Weihrauch und Pumpernickel - Otto Jägersberg - E-Book
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Weihrauch und Pumpernickel E-Book

Otto Jägersberg

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Beschreibung

Ein Coming-of-Age-Roman aus Westfalen: Georg, noch während des 2. Weltkriegs geboren, wächst auf in einer ländlichen Welt mit schrulligen Originalen, handfestem Essen und kerniger Doppelmoral. Er lernt und verliebt sich und malocht und schreibt und fühlt eine Sehnsucht nach der Großstadt in sich heranreifen. Ein scharf beobachteter Heimat- und Schelmenroman in einer deftigen und sinnlichen Sprache.

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Seitenzahl: 176

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Otto Jägersberg

Weihrauch und Pumpernickel

Ein westpfählisches Sittenbild

Diogenes

Ein Gott, ein Pott, ein Ei, ein Kuchen

Bernhard Knipperdollinck

Fremdes wollen wir nicht

Eigenes geben wir nicht

Josip Broz Tito

Der Bauer kümmert sich um seinen Acker

Hält sein Vieh instand, zahlt Steuern

Macht Kinder, damit er die Knechte einspart und

Hängt vom Milchpreis ab.

Die Städter reden von der Liebe zur Scholle

Vom gesunden Bauernstamm und

Daß der Bauer das Fundament der Nation ist.

Die Städter reden von der Liebe zur Scholle

Vom gesunden Bauernstamm und

Daß der Bauer das Fundament der Nation ist.

Der Bauer kümmert sich um seinen Acker

Hält sein Vieh instand, zahlt Steuern

Macht Kinder, damit er die Knechte einspart und

Hängt vom Milchpreis ab.

Bertolt Brecht

Herr, lehre doch mich,

daß es ein Ende mit mir habe –

und mein Leben ein Ziel hat

und ich davon muß.

Psalm 39, Vers 5

So mag es denn sein! Und ich gebe es dem Publikum zum Gefallen oder Mißfallen; es ist kein Roman, es ist unser Land, unser Volk, unser Glaube, und was diese trifft an Lob oder Tadel, was die Lebenden tragen müssen, das möge auch über diese toten Blätter kommen.

Annette von Droste-Hülshoff

Erstes KapitelWie der auf dem Pferd mit der Lanze

»Nicht doch!« oder genauer: »Nich doch!«

Und hätte seine Mutter, die damals im dreiundvierzigsten Jahre war, diese Beteuerungen energischer betont und sie noch mit diesen oder jenen abwehrenden Handgriffen gestärkt; hätte sie nicht so schnell nachgegeben und sich schon nach den ersten Bewegungen die Bedingung ausgebeten, daß, wenn es was würde, etwas Besseres daraus werden sollte, Knechte hätten sie, und Deutschland schon genug Soldaten und es wäre noch kein Pastor in der Familie und einen schönen Namen sollte es auch bekommen, einen vornehmeren, nicht Josef oder Heinrich wie alle hier herum, Georg sollte er heißen, wie der auf dem Pferd mit der Lanze, der den Drachen ersticht, oder wie Onkel Eduard, wenn es ein Junge würde, und es mußte ja einer werden, Gerhard oder Gustav klang auch schön; aber das sagte sie schon alles nicht mehr, sie ließ es geschehen, dies Auf und Ab und was weiß ich: Georg sollte er heißen.

Bernhard Holtstiege und seine Frau Maria, Eigentümer eines dreiundachtzig Morgen großen Hofes auf dem der Stadt zugelagerten Angelufer, also zwischen Angelmodde und Lütkenbeck, nutzten die Stunde mit einer überaus erstaunlichen Betätigung, wenn man die Jahreszeit und die Gepflogenheiten des Ehepaares bedenkt.

Schon dreimal hatte Marianne Röwekamp, die als Hebamme für die Dörfer Wolbeck, Albersloh und Angelmodde nicht oft ihren kleinen Kötter zu verlassen hatte, um ihres Amtes bei den zeugungsmüden Bauern zu walten, den Weg zum Hof Holtstiege in dunklen Herbstnächten zurücklegen müssen. Der Bauer wußte die arbeitskarge Zeit vor den Feldbestellungen im Frühjahr wohl zu schätzen. Die behäbige Winterzeit hatte ihn auf der Ofenbank fett und kräftig werden lassen, was den Niederschlag in den Herbstnächten fand, in denen Josef, Erika und Heinrich schreiend und gesund unter der kundigen Hand Marianne Röwekamps das Licht der Welt in Form dreier an der Wand befestigter Gasleuchten des Schlafzimmers erblickten.

Die erwähnten Anzeichen des Besonderen offenbaren sich schon durch den Hinweis, daß das Geschehen sich in einer warmen Julinacht abspielte, bei geöffnetem Fenster, das nur von einem Gitter geschützt wurde, der Fliegen und Nachtfalter und der zahlreichen, von der Angel kommenden Mücken wegen.

Der Mann war stark, seine Handlungen geschahen bedächtig und überlegt, doch in der Ausführung bewies er Lebhaftigkeit.

Auch jetzt ließ er seiner Frau nicht viel Zeit, es war schon erstaunlich genug, daß er zu dieser Zeit, bei einem Wetter, das viel Arbeit mit sich brachte, sein Weib in Liebe bedrängte.

Wenn Bernhard Holtstiege sich auch bald danach auf die Seite legte und ihr mit einem Klaps auf den Hintern bedeutete, daß für ihn die Stunde der Ruhe gekommen, so lag die Frau doch noch lange mit offenen Augen und blickte den sich am Gitter stoßenden Insekten zu. Sie träumte von dem, der Georg werden sollte.

Der Film vor ihren Augen zeigte Georgs Geburt, die ersten tapsigen Schritte an der schützenden Hand der Geschwister, den kleinen Georg zum erstenmal auf dem Pferderücken mit einem Stock in der Faust, grad so wie der heilige Georg, mit einer riesigen Zuckertüte am ersten Schultag, das strahlende Gesicht bei der Kommunion, den niedlichen Anzug mit einem Marienblümchen am Aufschlag, Georgs glänzende Zeugnisse, seine schöne Gestalt, Georg, den höheren Schüler, den Zögling im Priesterseminar, das blasse Rot seiner Wangen über dem Schwarz, dem schwarzen Talar mit gesticktem Kreuz …

Sie träumte vom Drum und Dran seiner Jugendjahre und begann ein langes Gebet an die Adresse St. Georgs, worüber sie einschlief.

Zweites KapitelAnsichtskarten

Die Söhne der Holtstieges hatten mitgeholfen, Polen zu befreien. Maria Holtstiege heftete die Feldpostkarten an den Küchenschrank. Jede neue Karte berichtete von einer gewonnenen Schlacht. Bald klebte ganz Polen in der Küche.

Als Belohnung wurden westpfählische Würste und Schinken an die Absender geschickt.

Bernhard Holtstiege verfluchte den Krieg, weil er das Land mit Fremdarbeitern bestellen mußte, die nur das Wort Essen verstanden. Erika wurde aus der Schule entlassen und besuchte nun die Hauswirtschaftsschule in Münster. Es sollte eine gute Bäuerin aus ihr werden.

Georg wurde geboren, und seine Brüder erhielten die Würste jetzt in Frankreich. Georg wurde getauft.

Es war dies das einzige Fest während des Krieges in der Familie Holtstiege. Halb Angelmodde war geladen, und obwohl es einige lieber gesehen hätten, wenn Georg Adolf oder Hermann, Theodor, Horst, Siegfried oder Rudolf genannt worden wäre, aßen sie doch gerne den Taufschmaus und tranken Bier auf die Zukunft. Es war ein arbeitsfreier Tag für die Fremdarbeiter, Knechte und Mägde. Sie aßen in der Gesindestube und sangen ihre Lieder. Drang der Lärm bis in die Diele, und Onkel Eduard, der Pate, begann die ihm bekannten Melodien mitzubrummen, erhob sich der Dorfpolizist Hügendübel, blies einmal kräftig über das Abzeichen an seinem Hals, polterte hinaus und krakeelte in den Gesang, der dann langsam erstarb und zaghaft wieder anhob, wenn sein Stiefelschritt sich entfernte. Onkel Eduard hielt eine Rede. Er beglückwünschte die Eltern zu dem gelungenen Sohn, gedachte der Frankreichfahrer, hieß den Krieg ein trauriges Geschäft, pries den Bauern als das Fundament der Nation und wünschte Georg ein Leben in Frieden. Dieser schlief in seiner Wiege und scherte sich nicht um das Getümmel, doch dankte die Mutter mit Tränen. Es wurden noch mehr Reden gehalten, aber mehr noch wurde getrunken. Vom Schnaps gerötete Köpfe beugten sich über die Wiege und murmelten von Glück und Segen.

Nach und nach hob sich die Tafel auf, und man wechselte von der Diele in die gute Stube. Erika wurde gebeten, mannhaften Gesang auf dem Klavier zu begleiten. Es wurde manch lustiges Lied geboten, doch als Erika das Lied von den hohen Fahnen und festen Reihen anstimmte, schlug Onkel Eduard zornig den Klavierdeckel zu. Hier sei keine Kneipe, sagte Onkel Eduard zu denen, die das Lied verlangt hatten. So kam es, daß manche Taufgäste noch zu Ehren Georgs den Rest des Tages in den Kneipen verbrachten, ihre Lieblingslieder sangen, ohne von Onkel Eduard gestört zu werden.

Es wurde wieder ruhig in Holtstieges Hof, die Bäuerin beklebte eine neue Schranktür mit Ansichtskarten aus Frankreich, und die Sammlung wurde gekrönt mit einer Fotografie von Josef und Heinrich vor dem Eiffelturm.

Als Georg gehen lernte und sich schon den Kopf am Tisch stoßen konnte, reichten die Schranktüren nicht mehr, mit den Karten aus Rußland schmückte die Mutter die Wände.

Der Bauer schmiß seinen Holzschuh in den Volksempfänger, als er hörte, daß seine Söhne auch noch Karten aus Moskau schicken sollten. Im Dom zu Münster wetterte der Kardinal wider den Nasenbärtigen, wies nicht warnend nach Osten oder Westen, sondern schüttelte die Faust Südsüdost gegen die Kirchenfenster, hinter denen Berchtesgaden begann. Onkel Eduard tat den Schwur, daß, wenn der Galen nicht verzagen, er wieder in den Schoß der Kirche zurückkehren würde. Maria Holtstiege glaubte an den Sieg und wünschte ihn sich schnell herbei, wie sie ihre Söhne schnell zurück haben wollte, deren Postkarten aus immer entfernteren Gebieten stammten. Auf die Kaserne in Gremmendorf fielen die ersten englischen Bomben, und die Fremdarbeiter wurden wieder fröhlicher. Die Münsteraner suchten häufiger das Hinterland auf und bedrängten die Bauern mit Schmuck um Kartoffeln und Fleisch. Die letzten Schinken wurden noch höher in den Rauchfang gehängt, es gab nur noch Milchsuppe mit Pfannekuchen. Fremde Flugzeuge kreuzten den Himmel Angelmoddes. Georg versteckte sich vor dem Gebrumm im Hühnerstall, bis man ihn in den Keller zerrte. Die Ernte konnte nicht zeitig genug eingebracht werden, und die Fremdarbeiter sangen öfter.

Maria Holtstiege betete nicht mehr für den Sieg. Ein Schwein ging drauf für eine Messe der Brüder im fernen Rußland. Kurz danach kamen keine Feldpostkarten mehr, nur der Gauführer zu den Holtstieges, brachte Blumen und lobte die tapferen Söhne, von denen nun einer, Heinrich, leider vermißt sei. Der andere würde schon sein Scherflein zum Endsieg beitragen, sei ja wohl ein echter Westpfahle, hä? Maria Holtstiege stellte weinend die Blumen auf den Schrank, zu den vielen Karten, und ihr Mann ging fluchend hinaus, schlurfte durch die Ställe, stieß den liegenden Schweinen und Kühen die Holzschuhspitze in die Flanken; das Vieh des Bauern Holtstiege erfuhr stehend den Tod des Sohnes.

Es mußte noch eine Messe gelesen werden.

Georg lernte zu weinen, wenn seine Mutter auf ein Bild zeigte, immer ›Heinrich, Heinrich‹ sagte und ›tot‹.

Onkel Eduard spielte nicht mehr mit Georg, schimpfte nur noch vor sich hin, tuschelte mit den Arbeitern, ließ sich ein wenig Fleisch einpacken und verschwand wieder.

Erika hatte schon ein halbes Jahr Ferien.

Von Josef kam auch keine Karte mehr.

Es flogen nur noch fremde Flugzeuge über Angelmodde.

Dann flogen gar keine Flugzeuge mehr.

Drittes KapitelFrühes Leid

Georg hatte blonde Haare, die ihm gekräuselt in die Stirn hingen und am Hinterkopf wie ein Hahnenkamm zum Himmel standen.

Seine Augen blickten groß und blau, das eigentümliche Wasserfarbenblau der Westpfahlen: ein heller blauer Fleck, wenn die Pupillen stieren, stoisch und dumm auf einen Fleck gerichtet: Brotkrümel, Fliegen, Meßgewänder, und die Auflösung der Farbe, als wenn sie von Wasser gelöst würde, beim Bewegen der Pupillen. Dann blickten sie klug und gut, grenzenlos gutmütig.

»Das meerblaue Auge unserer Landsleute«, sagte Onkel Eduard einmal, »erinnert mich an die Zeit, als das Meer Westpfahlen bis zum Teutoburger Wald überschwemmte, und nicht wie heute des lieben Gotts Pinkelpott geworden ist.«

Georg war, wie Maria Holtstiege ihn sich gewünscht hatte. Der große, runde Kopf ruhte mit breitem Nacken auf starken Gliedern. Georg saß halbe Tage im Hühnerstall und beobachtete die Entwicklung der Eier, so weit sie ihm sichtbar wurde. Waren sie sichtbar und greifbar, lutschte er sie aus, wie er es bei seinem Vater gesehen hatte. Er glich nicht den Kindern in der Stadt, die kleine Blechautos über die Bürgersteige schieben und immer vergessen, den Hosenstall zuzuknöpfen. Georg schlug sein Wasser im Schweinestall ab, oder richtete den kleinen Strahl gegen die Flanken der Pferde, was gut für das Fell ist. Er spielte nicht mit den Puppen seiner Schwester und den Bauklötzen, die auf dem Söller in Säcken verstaut lagen, mit denen Josef und Heinrich ihre ersten Jahre verbracht hatten. Georg lief in den Ställen umher, redete mit den Kühen und befühlte ihre Euter. Die Mutter lehrte ihn, die Zitzen mit Melkfett zu beschmieren und die Quasten festzubinden. Unter die Pferdebeine verteilte er frisches Stroh und ging auch nicht zur Seite, wenn ihn ein Wasserfall näßte. »Das wird ihn kräftigen«, sagte stolz der Vater, wenn dann die Mutter Georg schimpfend unter die Pumpe stellte.

Georg lernte das Wort Frieden, vergaß es aber schnell wieder: er kam in die Schule. Er trug keine Zuckertüte im Arm, als er über die Schwelle des Wissens trat, und sein Anzug war ihm viel zu klein, weil Heinrich ihn schon zu dem gleichen Gang getragen. Die Schule lag neben der Kirche, und auf dem Kirchplatz stauten sich die Kutschen der Bauern, die ihre Söhne und Töchter zum Einschulungstag gebracht hatten und nun zusahen, wie Fräulein Wulle, die Lehrerin, die Kinder küssend in Empfang nahm und sie in das dunkle Schulzimmer schob. Es gibt kein Dorf in Westpfahlen, von dessen Kirche es mehr als hundert Schritt zur nächsten Kneipe wären. Diese hundert Schritte legten jetzt auch die Bauern zurück, um es warm zu haben, wenn sie auf ihre Kinder warteten.

Fräulein Wulle trug lange Stricknadeln in ihrem Haarknoten, von denen sie manchmal eine herausnahm, um sie als Zeigestock oder Schlaginstrument zu benutzen, wie Georg noch oft erfahren sollte. Sie hatte alle Klassen auf einmal zu unterrichten, insgesamt dreißig Kinder. Neben Georg saß die Tochter des Küfermeisters Henken-Müller, Cornelia. Wenn Georg ihr mit dem Holzschuh auf den Fuß trat, kicherte sie. Fräulein Wulle versuchte den Neulingen die allein gültige Form des sich Bekreuzigens beizubringen, doch fuhrwerkte Georg weiterhin nach Holtstiegischer Art über Kopf und Brust, daß die Kinder ihn auslachten. Weil sie so viel mit ihren Holzschuhen lärmten, wurden sie den Jungen abgenommen und an der Wand aufgereiht. Sechs Klassen waren immer mit Stillsitzen, Ab- und Schönschreiben beschäftigt, während die übrige Klasse Fräulein Wulle zuhören sollte. Viel lieber hörten die aber zu, die stillsitzen oder Schönschreiben sollten, und die zuhören mußten, malten Männeken und zogen den Mädchen Haare aus den Zöpfen. In den Pausen, die von der launischen Kirchturmuhr bestimmt wurden, liefen die Kinder in die Kneipe zu ihren Vätern, um zu erzählen, wie es in der Schule ist. Nach dem Unterricht gab es eine Keilerei um die Holzschuhe. Georg gelang es, einen fremden im Tornister verschwinden zu lassen. Am Nachmittag schlug er einen langen Nagel in das Innere des Holzschuhes, befestigte daran ein Stöckchen mit einem durch Querstäbchen gehaltenen Taschentuch und setzte das schwerfällige Spielzeug auf dem Ententeich aus. Bald kreuzte auf dem Teich eine ganze Flotte von Holzschuhschiffen und Georg beschäftigte sich schon mit Hafenarbeiten, ohne sich um die, nach der Schule nur mit einem Holzschuh befußten, nach Hause Hinkenden zu kümmern.

Viertes KapitelJosef kommt zurück, es wird wieder ein Schwein geschlachtet, Georgs Kommunion, und warum in Münsters Theater Angelmodder Bürger durch ihre nachdenklichen Gesichter auffallen

Eines Tages kehrte Josef aus Rußland zurück. Er trug einen großen grauen Mantel, der seine magere Gestalt verdeckte. Es wurde ein Schwein geschlachtet. Georg spielte mit der Schweinsblase auf dem Hof Fußball. Sein Bruder erzählte vom Krieg, von Kameraden, Unteroffizieren, Kanonen, von der Kälte. Er vermied es, von Heinrich zu sprechen. Die Mutter weinte.

Kaum war das Schwein aufgegessen, es war eins der Neuerwerbungen gewesen, half Josef die hamsternden Städter vertreiben, die ihr Land heimsuchten.

Es gab keine Fremdarbeiter mehr, nur noch ausgehungerte Städter, die kaum ein Pferd von einer Kuh unterscheiden konnten, wie der Bauer sagte, doch willig, für’n Appel und Ei einen ganzen Morgen umzugraben. Während der Ernte saßen oft zwanzig Menschen am Tisch, die gefüttert werden mußten. Da wurden hundert Pfannekuchen gebacken, es gab Pannas in riesigen Schüsseln, Reibeplätzchen und Milchsuppe mit Rosinen. Georg half, Muckefuck und Brote mit Johannisbeermarmelade aufs Feld zu tragen. Im Herbst wurden die Kartoffelfelder dreimal nachgesucht. Bald konnte ein neuer Traktor gekauft werden. Die Flanken der Pferde glätteten sich wieder, und bei Georgs Kommunion wurden ihnen Troddeln und farbige Bänder um den Hals geknüpft, daß sie nicht mehr wie Ackergäule aussahen. Der Vater hatte Birkensträucher längs des Weges zur Angelmodder Straße gesteckt, Georgs schwarzbeschuhter Fuß trat auf Blumen. Es war ein Schwein geschlachtet worden, im Stall grunzte es wieder vielzählig, doch mit der Schweinsblase konnte Georg nicht spielen, weil ihn ein Schwarzer Anzug kleidete, mit Marienblümchen am Aufschlag. Verwandte und Freunde der Familie hatten sich eingefunden, Geschenke häuften sich in den Armen Georgs: Taschentücher, Taschenuhr, Zirkelkasten, Halsbinden, neben dem goldglänzenden Gebetbuch noch ein Buch, ›Das Leben des heiligen Georg‹. Auf dem bunten Schutzumschlag tötete ein eisenverkleideter Reiter mit einer langen Lanze einen kleinen Drachen.

»Warum murkst er ihn ab?« fragte Georg.

»Weil es der böse Drache ist«, sagte die Mutter.

Beim Mittagessen sprach Georg das Gebet vor. Nach drei Stunden stand man vom Tisch auf und spazierte hinaus, das Geschenk des Bauers zu sehen. Der hatte einige Tage vorher hundert Pappeln gepflanzt, die Wallhecke zum Angelufer hin entlang.

»Wenn du ein Mann bist, kannst du sie fällen. Das gibt eine dicke Tasche.« Der Vater klopfte sich auf die Brust, dort wo ein rechter Bauer sein Vermögen im Lederbeutel mit herumträgt.

Nach dem Kaffee erschienen noch der Pastor und Marianne Röwekamp, die einen hölzernen Käfig überbrachte, der gewiß schon als Bruthäuschen beleibter Leghornhennen gedient haben mochte. Zwischen den dicken Holzstäben, die einem Hühnerkopf genug Bewegungsfreiheit ließen, nähere Umgebung, Körner und Legemehl zu erspähen, und von der Hebamme mit feinem Maschendraht umspannt waren, hopste ein kleiner Kanarienvogel, von den Erwachsenen mit kindischem Geflöte zu Gesang angespornt und von Georg mißtrauisch betrachtet. Was sollte er mit dem winzigen Tier, wo er doch schon mit Kühen und Pferden genug zu schaffen hatte? Erst als der Vogel, den Onkel Eduard Leporello zu nennen vorschlug, überraschend flötete und Georg die Begeisterung der Gäste über das Gepiepse bemerkte, näherte er sich dem Vogel freundlicher, griff auch in den Käfig, um ihn zu streicheln.

Beim ersten Ton des Tieres kalkte sich das Gesicht der Röwekamp vor Schreck. Verwirrt reichte sie dem bittenden Georg eine Tüte mit Kanarienvogelfutter, das dieser reichlich durch den Maschendraht streute. Leporello sollte im Haushalt der Holtstieges zum Mittelpunkt familiären Glückes werden. Georg verbrachte ganze Nachmittage vor dem inzwischen gestrichenen Käfig, lauschte dem Gesang Leporellos, füllte dessen wohlverdiente Pausen mit eigenem Flöten, wich auch einem Duett nicht aus und eignete sich so erste musikalische Kenntnisse an. Erika besorgte in der Stadt Kanarienvogelspeisen, kleine Porzellanbadewannen und Schaukeln. Der Vogel wurde immer zutraulicher, so daß er bald in der Küche frei herumflatterte, ohne sich im Kamin zu verirren oder die Freiheit durch die Luftklappe zu suchen.

Leporello durfte es sich erlauben, die Sendung ›Zwischen Rhein und Weser‹ mit flotten Rhythmen zu beleben, ohne daß der Bauer zornig auffuhr. Schonungslos sang Leporello Werner Höfer ins Wort und untermalte westpfählische Neuigkeiten mit exotischen Klängen.

In der Schule erzählte Georg gern und oft von Leporello, und in Holtstieges Küche wimmelte es von Neugierigen. Georg wurde von den Dorfkindern beneidet, Lothar Hügendübel wollte den Vogel abkungeln und bot hundert Briefmarken mit Hitlerköpfen, Moritz Schtollfuß-Schön bot seinen Schäferhund, Lothar setzte fünfzig Marken mehr ein, wechselte über zu Hindenburgköpfen, Cornelia Henken-Müller versprach bunte Bilderbücher, als das nicht zog, pries sie Mädchenliebe. Georg schauderte. Cornelia versuchte es mit den Erzeugnissen aus der Küferei ihres Vaters. Wir wär’ es mit einem Fäßchen Doppelwacholder? Georg kannte Schnaps nur vom Geruch, und das reichte ihm. Hügendübels Sohn wollte schon Briefmarken mit Kaiserköpfen hergeben, doch Georg gab Leporello nicht her.

Die Kinder bestürmten ihre Eltern, Kanarienvögel zu besorgen. Marianne Röwekamp lächelte fein und verriet nicht die Herkunft Leporellos. Der Vogel genoß mehr Ruhm als manches Bauern Gaul, der im Westpfählischen Reitturnier Lorbeer und Pokal für Angelmodde ersprungen hatte.

Des ersten Angelmodder Kanarienvogels Ruhm sollte sich jedoch als nicht von langer Dauer erweisen.

Wie Pfannekuchen, Töttchen, Pannas, Milchsuppe und Reibekuchen zum Bestandteil des Holtstiegischen hundertjährigen Küchenzettels gehörten, stand auch nach alter Sitte jeden Samstagmittag eine Schüssel mit Erbsensuppe auf dem Tisch. Schon am Freitag weichte die Mutter die grünen Erbsen ein, um die Kochzeit zu verringern. Trotzdem brutzelte den ganzen nächsten Vormittag der Zwanziglitertopf auf dem Herd. Erbsensuppenschwaden durchzogen den Raum und kündeten von kräftiger Speise. Wenn es der Familie nicht gelang, alles aufzuessen, und auch die Knechte den obersten Hosenknopf lockerten, wurde der Schweinepott mit der dickflüssigen Suppe angereichert.

An dem Samstagmittag, der für Leporello so bedeutend werden sollte, saß die Familie schon früh am Tisch und blickte voller Erwartung auf die am Herd hantierende Mutter. Georg, nachdem er fünf Ave Maria gebetet hatte, wollte das Warten zu langweilig werden, und so rutschte er von seinem Stuhl, ging zu dem neben dem großen Schrank stehenden Käfig und öffnete die kleine Klappe. Leporello flog zum Tisch, ehrte Erika, indem er sich auf ihre Schulter setzte, sie saß stocksteif und lächelte stolz, und pfiff den Hungrigen Kanarienvogelweisen. Als eine Fliege sich den Nasenlöchern Erikas näherte, fächerte sie Luft, Leporello und Fliege verscheuchend. Fliege und Leporello spielten eine Weile Fangen, bis der Vogel Erbsensuppengeruch witterte. Er segelte zwitschernd durch die Kochschwaden, seine Flügel durchstießen die Wolkendecke des Herdes, weiter auf der Erbsenfährte tauchte plötzlich das Dauerwellenhaupt der Frau Holtstiege im Nebel auf, und Leporello setzte vorsichtig zur Landung an. Die Mutter hatte gerade Kochmettwürste in die Suppe geschnitten, mageren Speck und Porree und dabei den Flug Leporellos beobachtet. Verständig lächelnd beugte sie ihren Kopf zur Seite, verhinderte so urwäldische Träume Leporellos, in ihrem Haar Nester zu bauen, heimisch zu werden, Wurzeln zu schlagen. Der Vogel verfehlte seinen Landeplatz, verlor die Orientierung und stürzte in den Erbsensuppentopf.

Geistesgegenwärtig, nach Frauenart, kreischte die Mutter auf, entsann sich der Kelle in ihrer Hand und versuchte den zappelnden Leporello aus dem kochenden Brei zu fischen.

Georg, Erika, Josef und der Vater sprangen von den Stühlen und rannten zum Ofen.