand voller roter Sprenkel. Florian schrie auf. Nur kurzlebig, dann brach er zusammen.
Aus den oberen Räumen erklang Tumult. Sie riefen nach ihrem Freund und eilten ihm zur Hilfe. Doch während die einen bereits zum zweiten Mal das Treppenhaus nach unten hechteten, entschwand der Eindringling über die frisch gegossenen Außenstufen.
„Korkunç kız!“
„Von wegen, schreckliche Mädchen!“, machten die
Kleinen sich lustig. „Erst einmal musst du uns kriegen!“
„Lanet! Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass ich ...“
Mit Anlauf hechteten Asiye und Nazli unter den Küchentisch, rutschten über den Lenoleumboden und entkamen hinter die Sitzbank.
„Du bist doch bei der Polizei!“, kreischten sie aufgebracht. „Wieso können wir dir immer wieder entkommen?“
„Vielleicht, weil ihr kleine Monster seid!“ Vorsichtig schlich Ahmet an die Bank heran und spähte in die kindgroße Öffnung. „Und jetzt werde ich euch verhaften und mit Handschellen an die Heizung ketten, bis eure Mutter nach Hause kommt.“
„Polizei – Hühnerei. Kriegst uns nicht – kleiner Wicht!“
Schon krabbelten die Mädchen aus dem entgegengesetzten Durchlass und rannten vor Freude kreischend ins Wohnzimmer.
„Sagt nichts über meine Größe“, tadelte Ahmet, während er seinen Nichten folgte. „Napoleon war nicht größer als ein Meter achtundsechzig.“
„Kann sein“, lachte Nazli. „Aber der war auch kein Polizist.“
„Was soll das nun wieder heißen?“ Ahmet brach die Verfolgung ab und fasste die Mädchen ins Auge, die sich nach rechts und links hinter die Wohnzimmersessel aufgeteilt hatten.
„Sie meint“, ergänzte Asiye kichernd, „wenn uns schon ein Polizist unterlegen ist, was hätte diese Napo bewirken können?“
„Ist gut. Dann gebe ich mich geschlagen und lese euch stattdessen eine Geschichte vor.“
Bereit zur Aufgabe hob Ahmet die Arme und grinste.
„Du lachst!“, rief Asiye.
„Das ist doch eine Falle!“, schrie Nazli. „Wir entkommen deiner Kralle!“
„Kralle! Kralle!“, stimmte die Schwester mit ein und wechselte ihren Platz vom Sessel aufs Sofa.
Ahmet verließ den Raum und tauchte kurz darauf mit einem Buch auf.
„Die Feenprinzessin? Bist du jetzt total bescheuert?“
Wie im Gleichklang zeigten die beiden Mädchen ihrem Onkel einen Vogel.
„Wir sind sechs Jahre alt! Denkst du etwa, wir sind Babys?“
„Ich denke, eure Mutter hätte mit einem Kind genug gehabt, aber dann wurden es Zwillinge!“
Überraschend setzte der Kommissar zum Sprung an, hechtete über den Wohnzimmertisch, griff nach Nazli und riss sie mit sich. Als Asiye ihre schützende Deckung verließ, um der Schwester zu helfen, bekam er sie mit der anderen Hand zu fassen. Die Mädchen kreischten, während das Sofa den Sprung Ahmets abfing und alle drei wohl behütet abfederte.
„Es gibt kein Entkommen aus dem Todesgriff!“
„Aber wir sind zu zweit! Eine für beide!“
Impulsiv und ungehemmt trommelten die Nichten auf Ahmets Arm
„Viel Erfolg!“, lachte er. „Dieser Fall ist gelöst!“
Das Zuschlagen der Wohnungstür veränderte alles. Sofort wurden Asiye und Nazli hellhörig, ließen vom Kampf mit Ahmet ab und kuschelten sich wie verliebte Mädchen an ihren Onkel.
„Ich bin wieder da!“, erklärte Sema verwundert, als sie ins Wohnzimmer trat. „Offensichtlich ist mein Bruderherz gut mit euch zurechtgekommen?“
„Wir waren lieb!“, verkündete Asiye knapp.
„Natürlich waren wir das!“, bestätigte Nazli. „Komm! Wir gehen auf den Spielplatz.“
Sie griff ihre Schwester am Arm, dann sprangen die beiden Mädchen auf und verschwanden im Flur.
„Und wie war es wirklich?“ Sema setzte sich neben Ahmet aufs Sofa.
„Sie sind toll. Toll und durchtrieben.“
Sema lachte. „Ich weiß.“
„Aber ich habe gerne nach ihnen gesehen und stehe dir auch weiterhin als Aufpasser zur Verfügung.“
Dankbar legte Sema den Arm um den Bruder. „Du warst heute die Rettung für meinen Arzttermin und die Kinder mit schulfrei.“
Bereit, aufzubrechen, raffte Ahmet die Ärmel seines schwarzen Hemdes nach oben. „Das Revier wartet.“
„Nicht noch einen Kaffee, bevor du fährst?“
„Ein andermal.“
Sema begleitete Ahmet zur Tür, als Asiye und Nazli aus den Nichts auftauchten und sich kreischend an jeweils eines seiner Beine hefteten.
„Du kannst nicht gehen!“
„Wir haben die Geschichte noch nicht gehört!“
„Grüß meinen Schwager“, wandte sich Ahmet an seine Schwester und drückte sie. Dann blickte er nach unten und kreiste die Finger. „Und der Zauberer sprach: Ein großer Kitzel-Hagel möge die Feenprinzessinnen überfallen und sie verjagen!“
Mit aufgerissenen Augen sprangen die Mädchen vom Boden hoch, und noch bevor Ahmet seine Nichten berühren konnte, liefen diese laut krakeelend davon.
Hell und glänzend reflektierte die Fassade der Kreispolizeibehörde das Licht der aufsteigenden Sonne. Gestern noch hatte Ahmet die Fensterputzer belächelt, die zur frühen Morgenstunde verdonnert worden waren, im Nieselregen die weitreichenden Glasflächen zu reinigen. Heute erfüllte ihn eine gewisse Freude, wenn nicht Stolz, über seinen Arbeitsplatz in dem modernen Gebäude entlang der Herzebrocker Straße.
Er parkte den schwarzen Passat am Ende der Straße auf einem der Stellplätze für Angestellte, folgte den Stufen zum Hintereingang und identifizierte sich an der Sicherheitstür mit Chipkarte. Das surrende Geräusch der Schließanlage störte ihn in seinen Gedanken an Asiye und Nazli. Er hing an seinen Nichten, und gleichwohl genoss er es, keine eigenen Kinder zu haben und ohne Verantwortung für andere sein Leben zu leben.
Am Fahrstuhl traf er Stefan, den Forensiker der Dienststelle.
„Morgen.“
„Hallo Ahmet. Gibt es eigentlich Neuigkeiten von Sarah?“
Wie um seine in Vergessenheit geratenen Gedanken zu befreien, schlug sich der Türke gegen die Stirn. „Ich soll dir ausrichten: Die Erläuterungen analytischer Spurensuche begeistern sie. Die Tests sind anspruchsvoll. Und ich soll dich grüßen.“
„Sonst nichts?“
„Nein! Sonst nichts!“
Eine kurze Fahrt, drei Etagen später öffnete sich die Fahrstuhltür und Ahmet betrat den Flur zum Morddezernat.
„Auf bald“, rief Stefan dem Kollegen durch die sich schließende Tür hinterher, doch er erhielt keine Antwort.
Der Kommissar trat an seinen Schreibtisch, blätterte durch die in seiner Abwesenheit abgelegten Kladden, dann schaute er auf und stutzte über das verlassene Großraumbüro.
„Niemand hier außer uns beiden!“
Verdutzt über die wenig vertraute Stimme schwang Ahmet herum und entdeckte Hauptkommissar Berneiser im Türrahmen seines Büros. Nicht sicher, seit wie vielen Jahren der Vorgesetzte den fünfzigsten Geburtstag überschritten hatte, betrachtete er dessen hageres, vom Drei-Tage-Bart geziertes Gesicht, dessen leidlich kurzrasierte Haarpracht und die das Gesamtbild prägenden abstehenden Ohren. Während Berneiser mit der einen Hand über den Oberkörper strich, weißes Hemd und schwarzes Jackett waren voller Krümel, rückte er mit der anderen den dunklen Binder in Form.
„Wo sind die Kollegen?“, erkundigte sich Ahmet. „Gegenfrage. Wo warst du?“
Ahmet zeigte zur Uhr. „Überstunden abfeiern, zwei Stunden.“
„Das meine ich nicht. Überprüf mal dein Handy!“
Der Polizist griff zur Jackentasche und beförderte ein lädiertes, klappriges Mobiltelefon hervor.
„Offline!“, stellte er nüchtern fest. „Das Display ist tot ...“, er wackelte das Gerät hin und her, „... und irgendein Bauteil scheint sich gelöst zu haben. Es klappert.“
Berneiser verdrehte die Augen. „Das ist hier kein Kindergarten, oder? Da vorne am Eingang hängt ein Schild. Mordkommission steht da drauf. Warum verhältst du dich nicht entsprechend?“
„Was kann ich dafür ...?“
„Hör auf!“, erstickte der Hauptkommissar Ahmets Erklärungsversuche. Er legte eine kleine Pause ein, bevor er fortfuhr. „Es gibt einen Toten. Neubaugebiet ,Auf der Horst‘. Inmitten einer Baustelle.“
Ahmet hob die Augenbrauen und horchte auf, einerseits überrascht von der unerwarteten Meldung seines Vorgesetzten, andererseits vom Lärm, als sein achtlos weggeworfenes Handy im Papierkorb schepperte.
„Ich brauche etwas Neues.“
Berneiser schritt auf Ahmet zu. „Wie wäre es, wenn du die SIM-Karte sicherst?“
Mürrisch kniete Ahmet nieder. Logik hatte gewonnen vor Selbstgefälligkeit. Folgsam löste er die Chipkarte vom Elektroschrott und verstaute den Datenträger seiner Rufnummer in der Hosentasche.
„Wenn wir hier fertig sind, gehst du zu Linda Francis und lässt dir ein neues Handy aushändigen.“
„Gerne“, lenkte Ahmet zufrieden ein.
Berneiser verschwand genervt in seinem Büro und kehrte kurz darauf mit dem eigenen Smartphone zurück. „Alle Versuche, dich gestern Abend über die Einsatzleitung zu erreichen, scheiterten. So wie dein Telefon aussieht, auch kein Wunder.“
„Warum bekomme ich nicht so etwas Schickes?“
„Das ist meins!“, grinste der Hauptkommissar. „Dir bleibt die Auswahl bei Linda.“
„Nachdem ich nun offensichtlich der Letzte bin, der nicht über den neuen Fall Bescheid weiß ...“, Ahmet zeigte durch das verlassene Großraumbüro, „... solltest du mir den Sachverhalt erläutern.“
Schwungvoll wischte Berneiser über das Display seines Mobiltelefons, öffnete die Bildervorschau und hielt Ahmet eine Tartortaufnahme entgegen.
„Hat Frau Forn gleich gestern Abend geschossen.“
„Frau Dorn“, korrigierte Ahmet. „Jana Dorn.“
„Ich werde wohl noch ein paar Tage benötigen ...“, bedauerte der Hauptkommissar, „... bis mir alle Namen geläufig sind.“
„Wow!“, rief Ahmet überrascht. „Da hat jemand nicht lange gefackelt.“
Nacheinander zeigte der Verantwortliche des Morddezernats drei weitere Aufnahmen, dann deaktivierte er die Anzeige und betrachtete den Kommissar.
„Das war Florian Brink. Nicht gerade ein appetitlicher Anblick. Die Tatwaffe, eine Schaufel, wurde noch gestern Abend von Frau Dorn sichergestellt.“
Ahmet überlegt. „Was ist mit Zeugen? War Brink alleine auf der Baustelle?“
„Nein, nicht allein! Sie waren zu viert. Zwei Arbeitskollegen und Florians Freundin. Doch niemandem ist etwas aufgefallen. Sie hörten Brink schreien, hechteten ins Untergeschoss und fanden das blutüberströmte Opfer.“
„Der Täter?“
„Verschwunden!“ Berneiser deutete zum Ausgang. „Steig ins Auto, fahr rüber und hilf der Kollegin.“
„Aber ...“, widersprach Ahmet.
„Was soll das? Sarah Berger ist in Hameln, und solange Oren Bührmann krank ist, kann Frau Dorn deine Unterstützung gebrauchen.“
Ahmet schwieg.
„Das ist keine Bitte!“, riet Berneiser. „Noch Fragen?“
Ohne wirklich eine Rückmeldung abzuwarten, kehrte der Hauptkommissar seinem Mitarbeiter den Rücken zu und verschwand im Büro.
Mord im Neubaugebiet, hatte Die Glocke diesen Morgen ihren Erste-Seite-Artikel tituliert, eine Berichterstattung, durch die viele Schaulustige angelockt worden waren. Ahmet parkte den Dienstwagen abseits der Hauptstraße und genoss den kurzen Spaziergang querfeldein über die unbebauten Grundstücke.
„Halt! Bleiben Sie bitte stehen!“, rief unvermittelt jemand hinter ihm.
Ahmet schwang herum und lächelte. Seit zwei Wochen arbeiteten neue Polizeianwärter in Gütersloh, Kollegen, die im Streifendienst praktische Polizeiarbeit kennenlernten.
„Alles gut“, beruhigte Ahmet und griff zur Jackentasche.
„Bitte lassen Sie das! Ich möchte Ihre Hände sehen können.“
Ein ungläubiger Pfiff entwich den Lippen des Kommissars. „Echt jetzt?“
„Es gibt einen Grund für diese Absperrung“, beharrte der junge Streifenpolizist. „Das Gelände ist gesperrt.“