Die Fremde im Spiegel - Anne de Groot - E-Book

Die Fremde im Spiegel E-Book

Anne de Groot

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Wenn es jemals herauskam, was sie getan hatte, würde sie lebenslang ins Gefängnis wandern. Oder gab es in England noch die Todesstrafe wie in Amerika? Wurden Mörderinnen nicht noch immer gehenkt? Niemand wird die Tote jemals in der Einöde finden, sprach sie sich Mut zu. Niemand wird jemals nach Gracia Dawson suchen, denn ich bin Gracia Dawson, und ich lebe, redete sie sich ein. Endlich werde ich so leben können, wie ich es mir immer gewünscht habe, ich werde reich sein und in der Gesellschaft geachtet. Ich werde jetzt die Herrin sein, und alle müssen nach meiner Pfeife tanzen. Gracia Dawson ist tot, aber ich lebe, und ich will mein neues Leben in vollen Zügen genießen… »Unser Leben wird sich grundlegend ändern, meine Lieben!« Die junge Lady Gracia Dawson blickte die beiden Frauen, ihre Gesellschafterin Esther Bitch und die Haushälterin Olivia bedeutsam an. Bei dem Gespräch saßen die drei Frauen auf dem Patio der kleinen Villa, die von einem tropischen Garten umgeben wurde. Bougainvillea in leuchtenden Farben rankten die weißen Mauern der Villa hoch, und in den Blumenkübeln blühten glutrote Rosen. »Wirst du jemals in Schottland heimisch werden können?« zweifelte die rundliche Hausdame, die Gracia schon betreute, als sie noch in den Windeln gelegen hatte. »Du bist in Brasilien aufgewachsen und das rauhe Klima Schottlands nicht gewöhnt.« »Das Wetter kann mich nicht abschrecken«, lächelte Gracia. »Aber ihr könnt euch ja vorstellen, wie ich darauf brenne, die Heimat meines verstorbenen Vaters kennenzulernen.« »Ein bißchen Sturm und Regen würde ich auch in Kauf nehmen, wenn ich dafür ein

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Gaslicht – 48 –

Die Fremde im Spiegel

Wenn sie erscheint, naht das Verderben

Anne de Groot

Wenn es jemals herauskam, was sie getan hatte, würde sie lebenslang ins Gefängnis wandern. Oder gab es in England noch die Todesstrafe wie in Amerika? Wurden Mörderinnen nicht noch immer gehenkt? Niemand wird die Tote jemals in der Einöde finden, sprach sie sich Mut zu. Niemand wird jemals nach Gracia Dawson suchen, denn ich bin Gracia Dawson, und ich lebe, redete sie sich ein. Endlich werde ich so leben können, wie ich es mir immer gewünscht habe, ich werde reich sein und in der Gesellschaft geachtet. Ich werde jetzt die Herrin sein, und alle müssen nach meiner Pfeife tanzen. Gracia Dawson ist tot, aber ich lebe, und ich will mein neues Leben in vollen Zügen genießen…

»Unser Leben wird sich grundlegend ändern, meine Lieben!«

Die junge Lady Gracia Dawson blickte die beiden Frauen, ihre Gesellschafterin Esther Bitch und die Haushälterin Olivia bedeutsam an. Bei dem Gespräch saßen die drei Frauen auf dem Patio der kleinen Villa, die von einem tropischen Garten umgeben wurde. Bougainvillea in leuchtenden Farben rankten die weißen Mauern der Villa hoch, und in den Blumenkübeln blühten glutrote Rosen.

»Wirst du jemals in Schottland heimisch werden können?« zweifelte die rundliche Hausdame, die Gracia schon betreute, als sie noch in den Windeln gelegen hatte.

»Du bist in Brasilien aufgewachsen und das rauhe Klima Schottlands nicht gewöhnt.«

»Das Wetter kann mich nicht abschrecken«, lächelte Gracia. »Aber ihr könnt euch ja vorstellen, wie ich darauf brenne, die Heimat meines verstorbenen Vaters kennenzulernen.«

»Ein bißchen Sturm und Regen würde ich auch in Kauf nehmen, wenn ich dafür ein Vermögen erben würde«, warf Esther ein. »Dazu wirst du noch Schloßherrin von Castle-Highmoon. Gracia, du bist wirklich zu beneiden.«

»Ihr könnt euch denken, wie überrascht ich war, als der Anwalt Dr. Fabrizio mir eröffnete, daß meine Großmutter mich als Alleinerbin eingesetzt hat. Es ist wirklich ein Jammer, daß sie ihre einzige Enkelin nie persönlich kennengelernt hat. Jetzt ist sie verstorben, und für alles ist es zu spät«, schloß sie seufzend.

»Sie muß eine harte, unerbittliche Frau gewesen sein«, vermutete Olivia und verscheuchte ein Insekt, das von ihrem Eistee naschen wollte. »Ihren einzigen Sohn zu verstoßen und zu enterben, nur weil er sich in die falsche Frau verliebt hat, ihrer Meinung nach falsche Frau.«

»Ich wünschte, sie hätte einmal erlebt, wie glücklich meine Eltern zusammen waren«, meinte Gracia nachdenklich. »Sicher, in ihren Augen war meine Mutter als Tänzerin nicht standesgemäß. Sie war außer sich, als sie erfuhr, daß ihr Sohn die brasilianische Tänzerin Verina heiraten wollte, obwohl er mit der Tochter ihrer besten Freundin, Lady Annabell, verlobt war. Es muß damals einen Riesenskandal gegeben haben. Als mein Vater mit Verina in Highmoon aufkreuzte, hat sie ihnen durch den Butler John die Tür gewiesen.«

»Dein Vater muß ein Romantiker gewesen sein.« Esthers grüne Augen glitzerten boshaft. »Ganz schön verrückt, einer Frau wegen sein Vermögen aufzugeben.«

»Er hat meine Mutter eben über alles geliebt«, nahm Gracia ihren Vater in Schutz. »Und meine Mutter war eine begnadete Tänzerin und auf dem besten Weg, eine Weltkarriere zu machen.«

»Vernünftig wäre gewesen, er hätte sie als Geliebte behalten und die Lady Annabell geheiratet. Dann hätte er alles bekommen, eine reiche Heirat, das Vermögen seiner Familie, und...«

»Es erschreckt mich, Esther, wie berechnend du sein kannst.« Gracia schüttelte empört die blonden Locken. »Ist Liebe nicht wichtiger als Geld?«

»Ohne Geld ist auch die Liebe arm dran«, moserte Esther. »Wenn meine Eltern nicht alles durch Spekulationen verloren und mich bei ihrem Tod mittellos zurückgelassen hätten, hätte ich es nicht nötig, als Gesellschafterin zu arbeiten.«

»Wie kannst du so reden? Fühlst du dich nicht wohl bei uns? Habe ich dich nicht immer wie eine Freundin behandelt.«

»Ja, aber jetzt gehst du nach Schottland, und was wird aus mir?« fragte die junge rothaarige Frau miesepetrig.

»Du kommst natürlich mit mir«, lächelte Gracia. »Was hast du denn gedacht? Das heißt, wenn du willst.«

»Und ob ich will. Was hält mich denn hier noch, wenn du weg bist? Nimmst du mich wirklich mit, ist das dein Ernst?« drängte Esther.

»So habe ich es geplant. Olivia, du wirst noch hierbleiben müssen. Bei dir ist unsere kleine Villa in den besten Händen. Laut Testamentsbeschluß meiner Großmutter werde ich ja auf Highmoon leben und dafür sorgen müssen, daß auch das dazu gehörige Gut weiter bewirtschaftet wird. Was aus dem Haus hier wird, werde ich später entscheiden, wenn ich erst einmal auf Highmoon Fuß gefaßt habe. Vielleicht werde ich es verkaufen, und dann möchte ich, daß auch du, Olivia, mir nach Schottland folgst.«

»Eine gute Entscheidung. Und falls es dir dort oben im kalten Norden überhaupt nicht gefällt, hast du ja immer noch das kleine Paradies hier.«

»Es ist wirklich schade, daß meine Eltern das alles nicht mehr erleben konnten«, bedauerte die junge Lady. »Wie ich erfahren habe, war meine Großmutter an Krebs erkrankt. Sie hat zwei Jahre lang leiden müssen und bestimmt bereut, sich mit ihrem einzigen Sohn entzweit und alle Brücken zu ihm abgebrochen zu haben.«

»Wie meistens kommt die Reue zu spät«, sagte Olivia nachdenklich. »Wie anders wäre wohl alles geworden, wenn deine Eltern nicht vor vier Jahren diesen tödlichen Autounfall erlitten hätten.«

»Ein betrunkener Lastwagenfahrer hat sie gerammt«, schauderte Gracia. »Ich werde diesen schrecklichen Tag niemals vergessen.«

»Das Unglück stand in allen Zeitungen«, erinnerte sich Esther. »Dein Vater hatte sich ja als künstlerischer Fotograf einen Namen gemacht.«

»Genau so hat er auch meine Mutter kennengelernt«, sagte Gracia leise. »Er hat wundervolle Fotos von ihr gemacht. Sie war ja auch eine schöne Frau.«

»Und du hast ihre wunderschönen großen schwarzen Augen«, meinte Olivia. »Doch das blonde Haar hast du von deinem Vater geerbt.«

»Was sensationell aufregend wirkt«, schmeichelte Esther. »Aber haben die meisten Schotten nicht rote Haare wie ich?«

»Was das betrifft wirst du hervorragend nach Schottland passen.«

»Falls die Farbe echt ist«, warf Olivia trocken ein. »Gracia, hast du schon einen Termin für eure Abreise festgesetzt?«

»Unser Flug geht in zwei Wochen. Wir werden nur das Notwendigste mitnehmen. Was wir brauchen können wir dort kaufen. Mir steht ein Konto zur Verfügung, das ich jederzeit belasten kann. Ich brauche weiter nichts als meinen Paß.«

»Was für phantastische Zukunftsaussichten«, schwärmte Esther.

»Einmal Shopping gehen können, ohne auf den Penny achten zu müssen. Ist das nicht der Wunschtraum jeder jungen Frau?«

»Jetzt ist mir auch klar, warum mein Daddy so streng darauf geachtet hat, daß mein Englisch perfekt ist. Heimlich hat er wohl immer auf eine Versöhnung mit seiner Mutter gehofft.«

»Aber er konnte sie nicht mehr erleben. Wirklich tragisch«, bedauerte Olivia. »Wenn ihr in zwei Wochen fliegen wollt, solltet ihr euch bald mit der Reiseroute vertraut machen. Oder wird euch jemand vom Flughafen in Glasgow abholen?«

»Bis jetzt hat sich noch niemand dazu angeboten. Wir können uns von Glasgow aus einen Wagen mieten, und lernen auf diese Art schon mal unsere neue Heimat kennen.«

»Es ist ja auch viel diplomatischer, unangemeldet auf Highmoon einzutreffen«, stimmte Esther ihr eifrig zu. »Die verdutzten Mienen zu sehen, die Überraschung der Leute zu erleben... Wissen sie überhaupt, daß du die Erbin von Lady Dawson bist?«

»Lionel Pinter, der Anwalt meiner Großmutter, wird sie unterrichtet haben. Er hat mir auch freundlicherweise einen Reiseplan zukommen lassen. Wollt ihr ihn sehen?«

»Welche Frage, nur her damit«, rief Esther begeistert. »Auf Reisen zu gehen und fremde Länder kennenzulernen, war schon immer mein Traum. Schon auf dem Gymnasium war Geographie mein Lieblingsfach. Ich habe mich besonders darauf spezialisiert, Straßenkarten zu lesen.«

»Dann kann ja nichts schiefgehen«, meinte Gracia erleichtert. »Ich habe mich mit solchen Dingen ja nie beschäftigt.« Sie lief ins Haus und beeilte sich, die Reiseunterlangen zu holen.

*

Nach einem herzlichen, tränenreichen Abschied von Olivia bestiegen die jungen Damen den Flieger in Rio, der sie bis nach London brachte. Hier mußten sie in ein kleineres Flugzeug umsteigen. Sie hatten zwei Stunden Aufenthalt, doch die Zeit reichte nicht, sich die Weltstadt anzusehen.

»Wir können uns London später einmal ansehen«, versprach Gracia, die in ihrem taubenblauen Kostüm bezaubernd aussah. Das lange blonde Haar hatte sie im Nacken mit einer Samtschleife gerafft.

Bewundernde Männerblicke folgten der Blondine, genau wie der hübschen rothaarigen Esther, die ein ähnliches Kostüm wie Gracia in Dunkelblau trug, mit den passenden Accessoires.

Gracias Blick klebte an dem kleinen Fenster. Sie wollte so viel wie möglich von der Landschaft sehen. Doch leider verdeckten dicke Wolkenbänke die Sicht. In England begann gerade der Frühling. Sie mußten sich auf kühle Witterung und häufigen Regen gefaßt machen.

Nach der glücklichen Landung in Glasgow brachten sie ihr Gepäck ins Flughafencafé.

»Gracia, ich werde mich jetzt um einen fahrbaren Untersatz kümmern«, sagte Esther lebhaft. »Du achtest inzwischen auf unser Gepäck und erholst dich bei einer guten Tasse Tee. Engländer sind Teetrinker, besser du gewöhnst dich früh genug daran.«

»Vergiß bitte nicht, daß in England links gefahren wird«, warnte Gracia und reichte ihr ihre Geldbörse. »Wir wollen doch nicht gleich ein Strafmandat riskieren.«

»Ich werde höllisch aufpassen«, versprach ihre Gesellschafterin und eilte davon.

Da die Auto-Verleihfirma in der Nähe des Flughafens lag, war Esther eine Stunde später zurück. Sie hatte einen Jeep bekommen, mit dem sie das unwegsame Gelände problemlos würden meistern können.

Wie aus der Karte hervorging, lag Highmoon ziemlich abgelegen und einsam. Das nächste Dorf war über fünfzehn Meilen entfernt. Schnell hatten sie ihr Gepäck im Jeep verstaut.

Jetzt konnte die Fahrt losgehen. Gracia war froh, daß die resolute Esther das Steuer übernahm. Sie selbst hatte einen richtigen Bammel vor dem Linksfahren, während Esther ganz gut damit zurecht kam.

Es war ihr auch ganz lieb, daß sie als Beifahrerin ungestört die Landschaft betrachten konnte, die von wildromantischer Schönheit war. Steile Schluchten wechselten mit riesigen Weiden auf denen Schafe und Hochlandrinder grasten, die wie riesige zottelige Teddybären aussahen.

»Sind die Rinder nicht süß?« rief Gracia begeistert.

»Ganz niedlich!« Esther unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. Manchmal konnte Gracia richtig kindisch sein. Sie ist ein selten albernes Geschöpf, dachte sie abfällig.

Doch sie hütete sich, ihre Gedanken laut werden zu lassen.

Gracia brauchte nicht zu wissen, wie sehr sie diese Zierpuppe verachtete und haßte.

Auch wenn Gracia sich immer bemüht hatte, sie wie eine Freundin zu behandeln, konnte es eine echte Freundschaft zwischen ihnen nie geben.

Esther vergaß in keinem Moment, daß sie nur Gracias Angestellte und auf ihre Gnade und Barmherzigkeit angewiesen war. Für das klägliche Gehalt, das man ihr zahlte, mußte sie der jungen Lady Tag und Nacht zur Verfügung stehen, ihre Launen ertragen und ihr nach dem Munde reden.

Es würde immer so weitergehen wie bisher, oder noch schlimmer werden. Jetzt, wo Gracia eine reiche Erbin war, würde die Distanz zu ihr noch größer werden.

Wahrscheinlich würde man sie sogar in den Dienstbotentrakt stecken und zu niedrigsten Arbeiten verdonnern.

Am Horizont sank gerade die Sonne und malte ein surrealistisches Gemälde aus leuchtenden Rottönen an den Horizont.

»Ist der Sonnenuntergang nicht traumhaft schön?« schwärmte Gracia. »Man müßte ein Maler sein, um diese Schönheit wiedergeben zu können. Wie lange brauchen wir denn noch, Esther? Es wäre mir lieb, wenn wir vor Einbruch der Dunkelheit Highmoon Castle erreichen würden.«

»Wir müßten längst am Ziel sein, jedenfalls nach meinen Berechnungen. Ich fürchte, wir haben uns verfahren.« Esther fuhr jetzt eine holprige, ungepflasterte Straße hinauf, die sich in Serpentinen höher schraubte, wie eine Achterbahn.

Rechts fiel die Schlucht eines Steinbruchs steil bergab. Links wuchsen Felswände. Zwischen den groben Steinen wucherte frisches Grün.

»Wenn uns jetzt ein Wagen entgegenkommt...? Der Himmel steh uns bei«, schauderte Gracia. »Kehr wieder um, Esther! Ich bin sicher, wir sind auf dem falschen Weg.«

»Können vor Lachen! Ich muß erst einmal eine Stelle finden, wo ich wenden kann.«

Zehn Minuten später entdeckte Esther eine Art Plattform, die wie eine riesige Zunge über die Schlucht hinausragte.

»Ich bin fix und fertig von der Herumkurverei.« Sie stöhnte übertrieben auf. »Laß uns eine Pause einlegen und dann auf der Karte nachsehen, wo wir eigentlich sind. Aber erst muß ich jetzt einen Schluck trinken. Ich bin halb verdurstet. Willst du auch ein Glas Orangensaft, Gracia?«

»Gern, Esther.« Fasziniert betrachtete Gracia die Aussicht. Am blaßblauen Himmel segelten Möwen dahin, getragen vom heftigen Wind, der das trockene Gras gespenstisch rascheln ließ.

Sie bemerkte nicht, wie Esther aus einem kleinen Fläschchen Tropfen in den Plastikbecher gab, umrührte und ihr den Becher reichte. Sie betrachtete noch immer den Sonnenuntergang. Die Farben begannen allmählich zu verblassen. Das feurige Rot wich einem sanften Lila.

Durstig trank sie den Becher leer. Totenstill war es ringsum. Außer dem Säuseln des Windes und dem Kreischen der Möwen war nichts zu hören.

»Das Nordmeer muß hier ganz in der Nähe sein«, murmelte Gracia schwerfällig. Es fiel ihr plötzlich unheimlich schwer, die Worte zu artikulieren. Bleierne Müdigkeit fiel wie ein schwarzer Mantel über sie.

»Bist du müde, Gracia?« hörte sie wie aus weiter Ferne Esthers Stimme. »Warum machst du nicht ein Nickerchen und ruhst dich aus?«

Gracia war nicht mehr fähig, Antwort zu geben. Die Lider, schwer wie Blei, fielen ihr zu. Sie stürzte in die Bewußtlosigkeit wie in einen Abgrund, der keinen Boden hat.

Sie fand nirgendwo einen Halt und wollte in Panik aufschreien. Aber sie hatte auch keine Stimme mehr.

»Gracia, wach auf!« Esther schüttelte sie wild. Doch sie rührte sich nicht. Ihre Arme fielen schlaff hinab, und ihr Kopf pendelte hilflos hin und her wie bei einer Stoffpuppe.