Die Frau des Croupiers - Otto Jägersberg - E-Book

Die Frau des Croupiers E-Book

Otto Jägersberg

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Beschreibung

Kalendergeschichten, Erinnerungsskizzen aus deutscher Vergangenheit, Begebenheiten aus dem Leben von Dichtern, Denkern und Verbrechern, Erzählungen, Kürzest-Essays, Anekdoten, Beobachtungen – Otto Jägersbergs vielgestaltige Prosa ist zugleich hinreißend einfach und lustvoll komplex. Und von einer Präzision, die sowohl poetisch als auch rasend komisch sein kann.

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Seitenzahl: 152

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Otto Jägersberg

Die Frau des Croupiers

Prosa

Diogenes

{11}Mata Haris letzte Worte

{13}Das Brückenexperiment

Man führe eine beliebige Frau, Erika, Christiane, Olga, Doris oder Brigitta, auf ein schwankendes Brückchen hoch über einer tiefen Schlucht, durch die ein Gebirgsbach dahinschießt, halte in der Mitte desselben die Frau an, hefte seine Augen in die ihren und gestehe ihr – nun ja, etwas die Absicht, sie zu verführen, Beinhaltendes, aber glaubhaf‌t muss es schon sein.

Und die Brücke muss schwanken!

{14}Im Gashandel

Am Richtgerät des Granatwerfers. Windrichtung, Luftfeuchtigkeit … nach Angaben von der Front gerechnet, dann das Kommando gegeben … und rein in die Russen … Nichts dabei gedacht … Hurra, auf die Schulter geschlagen, wenn der Frontmann Treffer meldete … Dann selber dran … Heidelberg, Lazarett, Zimmer 164 … Die Krankenschwester war eine Nonne aus Amorbach … Nach der Operation wäscht sie ihn … Drei Tage geht das so … Mein Gott, sie war aber auch eine … Am Mittwoch haun sie beide ab … Später war er im Gashandel … Konnte ja ein bisschen Russisch … Mit der Frau hielt das nicht lange … Aber ins Kloster ging sie nicht zurück.

{15}Inventur

Es ist kein Kraut gegen die Zeit. Lass sie ein Köpfchen aus Prag haben, die Brüste aus Salzburg, ein Pariser Bäuchlein, ein Heidemöslein aus Lüneburg, einen Rücken aus Amsterdam, Hände aus Cornwall, Füßchen aus Peking, einen Berner Hintern, einen venezianischen Gang, ein Hemdchen aus Brüsseler Spitze … Man kommt nicht allem auf die Spur. Die Nacht ist ewig nicht, der Zeiger tickt.

{16}Männer in ihrer Funktion als kleine Jungs

Fußball war früher was für Kinder und ein Saufanlass für Alte. Kein Intellektueller ließ sich im Stadion sehen. Das wurde ab 1965 anders. Walter Jens hatte noch nicht den Mund aufgemacht, da waren Abteilungsleiter des Fernsehens schon auf dem Platz und schrien mit. Sie wählten sich einen Verein, fieberten um sein Stirb und Werde und genossen ihre Solidaritätsgefühle. Von Hellmuth Costard wurde ein Film gesendet, der ein ganzes Spiel lang nur George Best zeigte, damals der beste Fußballer. Er kam bloß drei- oder viermal an den Ball. Allein deswegen ein großartiger Film.

Die Länge eines Fußballspiels wurde zur Richtzeit für den Tatort, und im Vorspann kann man noch heute einen Mann sehen, der scheinbar um sein Leben rennt. In Wirklichkeit läuf‌t er einem Ball nach, nur haben sie den Ball rausgeschnitten.

Was Kindern erlaubt ist, eine Weltnachbildung, ein Symbol für unseren Planeten mit den Füßen zu treten, dürf‌te keine öffentliche Präsenz haben. Es scheint aber, dass für Ausübende und Zuschauer gerade das der Kick ist: ein Ideal mit Füßen zu treten.

{17}Auch aus hygienischen Gründen sollte diesem Unsinn ein Ende gemacht werden. Wir wissen, dass Pubertierende mit dem Spucken ihre Ejakulationsfähigkeit demonstrieren wollen. Die Fußballer in den Stadien aber sind Ausgewachsene! Wie man sich freiwillig in den fürchterlichen sogenannten Arenen oder im Fernsehen die auf den Rasen spuckenden und dann auf der Spucke zu Jubelhaufen rutschenden Spieler oder ihr konfuses Herumlaufen angucken kann, bleibt mir ein Rätsel.

Ganz widersinnig scheint mir auch das Toreschießen. Warum sich die angeblich sachkundigen Zuschauer diese Spielunterbrechungen gefallen lassen, verstehe ich nicht.

{18}Die Fremde im Zug

Wie schön, ein Abteil für sich zu haben. Ich saß am Fenster, schaute ins Land und ließ meine Gedanken wandern.

Dann kam eine Frau und fragte, ob Platz sei. Bitte. Die Luft in den Abteilen ist nicht gut. Nicht weiter schlimm, wenn man allein ist. Sind andere Menschen mit im Abteil, meint man, die Ursache plötzlich zu kennen. Man sitzt nicht mehr entspannt, und die Gedanken sind auch nicht mehr so frei.

Ich möchte mich gern ein wenig hinlegen, sagte die Frau, natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.

Sie war eine unauf‌fällige Frau, sorgsam gekleidet, sprach hochdeutsch, sanfte, angenehme Stimme.

Sagen Sie ruhig, wenn es Sie stört, ich lege mich nur hin, wenn es Ihnen wirklich nichts ausmacht.

Ich sagte, dass es mir nichts ausmachen würde. Sie unternahm aber nichts. Sie saß in der Ecke an der Gangseite und schien mich zu beobachten. Ich überlegte, ob ich ihr anbieten sollte, beim Ausziehen des Sitzes behilf‌lich zu sein.

{19}Ich möchte mir gern die Schuhe ausziehen, es liegt sich dann bequemer, sagte sie, natürlich nur, wenn es Sie nicht stört.

Ich versicherte, dass es mich nicht stören würde.

Sie bedankte sich freundlich. Ich brauche nur ein Wort zu sagen, dann würde sie die Schuhe selbstverständlich wieder anziehen. Ich würde es Ihnen keinen Moment verübeln, sagte sie und begann, den Sitz auseinanderzuziehen. Sie sei auch bereit, sich wieder korrekt hinzusetzen, wenn ich es nur wünsche.

Ich sah aus dem Fenster und hörte, wie sie sich die Schuhe auszog und sich hinlegte. Nach einer Weile wagte ich einen Blick. Sie lag stocksteif da, mit geschlossenen Augen. Durchaus eine hübsche Frau. Schon richtete sie sich wieder auf.

Riechen Sie es auch?

Ich roch nichts.

Fußschweiß, sagte sie, Fußschweißgeruch, ganz eindeutig. Sie drehte den Kopf und schnüffelte nach allen Seiten.

Ihre kleinen Füße steckten in makellosen Seidenstrümpfen, durch die violett die Fußnägel schimmerten.

Nicht, dass Sie meinen, es käme von meinen Füßen, sagte sie.

Natürlich nicht, sagte ich schnell.

{20}Es riecht nur so als ob, sagte sie, es kann nur am Leder liegen. Sie schien ein wenig aufgeregt.

Ich röche absolut nichts, versuchte ich sie zu beruhigen.

Wenn ich es aber doch irgendwann riechen sollte, müsse ich es ihr sofort sagen. Ich versprach es.

Sie legte sich wieder hin und schloss die Augen. Ich konzentrierte mich auf die Wahrnehmungen meiner Nase. Normale Abteilluft.

Unauf‌fällig betrachtete ich sie aus den Augenwinkeln. Sie war schlank, hatte attraktive Beine, trug ein dezentes Kostüm, eine weiße Bluse, ihr Gesicht war rundlich und faltenlos, dunkle, glatte Haare. Sie seufzte. Ich blickte aus dem Fenster.

Dass Leder so nach Fußschweiß riechen kann, hätten Sie das gedacht?

Ihr schien an meiner Antwort zu liegen. Sie richtete sich auf und sah mich neugierig aus großen, dunklen Augen an.

Nein, niemals, sagte ich.

Dann ziehe ich am besten meine Schuhe wieder an, sagte sie.

Aber, ich bitte Sie, ich rieche doch nichts! Es war mir wichtig, sie zu überzeugen. Ich wollte nichts mehr über Fußschweiß hören, sie sollte sich nur wieder hinlegen und die Augen schließen. Vorher musste ich ihr allerdings versprechen, sie {21}augenblicklich zu verständigen, sobald ich den betreffenden Geruch wahrnehmen würde.

Ich hatte keine Freude mehr am Ausblick, ich rieb meine Nase, ich war nervös geworden. Was war nur mit der Frau?

Jetzt lachte sie. Sie hatte sich wieder aufgerichtet und lachte, wobei sie mit der Hand schamhaft den Mund verdeckte.

Eigentlich ist es ja egal, sagte sie, wenn das Schuhleder nach Fußschweiß riecht, ist es ja egal, ob ich die Schuhe anhabe oder nicht.

Ich versuchte zu lachen.

Dann schlafe ich jetzt weiter, das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben?

Nein, sagte ich, wirklich nicht.

Sie legte sich wieder hin. Eine junge Frau, ein wenig zu gepflegt und elegant für solch ein Abteil, sie gehörte eher in die 1. Klasse. Was hatte sie nur mit dem Geruch? Sie schien nicht weiter verwirrt zu sein. Ich war wie ein Anwalt, der wider besseres Wissen seinen Mandanten verteidigt. Meine Mitreisende war bloß ungewöhnlich höf‌lich und empfindlich, geruchsempfindlich, sie hatte lediglich diesen Fußschweißtick. Ich fand beruhigende Erklärungen für ihr Verhalten, trotzdem wurde mir das Abteil enger, ich begann, auf meine Atemzüge zu achten.

{22}Es ist mir peinlich, dass ich Sie schon wieder störe, sagte sie, ohne sich aufzurichten, aber ich würde mir gern den Rock aufhaken, wenn Sie nichts dagegen haben.

Sie drehte den Kopf in meine Richtung, ein Auge war geschlossen, das andere verdeckte eine dichte Strähne ihrer Haare.

Es liegt sich bequemer, wenn ich den Rock aufmache, sagte sie, natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind?

Ich war mir nicht sicher, ob sie mich gehen lassen würde, wenn ich behauptete, gleich aussteigen zu müssen.

Sie haben doch nichts dagegen, fragte sie, gerade als ich die Hand nach meiner Aktentasche ausstreckte. Es kam mir vor, dass sie diesmal lauter gesprochen hatte. Meine Zunge war trocken, ich schluckte, als sei zum Atmen schon zu wenig Luft. Sie würde mir nicht glauben, wenn ich behauptete, aussteigen zu müssen. Ich zog meine Hand von der Tasche zurück, ich war sicher, dass ihr Auge hinter der Haarsträhne geöffnet war und mich beobachtete.

Vielleicht konnte ich meinerseits durch ein ungewöhnliches Ansinnen die Situation entspannen. Ich sagte, bitte, tun Sie sich keinen Zwang an, es ist doch ziemlich heiß hier, auch ich würde mir {23}eigentlich gern den Kragen lockern, natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.

Sie antwortete nicht. Ich zog den Knoten meiner Krawatte auseinander und knöpfte den obersten Hemdknopf auf. Sie reagierte nicht. Ich schloss die Augen und tat, als ob ich schliefe. Dann hörte ich, wie sie die beiden Vorhänge zum Gang vorzog.

Ich möchte nicht, dass man uns so sieht, sagte sie.

Ich wagte nicht, zu ihr hinzusehen. Sie würde mich gewiss genau beobachten und jede Regung von mir ausnutzen, um eine neue Ungeheuerlichkeit vorzubringen. Ich nahm mir vor, jede Äußerung oder Handlung von ihr zu ignorieren. Auch als ich das Knistern vom Herunterstreifen ihres Rockes vernahm, hielt ich krampfhaft die Augen geschlossen und versuchte, mich auf das Rattern der Räder unter mir auf den Schienen zu konzentrieren.

Vielleicht durchfuhren wir eine schöne Landschaft, ich konnte es nicht wissen, weil ich die Augen nicht zu öffnen wagte, und wahrscheinlich waren in dieser schönen Landschaft auch Tiere und Menschen, und wahrscheinlich war alles ganz normal.

So fuhren wir dahin.

{24}Vom Trinken

Wer scharf denkt, muss klug trinken. Wer klug trinkt, denkt gescheit. Wer gescheit trinkt, denkt klug. Wer gut trinkt, denkt viel. Wer ordentlich trinkt, weiß viel. Wer alles trinkt, weiß nichts. Wer rechtschaffen trinkt, wird nicht vom Durst überrascht. Wer richtig trinkt, hat Glück bei den Frauen.

{25}Weniger Licht

Das nur nachts bei totaler Dunkelheit von der menschlichen Zirbeldrüse produzierte Hormon Melatonin regelt den Wach-Schlaf-Rhythmus und hemmt gleichzeitig die Produktion anderer Hormone, die den Menschen nur zu unerwünschtem Herumspringen verleiten würden. Der Melatoninzyklus wird über den Lichteinfall in die Augen gesteuert. Licht, das von einer Straßenlaterne in ein Schlafzimmer fällt, hemmt die Produktion des Hormons. Solche Störungen stehen im Verdacht, zu Fehlfunktionen des Körpers und zu Krankheiten zu führen. Als häufigste Störung ist beim Menschen hier die schlechte Laune anzusehen.

Erste Maßnahmen wären also gegen die übertriebene nächtliche Beleuchtung durch Straßenlaternen, Anstrahlungen von Gebäuden und Geländeteilen (Berge, Gipfelkreuze) zu treffen. Von den Leuchtreklamen gar nicht zu sprechen. Sie sind nach Ladenschluss nur noch als Lichtverschmutzung zu beurteilen und entsprechend zu behandeln (abschalten). Überhaupt ist alles zu hell. Milliarden Insekten müssen sterben, Vögel werden irregeleitet, {26}Igel verstehen die Welt nicht mehr. Und der Mensch liegt schlaf‌los, weiß nicht, warum, und nimmt die falschen Medikamente. Es wird Zeit, dass hier entsprechend durchleuchtet wird. Was zur Entstehung neuer Arbeitsplätze führen könnte. Stellenangebote für Heimleuchter und Lichtbegleiter. Mit Natrium-Niederdruck-Laternen ausgestattete Lichtbegleiter führen auf Wunsch als Heimleuchter durch die nächtlich dunklen Städte und Siedlungen. Ihre Natrium-Niederdruck-Laternen ermöglichen einen sicheren Heimweg und stehen der Produktion des Melatonins in der Zirbeldrüse der Heimgeleuchteten nicht im Wege. Lichtbegleiter gesucht!

{27}Brennholz zu verkaufen

Kommt ein Indianer zum Medizinmann und will wissen, wie der Winter wird. Der Medizinmann nimmt einen Stein, wirft ihn in die Luft, schaut, wie er fällt, und sagt, der Winter wird kalt, sammel Holz. Am nächsten Tag kommen zwei Indianer zum Medizinmann und wollen wissen, wie der Winter wird. Der Medizinmann nimmt zwei Steine, wirft sie in die Luft, schaut, wie sie fallen, und sagt, der Winter wird kalt, sammelt Holz. Am nächsten Tag kommen drei Indianer zum Medizinmann und wollen wissen, wie der Winter wird. Der Medizinmann wirft drei Steine in die Luft, schaut, wie sie fallen, und sagt, der Winter wird kalt, sammelt Holz.

So geht das Tag auf Tag. Immer mehr Indianer kommen zum Medizinmann und wollen wissen, wie sie sich auf den Winter vorbereiten sollen. Immer sagt der Medizinmann, nachdem er die Steine geworfen hat, seinen Spruch, sammelt Holz, der Winter wird kalt. Eines Tages fragt er sich, was rede ich da, woher soll ich wissen, wie der Winter wird, er ruf‌t die Wettervorhersage an, können Sie mir {28}sagen, wie der Winter wird? Kalt, sagt die Wetteransagerin, sehr kalt, die Indianer sammeln wie verrückt Holz.

{29}Ulysses

Der Friseur in Haueneberstein, der sich Panis spärlicher Haare annahm, verlangte Jahr und Tag 7 Euro für das wenige Schnippschnapp. Neuerdings will er 12 Euro, Begründung dubios, wie von einem Politiker, Weltlage, Mindestlohn, Flüchtlinge. Pani fährt durch die Dörfer auf der Suche nach einem 7-Euro-Friseur. In Sinzheim auch nichts zu machen, aber da sieht er beim Aus-Sinzheim-Fahren, Richtung Schiftung, Leiberstung, ein Pappschild: Zu verschenken. Bücher. Das hat er nicht gewusst, dass es in Sinzheim Leute gibt, die Bücher haben. Und er kann’s nicht fassen, Benn, Arno Schmidt, Groddeck, ihm wird ganz schummrig, dann liegt da unter einem Stapel Döblin, alles Erstausgaben, 1946ff., was Blaues, zart Blaues, ein lichtblauer Pappumschlag, nicht gerade sauber, irgendwie seltsam. James Joyce, Ulysses,SHAKESPEARE AND COMPANY, 12RUE DE L’ODÉON, Paris 1922. Zum Mitnehmen. In Sinzheim. Am Straßenrand! Pani kippt um, schlägt mit dem Kopf auf den Asphalt, wird, gehirnerschüttert und ohne Erinnerungsvermögen, ins Krankenhaus geschafft. Erlangt das {30}Bewusstsein, als eine Schwester an seinem Arm zerrt und sagt, nun lassen Sie doch mal endlich die blöde Plastiktüte los! Die hat er nämlich noch im Griff, Joyce’ Ulysses und die andern … Als ihm seine Sinzheimer Bücherfunde wieder einfallen, ereilt ihn ein Schlaganfall … Heute besuchen wir ihn im Pflegeheim. Er sitzt da im Aufenthaltsraum im Rollstuhl, die Bücher aus Sinzheim im Schoß, keine Sau interessiert sich dafür.

{31}Das Ende der Welt

Wer wollte nicht einmal ans Ende der Welt. Kinder besonders. Was gibt’s da zu sehen? Was kommt danach? Robert Walser erzählt von einem kleinen Mädchen, das ans Ende der Welt gehen will. Sechzehn Jahre ist es unterwegs, Tag und Nacht. Nirgends das Ende der Welt in Sicht. Da trifft es im Feld einen Bauern und fragt, können Sie mir sagen, wo das Ende der Welt ist? Gar nicht weit von hier, sagt der Bauer, rechts um die Ecke und dann noch zehn Minuten geradeaus. Und tatsächlich. Da ist es, Zum End der Welt, ein Wirtshaus, in Magglingen, auf 1000 Metern, oberhalb von Biel. Ein Wirtshaus wie nur eines. Das Mädchen hat dort eine Suppe gegessen. Das wollten wir auch. Aber als wir Zum End der Welt kamen, war es zu. Wegen Todesfall geschlossen. Der Wirt sei gestorben, erzählte man uns, kein Nachfolger, Zukunft von diesem End der Welt ungewiss. Aber es gäbe da noch ein Ende der Welt im hinteren oder sozusagen am Ende des Horbistals ob Engelberg, die Suppe sei zu empfehlen (Mo geschlossen).

{32}Mata Haris letzte Worte

Wie interessant sind doch verbrecherische Frauen. Wie viel interessanter noch, wenn das Verbrecherische aus ihrer Verruchtheit mit betörender Konsequenz sich entwickelt zu haben scheint. Mata Hari zum Beispiel. Sie wurde am 15. Oktober 1917 erschossen. Ihre letzten Worte waren: »Ich danke Ihnen, mein Herr.« Das sagte sie zu dem Leiter des Erschießungskommandos, weil er gut aussah und Manieren hatte, dafür hatte sie eine Schwäche. Dann befahl der gutaussehende Offizier »Feuer«, und die angebliche Agentin »H21«, die femme fatale des deutschen Heeres, sank in den Graben des Forts von Vincennes. Der Leiter des Erschießungskommandos wurde ohnmächtig und musste weggetragen werden. Die Leiche Mata Haris wurde der Wissenschaft zur Verfügung gestellt.

Sie war eine erstaunliche Tänzerin, ohne eigentlich groß tanzen zu können. Was sie betrieb, war eine Art Performance zwischen Weihespiel und Striptease. Ein Augenzeuge: »Ihre aufreizenden Stellungen, ihr fieberndes Beben und ihre epileptischen Verrenkungen versetzten sie in eine mystische {33}Verzückung. In den beringten, glänzenden, prächtig gestrafften Beinen zuckten die Muskeln, als ob sie aus der Haut springen wollten.« Aber niemals entblößte sie ihren Oberkörper, niemand bekam jemals ihren Busen zu sehen.

Wir lüften das Geheimnis. »Was die Raserei meines Gatten in unseren Liebesnächten dem Wahnsinn nahe brachte«, erzählt Mata Hari, »war der Gedanke, meine kleinen, straffen Brüste, korinthischen Schalen gleich, könnten von anderen Händen gestreichelt, von anderen Lippen geküsst werden. Lieber reiße ich sie dir aus, murmelte er, indem er seine Finger in meine Brust krampfte.« (Bevor Sie weiterlesen, sollten Sie bedenken, dass Mata Hari Friesin war, sie kam aus Leeuwarden, im Norden Hollands, ihr Name war Margaretha Geertruida MacLeod, geborene Zelle, sie war einmal ein braves Friesenmädchen … Mata Hari war ihr Künstlername, auf Malaysisch bedeutet er: Auge des Tages. Doch weiter:) »Plötzlich, von einer wilden Regung hingerissen, biss er mir die linke Brustwarze ab und verschlang sie. Deshalb habe ich hinfort meinen Körper niemals jemand ganz nackt gezeigt …« Tja, jetzt wissen Sie es!

Als man ihr den Prozess machte, gab Mata Hari zu Protokoll: »Ich liebe Offiziere, ich habe sie immer geliebt. Ich möchte lieber die Mätresse eines {34}armen Offiziers als die eines reichen Bankiers sein.« Einer dieser Offiziere hieß Kalle und war deutscher Militärattaché im neutralen Spanien. Es scheint, dass er sie ans Messer geliefert hat. Sie wurde ihm zu teuer, und als Agentin brachte sie keine wertvollen Informationen, und mit den Offizieren des französischen Geheimdienstes schäkerte sie auch. Obwohl Kalle wusste, dass die Alliierten seinen Code längst geknackt hatten, berichtete er telegraphisch über Mata Hari an den deutschen Konsul in Amsterdam. Kalle nannte dabei den Vornamen des Dienstmädchens von »H21«, ihre Bankverbindung und ihre Adresse in den Niederlanden. Offensichtlich wollte Attaché Kalle, dass die Franzosen die Dreckarbeit machten. Das taten sie dann auch. Der Prozess gegen Mata Hari wurde inszeniert, um vom unnötigen Tod vieler tausend alliierter Soldaten abzulenken, die in den Materialschlachten des Jahres 1917 verheizt wurden. Die Militärs brauchten einen Sündenbock. Wer wäre dafür besser geeignet gewesen als eine berühmte, verruchte Frau?

Ein Fall fürs Kino, von Babelsberg über Paris bis Hollywood.

Greta Garbo spielte Mata Hari, Magda Sonja und Jeanne Moreau. Es war immer schön und sehr verrucht und sehr zum Heulen.

Und nun hat man ihren Kopf geklaut. Mata {35}Hari hat in Paris zum zweiten Mal ihren Kopf verloren. Das Haupt der hingerichteten Spionin ist aus dem Museum für Anatomie, in dem hundert konservierte Köpfe von Hingerichteten aufbewahrt werden, verschwunden. Bisher konnte der makabre Diebstahl nicht aufgeklärt werden.

Jetzt, erfahren wir, soll Mata Hari in ihrem Geburtsort Leeuwarden ein Museum eingerichtet werden. Museologisch schwierig, denn alles, was Mata Hari besaß, ist verschwunden.

Aber ein »kopf‌loses« Museum trauen wir den Leeuwardenern nicht zu.

{37}Deutschland sollte Weltmeister sein

{39}Flaggenvorfall 1