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Jeder will sie: Nichts ist schöner als die Liebe! Alle suchen sie: Nichts ist berauschender als Freiheit! Geht beides zugleich? Wie die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und der Wunsch nach Zugehörigkeit erfüllt werden, zeigen der bekannte Neurobiologe Gerald Hüther und der praktische Philosoph Maik Hosang. Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse schärfen den Blick auf unsere Sehnsüchte. Von zwei Seiten zu lesen, führt das Buch in die Mitte einer wunderbaren Geschichte.
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Seitenzahl: 179
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Gerald HütherMaik Hosang
Die Freiheit ist ein Kind der Liebe– Die Liebe ist ein Kind der Freiheit
Eine Naturgeschichte unserer menschlichsten Sehnsüchte– Eine Geistesgeschichte unserer menschlichsten Sehnsüchte
Titel der Originalausgabe: Die Freiheit ist ein Kind der Liebe – Die Liebe ist ein Kind der Freiheit
Eine Naturgeschichte unserer menschlichsten Sehnsüchte – Eine Geistesgeschichte unserer menschlichsten Sehnsüchte
© KREUZ VERLAG in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012, 2013
© KREUZ VERLAG in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung und Konzeption: Agentur R.M.E Eschelbeck/Hanel/Gober
Umschlagmotiv: © Getty Images
E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
ISBN (E-Book): 978-3-451-80289-8
ISBN (Buch): 978-3-451-61144-5
Eine Naturgeschichte unserer menschlichen Sehnsüchte: der Neurobiologe Gerald Hüther und der praktische Philosoph Maik Hosang zeigen je aus ihrer Sicht, wie die Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit und der Wunsch nach Zugehörigkeit und Verbundenheit erfüllt werden kann. Neue Erkenntnisse schärfen den Blick auf den Ursprung unserer Sehnsüchte nach Liebe.
Ein Buch, das von zwei Seiten und aus zwei Perspektiven zu lesen ist, die sich in der Mitte begegnen.
Gerald Hüther, Prof.Dr. nat., Dr. med. habil., Leiter der Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen und Präsident der Sinn-Stiftung. www.gerald-huether.de.
Maik Hosang, Dr. phil., habilitierter Sozialökologe, Mitgründer des Modellprojekts LebensGutPommritz, wo er auch lebt. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Das Buch
Die Autoren
Vorwort
Die Liebe ist ein Kind der Freiheit (Maik Hosang)
1. Einleitung
2. Wie wir Menschen wurden
3. Bewusstsein für die Freiheit
4. Die Kernsynthese der Liebe
5. Gesellschaftliche Neuanfänge
6. Selbst-Bewusstsein: systematische Zugänge
7. Innovationen
Die Freiheit ist ein Kind der Liebe (Gerald Hüther)
1. Einleitung
2. Die Naturwissenschaftler und die Liebe
3. Die neuen Einsichten der Biologen
4. Die Verbundenheit alles Lebendigen
5. Wie sich das Leben immer wieder neu erfindet
6. Die Umwandlung von Beziehungserfahrungen in Beziehungsstrukturen
7. Die biologischen Wurzeln der Liebe
8. Die äußeren Signale der Liebe
9. Die inneren Signale der Liebe
10. Das Spiel mit den Signalen der Liebe
11. Partnerwahl und Paarbildung
12. Die Kinder der Liebe
Wir bleiben Suchende
Eine Einladung
Falls auch Sie zu jenen Lesern zählen, die erst einmal hinten, auf den letzten Seiten eines Buches, herauszufinden versuchen, worauf die Geschichte darin hinausläuft, dann werden Sie irritiert sein. Denn auf den letzten Seiten dieses Buches finden Sie den gleichen Anfang, den Sie gerade lesen; egal, wie herum Sie es lesen, Sie finden zuerst dieses Vorwort. Denn dieses Buch beginnt von zwei Seiten; eigentlich sind es zwei Bücher, die in der Mitte zusammen führen: weil sie zwei Aspekte behandeln, die als untrennbare Komponenten oder Bestandteile unseres Seins miteinander verbunden sind – auch wenn sie bisher in den meisten Betrachtungen immer wieder voneinander getrennt worden sind.
Deshalb haben wir uns für diese ungewöhnliche Form der Darstellung entschieden. Aus zwei verschiedenen Perspektiven, einer geisteswissenschaftlichen und einer naturwissenschaftlichen, suchen wir hier nach dem Zusammenhang zweier Pole unseres Seins, die unsere Existenz und unser Selbstverständnis als Menschen bestimmen: Nämlich einerseits unsere Fähigkeit, uns als Liebende hinzugeben und in Verbundenheit mit anderen zu leben – und andererseits unser Streben nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, nach einem Leben, das jede und jeder von uns in Freiheit selbst gestalten kann.
Woher kommt die Fähigkeit zu lieben? Woraus erwächst diese tiefe Sehnsucht nach Autonomie und Freiheit? Und wie lässt sich beides miteinander vereinbaren? Ist die Sehnsucht nach beidem der menschlichen Natur mitgegeben? Oder hat sie sich im Laufe der Ideengeschichte von Generation zu Generation so sehr mit unseren Vorstellungen verbunden, dass sie allmählich zu einem festen Bestandteil unseres eigenen Selbstverständnisses geworden ist?
Das sind die zentralen Fragen, denen wir in diesem Buch von zwei Seiten aus nachgehen. In der Mitte begegnen sich die Überlegungen, und das ist kein Zufall: das Zusammenfinden der beiden Sehnsüchte nach Verbundenheit und Freiheit ist nicht das Ende, sondern eher der zentrale Ort, von dem aus alles Weitere ausgeht.
Welche der beiden Seiten für Sie nun vorne und welche hinten ist und ob Sie also von hinten oder von vorn zu lesen anfangen, liegt ganz bei Ihnen. Ankommen werden Sie dort, wo sich jeder Anfang mit seinem Ende verbindet.
Maik Hosang
Die Liebe ist ein Kind der Freiheit
Eine Geistesgeschichte unserer menschlichsten Sehnsüchte
Wir alle haben eine gewisse Vorstellung davon, was wirkliche Liebe ist, und wir können auch beschreiben, was wir unter Freiheit verstehen. Allerdings wird das nicht zu allen Zeiten und in allen Kulturkreisen das Gleiche gewesen sein. Unsere Vorfahren, die in unserer Gegend vor 500 oder gar vor 1000Jahren lebten, haben sich vermutlich unter Freiheit und Liebe etwas anderes vorgestellt als wir heute.
Und die Beduinen, die gegenwärtig noch in der Sahelzone umherziehen, werden unter Freiheit und Liebe etwas anderes verstehen als die Inuit in Grönland oder die Aborigines in Australien oder die Mitglieder der FDP in Deutschland. Freiheit und Liebe sind also Begriffe, die Menschen benutzen, um etwas zu beschreiben, was sich nicht so leicht fassen, geschweige denn mit einem Anspruch auf Allgemeingültigkeit objektivieren lässt. Eine Antwort auf die Frage, was denn die Liebe und die Freiheit ausmachen, wie beide zu definieren sind, was sie für unser Menschsein und unser Selbstverständnis bedeuten, erwartet man deshalb vielleicht bestenfalls von Anthropologen, von Kulturwissenschaftlern oder von Philosophen, aber nicht von Naturwissenschaftlern. Die Physik und die Chemie, die Mathematik oder gar die Geologie sind dafür nicht zuständig. Und selbst von den Vertretern derjenigen Disziplin, die sich mit der Natur des Lebendigen befasst, von den Biologen, wird gegenwärtig niemand ernsthaft erwarten, dass sie uns erklären können, was unter Liebe und Freiheit zu verstehen sei.
Etwas eigenartig ist das schon, denn irgendwie muss sich ja auch naturwissenschaftlich erklären lassen, wie es dazu gekommen ist, dass auf diesem Planeten Lebewesen und schließlich sogar die Vertreter unserer Spezies entstanden sind, für die das, was sie Liebe und Freiheit nennen, so wichtig war und ist, dass all ihre Märchen und Mythen, ihre zwar sozial relativ ausgleichende, doch letztlich unfreie Ideologie. In der anderen (westlichen) Hälfte, herrschte eine Ideologie der Freiheit, die angesichts ihres Gegenparts im anderen Weltteil auch Züge sozialer Gerechtigkeit aufwies.
In den späten 60er- und frühen 70er-Jahren brachen sich in Ost wie West vor allem kulturelle und individuelle Freiheitssehnsüchte neu Bahn. Dieser Aufbruch beseitigte manche innere Blockaden; fast musste er aber vor den scheinbar unverrückbaren äußeren Mauern – massiver Ausdruck innerer Panzer und äußere Grenze der Bewegungsfreiheit – völlig Halt machen.
Trotz äußerer und innerer Mauern aber wuchs die Freiheitskraft vieler Menschen weiter und ermöglichte 1989 schließlich auch den Fall der Mauern zwischen Ost und West. Es folgte ein geradezu globaler Freiheitsrausch. Und die möglichst ungebremste freie Bewegung und Initiative des freien Individuums wurde zum A und O von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Im Überschwang solcher Freiheitslust wurde auch manches hinweggefegt, was nach der ersten großen Freiheitskrise, nach 1945, zur Regulierung der Gier ungebändigter Selbstbehauptung eingeführt worden war. Die Finanzwirtschaft, zuvor zumindest hauptsächlich dazu da, produzierende Unternehmen zu finanzieren, wurde zunehmend zum Selbstzweck. Inzwischen hat unser Planet heute mehr Geldmillionäre denn je, aber bald nicht mehr genug fruchtbare Erde und frisches Wasser für all die auf ihm lebenden Menschen.
Was also ist Freiheit und wohin führt sie? Woher kommt diese starke Sehnsucht in uns Menschen, und wie hat sie sich geschichtlich entwickelt? Führt sie zwangsläufig dazu, dass die sich selbst frei entfaltenden und behauptenden Menschen als Milliarden von Egoisten die Erde und damit ihre Lebensgrundlage und letztlich sich selbst zerstören? Oder ist die Freiheit noch nicht zu der Reife gelangt, die es braucht, um das Leben auf der Erde verantwortlich zu gestalten? Könnte wirklich freien Menschen noch ganz anderes in dieser Welt gelingen?
Woher diese Sehnsüchte nach Freiheit und Verbundenheit, die vermutlich allen Menschen gemeinsam sind, letztlich kommen, können wir an dieser Stelle offen lassen. Manches spricht dafür, dass ihre Quelle im Ursprung des Universums insgesamt zu finden ist: Was ursprünglich eines war, begann sich in immer mehr und vielfältigere Seinsformen zu entfalten, die jede für sich einzigartig und dennoch durch uns unsichtbare Felder miteinander verbunden sind. Bereits auf der elementaren Ebene des Seins gibt es das paradoxe Phänomen von Selbständigkeit und Zugehörigkeit: Die elementaren Strukturen des Lichts erscheinen einerseits als einzelne Quanten, andererseits zugleich als in sich verbundende Welle.
Im Unterschied zu den Quanten gibt es für uns Menschen eine zusätzliche Möglichkeit, tragen wir eine weitere Sehnsucht und Bestimmung in uns: Wir können das Zusammenspiel von Freiheit und Verbundenheit erkennen und so bewusster, und das heißt: auch intensiver und freudvoller verwirklichen. Ohne dieses Bewusstsein können die beiden anderen Sehnsüchte nicht wirklich erblühen. Dieses Buch vertritt die Idee, dass schon die bisherige, aber mehr noch die künftige Menschheitsgeschichte letztlich davon bestimmt ist, inwieweit es Menschen gelingt, diese drei Potenziale von Freiheit, Verbundenheit und Bewusstsein zu verwirklichen. Damit behaupten wir nicht, dass diese die einzigen Triebkräfte und Einflussfaktoren geschichtlicher Ereignisse und Innovationen sind. Im historischen Auf und Ab und in der Wechselwirkung, in der Individuen und Stämme, Nationen, Wirtschaftsbewegungen und Kulturen stehen, spielen viele andere Faktoren jeweils die erste Geige. Entwicklungen sind nie monokausal – klimatische und geologische Bedingungen, materielle und ideelle Ressourcen, Macht und Machtgier, Konkurrenzen, Eifersucht und andere menschliche Leidenschaften sowie deren Zusammenspiel wirken in je konkreten geschichtlichen Vorgängen. Der Kampf ums Überleben und der Wunsch nach einem besseren Leben sind Auslöser für wirtschaftliche, technische, medizinische Erfindungen und Entwicklungen. Bei alldem spricht jedoch vieles dafür, dass in diesem Auf und Ab die eigentlichen Fortschritte der Geschichte wesentlich durch die drei genannten Sehnsüchte und Potenziale ermöglicht werden.
Evolution: Der freie Blick und das Gefühl der Verbundenheit
Die Geschichte von Freiheit und Verbundenheit beginnt mit der Menschwerdung. Anthropologen machen für die Entstehung des Menschen verschiedene Entwicklungen verantwortlich. Insbesondere werden meist folgende hervorgehoben:
Die Herausbildung des aufrechten Ganges, damit auch das Freiwerden der Hände und die Erweiterung des Blickfeldes;
die Herausbildung von Großhirn und Sprachhirn als Grundlagen für Denken und Sprechen;
die Verzögerung organismischer Reifeprozesse und damit eine gewisse Verjugendlichung (»Juvenilisierung«) der gesamten menschlichen Existenz. Das führte neben der längeren Kindheit und Lernfähigkeit dazu, dass sich angeborene Verhaltensinstinkte nicht mehr wie im Tierreich verfestigen, sondern zum Teil lebenslang formbar bleiben.
Diese Entwicklungen – die Öffnung der Instinkte zur Lernfähigkeit, die vergrößerten Hirnbereiche fürs Denken und Sprechen sowie das Freiwerden der Hände und des Blickfelds – trugen alle zur Herausbildung dessen bei, was wesentlich zur Freiheit gehört: Menschen können sich einen Überblick über Situationen verschaffen und darüber nachdenken, welches Verhalten jeweils am sinn- und freudvollsten wäre. Und Menschen sind nicht an ihre Gefühle, Ziele und Gewohnheiten gebunden; sie haben die Fähigkeit, sie zu verändern, wenn sich andere Gefühle, Ziele und Gewohnheiten als sinn- und freudvoller herausstellen.
Für den Zusammenhang, den wir in den Blick nehmen, ist die Tatsache interessant, dass sich diese Voraussetzungen und Fähigkeiten für freies Entscheiden und Handeln in dem Maße entwickelten, in dem auch Potenziale der gegenseitigen Verbundenheit entstanden. Die wichtigsten Facetten der evolutionären Herausbildung dieses Aspektes sind folgende:
Die Brunftzyklen im Tierreich, die die Möglichkeiten zur Fortpflanzung auf einen kurzen Zeitraum begrenzten, wurden zur ganzjährigen sexuellen Bereitschaft bei Menschen. So konnte sich die Sexualität und der mit ihr verbundene körperliche Kontakt über ihre bloße Fortpflanzungsfunktion hinaus zu einem Medium ganzheitlicher und gegenseitiger Kommunikation, Wertschätzung und Verbundenheit entwickeln.
Die Brutpflege, also ein Instinkt dafür, den eigenen Nachwuchs bis zu einem bestimmten Reifegrad zu behüten und mit allem Lebensnotwendigen zu versorgen, ist bei Tieren unterschiedlich ausgeprägt. Bei der Entwicklung der Säugetiere zum Menschen haben die Eltern ihre Kinder für immer längere Zeiten umsorgt. Die vielgerühmte »Mutterliebe« wurde Ausgangspunkt einer der wichtigsten Schritte der Menschwerdung. Die besondere Qualität dieser Emotion, für das konkrete Wohlergehen anderer und nicht nur des eigenen Organismus zu fühlen und zu handeln, blieb nicht auf die biologischen Mütter beschränkt: Auch andere Verwandte des Nachwuchses entwickelten die Fähigkeit, sich fürsorgend um die Kinder der Sippe zu kümmern. Ein entscheidender Schritt dabei war die Aktivierung dieser Gefühlshaltung auch bei Männern. Ein weiterer evolutionärer Schritt war es, diese Haltung der Empathie und die praktische Fürsorge nicht mehr nur den Kindern gegenüber aufzubringen, sondern auch andere Wesen einzubeziehen: Erwachsene, Tiere, Pflanzen. So können Menschen auf einer weiteren Abstraktionsebene für Stammesverbände, Nationen, die gesamte Menschheit und die Existenz insgesamt fühlen und sich für ihr Wohlergehen engagieren.
So wurden Menschen gemeinschaftliche Kinderhüter. Ein wesentlicher Grund dafür waren das größere Hirn und die längere Kindheit. Bei Menschenaffen war es angesichts der zwei bis drei Jahre währenden Reifezeit des Nachwuchses machbar, dass die Mutter sich diesem fast ausschließlich selbst widmete. Es blieb noch genug Zeit für weiteren Nachwuchs. Bei einer Reifezeit von 14 bis 16Jahren, wie Menschenkinder sie aufgrund ihrer größeren Ausdifferenzierung haben, ist das jedoch uneffektiv. Eine Sippe, deren Frauen im besten Alter sich jeweils 16Jahre lang vorwiegend um ein Kind kümmern, würde bald mangels Nachwuchs aussterben. Auch braucht das große und sehr variabel entwickelbare menschliche Gehirn viel mehr Reifeimpulse in Form liebevoller Zuwendung und Anregungen als nur die einer einzigen Bezugsperson.
So zeigt sich, dass die Menschwerdung des Affen viele verschiedene Veränderungen des Körpers, des Verhaltens, der Umwelt- und Selbstwahrnehmung umfasste. Und unter der Oberfläche zufälliger evolutionärer Entwicklungen und Umstände dieser Vorgeschichte erscheint ein erstaunliches Muster: es sieht danach aus, als ob die Evolution (oder die Schöpfung, oder wie immer wir diese Menschwerdung bezeichnen mögen) uns vor allem dazu befähigen wollte, sowohl freie als auch miteinander verbundene Wesen zu werden.
Die geschilderte Entstehung unserer Fähigkeiten zur Freiheit und Verbundenheit ist in gewisser Weise nur der Ausgangspunkt der Geschichte. Diese im Prozess des Übergangs vom Tier zum Menschen herausgebildeten Potenziale wurden erst in dem Maße praktisch wirksam, in dem sie sich dann kulturell selbst verstärkten. Dies soll anhand von zwei entscheidenden Kulturleistungen der frühen Menschheitsgeschichte kurz nachvollzogen werden: der Herausbildung erster menschlicher Gesellschaften und der Entwicklung der menschlichen Sprache.
Machtdominanz oder Verbundenheit – was setzt sich durch?
Lebewesen, die nicht als Einzelne, sondern in Rudeln, Herden oder Horden leben, brauchen dazu eine Organisationsform, die dafür sorgt, dass nicht inneres Chaos die Herde schwächt, sondern möglichst geordnetes Verhalten bei der Nahrungsfindung und der Verteidigung gegenüber Feinden sie stärkt. Noch bei den Menschenaffen sind es fast immer männliche Wesen, welche die Horde dominierten und dadurch organisierten. Eine Ursache dafür, dass noch heute Männer eher dazu neigen, mit Dominanz-, Droh- und Machtritualen zu reagieren, findet sich in den biologischen Unterschieden zwischen Männern und Frauen und hat unter anderem mit dem männlichen Sexualhormon Testosteron zu tun. Ein Nachteil der auf ihre Weise Ordnung schaffenden Dominanzhierarchien besteht darin, dass das dominante Männchen instinktiv bestrebt ist, gleichwertige Stärke bei anderen Mitgliedern der Horde zu verhindern. Bei der Entwicklung zur Menschwerdung hat die oben bereits genannte Öffnung der Instinkte auch die Dominanzinstinkte relativiert. Zusammen mit der Ausformung der ebenfalls genannten Potenziale der Verbundenheit auch in Männern bewirkte dies, dass eine ganz neue Art und Weise sozialer Organisation entstehen konnte; erst jetzt verdient sie den Namen »sozial«. In den frühen Blütezeiten menschlicher Geschichte waren es nicht zufällig oft Frauen, welche Gemeinschaften vorstanden, die statt eindimensionaler Hierarchien eine vielseitige Entwicklung aller Gemeinschaftsmitglieder ermöglichten. Die unten noch näher ausgeführten wichtigen Kulturleistungen waren vermutlich nur dort möglich, wo ein dominanzfreies, kooperatives, fast liebevolles soziales Klima vielen Einzelnen eine relativ freie Entfaltung ihrer kreativen Potenziale ermöglichten. Dementsprechend waren auch die als große Vorbilder – später als »Göttinnen« oder »Götter«–verehrten Gestalten dieser frühen Blütezeiten menschlicher Geschichte meist weiblich. Die Bücher Marija Gimbutas’ über »Die Zivilisation der Göttin« und »Die Sprache der Göttin« oder Sarah Blaffer Hrdys: »Mothers and Others: The Evolutionary Origins of Mutual Understanding« geben dazu nähere Auskunft.
So kann also gesagt werden: Primär dominanzorientierte Horden und Gesellschaften bieten kaum Raum für die Entfaltung individueller Vielfalt und Kreativität. Menschliche Gemeinschaften und zivilisatorischer Fortschritt beruhen jedoch gerade auf der Anerkennung, Wertschätzung und damit Stärkung vielseitiger individueller Potenziale. Sie sind dadurch erfinderischer, lernfähiger und damit in friedlichen Zeiten erfolgreicher.
Angesichts dieser Feststellung wird die Frage aufkommen, warum diese von gegenseitiger Wertschätzung und freier menschlicher Potenzialentwicklung und nicht von gewaltvoller Machtausübung und Dominanz beherrschten Gesellschaften in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung eher als Ausnahme denn als Regel erscheinen. Kulturhistorische Forschungsergebnisse geben darauf folgende Antwort:
Neben frühen gesellschaftlichen Blütezeiten gab es immer wieder auch Zeiten der Not, oft entstanden durch Klimaveränderungen. In solchen Zeiten des Hungers und der Überlebensangst tendieren Gesellschaften instinktiv dazu, mit Verzweiflung und Aggressivität vor allem für das eigene Überleben zu sorgen. Zur Vermeidung des dann drohenden sozialen Chaos’ im Inneren als auch zur Verteidigung gegenüber von ähnlicher Not heimgesuchten feindlichen Gruppen gewinnen in solchen Zeiten darum oft die aggressiveren und dominanzorientierten Verhaltensweisen die Oberhand. Ist ein solcher Umschlag zu Dominanz und Aggression statt Freiheit und Verbundenheit in einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft erst einmal erfolgt, besteht außerdem die Neigung, dass er sich fortsetzt. So werden nach außen hin Eroberungskriege geführt, obwohl gar keine eigene Not mehr vorhanden ist; und in der Gruppe oder Gesellschaft selbst werden durch aggressionsorientierte Erziehungstechniken freiheits- und verbundenheitsorientierte Verhaltensweisen unterdrückt und verdrängt statt gefördert.
Ein einfaches und schönes Zeichen dafür, inwieweit das Klima des Zusammenlebens in einer Gesellschaft eher von Freiheit und Verbundenheit als von Macht und Angst bestimmt ist, ist in der Art und Weise ihrer Kommunikation zu finden. Es gibt bestimmte freundliche Arten des Lachens und des Lächelns, die in jeder menschlichen Kultur und Zivilisation jene Qualität von Freiheit und Verbundenheit signalisieren. Unseren Kindern ist es bereits angeboren, und sie drücken damit recht zeitig ihre Sehnsucht nach einer Welt aus, in der sie sowohl frei als auch verbunden leben können. Wenn in Gruppen und Gesellschaften jedoch Angst und Macht zu dominieren beginnen, verschwindet mit Freiheit und Verbundenheit auch dieses Lächeln immer mehr.
Wortsprache aus Verbundenheit und Freiheit
Dass die Kommunikation innerhalb menschlicher Gesellschaften eine wesentliche Rolle dafür spielt, inwiefern sie sich nicht vorwiegend durch hierarchische Rangfolgen strukturieren, sondern vielfältige Potenzialentfaltungen aller Individuen zulassen, ist unschwer nachvollziehbar. Für die Organisation und Regulation von Hierarchien gab und gibt es angeborene Verhaltensmuster und wechselseitige Signalsysteme aus dem Tierreich. Dominantere Organismen äußern sich gegenüber Rangniederen durch bestimmte Gesten – offene oder subtile Drohgebärden gehören dazu oder latent aggressive Tonlagen. Rangniedere reagieren darauf mit entsprechenden Unterordnungssignalen.
Für die anderen auf frühen Formen von Freiheit und Liebe beruhenden Gemeinschaftsformen war damit jedoch nicht viel anzufangen. Dafür brauchte es neue Formen der Kommunikation, für die es im Tierreich kaum Vorbilder gab.
Jean-Jacques Rousseau, ein französischer Philosoph des 18.Jahrhunderts, äußerte in seinem »Essay zur Entstehung der menschlichen Sprache« eine erstaunliche Intuition. Er vermutet darin, dass die uns Menschen auszeichnende Lautsprache letztlich vor allem durch unsere Fähigkeit zur Liebe, zu freier Verbundenheit also, entstand. Nur unser freier Blick auf andere Wesen und ein Gefühl der Verbundenheit mit ihnen befähige uns dazu, diese anderen Wesen oder Dinge nicht einfach nur als Objekte zur Befriedung unserer Bedürfnisse zu sehen, sondern in ihnen eigenständige Wesen zu erkennen und ihnen deshalb auch einen eigenen Namen zu geben.
Aus der Tatsache, dass die Entstehung der menschlichen Wortsprache vermutlich sehr viel mit unseren Fähigkeiten zu Freiheit und Verbundenheit zu tun hat, lässt sich jedoch nicht schlussfolgern, dass Sprache immer oder vor allem in diesem Sinne genutzt wird. Mit der Sprache ist es wie mit vielen Erfindungen: Sie sind vor Missbrauch nicht geschützt. Einmal vorhanden, können sie ebenso zum Zweck von Gewalt und Unfreiheit eingesetzt werden wie im Sinne von Verbundenheit und Freiheit.
Für die weiteren Überlegungen ist zu beachten, dass die besondere Qualität der menschlichen Laut- und Wortsprache durch ein Zusammenspiel von drei Dimensionen entsteht: Sie bezeichnet erstens eine bestimmte Lautfolge, oder später eine bestimmte Schriftzeichenfolge (beispielsweise das Wort »Apfel«, das aus den fünf Laut- oder Schriftzeichen A, P, F, E, L besteht) zweitens eine bestimmte Sache. Zum Beispiel jene Frucht, die wir »Apfel« nennen und die von Natur aus ganz und gar nichts mit diesen Lautfolgen und Schriftzeichen zu tun hat. Diese Laute und Buchstaben assoziieren nun drittens in unserem Hirn nicht nur die Vorstellung eines Apfels, sondern aktivieren dort zugleich eine Vielfalt von Emotionen und Gefühlen, die sich in unserer Lebensgeschichte mit dieser Apfelfrucht verbindet. So erweckt das Wort »Apfel« in uns nicht nur das Wissen um einen Geschmack von Saftigkeit und Süße, sondern auch mit ganz anderen Gefühlen verbundene Erinnerungen an Situationen, in denen Äpfel eine Rolle spielen. In unserem Kulturkreis kann das etwa die Paradiesfrucht sein, der »Apfel« vom »Baum der Erkenntnis« in der Legende von Adam und Eva…
Der Unterschied der menschlichen Wortsprache zu den Lautsignalen des Tierreichs besteht also nicht nur in der unendlichen Vielfalt erlernbarer und kommunizierbarer Wörter und dadurch bezeichneter Sachverhalte. Ebenso wesentlich ist die erst durch diese vielfältigen Worte mögliche vielfältige Organisation unserer Emotionen und Gefühle und damit unseres gesamten Lebens. Im Großhirn werden die erlernten Wortlaute mitsamt den dadurch bezeichneten Sachverhalten und den damit verbundenen emotionalen Bedeutungen gespeichert. So entstehen »Wissen« und »Erkenntnis«. »Denken« ist die damit verwandte Fähigkeit, die Zusammenhänge zwischen Dingen oder anderen Menschen und der eigenen Gefühlswelt im eigenen Hirn durchspielen und dabei auch ganz neue Zusammenhänge entdecken oder erfinden zu können.
»Bewusstsein« im eigentlichen Sinn des Wortes schließlich entsteht dann, wenn das Wissen und Denken sich selbst zum Gegenstand wird und ich nicht nur weiß, was ich weiß, sondern auch, dass