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Das Schicksal eines Hamburger Unternehmens.
Hamburg, 1889: Gerda ist fasziniert von Oscar, einem erfolgreichen Apotheker voller Tatendrang. Die beiden wollen sich etwas aufbauen. Oscar kauft das Labor eines gewissen Paul Carl Beiersdorf in Altona und beginnt mit der Entwicklung neuartiger Produkte. Doch so erfolgreich er auch ist, die Hanseaten meiden ihn wegen seiner modernen Ansichten – und weil er Jude ist. Um sein Ansehen zu retten, beginnt die kunstinteressierte Gerda in ihrer Villa Salonabende zu veranstalten und einflussreiche Gäste einzuladen. Wird es ihr gelingen, sich gegen ihre Widersacher zu behaupten und Oscars neueste Kreation zu retten?
Authentisch und berührend: diese große Familiensaga von Lena Johannson beruht auf wahren Begebenheiten.
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Seitenzahl: 536
Das Schicksal eines Hamburger Unternehmens.
Hamburg, 1889: Gerda ist fasziniert von Oscar, einem erfolgreichen Apotheker voller Tatendrang. Die beiden wollen sich etwas aufbauen. Oscar kauft das Labor eines gewissen Paul Carl Beiersdorf in Altona und beginnt mit der Entwicklung neuartiger Produkte. Doch so erfolgreich er auch ist, die Hanseaten meiden ihn wegen seiner modernen Ansichten – und weil er Jude ist. Um sein Ansehen zu retten, beginnt die kunstinteressierte Gerda in ihrer Villa Salonabende zu veranstalten und einflussreiche Gäste einzuladen. Wird es ihr gelingen, sich gegen ihre Widersacher zu behaupten und Oscars neueste Kreation zu retten?
Authentisch und berührend: die neue große Saga von Lena Johannson – beruht auf wahren Begebenheiten
Über Lena Johannson
Lena Johannson, 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren, war Buchhändlerin, bevor sie als Reisejournalistin ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen verbinden konnte. Sie lebt als freie Autorin an der Ostsee.
Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Bestseller »Die Villa an der Elbchaussee«, »Jahre an der Elbchaussee«, »Töchter der Elbchaussee« und »Die Malerin des Nordlichts« lieferbar, ihre Romane »Dünenmond«, »Rügensommer«, »Himmel über der Hallig«, »Der Sommer auf Usedom«, »Die Inselbahn«, »Liebesquartett auf Usedom«, »Strandzauber«, »Die Bernsteinhexe«, »Sommernächte und Lavendelküsse« sowie die Kriminalromane »Große Fische« und »Mord auf dem Dornbusch«.
Mehr zur Autorin unter www.lena-johannson.de
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Anmerkung & Nachwort
Eine kleine Übersicht der echten Beiersdorf-Geschichte – soweit
Personenverzeichnis
Glossar
Danksagung
Impressum
Posen, 1889
Eigentlich war Gertrud für ihre Besonnenheit und ihr gutes Nervenkostüm bekannt und stolz darauf. Doch an diesem Tag kam ihr beides abhanden. Es hatte damit begonnen, dass sie ihren Morgenkaffee verschüttet hatte. Als sie sich später umkleiden wollte, blieb sie in der Schnürung ihres Kleides hängen und riss eines der seidenen Bänder ab. Höchst ärgerlich, denn es handelte sich um ihr Lieblingskleid, das sie für diesen Anlass mit Bedacht ausgewählt hatte. Als ob das nicht gereicht hätte, bekam sie gegen Mittag vor Aufregung auch noch einen ihrer gefürchteten Niesanfälle. Sie musste mehrfach frischen Puder auflegen. Doch weder diese Maßnahme noch die rosigen Wangen konnten von den geröteten Augen ablenken. Sie sah aus wie das Albino-Wildschwein, das sie kürzlich im Zoologischen Garten betrachtet hatte. Und alles nur, weil Oscar zu Besuch kam. Oscar Troplowitz hatte vor Jahren in der Apotheke von Gertruds Vater gearbeitet. Sie hatten sich gemocht, es schien ihr, als hätten sie einiges miteinander gemeinsam, wenn man das von Frau und Mann überhaupt sagen konnte. Oscar war strebsam und klug, nicht sonderlich gefühlsduselig oder überdreht, dafür geradeheraus. Sie fand, dass diese Beschreibung auch auf sie zutreffen könnte.
Obwohl es ihm in Posen gut gefallen habe, wie er mehrfach erwähnt hatte, verließ er die Stadt und die Apotheke seines Onkels, um in seiner Heimat Breslau das Abitur nachzuholen und zu studieren. Das hatte Gertrud sehr beeindruckt. Immerhin war sein Vater von einer akademischen Laufbahn seines Sohnes wenig angetan. Dem Maurermeister schwebte eher etwas Handfestes vor, weshalb er Oscar nach dem Erlangen der Mittleren Reife vom Gymnasium genommen hatte. Gertrud fragte sich, ob ein Vater seinen Sohn so schlecht kennen konnte. Während Oscars Gehilfenzeit war sie noch ein Kind gewesen. Als er jedoch vor Antritt seines Militärdienstes noch einmal auf Besuch kam, ging Gertrud auf die Hauswirtschaftsschule, um sich auf ihr Leben als Ehefrau eines fleißigen und klugen Mannes vorzubereiten. Sie sahen sich bei dieser Gelegenheit nur für wenige Minuten. Die kurze Begegnung reichte jedoch, um sich einen Eindruck von Oscars Charakter und Wesen zu machen. Es waren wohl eher die Erzählungen ihres Vaters, die ein Übriges taten.
»Oscar hat weder mit seinen umfangreichen Studienfächern noch mit seinen teilweise berühmten Professoren geprahlt, nicht einmal mit seinem Doktortitel, den er in Heidelberg erworben hat«, sagte Vater und nickte anerkennend. »Er kann stolz darauf sein, was er alles erreicht hat. Und das ist er auch, ohne Zweifel, doch auf eine für meinen Geschmack angenehm angemessene Art.« Gertruds Vater war felsenfest davon überzeugt, dass Oscar eine bemerkenswerte Zukunft vor sich habe. Der Junge habe Pläne, verkündete er mehr als einmal. Oscar würde etwas Eigenes, etwas Großes auf die Beine stellen. Das lag in seiner Natur. Wie konnte sein eigener Vater das nicht sehen?
Nun kam er also zurück, um als gelernter Apotheker und studierter Pharmazeut seinen Dienst erneut anzutreten. Wie lange würde ihn die Position als zweiter Mann neben Gustav Mankiewicz zufriedenstellen? Nicht lange, das konnte Gertrud sich beim besten Willen nicht vorstellen. Nur stand die Übernahme der Hofapotheke nicht zur Disposition.
Obwohl es an diesem Sonntag im Mai nicht sonderlich warm war, stieg Hitze in Gertrud auf, als sie vom Fenster ihres Zimmers aus die Kutsche von der Breslauer Straße in den Alten Markt einbiegen und vor dem Haus anhalten sah. Das musste er sein. Der Verschlag öffnete sich, ein Fuß, dann der zweite, die Beine, schließlich baute sich die gesamte Statur des Oscar Troplowitz vor dem Fuhrwerk auf, er drückte das Kreuz durch und zog Weste und Gehrock glatt. Dann wippte er einmal kurz auf die Fußspitzen, ehe er zur Haustür ging und damit aus Gertruds Blickfeld verschwand. Doch schon einen Wimpernschlag später hörte sie kräftiges Klopfen, gleich darauf die Schritte von Haushälterin Ottilie, die ihm öffnete. Gertrud hatte sich ganz fest vorgenommen, zu warten, bis ihre Eltern sie riefen. Als habe sie Oscars Ankunft gar nicht mitbekommen. Doch plötzlich fehlte ihr die Geduld. Als Mädchen hatte sie ihn gemocht. Bei seinem letzten Besuch war sie mehr als ärgerlich gewesen, ihn nur so kurz zu sehen. Sie war schrecklich neugierig, ob sie sich noch immer so gut verstanden. Er war ein Teil ihrer Kindheit, wann immer sie an ihn dachte, machte ihr Herz einen Hüpfer. Irgendetwas sagte ihr, dass der erwachsene Oscar in ihrem weiteren Leben eine Rolle spielen könnte. Gertrud spitzte die Ohren. Nichts. Keine Stimmen. Ließen ihre Eltern den Gast etwa warten? Wann würden sie endlich nach ihr rufen? Albernes Backfischverhalten! Aus dem Alter war sie raus, entschied sie, lief eilig die Treppe hinab und betrat die gute Stube.
»Habe ich doch richtig gehört«, begrüßte sie ihn und versuchte, sich nicht um ihr klopfendes Herz zu scheren. »Wie nett, dass du uns wieder die Freude machst.«
Oscars Augen blitzten fröhlich. »Die Freude ist auf meiner Seite, liebe Gerda.« So hatte er sie schon bei seinem letzten Besuch genannt und erklärt, Gertrud klinge für eine junge lebendige Frau zu alt und gesetzt. »Hübsches Kleid!« Nun ließ sich das Hüpfen ihres Herzens nicht länger ignorieren. Eigentlich war es ja nur das zweitschönste, aber ab sofort war das hier ihr Lieblingskleid.
»Wie ich sehe, hast du bereits ein Empfangskomitee, lieber Oscar. Vorzüglich.« Ihr Vater begann mit seiner Rede, sobald er über die Türschwelle getreten war, ungeachtet der Tatsache, dass Oscar zunächst formvollendet die Dame des Hauses begrüßte.
Als sie es sich alle vier in den gepolsterten Stühlen rund um den ovalen Tisch bequem gemacht hatten, nutzte Gerda die Gelegenheit, ihn in Ruhe zu betrachten. Unter Gehrock und Weste trug er ein weißes Hemd. Der Vatermörder war eigentlich schon ein wenig aus der Mode, doch Gerda fand ihn sehr schnittig. Oscars dunkler Schopf war über den Ohren kürzer geschnitten, als sie es in Erinnerung hatte. Er trug keinen Scheitel, das Haar stand senkrecht vom Kopf ab und schimmerte wie Samt. Wie das Fell eines Bären, dachte sie. Sie musste lächeln. Oscar, bereits in ein ernsthaftes Gespräch mit ihrem Vater vertieft, wandte ihr das Gesicht zu. Er musste ihren Blick bemerkt haben, lächelte ebenfalls und schenkte ihrem Vater schon im nächsten Moment wieder die volle Aufmerksamkeit.
Eine warme Welle flutete durch Gerdas Bauch und ein Kribbeln. Woher kam plötzlich diese Aufregung? Es bestand doch gar kein Anlass. Sie schluckte, versuchte, das Flattern ihres Magens zu kontrollieren. Sie hatte einen ehrgeizigen jungen Burschen erwartet, für den sie noch die gleichen unschuldigen Gefühle hegte wie früher. Doch davon konnte keine Rede sein. Der Militärdienst hatte ihm den entscheidenden Schliff verliehen und aus dem etwas ungelenken Apotheker-Gehilfen einen beeindruckenden Mann gemacht. Sie war entzückt von seiner Ausstrahlung und konnte ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden, wollte ihm stundenlang zuhören. Mit einem Schlag war Gerda ganz sicher, dass Oscar in ihrem Leben eine bedeutsame Rolle spielen würde.
Von der Sekunde seiner Rückkehr fühlte es sich an, als sei er nie fort gewesen. Es war der schönste Sommer ihres bisherigen Lebens. An den Abenden, an denen es lange hell war, flanierte Gerda mit ihm über den Alten Markt. Er machte sich gut vor dem Rathaus, fand sie, dem ebenso prachtvollen wie imponierenden Renaissance-Bau. Eine Festung mit Türmen und Zinnen und dreigeschossigen Bogengängen, für deren Umgestaltung im sechzehnten Jahrhundert eigens ein italienischer Architekt engagiert worden war. Die Läden und Lokale daneben wirkten bescheiden wie Puppenstuben, obwohl einige von ihnen ebenfalls ausgesprochen stattlich waren. Zu jedem Geschäft, das sich um den weitläufigen Platz gruppierte, hatte Oscar eine Idee.
»Wenn ich ein Möbelgeschäft besäße«, sagte er beispielsweise, »würde ich die Kundschaft selbst aussuchen lassen, aus welchem Stoff und in welcher Farbe die Bezüge ihrer Stühle und Sessel sein sollten.« Ein anderes Mal blieb er vor einem Zigarrenladen stehen. »Wäre ich der Inhaber, würde ich regelmäßige Herrenabende veranstalten, an denen man verschiedenste Tabaksorten probieren könnte. Und es würde Vorträge geben.«
»Vorträge in einem Zigarrengeschäft?« Gerda betrachtete ihn. Was sollte sie sich darunter vorstellen?
»Allerdings. Über die Herkunft, den Anbau und die Verarbeitung der Tabakpflanze. Denkst du nicht, die Herren würden ihre Rauchware mit einem ganz anderen Gefühl auswählen und stets nur noch bei mir kaufen?« Er sah sie erwartungsvoll an, als dächte er ernsthaft darüber nach, in den Zigarrenhandel einzusteigen.
»Schon möglich.« Sie nickte, denn sie war sich auf einmal sicher, dass er recht hatte. »Die Herkunft der Tabakpflanze«, wiederholte sie. »Wenn ich dein Kunde wäre, würde ich an Ort und Stelle sehen wollen, wo die Blätter geerntet werden.« Sie bemerkte seinen Blick und musste lachen. »Was siehst du mich so überrascht an? Ist Reisen nicht eines der größten Abenteuer, die wir erleben können?« Sie schlenderten weiter. »Ich möchte für mein Leben gern einmal die Uffizien in Florenz besuchen oder den Louvre in Paris. Die berühmtesten Gemälde großer Meister aus nur wenigen Schritten Distanz betrachten zu können, muss ein Traum sein«, schwärmte sie.
»Du willst reisen, um dich in Museen zu vergraben?« Sie wollte ihm gerade erklären, dass diese Ausstellungen sicher jede Mühe wert waren, als sie das Funkeln in seinen Augen sah.
»Natürlich würde ich auch so viel wie möglich von Land und Leuten kennenlernen wollen. Frankreich ist bekannt für seine hervorragende Küche. Und Italien mit seinem ewigen Sommer …«
»Nicht gerade ewig, aber du hast schon recht. Das Klima dort soll äußerst angenehm sein.«
»Hieße immer nur an einem Ort zu bleiben nicht, nur einen Satz einer Sinfonie zu hören? So hübsch Posen auch ist, aber es ist gewiss nicht das Ende der Fahnenstange.« Insgeheim malte Gerda sich aus, wie es wohl wäre, mit Oscar die Welt zu entdecken. Der Gedanke leuchtete wie ein Stern in ihrer Seele. Nichts wünschte sie sich mehr. Gleichzeitig überfiel sie eine nie gekannte Angst, er könne sich schon bald auf den Weg in ferne Länder machen. Ohne sie.
Der Juli brachte drückende Hitze. Eingeklemmt zwischen Westpreußen und Schlesien, zwischen Brandenburg und Polen ächzte die Provinz Posen unter den Temperaturen und noch mehr unter der fehlenden Meeresbrise. Das galt für die Stadt im Herzen der Provinz umso mehr.
»Die Menschen verkriechen sich in ihren Häusern«, sagte Vater, nachdem die Familie gerade zu Mittag gegessen hatte, und warf Gerda einen Blick zu. »Selbst der Weg in die Apotheke ist ihnen zu beschwerlich. Ich werde Oscar für den Rest des Tages freigeben. Er hat es sich verdient, fleißig wie er ist.« Vater erhob sich schnaufend, auch ihm war es eindeutig zu warm. Mutter wollte sich in der Hoffnung auf leichten Wind ein schattiges Plätzchen im Garten suchen und sich ausruhen. Gerda musste nicht lang warten. Als hätten sie eine Verabredung, tauchte Oscar auf und fragte, ob sie einen Spaziergang an die Warthe unternehmen wollte.
»Am Wasser könnte die Luft ein bisschen frischer sein«, meinte er. »Die Mücken werden das allerdings auch zu schätzen wissen, fürchte ich.«
Auf dem Alten Markt hatten fliegende Händler ihre Buden aufgebaut.
»Feine Dame, feine Haut«, rief einer schon von Weitem, als Gerda, einen Schirm in der Hand, und Oscar sich näherten. »Kommen Sie, schauen Sie, probieren Sie. Beste Tinkturen und Öle, herrlichste Duftwässerchen.«
Gerda wäre an ihm vorübergegangen, schließlich war ihr Ziel das Ufer des Flusses, östlich hinter der Großen Gerberstraße gelegen. Doch Oscars Neugier war geweckt, er führte sie sanft zum Stand des Händlers. Nun, da sie schon einmal dort war, betrachtete sie die Waren. Es gab braune Glasflaschen in allen erdenklichen Größen, dazu Tiegel und hübsche Töpfchen.
»Kommen Sie nur näher, Gnädigste«, ermunterte der Mann hinter dem Verkaufstisch sie erneut, obwohl sie doch schon direkt vor seinen Auslagen stand. Für Oscar interessierte er sich augenscheinlich kein bisschen. Er öffnete ein Keramikgefäß und hielt es Gerda schwungvoll unter die Nase. Sie wich zurück. Welch eine unansehnliche Pampe, lauter Klumpen in flüssigem Fett.
»Die Hitze, Gnädigste«, erklärte der Händler beflissen.
»Dass sich Fett und Wasser aber auch nicht dauerhaft verbinden lassen«, sagte Oscar nachdenklich. »Ein ständiges Ärgernis.«
Der Händler griff eilig nach einem Holzspatel und rührte um. Mit mäßigem Erfolg.
»Tja, kann man nichts machen. Der Anblick wird nicht besser. Der Ihrer Haut, wenn Sie diese reichhaltige Creme auftragen, dagegen ganz gewiss. Ich verspreche Ihnen einen Teint, der aussieht wie Porzellan, sich jedoch anfühlt wie Seide.«
»Versprechen Sie lieber nicht zu viel«, entgegnete Gerda trocken. Von ihrem Vater wusste sie, dass allzu viele Scharlatane nutzlose Tinkturen und Mittelchen zu überhöhten Preisen anboten. »Porzellan und Seide kümmern mich nicht. Wenn Sie aber etwas gegen das unangenehme Spannen meiner Haut hätten?«
Der Händler hob den Zeigefinger der rechten Hand. »Aber gewiss, Gnädigste. Da habe ich etwas, das Ihnen helfen wird«, rief er laut und sah an ihr vorbei zu Passanten hinüber, die im Begriff waren, achtlos an seinem Stand vorbeizugehen. In der nächsten Sekunde hatte er das Keramikgefäß gegen ein anderes ausgetauscht. Der Inhalt sah nicht viel vertrauenerweckender aus und verströmte zu allem Überfluss einen seltsam beißenden Geruch.
Oscar rümpfte die Nase. »Puh, das ist doch …«
»Nachtkerze und Ringelblume«, fiel der Händler ihm ins Wort.
»Nein, davon spreche ich nicht.« Oscar schnupperte mit skeptischer Miene. »Alkohol«, begann er und wurde erneut unterbrochen.
»Franzbranntwein. Er hat nicht nur ausgezeichnete Eigenschaften, die der Haut wohltun, sondern bietet gerade bei dieser unmenschlichen Hitze eine angenehme Erfrischung.«
»Reiner Alkohol, in vernünftigem Maße verdünnt und mit Zitrone versetzt, eignet sich als Abkühlung ebenso gut«, brummte Oscar, der sich den Unfug dieses dahergelaufenen Marktschreiers offenbar nicht länger anhören mochte. »Komm, Gerda, gehen wir weiter.« Gerda tupfte sich den Schweiß von der Oberlippe und hakte sich bei ihm unter. »Das war ein Quacksalber. Warum fragst du nicht deinen Vater nach einem Mittel gegen das Spannen deiner Haut? Oder mich!«
»Du hast mich zu diesem Stand geschleift«, verteidigte sie sich lächelnd.
Er sah sie kurz an. »Das ist wahr. Ziemlich unsinnig meinerseits.«
Die Sonntage gehörten Oscar mit einer Selbstverständlichkeit, die sogar ihre Eltern einschloss. Ihre Mutter Therese fragte höchstens mal, ob Gerda und Oscar die beiden in ein Kaffeehaus begleiten wollten oder was sie denn Schönes vorhatten. Dass Gerda und Oscar den freien Tag gemeinsam verbringen würden, daran bestand niemals ein Zweifel. Gerda genoss jede Sekunde in seiner Nähe. Er war charmant, brachte sie zum Lachen. Er hatte immer neue Einfälle und war von einer Leidenschaft, wenn er sich für etwas interessierte, dass man sich davon einfach anstecken lassen musste. Manches Mal sah er sie mit einem Blick an, der ihre Knie ganz weich werden ließ. Gerda dachte dann immer, er würde ihre Hand nehmen und sie küssen. Oder ihre Lippen. Obwohl sie bereits zwanzig war, hatte sie in diesen Dingen keinerlei Erfahrungen. Zum einen war sie ganz und gar nicht der verspielte Typ, sie verstand es nicht, nur so zur Probe zu kokettieren und zu beobachten, wie ein Mann darauf reagierte. Sie hatte nichts gegen Ausgelassenheit und Spaß, nur musste bei ihr alles einen Sinn haben. Gerda hatte beispielsweise Freude daran, ihren Großeltern etwas vorzulesen. Sie begleitete ihre Mutter liebend gern in Ausstellungen und Konzerte. Wenn eine Frau in einem Labor auch eher wenig zu suchen hatte, liebte sie es doch, ihrem Vater in seinem über die Schulter zu schauen. Diese Düfte! Und die Wirkung, die man erzeugen konnte, indem man verschiedene Substanzen miteinander kombinierte. Die Stunden rannen nur so dahin, wenn Gerda ihm zusah. Als sie die Hauswirtschaftsschule abgeschlossen hatte, waren zwei ihrer engen Freundinnen verheiratet und hatten nicht mehr viel Zeit für sie. Sie standen nun einem Haushalt vor und wurden rasch Mütter. So kümmerte sich Gerda darum, die erlernten Handarbeitstechniken zu perfektionieren. Besonders das Sticken machte ihr Freude. Malen mit einem Faden, nannte sie es. Im Gegensatz zur Malerei hatte sie für das Sticken eine Begabung. Das Studium der Violine hatte sie dagegen abgebrochen. Nicht das Üben schreckte sie, sondern die Tatsache, dass der Klang, den sie auf der Geige erzeugte, sehr lange eine Zumutung bleiben würde.
Kurzum: Ihr Alltag spielte sich vorwiegend im Kreis ihrer Familie ab, es gab nicht viele Gelegenheiten, bei denen sie Männerbekanntschaften hätte machen können. Zum anderen war Gerda fest davon überzeugt, ihr sei ein Mann vorbestimmt. Wozu hätte sie sich also von einem anderen küssen lassen sollen? Es erschien ihr weder klug noch reizvoll. Dummerweise war sie folglich nicht geübt darin, deutliche Signale zu senden. Sie wünschte, sie wüsste, wie sie Oscar zeigen konnte, dass er sich mehr trauen durfte.
Als die größte Hitze überstanden war, besuchten die beiden den Zoologischen Garten im Westen der Stadt. Auch die Nähe zwischen ihnen, wenn sich Gerda bei ihm einhakte, war mittlerweile selbstverständlich. Am Anfang war sie schrecklich nervös gewesen. Sein Gesicht so nah. Konnte er ihren Atem spüren? Doch nun scherzte sie und plauderte ungezwungen. Selbst als sie einmal leicht umknickte, weil ein Stein unglücklich in ihrem Weg lag, schämte sie sich nicht dafür, gegen Oscar zu stoßen. Mehr war bisher noch nicht passiert. Leider. Sie hielten nicht Händchen, von einem Kuss, außer einem galant angedeuteten Handkuss, gar nicht zu reden. Gerda wollte nicht ungeduldig sein. Alles zu seiner Zeit. Einerseits. Andererseits mochte sie nicht länger warten. Jede Minute mit ihm fühlte sich so richtig an, geradezu perfekt. Warum nur blieb er stets der Kavalier, statt einfach mal ein wenig ein Draufgänger zu sein? Sah er in ihr womöglich noch immer das Kind, mit dem ihn nur eine harmlose Freundschaft verband? Ein scheußlicher Gedanke. Gerda sah in ihm so viel mehr. Er konnte sie gleichermaßen in Aufregung versetzen, wie er in ihr ein Gefühl größter Ruhe auszulösen vermochte. Wenn er ihr seine Standpunkte erklärte, konnte sie diese bestens nachvollziehen. Immer wollte er aber auch ihre Sicht der Dinge wissen. Mit Oscar fühlte sich das Leben an, als füge man zwei Teile einer Kugel zusammen. Es war rund, beweglich, wenig angreifbar und wunderschön. War er fort, fehlte die Hälfte, die nötig war, um gleichmäßig vorwärts zu rollen. Gerda war, als müsse sie hilflos an einem Ort verharren, bis er wieder in ihrer Nähe war.
Der Zoologische Garten war eines ihrer liebsten Ziele. Das Gelände wurde stets erweitert und war wie ein Park angelegt. Sie hätte die Ziegen, Esel und Hasen nicht unbedingt gebraucht, es reichte ihr, zwischen hohen Bäumen und duftenden Sträuchern spazieren zu gehen. Besonders gefiel ihr die Gründungsgeschichte, die sie Oscar gleich bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch erzählt hatte und an die sie beim Anblick jeder Kreatur denken musste.
»Alles hat damit angefangen, dass ein Haufen Kegelbrüder dem Vorsitzenden ihres Vereins ein besonderes Geburtstagsgeschenk machen wollte. Jeder brachte ihm ein Tier. Darunter waren ein Schwein, ein Schaf, ein Pfau, aber auch ein Bär und ein Affe.«
»Wirklich, sie schenkten ihm einen Bären und einen Affen?« Oscar hatte sie ungläubig angesehen.
»Wenn ich es dir doch sage! Es waren wohl zwölf unterschiedliche Arten. Doch dabei blieb es nicht lange. Anwohner brachten immer mehr Tiere. So konnte der arme Mann nicht anders, als einen Zoo zu gründen.«
Oscar runzelte die Stirn. »Ein guter Grund mehr, nicht zu kegeln.«
Sie kamen häufig hierher, manchmal auch am Abend zu Konzerten oder Akrobatikvorführungen.
»Gehen wir zum Pavillon mit den Elefanten«, schlug Oscar an diesem Tag vor.
»Ihre Haut sieht schrecklich aus«, stellte Gerda fest, als sie das Gehege erreichten. »Sie muss höllisch jucken, so rau und rissig, wie sie ist. Was meinst du?«
»Ich glaube, es gibt Vögel, die ihre Hautpflege übernehmen.« Er sah sie an. »Oder denkst du, ich sollte ein Öl für Elefanten entwickeln?«
Sie lachte. »Das wäre doch nett.«
Eine Weile schwiegen sie. »Möchtest du ein Tier sein?«, wollte er plötzlich wissen.
»Wenn du extra für mich ein Öl herstellen würdest, könnte ich darüber nachdenken.«
»Dafür brauchst du kein Dickhäuter oder Eichhörnchen zu sein, das mache ich auch …« Er brach ab. »Es ist mein Ernst«, sagte er dann. »Möchtest du?«
»Nein.« Gerda schüttelte energisch den Kopf. »Sie haben keinen Sinn für die Schönheit der Kunst. Und du?«
»Auf keinen Fall! Immer nur Nahrung beschaffen, um ein Revier kämpfen, das wäre mir zu wenig.« Er betrachtete die Elefanten einen Moment. »Siehst du, ihnen ist es auch zu wenig. Sie schwenken ihre mächtigen Schädel vor Langeweile ständig hin und her. Aber wahrscheinlich macht es ihnen nichts aus. Tiere haben schließlich keine Gefühle.« Er dachte nach. »Sie paaren sich, aber sie scheren sich nicht um ihren Nachwuchs. Sie bleiben nicht einmal bei ihrem Weibchen.«
»Das stimmt nicht.« Er wandte seinen Blick von den grauen Riesen ab und sah sie neugierig an. »Ich habe gelesen, dass Elefanten sehr gut auf ihre Jungen aufpassen und dass ein männliches und ein weibliches Tier oft ein ganzes Leben miteinander verbringen.«
»Vielleicht ist das der Grund, warum ich die Dickhäuter so mag«, sagte er schließlich und blickte ihr dabei auf eine Weise in die Augen, die ihr einen wohligen Schauer über den Körper jagte. In dieser Sekunde war sie ganz sicher, dass er mehr in ihr sah als die kleine Freundin von früher. Er musste es einfach.
Auf dem Rückweg lud er sie in ein Restaurant ein und griff zum ersten Mal vorsichtig nach ihrer Hand. »Deine Haut ist wirklich ganz besonders zart. Nicht verwunderlich, dass sie leicht spannt.« Er ließ sie nicht mehr los. Gerda war überglücklich. Sie erwiderte den Druck seiner Hand, während sie einander tief in die Augen blickten. Das war viel mehr als ein Kuss. Ihr war, als könnte sie in seine Seele blicken, darin lesen, als würden sie einander ohne ein einziges Wort ihre Liebe gestehen. Endlich war alles ganz klar. Ein zartes Flattern huschte durch ihren Bauch und ließ eine behagliche Wärme zurück.
Als die Tage bereits merklich kürzer wurden, versammelte Gustav Mankiewicz seine Frau und seine Tochter in der guten Stube.
»Es gibt etwas Wichtiges zu bereden«, sagte er mit leicht belegter Stimme und feierlicher Miene. Gerda spürte ihr Herz in ihrer Brust, gleichzeitig war eine große Ruhe in ihr. Mutter saß in ihrer typischen aufrechten Art auf einem der zierlichen Sessel und legte ihre Fingerspitzen leicht aneinander. Vater hatte glänzende Augen. Das kam nicht häufig vor. »Oscar hat um deine Hand angehalten, Gertrud«, erklärte er.
»Ach, ist das schön«, rief ihre Mutter, ihr Gesicht leuchtete.
Gerda sagte nichts. Sie konnte nicht. Was sollte man schon sagen, wenn der größte Wunsch erfüllt wurde? Sosehr sie auch gehofft hatte, wirklich damit gerechnet hatte sie nicht. Nicht so schnell und schon gar nicht damit, dass Oscar ihren Vater um ihre Hand bitten könnte, ohne zunächst mit ihr selbst zu sprechen. Gerda war ein wenig durcheinander. Und ganz erfüllt vor Glück. Eines wusste sie sicher: Es fühlte sich richtig an.
»Oscar ist ein guter Junge, strebsam und bestens gebildet. Wir können uns keinen besseren Schwiegersohn vorstellen.« Ihr Vater räusperte sich. »Deine Mutter und ich genießen das Privileg einer glücklichen Ehe. Dazu gehört mehr als die Verbindung zweier tüchtiger und verantwortungsvoller Menschen. Du weißt, was ich meine.« Er räusperte sich erneut. »Du sollst die Gelegenheit haben, dich selbst zu der Sache zu äußern. Ich nehme aber doch an, es spricht nichts dagegen?«
Zur Sache äußern. Typisch ihr Vater, er war nicht gerade geübt darin, über Gefühle zu sprechen. Umso mehr schätzte sie es, dass er den Versuch unternahm und Oscars Bitte nicht einfach ohne ihr Wissen stattgegeben hatte.
»Nein, Vater, es spricht überhaupt nichts dagegen«, erwiderte sie und spürte, wie warm ihre Wangen wurden.
Vater nickte. »Dachte ich mir. Sehr schön.« Er wandte sich ihrer Mutter zu. »Was denkst du?«
»Unbedingt. Ihr passt vorzüglich zueinander. Ach Kind, du wirst heiraten. Freust du dich?«
»Aus tiefster Seele.«
»Schön, dann werde ich dem Jungen die Nachricht mal überbringen. Aber vorher stoßen wir an. Ottilie soll uns ein Fläschchen MM extra öffnen.«
Zur Verlobung reisten Oscars Eltern aus Breslau an. Louis Troplowitz trug das Haar, das ihm auf dem Kopf fehlte, als weißen Vollbart im Gesicht. Er hatte gütige Augen und ein eher stilles Wesen. Seine Frau Agnes, deren Onkel mütterlicherseits Gerdas Vater war, war eine aristokratische Erscheinung. Vorstehende Wangenknochen, eine schmale Nase, die womöglich eine Spur zu lang war, perfekt geschwungene Lippen. Auch sie traf das Verlöbnis nicht unvorbereitet, und auch sie waren darüber höchst erfreut.
Für Gerda änderte sich nicht viel. Jeden Tag aufs Neue war sie von Oscars Klugheit und seiner Offenheit hingerissen, mit jedem Morgen, der über Posen heraufdämmerte, freute sie sich auf ein Leben mit ihm. Er kam jetzt jeden Abend nach getaner Arbeit zu ihr und ihren Eltern in die gute Stube. Und er hielt nun regelmäßig ihre Hand. Zur Feier der Verlobung hatte er sie zart auf die Wangen geküsst. Das erste Mal, dass sein Mund sie sanft berührte. Sie war gespannt, wie er sich auf ihren Lippen anfühlen würde. Zwischen Gerda und Oscar herrschte schon jetzt großes Vertrauen und ein tiefes Verständnis füreinander. Der Gedanke, dass neben der seelischen auch eine körperliche Nähe auf sie wartete, löste aufgeregten Schauder in ihr aus. Und Vorfreude. Sie waren einander nicht am Tag der Verlobung vorgestellt worden, wie es durchaus hier und da vorkam. Gerda kannte ihren Oscar aus Kindertagen. Sie wusste, was sie an ihm haben würde, und war sicher, dass sie ihm auch in diesen Dingen vertrauen konnte.
Eine Freundin hatte mal gesagt: »Welch ein Glück, dass ich schwanger bin. So habe ich im Schlafzimmer erst mal Ruhe vor meinem Mann. Auch im Bett geht es nur um ihn.«
Oscar war anders. Gerda war sich ganz sicher, dass er in jeder Hinsicht für sie der Richtige war.
Und noch eines wurde ihr rasch klar: Mit Oscar würde es niemals langweilig werden. Stets spukte ihm eine Idee im Kopf herum. Immer wieder kam er weit nach Geschäftsschluss aus der Apotheke und brachte Gerda ein Öl mit.
»Sieh mal, Mutzl, hier habe ich etwas für dich. Du musst deine Haut damit einreiben, bevor du zu Bett gehst. Jeden Abend. Und in einer Woche sagst du mir, ob das lästige Spannen weggegangen ist.«
An einem anderen Tag saßen sie zu viert beieinander, Oscar, Gerda und ihre Eltern. Beide Männer in verschiedene Teile der Wochenzeitung vertieft.
»In Hamburg sind die Arbeiter auf die Straße gegangen«, erklärte ihr Vater. »Diese Bewegung wird uns das Leben noch schwer machen, fürchte ich.«
»Nicht nur in Hamburg«, entgegnete Oscar. Er klang weniger besorgt. »Sie fordern eine Reduzierung der Arbeitszeit auf achtundvierzig Wochenstunden, nur noch acht Stunden am Tag.« Er nickte langsam. »Das ist ein starkes Stück, das muss man sich leisten können.«
»Meine ich auch«, stimmte ihr Vater ihm zu.
»Aber sie haben schon recht, auf lange Sicht muss die Arbeitszeit verringert werden. Was bleibt ihnen sonst für ihr Leben, für ihre Familien?« Oscar lächelte Gerda zu. »Trotz so mancher Maschine schuften viele noch immer hart. Sie brauchen Zeit, sich zu erholen. Denkst du nicht, Gustav? Je weniger Pausen, desto mehr Gebrechen, desto weniger Leistung.«
Meist runzelte Vater die Stirn oder brummte etwas, doch so ganz von der Hand zu weisen war Oscars Betrachtungsweise scheinbar nicht, denn sie gerieten sich nie in die Haare. Gerda liebte die gemeinsamen Stunden im Familienkreis, in denen sie nichts zu tun hatte, als Oscar zu beobachten, ihre Ohren zu spitzen oder sich vielleicht mal an einer kleinen Zeichnung zu versuchen. Der Umgang mit Farben machte ihr Freude, das Gefühl, auf einem weißen Bogen Papier etwas zu erschaffen, das ohne sie nie dort gewesen wäre, hatte etwas sehr Befriedigendes. Sie fand sich nicht sonderlich begabt und würde es nie zur Meisterschaft bringen. Wollte sie auch gar nicht. Sie zeichnete zu ihrem eigenen Vergnügen, das war alles. Manches Mal bekam sie kaum mit, worüber sich Oscar mit ihrem Vater unterhielt, weil sie in ein Buch vertieft war oder in einen Artikel in einem Magazin. Zum Beispiel über den Maler Edvard Munch, von dem gerade alle Welt sprach. Gerda konnte wenig mit seinen Bildern anfangen, sie erschreckten sie sogar. Dennoch, irgendetwas an diesem Künstler zog auch sie in seinen Bann. Das war es, was sie an der Kunst so faszinierte: Selbst wenn sie einem nicht gefiel, konnte sie eine Wirkung entfalten, der man sich nicht entziehen konnte.
An diesem Tag malte Gerda nicht, und sie steckte ihre Nase auch nicht in ein Buch. Mutter stickte, Vater las die Zeitung, auch Oscar war hinter seiner Lektüre verschwunden. Er las viel, verschlang Buchstaben geradezu, wenn sie vom Tagesgeschehen oder aus der Geschäftswelt berichteten. Gerda saß einfach nur da und lauschte der Musik, die knisternd aus dem Wachswalzen-Phonographen tönte. Mit einem Mal schnellte Oscar vor, ließ das Blatt sinken und hatte einen Gesichtsausdruck, den sie noch nicht an ihm kannte. Eine Mischung aus Aufregung, Freude und größter Wachsamkeit.
»Diese Anzeige ist interessant«, sagte er ein wenig atemlos. »Hier in der Pharmazeutischen Zeitung.« Jetzt sah auch ihr Vater von seiner Lektüre auf. »Paul Carl Beiersdorf will sein vor acht Jahren in Altona gegründetes Labor sowie sein chemisch-pharmazeutisches Lager verkaufen. Das wäre es.«
»Ein Labor und Lager? In der Tat, das klingt interessant.« Ihr Vater atmete hörbar aus. »Wer, sagtest du, will es veräußern?«
»Du hast richtig gehört: Paul Carl Beiersdorf.«
»Das ist mehr als interessant. Seine medizinischen Pflaster haben einen ausgezeichneten Ruf. Warum will er nach nicht einmal zehn Jahren verkaufen? Die Geschäfte müssten prächtig laufen, wenn er nicht einen gravierenden Fehler gemacht hat.«
Die Musik war zu Ende, Gerda stand auf und nahm die Walze behutsam vom Phonographen. Sie setzte sich zu Oscar und warf einen Blick auf die Anzeige. Sofort nahm er ihre Hand in die seine, die sich feucht anfühlte.
»Hier steht etwas von privaten Gründen.«
»Private Gründe, aha.« Vater runzelte die Stirn. »Was sollte das sein? Warum will man sich von einem rentablen Unternehmen trennen, das man vor nicht allzu langer Zeit erst gegründet hat?«
»Vielleicht ein Schicksalsschlag, eine Erkrankung«, wandte Gerda ein. Sie spürte deutlich, dass Oscar das Angebot dieses Herrn Beiersdorf nicht so rasch würde vergessen können.
»Das denke ich auch, etwas in der Art ist sehr gut möglich.« Oscar drückte ihre Hand.
»Kannst du ihm nicht schreiben und ihn einfach fragen?«, schlug Gerda vor.
Ihr Vater lachte auf, auch Oscar lächelte.
»Private Gründe haben im Geschäftsleben nichts verloren, sonst wären sie ja nicht privat.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich denke nicht, dass sie mich etwas angehen. Trotzdem hast du recht, es gibt noch einiges mehr, was ich gern wüsste. Ein Brief kann gewiss nicht schaden. Allerdings würde er mir sicher nicht offen mitteilen, sollte er eine folgenschwere Fehlentscheidung getroffen haben, schließlich wäre das ein Grund, um den Preis zu reduzieren«, überlegte Oscar laut. »Ein eigenes Laboratorium, eigene Entwicklungen und Neuheiten. Dazu noch der gute Name Beiersdorf, es ist genau das, worauf ich gewartet habe.«
Mehr als einmal hatte Oscar davon gesprochen, ein eigenes Geschäft führen zu wollen. Eines, das von A bis Z in seinem Sinne wäre, wie er sich ausdrückte. Eigene Produkte, eigene Räume, eigene Regeln. Etwas, das bliebe, wenn sein kurzes Gastspiel auf dieser Erde längst beendet wäre. Er wollte die Welt besser machen. Nur ein wenig, aber überall, wo es ihm möglich war.
»Dann zieh Erkundigungen ein. Schreib diesem Beiersdorf, damit du dir ein genaueres Bild machen kannst.« Ihr Vater vertiefte sich wieder in seine Zeitung.
Oscar folgte seinem Rat noch am selben Abend. Und er konnte die Antwort kaum abwarten.
Nach einigen Tagen war sie endlich da. Beiersdorf nannte die Konditionen: Dreißigtausend Mark wollte er sofort haben, den Rest über acht Jahre verteilt.
»Insgesamt eine stolze Summe«, sagte Oscar, den Brief in der Hand. »Aber ein anständiges Angebot.«
»Sofern das Geschäft so viel Geld wert ist«, wandte Gerda ein, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie viel man für ein Labor einschließlich der Apparaturen, Utensilien und natürlich der bereits gefertigten Produkte berappen musste.
»Wenn der Mann die Wahrheit schreibt, wovon ich ausgehe, zweifle ich nicht an dem Wert. Er behauptet, der Umsatz steige Jahr für Jahr, und verweist auf seine internationale Kundschaft, die er ganz sicher hat.« Gerda wollte jedes Detail erfahren, denn zum einen brauchte sie Oscar nur anzusehen, um zu wissen, dass sein Interesse nach Erhalt des Schreibens noch gewachsen war. Zum anderen würden sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen. Wenn dieses Labor darin eine Rolle spielen sollte, würden viele Abende kommen, an denen sie sich darüber unterhalten würden. Letztlich würde Oscar im Betrieb die Entscheidungen treffen, doch sie hatte keinen Zweifel, dass er sie stets nach ihrer Meinung fragen würde. Anders wäre es für sie auch nicht vorstellbar. Umso wichtiger, dass sie von vornherein im Bilde war. Zudem ging es um eine stattliche Summe und damit um einen bedeutenden Schritt für ihre Zukunft. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die nichts vom Tun ihrer Männer wissen wollten und eines schönen Tages aus allen Wolken fielen. Mit geschlossenen Augen konnte man einen Abgrund nur schwer erkennen. Dreißigtausend Mark erschreckten sie nicht. Doch ihr war auch bewusst, dass sie als Tochter eines Hofapothekers und Medizinalrates ein höchst komfortables Leben führte. Die Zukunft als Ehefrau eines gescheiterten Geschäftsmannes mit hohem Schuldenberg sähe deutlich anders aus.
»Beiersdorf schreibt von elf Mitarbeitern. Das ist nicht übel«, sagte Oscar. »Die höchsten Einnahmen erzielt er mit seinen Pflastern. Dachte ich mir.« Er sah sie an, seine Augen blitzten. »Auf seine gestrichenen Pflaster hält er sogar ein Patent. Auch die Salbenmullproduktion ist nicht zu verachten.«
»Diesen Blick kenne ich doch, Oscar. Was geht dir durch den Kopf?«
»Die persönlichen Gründe. Du sagtest, vielleicht steckt eine Erkrankung hinter seiner Verkaufsabsicht. Womöglich wäre ihm schon geholfen, wenn er entlastet würde. Wenn ich mich in sein Geschäft einkaufe, kämen wir gemeinsam unter Umständen weiter, als wenn ich nach einer Übernahme allein dastehe. Beiersdorf ist ein kluger Kopf, ein geschätzter Fachmann. Wäre es nicht dumm, auf sein Wissen und seine Erfahrung zu verzichten?«
Oscar schrieb erneut einen Brief. Dieses Mal war die Antwort ernüchternd.
»Wie es aussieht, verliert er die Geduld«, meinte Gerdas Vater, nachdem Oscar das zweite Schreiben aus Hamburg vorgelesen hatte. So klangen die Zeilen tatsächlich. Von zwei weiteren Kaufinteressenten war die Rede, was Oscar zwar zur Kenntnis nahm, ihn jedoch nicht in Panik versetzte.
»Beiersdorf ist ein kluger Mann, an seiner Stelle würde ich auch Druck aufbauen. Aber ich bin eben auch nicht dumm.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
»Ein kluger Mann, der allerdings ein wenig tiefstapelt«, sagte ihr Vater. »Dass er große Stücke auf Unna hält, ist bekannt, dass er ihm jedoch einen so hohen Anteil am Erfolg zuspricht, ist bemerkenswert.«
Selbst Gerda war der Name Dr. Paul Gerson Unna geläufig. Seine Hautklinik in Hamburg gehörte zu den renommiertesten des Landes.
»Das ist wahr«, stimmte Oscar zu. »Er vertritt den Standpunkt, dass sein Unternehmen nicht leisten könnte, was es leistet, wenn der medizinische Rat nicht Teil des Ganzen wäre.«
»Er sagt sogar, dass nur durch die Zusammenarbeit auch in Zukunft der Erfolg gesichert ist, wenn ich das richtig wiedergebe.« Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch.
»So ist es. Von Dr. Unna hängt die Qualität der Produkte ab, das ist die Aussage.« Oscar nickte bedächtig.
»Ich schlage vor, wir statten dem Herrn Beiersdorf einen Besuch ab«, sagte Gustav schließlich. »Er bittet sich sehr deutlich aus, auf weitere schriftliche Nachfragen zu verzichten. Entweder schickst du ihm eine verbindliche Kaufabsicht, oder du suchst das Gespräch, ehe du dich endgültig entscheidest.«
»Eine prächtige Idee. Und wenn wir schon nach Hamburg reisen, reden wir vor allem anderen mit Dr. Unna. Seine Sicht der Dinge würde mich interessieren.«
»Richtig, ein guter Gedanke.« Damit war für Gerdas Vater zunächst alles besprochen.
»Soll das heißen, ihr fahrt nach Hamburg und gebt ein Angebot ab, sofern all eure Fragen zu eurer Zufriedenheit beantwortet werden?« Gustav und Oscar sahen sich irritiert an, dann nickten sie. »Hast du denn die dreißigtausend Mark zur Verfügung?«
Diesen Aspekt schien Oscar sehr weit beiseite geschoben zu haben. »Du hast natürlich vollkommen recht, Gerda, bevor wir reisen, muss ich die Bank aufsuchen.«
»Du gehörst bald zur Familie, es liegt doch wohl auf der Hand, dass ich dich unterstütze«, widersprach ihr Vater.
Die Tage ohne Oscar waren schrecklich. Jeder einzelne war fade und zog sich endlos hin. Es war das erste Mal seit seiner Rückkehr nach Posen, dass sie so lange voneinander getrennt waren. Gerda hatte damit gerechnet, dass er ihr fehlen würde, doch nicht, dass es so schlimm sein könnte. Kein verschmitztes Zwinkern, kein Spaziergang Hand in Hand, kein liebes Wort. Es war, als wäre die Luft etwas weicher, wenn er in der Nähe war, als hätten die Rosenbüsche draußen vor der Apotheke eine kräftigere Farbe, als würden die Vögel fröhlicher zwitschern. Gerda nahm an einer Exkursion entlang der Warthe teil. Ein stadtbekannter Maler hatte dazu eingeladen, der weniger für seine Gemälde als für seine Frauengeschichten berühmt war. Zeichnen erfordere zuallererst gründliches Hinsehen, behauptete er und versprach, das Auge der Damen entsprechend zu schulen. Dass er dabei ein Auge auf die eine oder andere warf, störte Gerda nicht, denn immerhin hielt er Wort und lehrte sie, in einer früh geöffneten Rispe des Sommerflieders die unzähligen kleinen Blüten zu erkennen, die wiederum aus unterschiedlichsten Blättern bestanden. Er hatte völlig recht, um einen solchen blühenden Strauch gut wiederzugeben, musste man wissen, dass die winzigen Blätter nicht einfarbig waren, wie Griffel und Narbe beschaffen und in welcher Weise der Fruchtknoten gebogen war. Nach diesem Ausflug ertappte sich Gerda täglich dabei, in der Betrachtung der alltäglichsten Dinge zu verharren. Wie nahmen ihre Augen die Linien eines Bauwerks wahr, auf das sie aus großer Entfernung blickte? Wie viele einzelne Elemente hatte doch das Muster im Teppich, der in der Diele lag, seit sie denken konnte? Selbst ihr eigenes Spiegelbild entdeckte sie plötzlich neu, die flache Kuhle unterhalb ihrer Nase, der Schwung ihrer Oberlippe, die hauchzarten Härchen. All diese Dinge füllten die Stunden, und doch fühlten die sich leer an. Welchen Sinn hatte es, gründliche Beobachtungen anzustellen, wenn Gerda sie nicht mit Oscar teilen konnte?
Wenigstens traf am fünfzehnten Juni ein Telegramm ein. Oscar schrieb, sie hätten am Vortag den Vertrag unterschrieben, der nun noch dem Notar vorgelegt werden müsse. Wie zuversichtlich und glücklich seine Zeilen klangen! Er würde zunächst tatsächlich mit dem Vorbesitzer Beiersdorf zusammen am Wachstum des Unternehmens arbeiten, teilte er ihr mit.
»Kontinuität ist so wichtig«, schrieb er. »Deswegen belasse ich es auch bei dem Firmennamen.«
Das war ziemlich ausführlich für ein Telegramm, wie sie amüsiert registrierte.
Bei seiner Rückkehr war Gerda so nervös wie am Tag seiner Ankunft in Posen vor gut einem Jahr. Würde sich das je ändern? Wäre sie auch als seine Ehefrau jedes Mal außer sich, wenn sie sich nach einigen Tagen der Trennung wiedersahen? Gerda musste lächeln. Es würde ihr gefallen.
»Dr. Unna ist wahrhaftig ein feiner Mensch«, erzählte Oscar ihr, als sie ihren Abendspaziergang machten. Sie überquerten die Warthe, hielten sich links auf die Venetianerstraße und erreichten schließlich den Dom, dessen zwei Türme schon von Weitem zu sehen waren. »Er hat uns sehr freundlich empfangen, und wir haben ein langes, überaus angenehmes Gespräch geführt. Es muss das reine Vergnügen sein, mit einem so durch und durch kundigen Fachmann gemeinsam etwas zu entwickeln«, schwärmte Oscar. »Sein Urteil bedeutet mir viel.«
»Und wie lautet sein Urteil?« Sie waren stehen geblieben, Gerda wandte sich ihm zu und sah ihn an.
»Die Guttapercha-Pflastermulle sind nicht nur qualitativ über jeden Zweifel erhaben, wie wir es erwartet hatten, sondern außerdem rentabel, sagt er. Das gilt ebenfalls für die Jodoformstifte, die odorisierte Watte oder auch seine Spray-Apparate für Hals, Nase und die Ohren. Es sollte sich also auch in Zukunft ein Geschäft damit machen lassen.«
»Und der Herr Beiersdorf, wie ist er so?«
Oscar sah für einen kurzen Moment ratlos aus. »Ich werde nicht recht schlau aus ihm, fürchte ich.« Sie schlenderten einmal um den Dom herum und dann gemächlich zurück Richtung Fluss. »Nicht, dass du mich falsch verstehst, er ist ein ehrenwerter Herr, daran gibt es nichts zu rütteln. Er ist auch freundlich auf seine Art, doch verhaltener als Dr. Unna. Ich weiß nicht, Gerda, in seinen Augen liegt eine so große Traurigkeit. Ich habe beinahe den Eindruck, als hätte ihm ein großer Kummer sämtliche Energie geraubt.«
»Vielleicht hat es etwas mit dem Schicksalsschlag zu tun, mit den persönlichen Gründen, aus denen er sein Laboratorium veräußern will.«
»Daran habe ich auch schon gedacht.« Er nickte.
»Hat er denn nichts dazu gesagt?«
Oscar verneinte. Nach ein paar Schritten blieb er erneut stehen und sah sie an.
»Ich möchte dich nicht belasten, Mutzl, aber mich interessiert deine Einschätzung. Vielleicht kannst du dir ja einen Reim auf sein seltsames Wesen machen.«
»Ohne ihn je selbst getroffen zu haben? Schwierig.« Sie nahm seine Hand und hatte mit einem Mal das Bedürfnis, ihm ganz nah zu sein. »Erzähl mir von ihm.«
»Er hat einen regen Geist, ist stolz auf seine Produkte und sein Wissen. Dennoch ist er überhaupt nicht von oben herab. Ein angenehmer Mensch und respektabler Unternehmer.« Er zögerte. »Leider ein wenig in der Zeit zurück.«
»Wie meinst du das?«
»Ein Beispiel: In Berlin findet in Kürze eine Messe statt. Sämtliche namhafte Hersteller werden ihre Salben, Verbände, Tinkturen dort präsentieren. Es ist eine ideale Gelegenheit, zum ersten Mal gemeinsam vor unserer Kundschaft aufzutreten.«
»Eine sehr gute Idee.« Gerda sah ihren Oscar direkt vor sich, mit stolz geschwellter Brust im Kreise vieler interessierter Fachleute und Geschäftsmänner.
»Das sieht Herr Beiersdorf ganz anders.«
»Warum denn das?« Sie setzten sich wieder in Bewegung.
»Er will nicht«, schimpfte Oscar. »Es sei unsinnig anstrengend. Viel zu viele Menschen dicht an dicht, laut, einige von ihnen würden schwitzen, riechen.« Gerda hob erstaunt die Augenbrauen. »Welchen Sinn es haben soll, wenn er als einer von zahllosen Herstellern in der Menge unterginge, wollte er von mir wissen.« Oscar schnaubte ungehalten. »Er schließe seine Geschäfte in seinem Labor oder im Hause seiner Kundschaft ab, hat er gesagt und mich allen Ernstes gefragt, wozu eine Messe da wohl von Nutzen sein soll. Dabei geht es in Berlin um so viel mehr. Alle, die auf sich halten, werden da sein. Man zeigt, dass man eine Größe ist, dass man Interesse am Austausch hat. Nicht zuletzt bekommt man nirgends einen besseren Überblick über die Entwicklungen und Neuheiten der Konkurrenten. Wir müssen doch wissen, was auf dem Markt gefragt ist, was es in welcher Qualität gibt.« Endlich holte er Luft und stieß sie gleich wieder hörbar aus.
»Das müsste ihm doch einleuchten«, wandte Gerda ein.
»Müsste.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm erklärt, dass heutzutage ein Messeauftritt zu den modernen Verkaufsmethoden gehört. Ich will auf Werbung setzen, Mutzl, Reklame wird in Zukunft das Zünglein an der Waage sein, sie entscheidet über Erfolg oder Misserfolg. Ich habe ihn nach den bisherigen jährlichen Ausgaben dafür gefragt. Weißt du, was er mir geantwortet hat?«
»Was?«
»Er hat überhaupt kein Reklamekonto.« Oscar drückte das Kreuz durch. »So etwas kenne ich nicht«, sagte er mit eindeutig hamburgischer Färbung. Gleich darauf ließ er die Schultern zurückfallen. »Es behagt ihm nicht, für seine Waren zu werben, wie es heute viele tun, hat er mir erklärt, es erscheint ihm unseriös und marktschreierisch. Obendrein sei es hinausgeworfenes Geld, denn es gäbe keine bessere Reklame als die wissenschaftlichen Arbeiten der Dermatologen über seine Präparate. Und die kosteten ihn keinen müden Pfennig.«
»Könnte an seiner Argumentation nicht auch ein Fünkchen Wahrheit sein?«, wollte Gerda wissen, als sie zurück auf dem Alten Markt waren.
»Ein Fünkchen, ja, aber leider nicht mehr. Was nützt denn ein wissenschaftliches Urteil, wenn nur eine Handvoll Menschen davon erfährt? Reklame trägt diese Beurteilung hinaus in die Welt und sorgt dafür, dass jeder sie kennt. Darum geht es. Dass Beiersdorf das aber auch nicht einsehen will«, murmelte Oscar, als sie ins Haus gingen.
Trotz der Meinungsverschiedenheiten in diesem Punkt war Oscar die Zuversicht in Person. Er verlor keine Zeit und zog nach Altona, um sich einzuarbeiten und eine Geschäftsübernahme vorzubereiten. Zunächst würde er in einer Wohnung von Herrn Beiersdorf unterkommen. Sobald sich alles eingespielt habe, würden sie heiraten und er sich nach einer Unterkunft für sie beide umsehen. Gerda hatte vor der Trennung gegraut, und als es so weit war, dass er seine gepackten Koffer in die Kutsche verladen ließ und sich mit Küssen auf die Wange, einen rechts, einen links, zögern, lächeln, dann endlich mit einem langen zärtlichen Kuss auf ihre Lippen von ihr verabschiedete, da fühlte sie sich, als müsse sie die nächsten Wochen und Monate mit nur einem Arm leben.
»Ich werde dir schreiben«, hatte er versprochen, »und alles ganz genau berichten.« Er hielt sein Versprechen.
Meine liebe Gerda,
Altona ist ein gemütliches Städtchen mit einer glänzenden wirtschaftlichen Zukunft, denke ich. Schon der Freihafen wird dafür sorgen. Alles ist sehr modern. Du kannst dich hier in den Zug setzen und in der Nachbarstadt Hamburg, in Kiel oder in Kaltenkirchen aussteigen. Erst kürzlich sind drei Ortschaften eingemeindet worden, so dass Altona mit einem Schlag erheblich gewachsen ist. Nicht nur das. Durch die Vergrößerung gehört nun auch eine Trabrennbahn mit Tribüne zum Stadtgebiet. Ich begreife nicht, wie jemand, der dies alles ständig vor Augen hat, so schrecklich altmodisch sein kann. Du weißt natürlich, von wem ich spreche und was ich meine.
Elf Mitarbeiter haben wir, zwei davon sind Kontorbeamte, die sich um die Bestellungen kümmern. Du kannst es dir nicht vorstellen, sie beschriften alles mit der Hand! Jemand bestellt Pflaster, die beiden Kontorbeamten schreiben die genaue Bezeichnung auf Etiketten und kleben diese auf. Denk dir nur! Mir geht das alles viel zu langsam. Wenn ich Etiketten drucken lasse, können wir erheblich schneller ausliefern. Ich hoffe nur, Herr Beiersdorf hält nicht auch das für unnötigen Firlefanz.
Nun will ich enden, denn die Arbeit ruft.
Ich sende dir die besten Grüße und einen Kuss,
Oscar
PS: Nachdem ich meine Zeilen noch mal durchgelesen habe, muss ich feststellen, dass ich noch gar nicht erwähnt habe, wie du mir fehlst. Aber das tust du. Sehr sogar!
Gerda las den Brief jeden Abend vor dem Zubettgehen. Jedes Mal war es ihr, als hörte sie Oscars Stimme und könnte ihn vor sich sehen, wie er ungeduldig auf die Zehenspitzen wippte, während zwei Angestellte per Hand Schildchen beschrifteten. Hatte sie sich beim Abschied noch gefragt, wie sie die Tage herumbringen sollte, schon die während seines kurzen Besuchs in Hamburg waren ihr schließlich unwirklich lang vorgekommen, ergab sich dafür eine überraschende Lösung.
»Der Apothekerverein ruft dazu auf, Vorschläge einzureichen, wie er sein Jubiläum begehen könnte«, knurrte Gerdas Vater an einem regnerischen Dienstag, nachdem er die Post durchgesehen hatte. »Jetzt schon. Dabei ist noch über ein Jahr Zeit.«
»Gut Ding will Weile haben«, meinte Gerdas Mutter.
»Ja, ja, gewiss. Ich frage mich allerdings, was ich damit zu tun habe.«
»Geht das denn aus dem Schreiben nicht hervor?«, wollte Gerda wissen.
»Alle Mitglieder sind aufgerufen, sich Gedanken zu machen«, erklärte er sichtlich verständnislos. »Jeder Mensch weiß, welche wichtigen Aufgaben wir Apotheker erledigen. Das müssen wir niemandem erläutern. Wen sollte interessieren, warum es einen Berufsverband gibt und welchen Zweck dieser erfüllt?«
»Du hast bestimmt recht, Gustav.« Ihre Mutter sah kurz von ihren Klöppeln und dem komplizierten Netz aus Garn auf und lächelte ihn an.
»Aber nein!« Gerda erntete höchst verdutzte Blicke. Sie musste an das denken, was Oscar ihr über Reklame gesagt hatte. »Natürlich wissen die Menschen dich und deinen Berufsstand zu schätzen, aber sie kaufen auch zweifelhafte Arzneien von irgendwelchen Quacksalbern, nur weil die blumige Versprechungen über die angebliche Wirksamkeit machen. Was nutzt es, dass du sämtliche Heilmittel in- und auswendig kennst, wenn die Leute es nicht wissen?«
»Das ist doch selbstverständlich«, murmelte ihr Vater und runzelte die Stirn.
»Ebenso ist es selbstverständlich, dass ich atme, und doch mache ich mir keine Gedanken darüber.« Er sah sie aufmerksam an. »Du schimpfst doch selbst immer über die vielen Scharlatane, die gutgläubigen Menschen das sauer verdiente Geld aus der Tasche ziehen. Und nicht nur die. Auch anständige kluge Menschen, wie Pfarrer Kneipp, sagen, der Weg zur Gesundheit führe durch die Küche, nicht durch die Apotheke.«
»Das ist wahr.«
»Warum nutzt ihr das Jubiläum dann nicht, um auf den Unterschied zwischen Kurpfuschern und studierten Pharmazeuten aufmerksam zu machen?«
Ihr Vater sah sie lange an. »Schön, aber wie?« Eine gute Frage.
»Mit Kunst.« Gerda hätte nicht sagen können, woher die Antwort gekommen war. Aber sie hatte das Gefühl, das fehlende Steinchen für ein prächtiges Mosaik gefunden zu haben. Sie liebte die Malerei, würde es auf diesem Gebiet aber kaum zu etwas bringen. Schon oft hatte sie sich gefragt, was sie mit ihrer Begeisterung und ihrem wachsenden Wissen anfangen konnte. Wie wurde eine sinnvolle Beschäftigung daraus, die ihr Freude machte und über das bloße Betrachten und Darüber-Lesen hinausging? Jetzt wusste sie es: Indem sie andere dazu ermunterte. »Ruf die Posener zu einem Wettbewerb auf! Lass sie das malen, was ihnen als Erstes zu einer Apotheke einfällt. Eine Ringelblume, ein Regal voller Glasfläschchen, der menschliche Körper.«
»Gertrud!«, rief ihre Mutter, beruhigte sich aber sofort wieder. »Nun, ein nackter Mann wird es nicht gleich werden.« Sie lächelte schmal. »Glücklicherweise verfügen die meisten Menschen über Moral. Vor allem hier in Posen. In Berlin oder Paris mag das anders sein. Wie sonst hätte die Therbusch, deren Talent ich eigentlich sehr schätze, wie ich betonen möchte, Diderot nackt malen können?«
»Ich verstehe nichts von diesen Dingen«, sagte Gerdas Vater ungeduldig, »aber die Idee gefällt mir. Ich müsste jemanden mit Kunstverstand finden, der sich um die Sache kümmert.« Er sah Gerda an, ein Schmunzeln lag auf seinen Lippen. »Von vorne bis hinten.«
»Das würde ich sehr gerne übernehmen.« Gerda spürte, wie ihre Wangen glühten. Aus heiterem Himmel hatte sie etwas geschenkt bekommen, das ganz allein ihr gehörte, dem sie sich mit ganzer Kraft widmen konnte. Welch ein Abenteuer! Das musste sie unbedingt Oscar berichten.
Zwei Wochen später wurde ein weiterer Umschlag aus Altona für sie abgegeben.
Liebste Gerda,
einem meiner Kontorbeamten ist es bedauerlicherweise ein wenig langweilig geworden, seit wir die Etiketten drucken lassen. Er habe zu wenig zu tun, und Däumchen zu drehen, liege ihm nicht, sagte er mir. Obwohl ich ihm versichert habe, das würde sich gewiss schon sehr bald wieder ändern, hat er leider gekündigt. Zu schade, denn ich rechne fest mit der Erhöhung der Bestellungen.
Im nächsten Brief klagte er ihr sein Leid über Beiersdorf. Wieder einmal.
Es ist zum Verrücktwerden! Ich verstehe mich ausgezeichnet mit Herrn Beiersdorf. Und er kann nichts gegen mich persönlich haben. Würde er mir sonst seine geräumige Wohnung zur Verfügung stellen? Oft arbeiten wir auch prächtig miteinander. Neulich haben wir beispielsweise eine Rezeptur ausprobiert, die vorzüglich gelungen ist. Welche Freude! Bei uns beiden. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn erneut auf meine Ideen für Werbung anzusprechen. Wäre es nicht fein, wenn alle Welt von der Güte unserer neuen Rezeptur erfahren würde? Er sah mich an, als wollte er mich am liebsten kopfüber in einen Kessel mit heißem Öl tauchen. Ich bin ganz sicher, aus dem kleinen Labor lässt sich ein Unternehmen von Weltformat machen. Es gibt doch sogar schon internationale Kundschaft. Es braucht gar nicht mehr viel, man müsste es nur richtig anstellen, man müsste moderner werden, mit der Zeit gehen. Aber nein, es ist, als wollte dieser sture Mensch nicht noch mehr Erfolg haben. Das Schlimme dabei ist, dass er meines Erachtens einem Irrtum aufsitzt. In meinen Augen ist das Geschäftsleben wie ein Turnier hier auf der Trabrennbahn. Gehört dein Pferd zu den führenden, reicht es aus, wenn es sein Tempo hält. Aber nur so lange, bis die anderen beschleunigen. Wird dein Gaul dann nicht ebenfalls schneller, liegt er bald zurück und wird schließlich ganz abgehängt. Wenn wir uns nicht jeden Tag anstrengen, besser und bekannter zu sein als andere, sehe ich schwarz für P. Beiersdorf & Co.
Aber jetzt zu dir: Welch eine famose Idee, einen Malwettbewerb zu veranstalten. Ich bin sicher, du wirst viele dazu bewegen teilzunehmen. Wer weiß, womöglich entdeckst du ein bisher unbekanntes Genie. Auch der Apotheke deines Vaters und der gesamten Zunft wird dein Vorhaben gewiss Aufmerksamkeit bringen. Und die kann nie schaden.
Gerda war hin und her gerissen. Oscar hatte gefunden, was er sich gewünscht hatte. Es würde sich im schlimmsten Fall etwas anderes finden, aber es würde ihm zu schaffen machen, wenn dieser Traum platzte. Wie gerne hätte sie ihm ein wenig Trost zugesprochen, ihm wenigstens zugehört. Gleichzeitig musste sie über ihn lächeln. Wie uneitel er war! Noch immer rüttelte er nicht an dem gut eingeführten Namen des Unternehmens, nur um seinen eigenen auf Produkten und Briefkopf zu lesen. Daran, dass ihm ihr Kunstprojekt gefallen würde, hatte sie keine Sekunde gezweifelt. Trotzdem machte ihr Herz einen Freudenhüpfer, als sie seine Worte las.
Zum Weihnachtsfest des Jahres 1890 kam Oscar nach Posen zurück. Gleich am Morgen hatte Gerda vor Aufregung eine Niesattacke gehabt, kaum dass er das Haus betreten hatte, folgte eine weitere.
»Eine schöne Begrüßung«, stellte er schmunzelnd fest. »In der Medizin ist das Phänomen der Rosenerkältung durchaus gut bekannt. Wollen wir nicht hoffen, dass du einen Oscarschnupfen hast.«
»Ach was, es sind nur meine Nerven. Du kennst mich doch. Wenn ich aufgewühlt bin, kribbelt es in der Nase und los geht’s.«
Er legte den Kopf schief. »Mir scheint, dann sind diese Wiedersehensereignisse nicht günstig für dich. Wir sollten sie in Zukunft meiden.« Was sagte er da? Gerda setzte zum Widerspruch an, doch er kam ihr zuvor. »Begleite mich, wenn ich nach den Feiertagen zurück nach Altona fahre. Die Wohnung, die mir Herr Beiersdorf zur Verfügung stellt, ist kein Palast, du hättest weniger Platz als hier.« Er machte eine Pause und sah sie frech an. »Selbst schuld, du hast mir schließlich dein Versprechen gegeben, mich zu heiraten. Du wirst wohl oder übel auch in einer Wohnung in Altona mit mir leben müssen. Was hältst du davon, im Januar vor den Altar zu treten?«
Gerda war von einem Gefühl ganz erfüllt, das sie sonst nur kannte, wenn sie nach vielen Stunden einer Kutsche entstieg und endlich am Ziel ihrer Reise angekommen war. Keine Trennung mehr, keine Briefe, sondern ihren Oscar Tag für Tag an ihrer Seite. Was spielte es da für eine Rolle, ob sie nun zwei oder drei Zimmer zur Verfügung hatten? Sie würde die Feiertage genießen, sich noch einmal von Ottilie verwöhnen lassen, ehe sie endlich das Nest ihrer Eltern verlassen und ein eigenes gründen konnte.
Am Mittag des Christfestes verzichtete sie darauf, etwas zu essen. Oscar fand, eine Kleinigkeit sei erlaubt. Er verspeiste ein Stück Früchtekuchen, zwei Finger dick geschnitten, dazu einen kleinen Berg Nüsse und einen Apfel. Am Heiligen Abend, den sie trotz ihres jüdischen Glaubens in christlicher Manier begingen, servierte Ottilie eine Mohnsuppe mit gerösteten Brotbrocken, danach Karpfen mit brauner Butter und dazu Sauerkraut. Ihren mit Pflaumenkompott gefüllten Mehlkloß schaffte Gerda nur noch mit Mühe. Nicht auszudenken, wenn sie schon am Tage etwas zu sich genommen hätte. Aber es war auch wirklich zu köstlich. Hand in Hand ging sie mit Oscar hinter ihren Eltern her zum Gottesdienst. Die Kälte biss ihr in die Wangen und trieb ihr die Tränen in die Augen, doch sie spürte es kaum, weil die feierliche Stimmung und der Gedanke an einen bald beginnenden neuen Lebensabschnitt sie wärmten. Zu Hause erwartete Ottilie die Familie mit einem Punsch mit viel Zimt und Nelke. Die Bescherung fand in der guten Stube statt, für Gerda der einzig beklemmende Moment des Heiligen Abends. Immerhin hieß es, wenn das erste Licht in die Stube getragen wurde, müsse man die Schatten der Anwesenden betrachten. Der, dessen Schatten keinen Kopf hatte, würde das kommende Jahr nicht überleben. Dummer Aberglaube, dennoch schlug ihr das Herz einen Takt schneller, und sie blickte nur aus dem Augenwinkel an die dunkel tapezierten Wände. Kein Kopf fehlte, gottlob!
Zur Bescherung überreichte Oscar ihr feierlich zwei Päckchen. Sie waren in rotes glänzendes Papier gewickelt und mit goldenen Schleifen verziert, was sehr hübsch zum mehr als zwei Meter hohen Baum passte, an dem kleine knallrote Äpfel und mit Rauschgold belegte Nüsse hingen.
»Ich habe sie nicht selbst eingepackt«, erklärte Oscar. »Ich fürchte, dafür fehlt mir das Geschick. Aber ich habe mir gemerkt, dass du dieses zuerst öffnen sollst.« Er zeigte auf das kleine Paket in ihrer linken Hand. Nachdem Gerda Schleife und Papier entfernt hatte, kam ein Kästchen zum Vorschein. Eine warme Welle flutete durch ihren Körper. Schmuck! Dann war das gewiss … Sie klappte den Deckel auf.
»Ein Ring!«
Ihre Eltern tauschten Blicke. Gustav legte den Arm um die Schulter seiner Frau.
»Dein Ehering«, ergänzte Oscar.
»Er ist perfekt. Genau so einen hätte ich mir ausgesucht. Danke, mein Lieber.« Sie trat einen Schritt vor und küsste ihn auf die Wange.
»Ein Ehering ist im Grunde kein Weihnachtsgeschenk«, sagte er, »den hättest du auf jeden Fall von mir bekommen. Deshalb das zweite Päckchen.«
»So ein Unsinn, er ist das schönste Geschenk, das ich mir vorstellen kann«, widersprach sie und hielt das mit Samt ausgeschlagene Kästchen ins Licht, um den Diamanten zum Funkeln zu bringen. »Als ob der Stein selbst leuchten würde. Siehst du?«
»Wenn man’s richtig bedenkt, ist es auch nur ein Mineral.« Oscar zuckte mit den Achseln. Sein zweites Geschenk kam ebenfalls vom Juwelier. Er hatte goldene Ohrringe gekauft, die wie Tropfen an Gerdas Ohrläppchen hingen. Auch sie zierte jeweils ein einzelner Diamant. Gerda fiel ihm um den Hals. Vielleicht ein wenig zu stürmisch, aber wen kümmerte das schon?
»Den Ehering darfst du einmal probieren. Ich will sehen, ob die Größe stimmt. Danach musst du ihn bis Januar wieder hergeben.« Er lachte und steckte ihr den Ring an.
Gerda musste die Rührung herunterschlucken. Sie hielt die Hand mit ausgestrecktem Arm vor sich.
»Er sitzt wie angegossen«, flüsterte sie.
»Ach Kind, er ist sehr schön«, wisperte ihre Mutter und tupfte sich die Augen.
»Sieh dir die Frauen an, Oscar«, brummte Gustav, »sie heulen jetzt schon. Wie soll es erst bei der Hochzeit werden?«
»Also wirklich!«, tadelte Mutter ihn scherzhaft. »Als ob Freudentränen etwas Schlechtes sein könnten.«
»Das ist wahr«, stimmte Gerda ihr zu. »Wir sollten uns ausgiebig über alles freuen, was wir haben.« Ihr Vater runzelte die Stirn und schüttelte sanft den Kopf. »Es ist mir ernst. So viel Glück im Leben zu haben, ist keine Selbstverständlichkeit. Oder sind wir etwa nicht glücklich dran?«
»Das sind wir zweifellos«, stimmte Oscar ihr sofort zu. »Vielen geht es nicht so gut wie uns.«
»So ist das eben. Mancher taugt nur zum einfachen Arbeiter. Der kann nicht so viel erwarten wie einer, der ein Unternehmen leitet und Verantwortung trägt.« Gerdas Vater hob kurz die Achseln.
»Da gebe ich dir recht, Gustav. Nur gäbe es ohne Arbeiter kein einziges Unternehmen. Sollten sie sich nicht wenigstens zum Fest auch etwas gönnen können? Ihnen sollen auch einmal vor Glück Tränen in den Augen stehen, meinst du nicht?«
»Nun ja, wenn sie ein bisschen sparsam sind …« Vater beendete den Gedanken nicht.